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1
Yris


Yris hob den schweren, hölzernen Eimer an. Etwas Wasser schwappte auf ihre Schürze und ihr Kleid. Dieses war von einem dunklen Grün, wie ihre Augen. Doch jene zierten goldene und violette Sprenkel, die je nach Einfall des Lichtes glitzernd aufblinkten.
Sie war etwas Besonderes, nicht nur ihre Augen schimmerten in einer ungewöhnlichen Färbung, ihr Haar war von einem hellen Silberblond und ihre Haut war rein und bleich. Sie war zierlich und nicht besonders groß, ihre Finger waren lang und feingliedrig, wie sie sich so um den Henkel des Eimers schlossen. Sie war schön.
Vorsichtig trug sie das Wasser in die Küche des Gasthauses, das ihrem Onkel gehörte. Ihre Eltern waren gestorben, als sie noch ein kleines Mädchen war, vor 19 Jahren. Inzwischen war sie 21.
Sie stellte den Eimer ab und nahm sich einen zweiten, um diesen ebenfalls zu füllen. Dazu ging sie erneut hinaus. Es begann bereits zu dämmern und silberner Nebel vom nahen Fluss legte sich langsam über die Landschaft. In dieser Gegend des Landes Aran war es oft neblig.
Yris überquerte den Hof und schöpfte Wasser aus dem Trog, der von einer kleinen Quelle gespeist wurde. Sie wollte gerade wieder ins Haus gehen, als sie Hufschlag hörte. Sie ließ ihren Eimer stehen und lief die Verandatreppe hinauf. In der Tür blieb sie stehen und rief: „Onkel, Onkel, komm schnell! Da kommt jemand!“
Der Hufschlag war inzwischen lauter geworden und aus dem immer dichter werdenden Nebel lösten sich sechs schwarze Gestalten. Als die Reiter abstiegen hörte Yris Waffen klirren. Nun konnte sie auch erkennen, dass fünf der Männer die schwarz-rote Soldatenuniform des Königs trugen. Der sechste Mann war anders gekleidet. Er trug nur schwarz, seine Stiefel, sein Mantel. Er hatte eine Kapuze auf, deren Saum mit Rabenfedern verziert war. Yris schauderte.
Als der große Mann nun mit einer Hand den Stoff zurück schlug, hätte sie beinahe erschreckt aufgeschrien. Zwischen unordentlichem schwarzen Haar befand sich ein blasses, hageres Gesicht mit strahlenden, silbernen Augen. Doch das Ungewöhnliche daran, das sie so erschreckt hatte, war die lange Narbe, die sich von rechts nach links quer darüber zog.
Yris' Onkel Madan war inzwischen hinter sie getreten. „Willkommen. Was kann ich für Euch tun?“
Der schwarz gekleidete Mann, der der Anführer der Soldaten zu sein schien, antwortete mit einer tiefen Stimme, in der ein bedrohlicher Unterton mitschwang: „Wir brauchen ein Quartier und etwas zu essen für diese Nacht und für unsere Pferde muss gesorgt werden.“
„Natürlich, Mylord.“
Ihr Onkel schob Yris vorwärts. Äußerst unwillig näherte sie sich den Männern um ihnen die Pferde abzunehmen. Madan hatte bereits von dreien die Zügel in der Hand. Die restlichen drei blieben für sie. Der große Rappe des Mannes mit der Narbe war darunter. Sie nahm die beiden anderen, dann ging sie auf ihn zu. Er war ihr unheimlich. Mit gesenktem Kopf streckte sie die Hand nach den Zügeln aus, die er ihr hinhielt.
Sie wollte gerade wieder verschwinden, als sie das weiche Leder schwarzer Handschuhe unter ihrem Kinn spürte. Mit sanftem Druck zwang er sie den Kopf zu heben und ihn anzusehen. Die silbernen Augen musterten sie nachdenklich. Am liebsten hätte sie seine Hand weggeschlagen und wäre davongelaufen.
Leise meinte er: „Sind wir uns schon einmal begegnet? Du kommst mir so bekannt vor.“
Er drehte ihren Kopf so hin, dass er ihr Profil betrachten konnte.
„Woher kenne ich dich nur?“
Yris flüsterte: „Ich kann mich nicht erinnern Euch jemals zuvor begegnet zu sein“.
Diese Begegnung hätte sie sicherlich nicht vergessen.
Er ließ sie los. „Seltsam“.
Sie ergriff die Fluch, indem sie die Pferde tränken ging. Nachdem sie diese im Stall untergebracht hatte, huschte sie durch den Hintereingang in die Küche, um nicht durch die Gaststube zu müssen, wo die Soldaten saßen und auf ihr Essen warteten. Dort war nämlich auch ihr schwarzer Anführer.
Vorsichtig spähte sie durch den Türspalt. Er hatte sich in einer Ecke niedergelassen. Seine inzwischen nicht mehr behandschuhten Finger schlossen sich um den Stiel des besten Weinglases, dass ihr Onkel besaß, zweifellos gefüllt mit dem besten Wein, mit dem sie aufwarten konnten. Er wirkte nachdenklich und tief in Gedanken versunken.
Seine Männer waren am gleichen Tisch versammelt.Sie lachten und unterhielten sich fröhlich.
Die Gegend in der das Gasthaus stand war einsam. Sie hatten nur selten so viele Gäste. Hauptsächlich lebten sie hier von dem was ihre Felder hervorbrachten.
Yris schloss leise die Tür und begann das Essen vorzubereiten.
Sie hoffte, dass ihr Onkel das Auftragen übernehmen würde. Sie legte es nicht darauf an dem Fremden mit der Narbe über den Weg zu laufen. Seine Anwesenheit beunruhigte sie.
Sie schnitt gerade das Gemüse für die Suppe, als ihr Onkel durch die Tür zur Gaststube kam. Er war kreidebleich.
„Was ist denn los?“, fragte sie erschrocken.
Madan setzte sich auf einen Schemel. „Der Fremde hat seinen Mantel ausgezogen, sein Hemd und sein Wams sind bestickt, mit einem Raben, der einen sieben-zackigen Stern im Schnabel hält, dem Zeichen der schwarzen Generäle.“
Yris riss die Augen auf. Die sieben schwarzen Generäle waren im ganzen Land gefürchtet. Sie waren die mächtigsten und treuesten Waffen des Königs. Nicht nur, dass sie hervorragende Kämpfer und Feldherren waren, man sagte, sie wären Magier, grausam und gnadenlos. Man erzählte sich schreckliche Geschichten über ihre Macht.
Yris atmete tief ein und aus. Es war nicht ihre Art, Angst zu haben und erst recht nicht sie zu zeigen. Entschlossen nahm sie Teller und Löffel um den Tisch zu decken. Sie ging auf die Gäste zu. Sie würde auftragen.
Als sie den Soldaten die Teller hinstellte, fiel ihr auf, dass diese sorgsam darauf bedacht waren, sie nicht irgendwie unsittlich zu berühren. Normalerweise waren königliche Soldaten nicht so höflich.
Yris trug den großen Topf Suppe und etwas Brot auf. Entschuldigend lächelnd meinte: „Etwas anderes zu essen kann ich euch leider nicht anbieten, ich bin es nicht gewohnt so große Mengen zu kochen. Wir haben nie viele Gäste auf einmal.“
Einer der Soldaten erwiderte ihr Lächeln. „Deine Suppe riecht gut, außerdem habe ich genug Hunger um selbst das Zeug hinunter würgen zu können, das das Rattenvolk kocht.“
Die anderen lachten. Nur der schwarze General meinte kopfschüttelnd: „Du weißt nicht wovon du redest, Carne. Oder bist du schon einmal in den Genuss gekommen bei ihnen zum Essen eingeladen zu werden? Sie ernähren sich besser als du, sie haben genug Geld. Schmuggelei und organisierter Diebstahl sind ein sehr einträgliches Geschäft.“
Yris wusste, dass es in Aran viele Völker gab, die sich der Kontrolle des Königs zu entziehen wussten und ihre eigene Kultur pflegten. Sie hatten besondere Fähigkeiten. Mit den meisten hatte der König Abkommen geschlossen, das Wolfsvolk hatte er nach einer Rebellion in ihrem Berg eingeschlossen und manche verstecken sich und wurden dafür unerbittlich gejagt. Zu diesen gehörte das Rattenvolk. In jeder größeren Stadt lebten sie im Untergrund und gingen ihren unsauberen Geschäften nach. Yris wunderte sich etwas, dass ein General des Königs wusste, wie es war bei den Ratten zum Essen eingeladen zu sein. Aber andererseits traute sie diesem Mann alles zu.
Sie warf ihm einen unsicheren Blick zu. Er aß nichts. Vorsichtig fragte sie: „Soll ich Euch vielleicht etwas anderes bringen? Oder noch etwas Wein?“.
Er schüttelte verneinend den Kopf und reichte ihr sein Glas. Seine Finger streiften kurz die ihren. Yris schrie auf, das Glas zersplitterte am Boden. Sie starrte entsetzt auf ihre Hand. Die Stelle an der er sie berührt hatte, begann sich bläulich-schwarz zu färben. Der Schmerz, der zuerst durch ihre Finger geschossen war machte nun einer Taubheit Platz.
In seinen Augen zeichnete sich zuerst Erstaunen ab, dann meinte er bestimmt: „Wasch dir deine Hände draußen in frischem Wasser.“
Yris zitterte am ganzen Leib, als sie hinaus lief und ihre Hände in den Trog tauchte.
Inzwischen war der Nebel noch dichter geworden. Man konnte nur wenige Meter weit sehen. Dicke Schwaden umhüllten Yris, schienen sie zu streicheln. Sie zog ihre Hände wieder aus dem Wasser. Ihre Haut war wieder wie vorher. Die Taubheit hatte nachgelassen.
Was war geschehen? Was hatte der schwarze General mit ihr getan? Aber anscheinend war er genauso erstaunt gewesen. Er konnte nicht gewusst haben was passieren würde. Sie würde trotzdem nicht wieder in die Gaststube gehen. Als sie sich dem Haus näherte um sich auf ihr Zimmer zu schleichen, ging plötzlich die Tür auf und Yris stand einem Soldaten gegenüber. Carne, so hieß er.
„Alles in Ordnung?“ Er musterte sie kritisch.
„Ja,ja.“ Sie lächelte, doch ihr Blick blieb kalt.
Er ergriff ihre Hand und betrachtete sie genau. „Seltsam, so etwas habe ich noch nie gesehen. Aber es sieht wieder normal aus.“
„Ich habe so etwas schon einmal gesehen. Einmal.“
Yris starrte den Mann an, der hinter dem Soldaten durch die Tür getreten war. Der schwarze General hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Seine Handschuhe trug er wieder. „Carne, geh wieder hinein.“
Der Soldat nickte und mit einem letzten mitleidigen Blick auf Yris verschwand er im Haus. Sie stand nun alleine mit dem schwarzen General auf der Veranda.
„Ich glaube, ich weiß wer du bist. Wie alt bist du?“
„Ich bin 21.“
Er setzte sein Verhör unbarmherzig fort.
„Der Wirt ist nicht dein Vater, oder?“
„Nein, Madan ist mein Onkel.“
„Und deine richtigen Eltern sind tot?“
„Ja.“
„Hast du Geschwister?“
„Nein, ich glaube nicht.“
„Tatsächlich. Ich glaube schon. Eine Schwester und einen Bruder.“
Yris starrte ihn erstaunt an. Zu fragen woher er das wissen wollte traute sie sich nicht.
Nach kurzem Nachdenken meinte er: „Ich kann deine Hilfe brauchen. Du wirst uns begleiten.“ Er drehte sich um und ging wieder hinein.
Sie blieb stehen. Der Nebel hinterließ kleine Wassertröpfchen auf ihrer Kleidung und ihrem Haar. Sie fror plötzlich.
Er brauchte ihre Hilfe!?! Sie konnte nicht kämpfen, sie wusste nicht mehr als andere, warum brauchte jemand wie er sie? Und was hatte das mit ihrer Familie zu tun? Außerdem würde sie ihren Onkel jetzt nicht alleine lassen. Es war Erntezeit und sie musste ihm auf den Feldern und im Garten helfen. Ohne sie konnte er das nicht alles schaffen.
Und was fiel diesem Mann überhaupt ein, so etwas zu verlangen. Sie würde doch nicht mit irgendwelchen wildfremden Menschen auf eine Reise gehen, auf der sie umkommen konnte. Schon das Gasthaus lag in einer abgelegenen, nicht ungefährlichen Gegend. Von hier an gab es nur noch wenige Dörfer und Höfe, die Wälder wurden von wilden Völkern und Schlimmeren bewohnt.
Yris schauderte. Nein. Er war zwar General, aber das konnte er nicht verlangen. Niemand. Vielleicht sollte sie sich einige Zeit verstecken, bis die Soldaten wieder weg waren? Aber wer weiß, was sie dann mit Madan machen würden?
Tränen der Wut und der Angst rannen ihr über die Wangen.
„He, nicht weinen“. Zwei der Soldaten traten durch die Tür. Sie sahen sich so ähnlich, dass man sie sofort für Brüder halten musste. Beide hatten dunkelblondes Haar und graue Augen.
„Ich weine nicht“, knurrte Yris und wendete sich ab. Sie versuchte die Tränen weg zu wischen. Auf dieser Veranda hatte man wohl nie seine Ruhe.
„Du musst es ja am Besten wissen. Aber General Rawen hat uns nicht geschickt um mit dir darüber zu diskutieren, ob es nun weinen ist, wenn jemandem Tränen übers ganze Gesicht laufen. Wir sollen dir helfen zu packen, Proviant und deine persönlichen Sachen. Er hat gesagt du wirst uns ab jetzt begleiten. Also ich bin Berin und das ist mein Bruder...“
„Sarin“,ergänzte der Andere.
„Das ist ja ganz nett von euch, aber ich werde euch nicht begleiten.“
Die Soldaten tauschten viel sagende Blicke. „Vergiss es. Weigere dich besser nicht. Er hat seine eigenen Methoden seinen Willen durch zu setzten.“
„Ich werde noch einmal mit ihm reden und...“
„Was!?!“ Ein lauter Ruf kam aus der Gaststube.
Yris und die Brüder liefen hinein.
„Ich sagte, dass Eure Nichte mich begleiten wird“. Der schwarze General stand in der Mitte des Raumes, seine Anwesenheit schien das ganze Zimmer aus zu füllen. Die Luft wirkte auf einmal kalt und schwer.
Ihm gegenüber stand Madan, anscheinend sehr aufgebracht. „Ihr könnt doch nicht einfach befehlen, dass Yris mit Euch reist! Wir wissen doch nicht einmal wohin Ihr reist!“
„Ich bin im Auftrag des Königs unterwegs und wenn ich dabei ihre Hilfe brauche wir sie mir helfen, egal wo und wobei“. Die Stimme des Generals klang bedrohlich und er schien größer als vorher. Madan wich zurück.
In Yris regte sich etwas. Je stärker er die Menschen in ihrer Umwelt einschüchterte, desto mutiger wurde sie. Ihre Augen verengten sich und glitzerten verärgert. Mit einer Stimme, der man die unterdrückte Wut nur allzu genau anhörte, sagte sie: „Wenn Ihr etwas genauer erklären könntet, was Ihr vorhabt und wofür ihr meine Hilfe braucht, fiele es uns eventuell leichter Eurem Wunsch Gehör zu schenken.“
Sie hatte die schlanken Hände zu Fäusten geballt.


Irwin


Im Höhlensystem unter dem Gwarnaberg war es finster. Nur selten waren Fackeln an den Wänden angebracht. Irwins Führer war ein hochgewachsener Mann, der leicht gebückt ging und ständig wachsam schien. Er hatte struppiges, schwarzes Haar und seine Augen glühten golden im Dunkel der Gänge. Aus alter Gewohnheit schätzte Irwin seine Chancen ab, falls es zum Kampf zwischen ihnen kam. An Kraft dürfte der Mann ihm ebenbürtig sein, doch zweifellos würde er ihn aufgrund seiner Geschwindigkeit besiegen. Außerdem hatte er einige Tricks auf Lager...
Er war schon öfter hier gewesen und obwohl er einen hervorragenden Orientierungssinn besaß konnte er sich in den Tunneln nicht zurecht finden. Man musste wohl hier geboren sein um sich nicht zu verlaufen.
Und hier geboren wurden nur Angehörige des Wolfsvolkes. Sie lebten schon immer in diesem Berg und den Wäldern rundherum. Allerdings durften sie den Berg nicht mehr verlassen seit sie gegen den König rebelliert hatten. Was verständlicherweise ihren Zorn nur noch mehr schürte. Das war wahrscheinlich auch der Grund warum er gerufen worden war.
„Der Meuchelmörder ist hier“. Der Führer hatte eine tiefe, kehlige Stimme. Irwin wusste, dass die Sprache des Wolfsvolkes hauptsächlich aus Knurr- und Belllauten bestand, weswegen es etwas seltsam klang, wenn sie versuchten in der Menschensprache von Aran zu reden.
Eigentlich war schon alleine die Bezeichnung als „Menschensprache von Aran“ eine Beleidigung für die wilden Völker, ein ebenfalls beleidigender Name, die sonst noch in diesem Land lebten und zweifelsfrei auch zu den Menschen zu zählen waren.
Sie sprachen andere Sprachen und unterschieden sich etwas vom Sonnenvolk, für das der König die Herrschaft und das Wort „Menschen“ beanspruchte, doch sie hatten Krieg und Kampf verloren und damit auch ihre einstige Bedeutung. Irwin spürte, dass das Zeitalter der Sonne angebrochen war. Die wilden Völker würden immer mehr verschwinden. Auch wenn viele sich noch wehrten.
Gut. Das bedeutete Aufträge und Gold für ihn.
Inzwischen hatten er und sein Führer eine große Höhle erreicht, an deren einem Ende ein Thron stand. Darauf saß eine Gestalt, die ihn nun mit goldenen Glühaugen musterte. Er verneigte sich leicht.
Die Gestalt nickte. Sie trug weite Pluderhosen und ein leichtes Hemd, beides in grau. Sie war barfuß, Wölfe trugen nie Schuhe. Langes, schwarzes Haar, das aussah, als wäre es seit Jahren nicht mehr gekämmt worden fiel über die Schultern. Perlen waren darin eingeflochten. Dazwischen befand sich ein gut aussehendes, wenn auch etwas breites Gesicht mit schmalen Augen und einem eigentlich einzigen Schönheitsfehler: krummen, gelben, spitzen Zähnen.
„Ihr habt Euch kaum verändert, Meister Irwin“. Die Stimme war erstaunlich weich und geschmeidig für einen Wolf. „Als wir uns das letzte Mal begegneten trugt Ihr nur Eure Haare kürzer“.
Irwin lächelte und strich sich eine Strähne aus der Stirn. Es war feuerrot und sehr lang. Bei ihrer letzten Begegnung war es wirklich noch um zwei Handbreit kürzer gewesen. Damals hatte er einen langweiligen Auftrag bekommen. Irgendein Hauptmann hatte die Wölfe beleidigt. Sie hatten ihn nichtselbst erledigen können, denn es war zu auffällig wenn man einen von ihnen in seiner Nähe gesehen hätte.
Nicht das Irwin ein Beispiel an Unauffälligkeit war, sein Haar, seine stahlgrauen Augen, die einen wie Schwerter zu durchbohren schienen. Aber man konnte immerhin den Wölfen keine Verbindung zu ihm nachweisen.
Für jemanden wie ihn, mit seinem Job war sein Aussehen eigentlich unpraktisch. Er war Auftragsmörder, einer der Besten, der Beste. Und der Teuerste. Er war stark, schnell und klug, es gab nur wenige, die sich mit ihm messen konnten.
Er hatte bisher jeden Auftrag ohne große Probleme ausgeführt.
Er war gespannt, was es diesmal war.
„Wen darf ich für Euch töten?“
Die Gestalt auf dem Thron winkte ab. „Das wird nicht Eure Hauptaufgabe sein. Wenn es sich allerdings nebenbei ergibt würde ich mich über eine dieser elenden Aaskrähen weniger freuen.“
Irwin nickte. Er wusste, wer mit dieser Bezeichnung gemeint war. Er hatte schon öfters für die Wölfe getötet. Aber diesmal schien es interessanter zu sein.
„Was kann ich dann für Euch tun?“
Sein Auftraggeber beugte sich lächelnd nach vorne, wobei er seine spitzen Zähne entblößte. Er kraulte den richtigen Wolf, der zu seinen Füßen lag, hinter den Ohren und begann zu sprechen: „Das ist eine längere Geschichte. Wie Ihr zweifellos wisst, bin ich im Moment nicht besonders gut auf den König zu sprechen.“
Die Ironie die aus diesen Worten sprach war deutlich zu hören. „Nicht gut zu sprechen“ war eindeutig untertrieben.
„Ich hasse ihn! Die Herrschaft über das Land Aran gebührt wenn schon mir und meinem Volk. Er kann nicht einfach kommen und behaupten dem Sonnenvolk, den Menschen wie sie sich hochtrabend nennen, gehöre alles und wir hätten uns unterzuordnen. Er wagt es, uns hier einzusperren. Aber sobald er Mut und Truppen genug gefunden hat, wird er versuchen uns zu töten. Aber wir werden kämpfen!“
Das hatte sich Irwin schon oft angehört. Irgendwie bewunderte er die Wölfe für ihren Mut und ihre Sturheit.
„Er schneidet uns von der Außenwelt und allen Informationen ab, aber ich habe trotzdem erfahren, dass er etwas suchen lässt, das ihm die Macht geben würde, unseren Berg zu erobern.“
Dieser Berg war wohl der einzige Grund dafür, dass der König die Wölfe noch nicht ausgerottet hatte. Er wusste, dass er gewaltige Verluste in diesen Höhlen erleiden würde. Seine Männer kannten sich nicht aus, Karten gab es nicht.
„Mithilfe dieses Gegenstandes könnte er uns besiegen. Er hat General Rawen geschickt, dass Nebelglas zu finden...“


Yris


„... Das Nebelglas ist laut einer alten Legende ein magischer Gegenstand, mit dem man alles sehen kann, was im Moment geschieht und was in der Vergangenheit bereits geschehen ist, egal wo.“ Der schwarze General hatte sich auf einer Bank niedergelassen. „Ich habe den Auftrag es für den König zu finden. Und dafür brauche ich dich. Das Nebelglas wurde von einem Volk geschaffen, das man das Nebelvolk nennt“, er räusperte sich. „Es ist verschwunden. Nur seine Städte sind noch da, allerdings werden diese durch Nebelschwaden geschützt, die nur Angehörige ihres Volkes durchqueren können. Alle anderen verirren sich darin. Ich hatte gehofft, mithilfe meiner Magie einen Weg zum Nebelglas zu finden. Mit dir ist es einfacher und sicherer.“
Yris starrte ihn an. „Wie kommt Ihr darauf?“
„Du bist eine Angehörige dieses Volkes. Man sieht es dir an, deine Haare, deine Haut, deine Figur und vor allem deine Augen. Ihr habt sie alle, dein gesamtes Volk. Ist dir noch nie aufgefallen, dass der Nebel sich um dich herum zu verdichten scheint? Außerdem legt deine Reaktion auf meine Berührung vorhin gewisse Schlüsse nahe.“ Nachdenklich strich er sich mit der Hand die Haare aus der Stirn.
„Und mein Volk ist einfach so verschwunden?“, fragte Yris vorsichtig.
Die Miene des Generals verdunkelte sich, auf seiner Stirn erschienen tiefe Falten. „Fast.“
Yris erwartete, dass er weiter sprach, aber er schwieg. Als die Stille andauerte, meldete ihr Onkel sich wieder zu Wort: „Und darum wollt Ihr meine Nichte mitnehmen auf Eure Reise?“
„Ja. Mit ihrer Hilfe spare ich mir eine Menge Zeit und Mühe“
„Und was lässt Euch annehmen, ich würde zulassen, dass Ihr meine Nichte mitnehmt? Sie ist für mich wie eine Tochter. Es könnte gefährlich werden und außerdem brauche ich sie hier.“
Der General beugte sich etwas vor und seine Stimme klang gefährlich ruhig. „Habe ich Euch nicht bereits erläutert, dass mein Wille der des Königs ist? Ihr könnt Euch nicht weigern, sie kann sich nicht weigern, wenn sie nicht Kerkerhaft oder Schlimmeres erdulden will. Wenn Ihr meinen Befehlen nicht gehorcht, grenzt das an Hochverrat.“
Yris wollte nicht ins Gefängnis, aber noch weniger wollte sie jetzt nachgeben. Sie funkelte den General wütend an. Er machte eine beschwichtigende Geste. „Ich würde dafür sorgen, dass ihr nichts geschieht,“ wandte er sich an Madan, „außerdem zahle ich Euch eine beliebig hohe Summe als Entschädigung für die Zeit in der sie Euch nicht helfen kann. Sie würde auch für ihre Hilfe entlohnt werden.“ Er machte erneut eine kurze Handbewegung. „Ich weiß nicht“ Madan zögerte.
„Wie viel wollt Ihr?“, fragte der General kalt.
Yris war sprachlos vor Wut. Er redete über sie als wäre sie ein Ding, das man kaufen konnte. Ein Wunder, dass er nicht auch noch anfing zu feilschen, als ihr Onkel einen Preis nannte. Außerdem war sie sicher, dass er etwas mit ihrem Onkel getan hatte. Er hatte ihn irgendwie beeinflusst und so gezwungen nachzugeben, Wahrscheinlich mithilfe seiner Magie und den zwei kurzen Gesten. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sagte er: „Bei dir funktioniert es leider nicht.“ Und er besaß auch noch die Unverschämtheit, hinterhältig zu lächeln.
Aber jetzt da ihr Onkel eingewilligt hatte, hatte sie keine andere Möglichkeit mehr, als zu tun was er verlangte. Sie würde nicht die Ehre ihres Onkels in Frage stellen, indem sie ihn daran hinderte eine Abmachung zu halten.
Außerdem war der Geist ihrer Vorfahren in Yris erwacht, sie wollte reisen und die Städte ihres Volkes sehen. Auch wenn sie dabei zweifellos auf General Rawen verzichten könnte.


Irwin


„Und ich soll für Euch das Nebelglas holen“, Irwin nickte zufrieden, „Wie viel gebt Ihr mir dafür?“
„Ihr bekommt 2000 goldene Drachenmünzen vorher, 5000 nach Erfüllung des Auftrages. Außerdem stelle ich Euch einen Trupp Wolfsreiter zur Verfügung. So viele wie Ihr benötigt.“
„Sechs, nicht mehr. Und wenn Ihr mir ebenfalls einen Wolf geben würdet? Mein Pferd dürfte sonst nicht allzu glücklich sein.“
Irwin war bereits einmal zuvor auf einem Wolf geritten. Es war gewöhnungsbedürftig. Vor allem, da die Wölfe sich ja irgendwie ernähren mussten. Man musste sie mindestens einmal in der Woche auf die Jagd gehen lassen. Sie brauchten einiges an Futter und zwar Fleisch. Das war auch der Grund warum das Wolfsvolk nicht mehr viele hielt. Sie hatten aufgrund ihrer Gefangenschaft in diesem Berg sowieso schon mit Nahrungsknappheit zu kämpfen. Nur selten wurde ihnen gestattet, einen Trupp Jäger auszusenden.
Sobald der König dieses Recht noch mehr einschränkte, würden sie wohl die Wolfshaltung aufgeben müssen. Heimlich jagen ging nicht gut. Irwin hatte sich bereits beim Hinweg durch einen Wachring des Königs schleichen müssen. Und er musste mit sechs Wolfsreitern wieder hinaus.
„Ich wünsche Euch viel Erfolg, gute Jagd.“ Die Gestalt auf dem Thron erhob sich, der Wolf, der zu ihren Füßen gelegen hatte knurrte leise und richtete sich ebenfalls auf um neben ihr herzugehen, als sie auf Irwin zukam.
„Sterbt nicht, es könnte sein, dass ich Euch noch benötige.“
Irwin verneigte sich geschmeidig. „Es ist mir stets eine große Ehre, Eure Aufträge zu erfüllen, Herrin. Ihr seid eine faszinierende Frau.“
Die goldenen Augen seines Gegenübers strahlten ihn erheitert an. „Versucht nicht mit mir zu flirten, Ihr verschwendet Eure Zeit. Sucht Euch jemand anderen als die Königin der Wölfe.“
„Es gibt aber niemanden, der meine Komplimente mehr verdiente.“ Irwin verneigte sich erneut und folgte seinem Führer zurück zu einem der Ausgänge, wo bereits alles für seine Abreise und die seines Trupps vorbereitet war.
Die Königin der Wölfe war wirklich faszinierend. Allerdings brauchte Irwin keine Freunde und erst recht keine Frau in seinem Leben. So etwas war bei seinem Job nur im Weg.


2
Yris


Die ersten Sonnenstrahlen begannen den Nebel zu durchdringen, als Yris aus dem Fenster sah. Im Hof standen bereits Sarin und Berin, die die Pferde sattelten. Sie lachten und alberten herum. Plötzlich herrschte Ruhe. Der schwarze General schritt die Verandatreppe hinunter.
Yris drehte sich vom Fenster weg. Als sie in die Gaststube kam, saßen Carne und die zwei anderen Soldaten am Tisch und frühstückten.
„Guten Morgen, Nebelmädchen!“ Carne grinste übermütig, die anderen beiden lächelten nur. Und in den Augen des einen, eines schwarzhaarigen, nicht besonders großen Mannes schimmerte ein unheimlich trauriger Glanz. Während Yris seinen Blick erwiderte, geschah etwas, das sie noch nie zuvor erlebt hatte. Sie spürte seinen Schmerz, seine Trauer. Er musste irgendjemanden verloren haben, den er sehr geliebt hatte. Sie wusste nicht, wieso sie sich dessen so sicher war. Sie spürte es einfach.
„Setz dich doch zu uns und iss etwas.“ Carne rutschte auf der Bank ein Stück zur Seite um ihr Platz zu machen.
Da öffnete sich die Tür und der schwarze General kam herein. „Jetzt wird nicht mehr gegessen. Wir brechen auf.“ Er ging wieder hinaus.
„Nimm dir etwas mit.“ Der eine Soldat reichte Yris ein Stück Brot, das sie dankbar annahm.
Im Hof wartete ihr Onkel, der die Pferde hielt. Als er seine Nichte in aus dem Haus kommen sah, gab er die Zügel Berin und kam ihr entgegen. Ein paar Schritte vor ihr blieb er stehen. Sie sah ihn an. „Onkel!“ Weinend fiel sie in seine Arme. Auch ihm standen Tränen in den Augen. „Mach's gut und pass auf dich auf. Weißt du noch, die Abenteuergeschichten, die du als Kind so geliebt hast? Jedes Mal musste der Held am Anfang seine Familie und sein Zuhause verlassen, du auch. Und ich erwarte, dass du wiederkommst und mir erzählst, was du erlebt hast, verstanden?“
Leiser fügte Madan hinzu: „Deine Eltern meinten du hättest eine Bestimmung zu erfüllen. Sie hätten gewollt, dass du auf diese Reise gehst.“
Dann wandte er sich an den General und seine Soldaten: „Ihr werdet sie beschützen.“
„Mit meinem Leben.“ Yris war sich nicht sicher ob General Rawen ernst meinte, was er gesagt hatte.
Jetzt knurrte er: „Aufsteigen!“ Dann kam er auf sie zu. Immer noch schluchzend löste sie sich von ihrem Onkel, den sie traute es dem General sehr wohl zu, sie mit Gewalt zu zwingen loszulassen. Er schien noch schlechtere Laune zu haben als gestern. Wenn das überhaupt möglich war. Er knurrte sie an: „Du wirst mit Carne reiten. Er hat das kräftigste Pferd.“
Der Genannte trieb sein Tier neben sie. Mit einem Ruck hob General Rawen sie hoch und setzte sie vor ihn. Als wäre sie leicht wie eine Feder. Dann knurrte er den Soldaten an: „Und wehe dir, du lässt deine Finger nicht von ihr!“
Carne murmelte: „Keine Sorge, wir haben unsere Lektion gelernt.“ Mit diesen Worten wendete er seinen Braunen. Auch der schwarze General stieg auf. Madan winkte ihnen nach. Schon bald war er außer Sicht.
Yris richtete ihren Blick nach vorne, auf den Weg der vor ihr lag. Und auf ihre neuen Reisegefährten. Carne redete anscheinend gerne. Vielleicht konnte sie von ihm etwas über jeden von ihnen erfahren. Sie fragte: „Carne, wer ist den der Dunkelblonde mit den Sommersprossen? Der neben Sarin?“ „Das ist Isla. Manche erzählen, dass sein Vater zum Löwenvolk gehört hat.“ „Glaubst du das?“
„Es könnte sein. Er sieht jedenfalls so aus, das blonde Haar und der etwas dunklere Hautton.“
„Kennt ihr alle euch eigentlich schon länger?“
„Ja, schon einige Zeit. Wir sind im gleichen Regiment und sind uns schon ein paar Mal über den Weg gelaufen. Sarin und Berin kommen sogar aus dem gleichen Dorf wie ich.“ Er grinste. Yris konnte sich die drei gut vorstellen, wie sie als kleine Kinder ihren Heimatort unsicher gemacht hatten. Garantiert waren sie die schlimmsten Lausbuben der ganzen Gegend gewesen.
„Und wie heißt der mit den schwarzen Haaren und den traurigen Augen?“, wollte sie wissen. Sie erinnerte sich daran, wie sie vorhin seine Trauer und seinen Schmerz gespürt hatte und schauderte.
Carne meinte mit gedämpfter Stimme: „Das ist Mohn. Es heißt, er hat seine ganze Familie, seine Frau und seine Kinder, bei einem Überfall des Wolfsvolkes verloren. Sie lebten in der Nähe des Gwarnaberges und bei den Aufständen vor einiger Zeit wurden sie getötet.“
Jetzt wusste Yris, dass ihr Gespür vorhin recht hatte. Sie war schon immer sehr einfühlsam. Sie wusste genau wie es ihren Mitmenschen ging, welcher Stimmung sie waren. Allerdings hatte sie das noch nie so stark empfunden wie heute bei Mohn.
Nachdenklich betrachtete sie die Landschaft um sie herum. Der Nebel begann langsam sich zu lösen und sie ritten stetig bergan. Madans Gasthof lag im Tal des Igaaiuas, eines relativ großen Flusses, der den Nordwesten Arans durchströmte. Yris und die anderen verließen nun dieses Tal, bald würden sie die Hochebene erreichen. Bis dahin sollte sich auch der Nebel gelichtet haben.
Schade. Yris mochte Nebel. Sie fühlte sich irgendwie sicher und behütet darin. Der schwarze General schien ihn nicht zu mögen. Er ritt vor ihnen in der Reihe, die ihr kleiner Tross bildete, sah schlecht gelaunt aus und warf immer wieder wütende Blicke nach hinten zu Carne und ihr. Warum auch immer. Wollte er sie etwa für das Wetter verantwortlich machen? Oder war es etwas ganz anderes?
Als er sich aus der Reihe löste und ein Stück voraus ritt um die Gegend zu erkunden, flüsterte Carne ihr ins Ohr: „Ich weiß nicht, was der sich denkt. Er hat vorhin gesagt, dass ich meine Finger von dir lassen soll. Das hätte ich auch ohne seinen Befehl getan und auch ohne die anschauliche Demonstration vor drei Tagen. Da haben wir nämlich schon mal in einem Gasthaus haltgemacht. Dort war auch ein hübsches Mädchen, nicht so schön wie du, aber trotzdem. Berin hat sich an sie rangemacht. Als General Rawen das mitbekommen hat war er nicht allzu begeistert.
Glaub mir, das möchtest du nicht erleben. Er hat uns angeknurrt, wir sollen das Mädchen gefälligst in Ruhe lassen, wir sind hier nicht auf einer Ausflugsfahrt und er kann keinen Ärger mit einem wütendem Vater gebrauchen.“
Carne konnte den Tonfall des Generals so gut nachahmen, dass Yris vor lachen fast vom Pferd fiel.
Der Soldat erzählte weiter: „Berin hat er kopfüber in der Luft baumeln lassen. Das war bisher das erste und einzige Mal, dass er uns seine Magie gezeigt hat. Zuerst hat er gedroht den armen Kerl die ganze Nacht da hängen zu lassen. Aber dann hat er sich anscheinend überlegt, dass ein Soldat mit Schlafmangel, der vor Müdigkeit vom Pferd fällt uns nur aufhalten würde und ihn heruntergelassen. Denn kopfüber kann wohl niemand schlafen.“
Yris murmelte: „Ich finde den General unheimlich und die Narbe macht es auch nicht gerade besser. Woher hat er die eigentlich?“
„Das ist eine längere Geschichte. Die Narbe stammt von dem einzigen Duell, das er jemals verloren hat.
Es war im Herbst, vor drei Jahren. Er war damals hauptsächlich damit beschäftigt, im Namen des Königs wilde Völker zu jagen, die sich nicht unterwerfen wollten. Im Waffenhof einer Kaserne, nicht weit von der Hauptstadt trainierte er gerade mit ein paar Soldaten, als plötzlich ein Reiter an den überraschten Torwachen vorbeipreschte und in den Hof ritt.
Er trug eine Kapuze und ein Tuch vor dem Gesicht. Alle scharten sich um ihn, während er aus dem Sattel sprang. Auch General Rawen ging auf ihn zu. Als er ihn kommen sah, zog der Fremde ein Schwert und stieß es vor dem General in den Boden. Er forderte ihn damit zum Duell.
Kennst du die Regeln für solche Duelle?“
Yris schüttelte den Kopf und Carne erklärte: „Bei einem Duell darf der Herausforderer eine Bedingung stellen, die der Andere im Falle einer Niederlage akzeptieren muss. Die Waffen sind festgelegt. Man benutzt Schwert und Schild. Wer seine Waffe verliert, was allerdings nur selten vorkommt, darf den Dolch ziehen. Es wird gekämpft bis zum Tod, außer jemand bittet um Gnade und sie wird ihm gewährt. Zuschauer dürfen nicht eingreifen. Nur der König hat das Recht ein Duell zu verhindern oder beenden. Hast du alles verstanden?“
Yris nickte. „Ja, ich glaube schon.“
„Gut, dann kann ich weitererzählen.
Der Fremde forderte General Rawen also zum Duell. Alle umstehenden lachten, denn der General ist ein hervorragender Kämpfer, der beste, dem ich je begegnet bin. Er verschränkte siegessicher die Arme vor der Brust und fragte spöttisch:
'Und was ist Eure Bedingung Fremder? Oder wollt Ihr sie nicht stellen, da Ihr sowieso verliert?'
Der Fremde schüttelte den Kopf und sagte undeutlich mit dem Tuch vor dem Mund: 'Im Falle meines Sieges fordere ich die Freilassung Henrys Lavila, der in Eurem Kerker festgehalten wird und freies Geleit für uns zur Nordwest-Grenze'
'Akzeptiert, macht Euch bereit.' Der General zog sein Schwert und die Zuschauer bildeten einen Kreis um beide.
Wie Raubtiere bewegten sich die Kontrahenten, wirbelten herum und Hiebe fielen. Bald sah man, sie waren sich ebenbürtig. Herbstblätter wirbelten, als der Fremde stolperte. Sein Schwert wurde ihm aus der Hand geschlagen und rutschte davon, doch blitzschnell war er wieder auf den Füßen und zog einen langen Dolch. Sein Schild fing einen Hieb ab, seine Waffe ritzte den Arm des Generals.
Dieser verlor deswegen ebenfalls sein Schwert und sein Dolch blieb im Schild seines Gegners stecken. Der General knurrte und wich einem Stich des Fremden aus. Dann ließ er seinen Schild fallen.
'Bittet Ihr um Gnade?' fragt der Fremde.
'Nein, niemals' Wutschnaubend riss General Rawen einem der Umstehenden dessen Waffe aus der Hand. Einen schweren Morgenstern. Sein Gegner keuchte auf:
'Ihr verletzt die Regel!'
'Na und?' meinte er. Der nach ihm geworfene Dolch ging daneben und er ging langsam und drohend auf den Fremden zu. Er versetzte den Morgenstern in Bewegung und die Waffe schwang hin und her. Sein Gegenüber wich langsam zurück, bis er mit seinem Rücken an einen Baum stieß, der in der Mitte des Kasernenhofs stand. Der General kam näher. Sein Morgenstern wirbelte auf den Kopf des Fremden zu. Doch anstatt seinen Schild zu heben, wie erwartet, duckte sich dieser unter der Waffe weg. Der General hatte zu viel Schwung und konnte den Morgenstern nicht rechtzeitig kontrollieren um den Angriff abzuwehren.
Der Schildarm des Fremden sauste nach oben, der Schild traf den General am Kinn. Er wurde von den Füßen gerissen und sein Gegner neigte sich über ihn, als er bewusstlos am Boden lag. Mit der einen Hand nahm der Fremde den Dolch, der noch immer im Schild steckte, mit der anderen schlug er ihm einmal ins Gesicht.
Aus dem Mundwinkel des Generals tropfte Blut und er hustete erstickt.
'Was ist jetzt mit meiner Bedingung? Gebt Befehl, den Gefangenen holen zu lassen', zischte der Fremde, seinen Dolch an der Kehle des Generals.
Dieser würgte, an seine Soldaten gewandt hervor: 'Ihr habt gehört was er sagt, tut es. Er hat gewonnen.'
Sofort liefen zwei Männer los und kurze Zeit kamen sie wieder, eine zusammengesunkene, sich mühsam vorwärts schleppende Gestalt zwischen sich.
Auf einem blassen Gesicht zeigten sich die Spuren langer Kerkerhaft. Grüne Augen blinzelten ins Licht, tiefe Schatten lagen darunter. Die Kleider des jungen Mannes waren feucht und zerrissen.
'Setzt ihn auf mein Pferd', meinte der Fremde und schlug dem General noch einmal kräftig ins Gesicht bevor er sich ebenfalls seinem Tier näherte.
Währenddessen wurde der junge Mann von zwei Soldaten in den Sattel gestemmt. Er konnte sich kaum halten und wäre heruntergefallen, wenn nicht der Fremde hinter ihm aufgestiegen wäre und ihn festgehalten hätte. Da flüsterte der junge Mann: 'Ich wusste, dass du kommen würdest, Larissa, meine Schwester'
Alle starten den Angesprochenen an, dieser lachte und nahm mit der einen Hand das Tuch vom Gesicht, während er mit der anderen seinen Bruder stützte. Darunter kamen die Züge einer gutaussehenden Frau ende dreißig zum Vorschein.
Sie spottete: 'Das hättet ihr alle nicht gedacht, nicht wahr? Der beste Kämpfer Eures Königs wurde von einer Frau besiegt. Ich bin Larissa Lavila. Ihr wisst wer ich bin, General.'
Dieser hatte sich inzwischen wieder aufgerappelt und stand, auf einen Soldaten gestützt, ein Stück entfernt.
Plötzlich trieb die Frau ihr Pferd an und ritt auf ihn zu. Alle Soldaten wichen zurück, nur der General blieb mühsam stehen. Sie hielt ihr Tier neben ihm und zog blitzschnell ein Messer, beugte sich vor und schnitt dem Mann damit quer durchs Gesicht, bevor er auch nur wusste wie ihm geschah. Er schrie voller Schmerz auf und presste die Hände auf die Wunde. Danach brach er zusammen.
Die Frau meinte: 'Das ist für alles, was Ihr und Euer Vater meinem Volk und meinem Bruder angetan habt. Merkt Euch eines, Ihr müsst noch viel lernen bevor Ihr mir ebenbürtig seid. Dazu gehören Gnade, Güte und vor allem Liebe.'
Mit diesen Worten ritt sie davon, ihren Bruder vor sich und Beide sind seitdem nicht wieder in Aran gesehen worden. So erzählt man jedenfalls, ich war ja selber nicht dabei.“
Das schien Carne sehr zu bedauern, denn so hätte er Yris bestimmt noch viel mehr dazu erzählen können. Er redete ja anscheinend sehr gerne.
Sie meinte: „Der General hatte sowieso Glück, dass die Frau nicht sein Auge getroffen hat.“
„Das war kein Glück, das war Absicht. Sie wollte es nicht treffen“, mischte sich plötzlich eine Yris nur allzu bekannte, befehlsgewohnte Stimme ein, „Wir werden uns irgendwann wieder begegnen. Dann werde ich der Sieger sein.“ General Rawen war neben ihnen aufgetaucht. „Schön, dass du unsere neue Reisegefährtin so gut unterhältst, Carne“ , meinte er ironisch und trieb sein Pferd voran, um wieder etwas vorauszureiten.
Inzwischen hatten sie das Flusstal schon fast verlassen. Erste Heidekräuter säumten ihren Wegrand und die Pappeln, Espen und Birken wurden von großen Eichen und Fichten abgelöst. Das Tal hinter ihnen war dicht bewaldet, hier oben gab es nur noch einige kleinere Waldstücke, die aber auch bald der Heide weichen würden. Dort gab es nur vereinzelt einige einsame Bäume.
Yris wünschte, sie hätten diese Gegend schon erreicht, denn sie fühlte sich irgendwie beobachtet. In und hinter jedem Wäldchen konnte jemand auf der Lauer liegen. Zum Glück ritt der General voraus, um die Gegend auszuspähen. Allerdings fragte sie sich, warum er das selbst tat. Er könnte doch genauso gut einen Anderen schicken, dann müsste er sich nicht selbst in Gefahr begeben. Wenn sie jemand überfiel, würde es ihn zuerst erwischen, während sie Anderen ohne Anführer zurück blieben.
Yris stellte Carne eine diesbezügliche Frage. Er antwortete: „Ich glaube nicht, das ihm etwas passieren würde. Er ist ein verdammt guter Kämpfer und außerdem ist er ja ein Magier. Wir wären ihm wahrscheinlich eher noch im Weg.“
Sie nickte. Da konnte er recht haben. Irgendwie konnte sie sich nicht vorstellen, dass sich der General in Gefahr begab, wenn er auch Andere opfern konnte.
Das Gefühl von Beobachtung blieb und Yris sah sich sehr genau um. Der kiesbedeckte Weg führte zwischen Unmengen blühenden Heidekrauts dahin, dazwischen waren große Moospolster. Einmal meinte sie hinter einem Ginstergesträuch eine Bewegung zu sehen, aber das war wahrscheinlich nur der Wind, der die Pflanzen bog. Die Fichten flüsterten.
Yris hatte das Gefühl, als könnte sie fast verstehen, was die Bäume sagten. Das kam ihr schon immer so vor. Einmal, als sie noch ein kleines Kind war, erst sieben oder acht Jahre alt, war sie eines Tages allein im Wald. Damals begann ein schrecklicher Sturm zu wüten. Sie hatte sich ängstlich unter einen Baum gekauert, als sie plötzlich glaubte, jemanden laut 'Vorsicht!' rufen zu hören. Vor Schreck sprang sie auf und zur Seite. Ein Ast stürzte krachend dort zu Boden, wo sie noch vor wenigen Momenten gekauert war.
Yris war seitdem fest davon überzeugt, dass der Baum sie gewarnt hatte, denn sonst war niemand da gewesen. Aber heute verstand sie nicht was die Bäume sagten und vielleicht sprachen sie auch nicht mit ihr, sondern nur mit den anderen Pflanzen oder dem Wind.

Zu Mittag machten sie Rast. Sie banden die Pferde an einige junge Ebereschen nachdem sie sie an einem kleinen Tümpel getränkt hatten, der von einigen großen Findlingen umrandet wurde. Die Felsen waren fast genau kreisförmig angeordnet und mit Moos und Flechten bewachsen. Irgendwie passten sie nicht hier her. Die Gegend war ansonsten vollkommen felslos.
Carne, Berin, Sarin, Mohn und Isla saßen bereits im Windschatten eines großen Steins. Der General war hinauf gestiegen und sah sich um. Als er Yris' Blick bemerkte winkte er sie zu sich heran. Erstaunt kam sie näher. „Komm herauf“, er streckte ihr seine behandschuhte Hand entgegen um ihr hinaufzuhelfen. Yris zögerte und betrachtete ihn skeptisch, bevor sie danach griff und sich helfen ließ. Der Fels war gerade breit genug, um darauf zu stehen. Leider kam sie so dem General wesentlich näher als ihr lieb war. Sie bemühte sich, ihn möglichst nicht zu berühren.
Er wies mit einer Handbewegung über das gesamte Areal und fragte: „Weißt du was das ist?“
Yris sah ihn verständnislos an. „Warum fragt ihr mich das?“
„Du weißt es also nicht? Sehr bedauerlich.“
„Wieso?“
In seiner unnachahmlichen, emotionslosen Art sagte er: „Weil es eine Schande ist, solche Gaben wie du sie besitzt so verkommen zu lassen. Ich werde diese Reise nutzen um dir einiges beizubringen und du wirst mir zuhören und dir genau merken, was ich dir sage und zeige. Verstanden?“
Yris stammelt: „J-j-ja“
Er musterte sie mit einem scharfen Blick. „Also, sieh dich noch einmal genau um. Diesen Tümpel, umgeben von mannshohen Findlingen. Ich zweifle nicht daran, dass wir, wenn wir Moos und Flechten davon entfernten, eingemeißelte Bilder und Schriftzeichen fänden. Dies war eine heilige Stätte. Einst kamen die Krähenmenschen hierher, um mit den Geistern ihrer Ahnen und der Natur Kontakt aufzunehmen. Wenn du dich konzentrierst kannst du sie hören und spüren.“
Yris versuchte es. Und tatsächlich, dieses leise Flüstern, dass sie schon immer hörte, nur noch nie so laut wie heute, verstärkte sich und wurde zu unzähligen einzelnen Stimmen. Sie hatte sich schon immer gewundert, woher dieses Geflüster kam, dass nur sie zu hören schien. Jetzt wusste sie es. Sie fragte: „General, ist es normal, diese Stimmen überall wahrzunehmen?“
Er musterte sie kritisch und auch etwas erstaunt. „Ich weiß es nicht. Ich höre sie nur an solchen Orten wie diesen, an denen die Magie noch stark ist. Für mehr sind meine Sinne nicht scharf genug.“ Er schloss die Augen und schien zu lauschen, dann murmelte er: „Im Moment kann ich auch nichts davon verstehen, was sie sagen. Das kommt nämlich auch auf den Zeitpunkt an. Bei Sonnenauf- oder -untergang hört man sie am besten. Es gibt sogar Pflanzen, die dann darauf reagieren. Sieh her.“ Er ging in die Hocke.
Yris versucht es ihm gleichzutun, verlor aber auf dem Moos den Halt und wäre vom Felsen gestürzt, wenn er sie nicht gehalten hätte. Sobald sie wieder sicher neben ihm saß, ließ er sie schnell los und entschuldigte sich.
Sieh an, er konnte also auch anders. Er konnte höflich sein. Yris sagte: „Wofür entschuldigt Ihr Euch? Dafür, dass Ihr mich nicht fallen gelassen habt? Ihr habt mir nicht wehgetan.“
Nein, er hatte sie nämlich nicht Haut auf Haut berührt und das schien die seltsame Reaktion von gestern Abend auszulösen.
Er ignorierte ihren Kommentar und strich über das Moos. „Hier.“
Zwischen seinen Fingern entdeckte Yris eine kleine, schwarze Knospe. „Das ist Atrídya, Geistergold. Bei Sonnenauf- und -untergang öffnen sich die Blüten und beginnen golden zu leuchten. Schade, dass wir nicht bis heute Abend hierbleiben können um das zu sehen. Wir haben keine Zeit. Geh jetzt zu den Anderen und iss etwas damit wir weiterkönnen.“
Yris stieg vom Felsen herunter und ging zu den Soldaten. Carne machte ihr Platz und Isla reichte ihr Brot und Schinken. Dankbar nahm sie an. Sie hatte ganz schön Hunger. Es war zwar keine großartige Mahlzeit und sie mussten am Boden sitzen, aber es reichte und die anderen waren nett. Sarin, Berin und Carne erzählten Geschichten von ihrer Kindheit. Yris hatte recht gehabt. Sie waren damals wirklich schlimme Lausbuben.
Der schwarze General saß, seinen Mantel eng um sich geschlungen auf dem Felsen und schaute ins Land hinaus. Er aß nichts.
Plötzlich fühlte Yris erneut, dass sie beobachtet wurde, sogar noch deutlicher als vorhin. Sie spürte fremde Augen auf sich gerichtet. Vorsichtig sah sie sich um und tatsächlich, da, zwischen zwei Ebereschen stand jemand und sah sie an. Es war ein junges Mädchen, vielleicht neun Jahre alt, mit langem, blau-schwarzen Haar. Seine Kleidung bestand aus einem silbernen Kimono, der fest um den schmalen Körper gebunden war.
Yris erhob sich und ging auf das Kind zu. Als sie näherkam, leuchteten ihr die goldenen Augen des Mädchens neugierig entgegen. In ihrem Rücken spürte sie die Blicke ihrer Reisegefährten, auch den des schwarzen Generals. Er rief ihren Namen, doch sie achtete nicht darauf. Sie blieb vor dem Kind stehen und ging in die Knie um mit ihm auf Augenhöhe zu sein.
Ernst blickte das Mädchen sie an.
„Was machst denn du ganz alleine hier Kleine? Kann ich dir irgendwie helfen?“
Das Kind sah sie weiterhin aus großen Augen unbewegt an.
„Wo kommst du denn her?“
Wieder keine Antwort.
„Hast du Hunger?“ Yris hielt dem Mädchen den Rest ihres Brotes hin. Blitzschnell schnellten die kleinen Hände hervor und schnappten sich das Essen. Kurz darauf war es zwischen den sanft geschwungenen Lippen verschwunden.
„Willst du noch irgendwas?“ Das Kind nickte und Yris lief und holte unter den verdutzten Blicken der Anderen noch etwas Brot aus den Satteltaschen, das sie dem Mädchen reichte. Sofort war es aufgegessen.
„Wie heißt du?“
Es war das erste Mal, dass das fremde Kind eine Antwort gab. „Ich heiße Kaiia Silberfeder. Und weil du so nett zu mir warst, mache ich dir eine Weissagung. So etwas tue ich sonst nie für jemanden, aber ich mag dich, also pass auf...“
Die Augen des Mädchens schienen nun durch Yris hindurchzusehen, die Geisterstimmen flüsterten lauter, dann fing Kaiia mit leiser Stimme an zu singen: „Yris, Nebeltochter, ohne zweiten Namen, Schwertlilie, o lass dich warnen. Wird dein Blut vergossen werden, tilgt's auch andr'es Volk von Erden, untrennbar soll das Schicksal dein, mit Völkern hier verbunden sein. Dein Tod steht für den Niedergang, dessen, was einst mit einer Frau wie dir begann. Und des Letzten, ach gib Acht, vor dem Schatten und der Nacht. Der Mann dem dieser Nam' gegeben, ist sowohl dein Tod, als auch dein Leben.“
Kaiias Augen konzentrierten sich wieder auf die verwirrte Yris.
„Frag mich nicht was das bedeutet, das kann ich dir nicht sagen, ich weiß es nicht. Irgendwann wirst du es herausfinden. Leb wohl, Yris, meine Gedanken werden mit dir fliegen.“
Das Mädchen lächelte kurz ein unglaublich schönes Lächeln, drehte sich dann um und verschwand hinter einem Felsen.
Doch Yris hatte noch kurz Zeit, über die kleinen, schwarz-gefiederten Flügel auf Kaiias Rücken zu staunen.
Als sie sie sich umdrehte, immer noch ganz durcheinander wegen den seltsamen Worten des Mädchens, blickte sie geradewegs in funkelnde, silberne Augen. Der General stand hinter ihr.
„Sprich nicht noch einmal ohne meine Erlaubnis einfach mit fremden Kinder. Jeder könnte ein Späher sein, vor allem, wenn er zu den wilden Völkern gehört.“
„Das Mädchen war doch ganz harmlos!“, meinte Yris empört.
„Sie gehört zum Krähenvolk, was dir spätestens hätte klar werden müssen, als du ihre Flügel gesehen hast. Außerdem machen harmlose kleine Mädchen keine Weissagungen.“ Die Augen des Generals sprühten Funken. Aber Yris hatte keine Angst mehr vor ihm. Er sollte es doch wagen, ihr etwas anzutun! „Wisst Ihr denn etwa, was sie gemeint hat?“
„Nein und dir tut es auch besser, wenn du nicht darüber nachdenkst. Weissagungen sind gefährlich. Sie können einen in den Wahnsinn treiben und erfüllen sich grundsätzlich anders als man erwartet. Außerdem sind wir hier nicht zum Vögel füttern. Das Brot war unser Proviant.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und knurrte: „Wir reiten weiter!“
Schrecklich, kaum hatte sich Yris mal kurz mit seiner Gesellschaft abgefunden, machte er alles wieder zunichte. Er war einfach nur unfreundlich, mitleidslos und musste immer recht haben. Erst hatte sie ihn gefürchtet, jetzt konnte sie ihn nicht ausstehen. Dieser Mann trieb sie in den Wahnsinn. Sie würde ihn ab jetzt ignorieren. Darin war sie gut. Schon ihr ganzes Leben lang ignorierte sie Geisterstimmen um nicht aufzufallen, Andere hörten schließlich auch nichts. Es konnte nicht viel schwerer sein, dem General einfach keine Beachtung mehr zu schenken.


3
Yris


Yris stöhnte auf. Sie hatte nicht gedacht, dass Reiten solche Schmerzen verursachen konnte. Alle Stellen ihres Körpers, die mit dem Sattel in Berührung gekommen waren, brannten. Gehen tat auch weh.
Die Sonne begann bereits zu sinken. Sie hatten an einem kleinen Bach Halt gemacht, der fröhlich über sein Kiesbett plätscherte. Es gab hier auch einige Bäume, hauptsächlich Birken, deren Holz sie nutzen konnten um Feuer zu machen.
Hier wollten sie heute Nacht bleiben. Der General, Carne, Isla, Berin und Sarin waren noch einmal in verschiedene Richtungen losgegangen um die Gegend nach möglichen Feinden abzusuchen. Mohn und Yris waren bei den Pferden geblieben. Er holte gerade Wasser und sie schnitt einige wilde Möhren, die sie vorhin gefunden hatte für die Suppe. Wenigstens ein warmes Abendessen. Die Karotten waren winzig, aber sie würden hoffentlich ein bisschen Geschmack abgeben.
Das Messer, das sie benutzte hatte ihr Mohn geliehen. Er brachte ihr auch einen Topf mit Wasser. Das Ding hatte Yris schon vorhin bemerkt. Normalerweise war es mit ein paar anderen Kochutensilien an Mohns Sattel befestigt. Sein Pferd tat ihr irgendwie Leid, es musste ziemlich viel schleppen.
Dadurch, dass sie nun die Anderen begleitete und es deswegen ein Tier zu wenig gab, musste jedes noch mehr tragen. Bei nächster Gelegenheit brauchten sie ein Neues.
Gut, dass Yris Onkel ein altes Pferd gehabt hatte, dass er manchmal für die Feldarbeit nutzte. Es war zwar dürr und langsam, aber auf ihm hatte sie immerhin reiten gelernt. Sie konnte sich den Unmut des Generals vorstellen, wenn sie es nicht gekonnt hätte.
Aber wahrscheinlich war er sowieso zu geizig um ihr ein Pferd zu kaufen. Er würde wohl einfach eins beschlagnahmen.
In Ordnung, das war jetzt gemein. Er war nicht geizig. Aber seine anderen schlechten Eigenschaften reichten ihr vollkommen aus. Er war überheblich, arrogant, unfreundlich, unverschämt und sie verstand ihn einfach nicht.
Mohn trat mit einem Stapel Birkenreisig zu ihr, den er neben ihr auf den Boden fallen ließ. Während er versuchte das Holz zum Brennen zu bringen, suchte Yris große Steine, um sie neben das Feuer zu legen. Darauf wollte sie den Kochtopf stellen.
Sie hatte Mohn bisher noch nie auch nur ein Wort sagen hören, deswegen war sie auch ziemlich überrascht, als er plötzlich meinte: „Nimm dir nicht zu sehr zu Herzen, was der General sagt. Er ist nur eifersüchtig. Du wirst schon sehen.“
Dann widmete er sich wieder seinem Feuer, das immer noch nicht brannte.
Aha. Was wollte er Yris damit sagen? Worauf sollte der General eifersüchtig sein? Seltsam. Wieso sagte ihr heute jeder so unverständliche Sachen? Nachdenklich schüttelte sie den Kopf.
Inzwischen hatte sie auch geeignete Steine gefunden. Mohn kauerte immer noch am Boden und schaffte es nicht, ein Feuer zu entfachen, anscheinend war das Holz zu feucht. Ärgerlich, das bedeutete nämlich, dass es heute kalte Suppe geben würde.
Yris fragte: „Darf ich mal versuchen?“
Er rückte zur Seite und sie versuchte einen Funken zu schlagen. Ein paar Mal. Dann schimpfte sie: „Der Zunder verglüht nur und die Wärme reicht nicht um das Holz zu entzünden! Ich will keine kalte Suppe essen!“
Wütend schlug sie noch einmal die Feuersteine zusammen. Und sprang überrascht zurück. Das gesamte Holz war auf einmal in Flammen aufgegangen. Das war doch nicht möglich! Sie schaute sich um. Plötzlich sah sie den General ein Stück entfernt von ihr stehen. Er hatte seine eine Hand ausgestreckt, die Finger leicht gekrümmt. Carne stand hinter ihm und ihm fielen fast die Augen aus dem Kopf.
„Bitte sehr“, meinte General Rawen. Er hatte das Feuer mit seiner Magie entzündet. Yris war fasziniert. Das war nicht schlecht. So etwas wollte sie auch können, das war praktisch. Sie stellte den Kochtopf übers Feuer. Also doch warme Suppe zum Abendessen. Gut. Aber kein Grund ihre Meinung über den General zu ändern und ihm dankbar zu sein. Sie mochte ihn trotzdem nicht.
Er hatte sich inzwischen an einen Baum gelehnt niedergelassen und die Augen geschlossen. Als die Suppe endlich heiß war, waren auch Berin, Sarin und Isla wieder da, ohne irgendwo in der Nähe eine Spur von Gefahr gefunden zu haben. Gemeinsam saßen sie dann mit ihren Tellern aus dünnem Metall auf dem Boden. Yris verteilte das Essen, bevor sie sich zwischen Carne und Mohn niederließ.
Der General aß wieder nicht. Er lag ein Stück abseits in Moos und Heidekraut, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, ein Bein hochgestellt und schaute in den Abendhimmel, wo sich bereits die ersten Sterne zeigten. So lässig und entspannt kannte Yris ihn gar nicht. Während sie ihn noch beobachtete drehte er seinen Kopf und sah sie an. Als sei es ihm peinlich, dass sie ihn so gesehen hatte, richtete er sich auf und ging zu den Pferden um in seiner Satteltasche zu kramen.
Yris drehte sich wieder zu den Anderen. Der Suppentopf war leer und Mohn nahm ihn und die Teller, um sie mit über dem Feuer erwärmten Wasser zu spülen. Isla schürte noch einmal nach und als Mohn fertig war, meinte Berin, der bis dahin aufmerksam den Himmel beobachtet hatte: „Seht ihr den Stern da? Den ganz hellen?“
„Natürlich“, erwiderte Sarin, „das ist der Abendstern, Brüderchen. Warum?“
„Weil ich dazu eine schöne Geschichte kenne. Die Legende vom Abendstern.“
Von allen Seiten wurde er nun gespannt gemustert.
„Ihr wisst sicher, dass dieser Stern auch Yris genannt wird.“
Er zwinkerte der richtigen Yris zu.
„Diesen Namen hat er von einer Frau, um die es in dieser Geschichte geht. Sie war einst Königin des Nebelvolkes, doch nach und nach gelang es ihr auch die anderen Völker unter ihrem Banner zu einen, und zwar friedlich. Es wurde der Große Rat gebildet, der sich aus Vertretern aller Völker zusammen setzte und dem sie vorstand. Aran erlebte eine Blütezeit und die Völker trieben rege miteinander Handel. Nur ein Volk weigerte sich Yris' Bund beizutreten. Das Nachtvolk. Sie wollten selbstständig bleiben und behinderten außerdem den Handel, indem sich hohe Zölle auf alle Waren erhoben, die durch ihr Territorium transportiert wurden, das damals noch ziemlich groß war und sich durch das ganze Land erstreckte. Alle Verhandlungen schlugen fehl. Der Anführer des Nachtvolks blieb stur. Eines Tages wurde nun im Großen Rat der Vorschlag gemacht, dieses Volk mit einem Schlag auszurotten. Viele waren dafür, doch Yris weigerte sich, diesen Plan zu akzeptieren. Sie wollte in Frieden regieren. Doch es gab noch einen weiteren Grund. Sie liebte den Anführer des Nachtvolks. Jedes Mal, wenn sie ihn bei den Verhandlungen traf, versuchte sie ihre Gefühle zu unterdrücken. Und jedes Mal, wenn er wütend den Raum verließ, hätte sie vor innerem Schmerz aufschreien mögen. Er hasste sie, oder jedenfalls mochte er sie nicht. Er sah sie als Feindin. Aber egal wie er sie behandelte, sie konnte nicht zulassen, dass er und sein Volk ausgerottet wurden. Also weigerte sie sich vehement, den Vorschlag des Rates anzunehmen. Lange konnte sie den Plan verhindern, aber irgendwann setzte der Rat seinen Willen durch. Es wurde beschlossen, einen Blitzkrieg zu starten. Heimlich sammelte der Rat seine Truppen. Die Königin war schrecklich traurig. Sie konnte den Krieg nicht aufhalten. Aber sie konnte den Mann, den sie liebte auch nicht einfach sterben lassen. Denn wenn der Plan des Rates Erfolg hatte, war er als erster dran. Bevor er auch nur merkte wie ihm geschah. Irgendwann fasste Yris den Entschluss, ihn zu warnen. Sie kleidete sich in einen schlichten Mantel und ritt selbst los, denn sie konnte niemandem trauen. Mit ihrer Kapuze tief ins Gesicht gezogen, gelang es ihr, bis zum Anführer des Nachtvolks vorgelassen zu werden. Sie sagte zu ihm: 'Ich bringe Euch eine Botschaft von Königin Yris.' Er knurrte: 'Meine Königin ist sie nicht. Was will sie den schon wieder?' Gerade als Yris anhob zu antworten, öffnete sich die Tür des Raums, indem der Anführer des Nachtvolks seine Gäste empfing. Einer seiner Männer stürmte herein. Mit schreckensgeweiteten Augen meinte er: 'Die Truppen der Königin greifen uns an!' Wütend fuhr der Anführer zu Yris herum. 'Wie kannst du es wagen, hier dreist zu erscheinen? Solltest du uns den Krieg erklären? Jetzt, nachdem ihr bereits angreift und wir keine Chance mehr haben uns auf die Verteidigung vorzubereiten? Will sich die Königin über mich lustig machen?', schrie er sie an. Bevor Yris antworten konnte, machte er eine blitzschnelle Bewegung. Sie spürte einen stechenden Schmerz. Aus ihrem Bauch ragte das Heft eines Dolchs. Ihre Hände tasteten danach, doch sie hatte nicht die Kraft, die Waffe herauszuziehen. Stöhnend sank sie auf die Knie. Der Anführer musterte sie kalt. Leise meinte sie: 'Es tut mir Leid. Ich wünschte, ich wäre eher gekommen. Dann hätte ich Euch rechtzeitig warnen können.' Er starrte sie erstaunt an, dann ging er neben ihr in die Hocke: 'Wer bist du?' Er schlug ihre Kapuze zurück. 'Nein!' Er jetzt hatte er sie erkannt. 'Was tut ihr hier?' 'Ich wollte Euch warnen, dass der Rat seine Truppen gegen Euch gesammelt hat. Aber ich bin leider zu spät.' 'Ist das wahr?' Yris sah ihm in die Augen und meinte: 'Bei uns gibt es ein altes Sprichwort: Im Sterben spricht selbst der schlimmste Lügner die Wahrheit. Und ich sterbe.' Er zog sie an sich. 'Es tut mir so Leid! Vergebt mir!' Sie lächelte ihn trotz ihrer Schmerzen an. 'Ich will nur Frieden für mein Land. Und ich will, dass Ihr lebt. Ich liebe Euch.' Und in seinen Armen starb sie. Der Anführer des Nachtvolks stellte sich dem Rat. Er ergab sich und gestand seine Tat. In Gedenken an Yris und um ihren letzten Wunsch nach Frieden zu erfüllen, trat das Nachtvolk dem Bund bei. Aller Völker waren unter einem Banner vereint, schwarz mit einem weißen Stern in der Mitte, dem Abendstern, dem Zeichen der Königin, das noch immer ihren Namen trägt. Der Anführer des Nachtvolks musste allerdings ins Gefängnis. Dort saß er lange Zeit. Er spielte oft mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen, doch immer wieder meinte er Yris' Stimme zu hören, die ihn wütend anfuhr, wie früher in den Verhandlungen: 'Ich bin gestorben um dich zu retten und du versuchst dich umzubringen!' Dann sah er durch sein vergittertes Fenster den Abendstern und lächelte.“
Berin war am Ende seiner Geschichte angelangt. Alle anderen hatten ihm gespannt zugehört, sogar der General. Yris hatte Tränen in den Augen.
Carne fragte: „Warum weinst du? Das ist doch nur eine alte Legende.“
„Aber sie ist traurig.“ Und außerdem wahr. Sie konnte Teile der Geschichte sehen, als wäre sie dabei gewesen. Vielleicht war es nicht ganz genauso geschehen, wie Berin es erzählt hatte, aber die Grundzüge waren wahr. Yris wusste schon lange, dass sie manchmal die Vergangenheit sehen konnte, wenn auch meist nur verschwommen und bruchstückhaft. Es irritierte sie, vor allem weil sie das Gefühl hatte, dass es nicht immer nur Vergangenheit war.
Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. Dabei merkte sie, dass der General sie scharf beobachtete. Sie wollte seinen Blick gerade erwidern, als ihr einfiel, dass sie ihn ja eigentlich ignorieren wollte. Sie wandte sich ab. Er stand auf und sagte: „Berin und Sarin, ihr habt die erste Wache. Isla, Mohn und Carne waren gestern dran, also übernehme ich die zweite.“
„Und was ist mit mir?“, fragte Yris. Ups. Ignorieren vergessen.
General Rawen antwortete: „Du schläfst.“ Dann nahm er seine Decke vom Sattel und reichte sie ihr. „Wir haben eine für dich vergessen, also nimmst du meine.“
Sie wollte protestieren, aber er meinte nur: „Wenn du morgen krank bist, können wir nicht weiter reiten. Gute Nacht.“
Er ließ sie stehen.
Yris schlief schlecht. Der Boden war hart und sie fror trotz Decke erbärmlich. Sie war fast froh, als der Morgen graute und sie endlich aufstehen konnte. Aber nur fast. Ein neuer Tag bedeutete nämlich ein neuer Tag auf dem Pferd und ein neuer Tag mit dem General. Wie schön.
Das Frühstück und der Vormittag verliefen ereignislos. Sie durch ritten weiterhin menschenleere Heidelandschaften. Auch wenn sich Yris sicher war, dass sie wieder beobachtet wurden. Sie glaubte sogar zu wissen von wem. Das Land gehörte zum Territorium der Krähen und niemand blieb vor ihren scharfen Augen verborgen. Obwohl Yris jahrelang nur einen halben Tagesritt von ihren Grenzen entfernt gewohnt hatte, war sie noch nie einem von ihnen begegnet, bis auf Kaiia. Die Völker blieben meist unter sich und mieden Fremde. Vor allem wenn es Soldaten des Königs waren.
Zur Mittagszeit kamen sie an einen kleinen Fluss, wo sie auch Rast machten. Yris hätte gerne ein Bad genommen, denn zuhause tat sie das normalerweise mindestens jeden zweiten Tag, aber das Wasser und der Wind waren eisig. Außerdem gab es keinerlei Sichtschutz und ihre Reisegefährten waren schließlich alle Männer. Sie musste wohl auf eine bessere Gelegenheit warten.
Nach dem Mittagessen, das mal wieder nur aus Brot, Schinken und etwas Käse bestand, setzten sie ihren Ritt am Fluss entlang fort. Er war von hohen Ulmen, Espen und Birken gesäumt. Stellenweise wuchs Schilf an seinen Ufern, durch das immer wieder von Menschen geschaffene Pfade führten. Sie erstreckten sich auch über die Heide.
Kurz darauf stieß die kleine Gruppe auf bestellte Felder.
„Wer lebt hier?“, fragte Yris.
Carne antwortete: „Ich glaube, hier am Fluss gibt es einige Dörfer der Menschen und zum Teil wohnen dort auch Angehörige des Krähenvolks. Allerdings ist der Boden schlecht und deswegen wächst nicht viel. Es ist wirklich hart, hier Ackerbau zu betreiben. Also ich möchte nicht in dieser Gegend leben. Aber es gibt Leute, die das tun.“
Und tatsächlich, bald darauf kamen die ersten Häuser in Sicht. Sie waren aus Holz und hatten sehr kleine Fenster. Glas war teuer.
Die Menschen, die draußen unterwegs waren waren wettergegerbt. Sie musterten Yris und die anderen misstrauisch. Der General sprach einen der Männer an. Er hatte kurzes braunes Haar und war nicht besonders groß, aber das war hier niemand. „Seid gegrüßt. Könnt Ihr mir sagen, wo ich hier ein Pferd kaufen kann?“
Der Mann antwortete: „Keiner hier wird sein Pferd verkaufen“ Vorallem nicht an irgendwelche Fremde. „Versucht es doch bei den Krähen.“
„Und wo finden wir die?“ Man merkte dem General an, dass er sich Mühe geben musste um höflich zu bleiben.
„Folgt dem Weg bis zum Ende des Dorfes, dort steht ein großes Haus.“
Yris konnte fast hören, wie er in Gedanken hinzufügte: „Und macht, dass ihr hier wegkommt.“ Fremde waren in dieser Gegend anscheinend wirklich nicht gerne gesehen. Bei ihr zuhause war man nicht so misstrauisch. Aber vielleicht lag die Ablehnung der Dorfbewohner auch nur am General. Besonders vertrauenerweckend war er ja nicht. Man könnte ihm vorschlagen sich etwas freundlicher zu kleiden, nicht immer nur schwarz. Gerade als Yris dabei war, ihn sich in Rosa vorzustellen, hielt er sein Pferd an.
„Isla, steig ab und klopf an.“ Der Soldat schwang sich aus dem Sattel und ging auf das letzte Haus im Dorf zu. Es war größer als alle anderen und größtenteils aus Stein erbaut. Dahinter lagen einige hölzerne Wirtschaftsgebäude und einige Weiden. Über dem Eingang befand sich ein Bleiglasfenster. In bunten Farben zeigte es ein Wappen, Krähen, die auf einem gelben Stoppelfeld saßen, umrahmt von rotem Mohn und blauen Kornblumen.
Auf Islas Klopfen hin öffnete ein relativ kleiner Mann die schwere Holztür. Er hatte schwarze, glänzende Augen und große, ebenfalls schwarze Flügel am Rücken. Er meinte: „Tretet ein. Wir haben Euch erwartet.“
Der General stieg ab und gab seine Zügel Berin in die Hand. „Isla, du begleitest mich nach drinnen.“
Der Angesprochene nickte, doch der Krähenmann sagte: „Nehmt das Mädchen auch mit.“
Das schien General Rawen nicht zu passen. Er zögerte einen Moment. Nachdenklich runzelte er die Stirn. „Wenn es sein muss.“
Anscheinend schien er eine Falle zu fürchten. „Haltet die Pferde bereit, für den Fall dass wir schnell weg müssen,“ flüsterte er Carne so leise zu, dass es der Krähenmann nicht hören konnte. Dann folgten sie diesem zu dritt ins Innere des Hauses.
Der General hielt sich vor Yris, als würde er sie mit seinem Körper decken, als hätte er Angst, dass jemand versuchen könnte sie anzugreifen.
Im Flur war es dunkel, nur aus einer leicht geöffneten Tür drang das unruhige Licht eines Kaminfeuers. Es gab eindeutig noch mehr Türen zu beiden Seiten des Ganges, doch die waren alle geschlossen. Hinter jeder konnte jemand lauern. Die Besorgnis des Generals machte auch Yris unruhig. Sie hatte ein flaues Gefühl im Magen. Als sie hinter ihm durch die leicht geöffnete Tür trat, fürchtete sie schon von Pfeilen durchbohrt zu werden. Doch niemand versuchte sie umzubringen. Stattdessen wurde sie von mindestens zwölf Augenpaaren neugierig gemustert.
Im Schein des Kaminfeuers erkannte sie einen großen Raum an dessen Wänden lange Bänke standen, die mit Fellen und Kissen bedeckt waren. Überall saßen und standen Krähenmenschen. Und alle beobachteten Isla, den General und Yris. Schüchtern blickte sie sich um, froh über die Deckung, die ihr die breiten Schultern des Mannes boten.
Einer der Krähenmänner trat auf sie zu. Er hatte ebenfalls schwarze Flügel, wie alle hier, doch seine langen Haare waren silbergrau. Er meinte: „Willkommen in meinem Haus. Ich bin Meister Roin.“
Der General neigte höflich den Kopf.
„Ihr habt uns erwartet?“, fragte er.
„Nehmt doch erst einmal Platz“, kam die Erwiderung und Finger mit langen, gebogenen Nägeln, die an die Krallen einer Krähe erinnerten zeigten auf die Bänke an den Wänden. Beruhigt durch die traditionelle Willkommensformel, die Meister Roin benutzt hatte um sie zu begrüßen folgte der General der Aufforderung. Die Worte „Willkommen in meinem Haus“ wurden unter den Völkern allgemein als Zeichen der Gastfreundschaft und des Friedens verwendet. Jeder wusste das. Auch Yris Beunruhigung ließ wieder etwas nach. Sie setzte sich zwischen Isla und den schwarzen General. Kimonos in allen Farben, hauptsächlich aber grau, blau oder schwarz raschelten, als sich auch die Krähen niederließen.
Meister Roin begann erneut zu sprechen: „Wir beobachten Euch schon, seit Ihr unser Land betreten habt.“
„Ich weiß“, erwiderte der General.
Er hatte es also auch bemerkt.
„Wir wollen nur Euer Land durchqueren und ein Pferd kaufen.“
„Ja, vor einiger Zeit hat einer unserer Seher bereits vorausgesagt, dass Ihr kommen würdet. Wir haben bereits eines für Euch ausgesucht.“
Der General zog erstaunt die Augenbrauen hoch.
Yris fragte: „Das ist aber nett! Macht Ihr das bei jedem Reisenden so?“
Die Krähen kicherten und lachten. General Rawen schlug sich die Hand vor die Stirn und schien irgendwie leicht verzweifelt
„Wir werden uns wohl noch über das Thema unnütze und dumme Fragen unterhalten müssen“, meinte er.
„Nein“, erklärte Meister Roin lächelnd, „normalerweise nutzen wir unsere hellseherischen Fähigkeiten nicht dazu heraus zu finden, wie wir Leuten helfen können, die unser Land durchqueren. So nett sind wir nicht. Aber die Weissagung sagt, dass wir Euch helfen sollen. Nicht unbedingt dem schwarzen General und somit dem König“, er warf dem General einen unfreundlichen Blick zu, doch dieser ignorierte das.
„Wir sollen dem Nebelmädchen helfen, das mit ihm reitet.“
Yris schnappte erstaunt nach Luft. „Warum?“, fragte sie.
Roin zuckte die Schultern. „Wir wissen es nicht.“ Roin zuckte die Schultern. „Deswegen sind so viele von uns heute hier, um Euch zu sehen und das vielleicht herauszufinden.“
„Seid Ihr schon zu einem Ergebnis gekommen?“
„Nein. Allerdings habe ich es auch nicht anders erwartet. Prophezeiungen sind eine seltsame Sache. Wahrscheinlich werden wir es nie erfahren.“ Er lächelte, es schien ihn überhaupt nicht zu stören. „Lassen wir das Thema. Kann ich Euch etwas anbieten? Etwas zu essen? Zu trinken? Seid unsere Gäste.“
„Es wäre äußerst unhöflich, dieses Angebot abzulehnen.“


4
Yris
Yris wachte auf, weil sich neben ihr jemand bewegte. Sie lag auf dem Bauch in einem Haufen aus Kissen und Fellen auf dem Boden. Ihr Arm und eine Hälfte ihres Körpers lagen über dem Brustkorb eines Mannes. Oh. Vorsichtig rutschte sie von ihm weg. Und stieß gegen jemanden, der sich auf der anderen Seite befand. Derjenige fluchte äußerst unfreundlich darüber, dass er aus dem Schlaf gerissen wurde.
„Entschuldige Isla“, flüsterte Yris.
Er meinte: „Schon gut, du kannst ja nichts dafür, dass die Krähen nicht mehr Platz haben und wir uns deswegen hier auf dem Boden quetschen. Viel zu eng.“
Oh ja, da hatte er Recht. Sie wandte sich von ihm ab und betrachtete den Mann, dem sie aus Versehen so nahe gekommen war. Er war wach und grinste sie an.
„Was findest du so lustig Carne?“
„Ich finde es lustig, wie rot du gerade wirst. Keine Sorge, ich habe kein Problem damit, dass du dich an mich schmiegst“, entgegnete er ihr scherzend.
Sie antwortete auf gleiche Weise: „Ich aber. Bilde dir jetzt bloß nichts ein, ich habe geschlafen!“
„Wer hat mit wem geschlafen?“, mischte sich Sarin ein. Auch Berin richtete sich von seinem Lager auf und sagte: „Sie hat nur gesagt 'geschlafen' ohne 'mit', Bruderherz.“
Männer! Yris konnte nur den Kopf schütteln.
Da auch Mohn aufrecht dasaß,waren wohl alle wach. Der schwarze General hatte nicht bei ihnen übernachtet, wo stattdessen wussten sie nicht. Möglicherweise hatte er überhaupt nicht geschlafen. Irgendwann nach dem Abendessen mit den Krähen war er hinaus gegangen. Erstaunlicherweise hatte er sogar etwas gegessen.
Jetzt riss er auf jeden Fall die Tür auf und sagte: „Steht auf, wir reiten in einer halben Stunde weiter! Ihr habt sowieso viel zu lange geschlafen.“ Mit diesen Worten stürmte er wieder hinaus.
„Er wünscht nie jemandem einen guten Morgen, oder?“, fragte Yris.
Niemand hielt es für nötig, ihr darauf etwas zu erwidern, denn die Antwort war viel zu offensichtlich.
Die Krähen hatten noch ein kleines Frühstück zubereitet: frisches Brot und Fleischspieße. Leider konnte es niemand wirklich genießen, der General sorgte dafür, dass sie sich beeilten. Außerdem wollte Yris lieber nicht wissen, von was für einem Tier das Fleisch war. Es waren zähe, kleine Stücke und sie hatte da so Gerüchte gehört, …Angeblich hatten Krähenmenschen keine Probleme mit Rattenplagen. Ihren Gefährten gegenüber verschwieg sie diese Befürchtungen vorsichtshalber.
Genau eine halbe Stunde nachdem der schwarze General in ihr Zimmer gestürmt war saßen sie auf ihren Pferden, auch Yris. Das, das die Krähen für sie ausgesucht hatten war ein großer Brauner. Er hörte auf den Namen Rao: Wirbelwind, Turbo und anscheinend war der Name Programm. „Er ist eines unserer schnellsten und ausdauernsten Pferde. Manchmal ist er zwar etwas schwierig, aber nichts und niemand kann ihn einholen, wenn er läuft.“
„Ich danke Euch und allen anderen Meister Roin. Es war mir eine Ehre Eure Bekanntschaft zu machen. Die Krähen sind ein bewundernswertes Volk. Wisst Ihr eigentlich inzwischen, warum Ihr mir helfen solltet?“
„Nein, nicht wirklich. Aber weißt du was ich glaube? Ich glaube, dass du es einfach wert bist. Die wenige Zeit, in der ich dich erleben durfte hat gereicht um mir zu zeigen, dass du etwas Besonderes bist. Du strahlst etwas aus, das Hoffnung macht und Frieden schafft.“
Yris wurde rot und lächelte dankend.
„Alles Gute und wenn du jemals wieder in der Gegend bist, dann besuche uns. Wir werden dich immer willkommen heißen“, sprach Roin weiter und an den General gewandt fügte er hinzu: „Seid vorsichtig. Wir haben Gerüchte gehört, dass sich nördlich von hier ein großer Trupp Räuber herumtreibt. Das Eulenvolk, das dort lebt ist auch nicht ohne. Nehmt Euch in Acht.“
„Vielen Dank für den Rat und für Eure Gastfreundschaft“, erwiderte der General, dann gab er das Zeichen zum Abritt.
Meister Roin rief ihnen hinterher: „ Lebt wohl, die Gedanken meines ganzen Volkes werden mit Euch allen fliegen.“
Sie folgten wieder dem kleinen Fluss, aus dem Dorf hinaus, zwischen den Feldern hindurch, die sie aber auch bald hinter sich ließen. Yris taten bald die Hände weh, denn sie musste Rao die ganze Zeit zurück halten. Er wollte laufen und die anderen Pferde waren ihm viel zu langsam. Aber immerhin vertrug er sich dem ersten Anschein nach mit ihnen. Er war schon einige Male dem Rappen des Generals oder einem der anderen Tiere ziemlich nahe gekommen, aber keines hatte ausgeschlagen, gebissen oder auch nur die Ohren angelegt.
Zur Mittagszeit meldete sich dann bei Yris auch in allen anderen Muskeln, die beim Reiten beansprucht werden der Schmerz zurück.
„Langsam könnten wir mal Pause machen und zu Mittag essen“, sagte sie zu Carne neben ihr. Bevor er antworten konnte, mischt sich der General ein: „Wir werden Rast machen, wenn wir den Fluss überquert haben, dem wir schon die ganze Zeit folgen. Bei den Krähen haben wir uns viel zu lange aufgehalten. Heute müssen wir uns etwas beeilen.“
„Etwas ist wohl etwas untertrieben“, flüsterte Yris gerade so laut, dass er es noch hören konnte. Idiot! Er sorgte immer dafür, dass sie sich beeilten. In diesem Moment fiel ihr wieder ein, dass sie ja eigentlich vorhatte ihn zu ignorieren, aber irgendwie gelang ihr das nicht. Na ja, egal.
„Und wann überqueren wir den Fluss?“, erkundigte sich Sarin.
„Jetzt“, kam die ungehaltene Antwort.
Direkt vor ihnen machte der Fluss eine scharfe Biegung. Ihr Pfad kreuzte seinen Lauf und führte am anderen Ufer weiter. Heidesträucher, Ginsterbüsche und Silberbirken wucherten überall.
„Hier ist die seichteste Stelle, eine Brücke gibt es nicht, auch keine weiter Furt im Umkreis von drei Tagesritten. Wir müssen hier hinüber.“ Mit diesen Worten ritt der General auf das Wasser zu. Die anderen folgten ihm. Yris hoffte, dass Rao nicht wasserscheu war. Sie ließ ihn hinten gehen, damit er einfach nur den anderen Pferden nachlaufen musste. Aber anscheinend waren ihre Befürchtungen unbegründet. Brav ging er vorwärts.
Das Pferd des Generals war inzwischen bis zum Bauch im Fluss. Hinter ihm keuchte Isla auf, als ihm das Wasser in die Stiefel schwappte. „Das ist ja eiskalt!“, jammerte er.
Auch Yris' Füße waren nun nass. Sie war froh, als sie die Mitte des Flusses hinter sich hatte und merkte, dass es seichter wurde. Doch in diesem Moment stolperte Rao und stürzte. Sie spürte, wie sie den Halt verlor. Sie landete im Fluss. Die Strömung riss an ihr, sie wusste nicht mehr wo oben und unten war. Eisiges Wasser war überall um sie herum. Irgendetwas hartes, wahrscheinlich ein Ast, den die Fluten mit sich gespült hatten, schlug gegen ihren Kopf. Der Schmerz zuckte durch ihren ganzen Körper.
Sie wusste, dass sie auftauchen musste, zum Ufer schwimmen musste, aber sie war vollkommen orientierungslos. Ihr fiel es zunehmend schwerer sich zu bewegen. Sie konnte nicht mehr. Ihr Kopf war noch immer unter Wasser, sie brauchte Luft.
Plötzlich krachte sie gegen etwas. Es fühlte sich an wie eine Wand. Mitten im Fluss? Sie wurde von der Strömung hart dagegen gedrückt. Gerade als sie merkte, wie ihr die Sinne schwanden, packte sie jemand und riss sie nach oben. Sie spuckte und hustete, während sie mit kräftigen Schwimmzügen durchs Wasser gezogen wurde. Warme Arme hielten sie und verhinderten, dass die Strömung sie wieder mit sich nahm.
„Nehmt sie und zieht sie raus!“
Zwei Paar andere Hände griffen nach ihr und hievten sie ans Ufer. Berin und Sarin sahen auf sie hinunter.
„Danke!“, hustete sie.
Hinter ihr stieg der schwarze General aus dem Fluss. Er hatte Stiefel, Mantel, Wams und Handschuhe ausgezogen und trug nur Hemd und Hose. Sobald er ganz an Land war schüttelte er sich wie ein nasser Hund.
Inzwischen sah Yris auch, gegen was die Strömung sie vorhin gedrückt hatte. Ein silbern schimmernde, fast dursichtige Wand, eindeutig aus Magie, staute das Wasser. Vor ihren Augen löste sie sich langsam auf und der Fluss konnte ungehindert weiter fließen. Wahnsinn! Sie starrte den General mit offenem Mund an. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Er konnte einen Fluss stauen und gleichzeitig noch schwimmen und sie retten! Außerdem, na ja, als er sein Hemd auszog um es aus zu wringen, konnte sie den Blick nicht von seinem Körper wenden. Verdammt, warum war der größte Idiot, den sie kannte auch eindeutig der bestaussehendste? Aber Idiot bleibt Idiot, den gerade als sie ansetzte um ihm zu danken meinte er: „Wenn du das nächste Mal ins Wasser fällst und gerettet werden musst, dann bitte in warmes. Und versuch nicht krank zu werden.“
Verärgert wandte sie sich von ihm ab und ging zu den Pferden, die von Carne, Isla und Mohn festgehalten wurden. Sie standen ein ganzes Stück flussaufwärts. Yris war ziemlich weit abgetrieben worden.
Rao hatte es glücklicherweise allein aus dem Wasser geschafft, allerdings war er patschnass, wie alle Sachen, die an seinem Sattel gehangen hatten.
Nein, bitte nicht. Yris stöhnte auf. „Was soll ich den jetzt anziehen? Ich kann doch nicht so weiter reiten.“
„Du kannst eine Hose und ein Hemd von mir haben“, bot Carne an „und wenn du deine Sachen aufhängst während wir Mittagsrast machen, sind sie bestimmt bald wieder trocken.“
Er reichte ihr die Kleidung, die er ihr leihen wollte und sie verschwand damit hinter einem Gebüsch um sich um zu ziehen. Es war ihr zwar alles etwas zu groß, aber immer noch besser als ihr eigenes, nasses, am Körper klebendes Zeug.
Als sie wieder zu den anderen stieß, hatten die sich bereits zum Essen gesetzt. Die Pferde waren angebunden und grasten. Irgendjemand hatte sich die Mühe gemacht und den Inhalt von Yris Satteltaschen ausgeräumt und über einigen Ästen zum Trocknen aufgehängt. Das war zwar etwas peinlich, denn auch ihre Ersatzunterwäsche hing jetzt dort, aber da durfte man wohl nicht so zimperlich sein. Außerdem konnte man sicher davon ausgehen, dass jeder der Soldaten schon einmal Frauenunterwäsche gesehen hatte.
„Danke“, sagte sie.
Plötzlich trat der General zu ihr. Er war nicht mehr nass, nur von seinen Haaren stieg noch etwas Dampf auf. Solche Magie zu beherrschen war schon toll. Leider traute sich Yris nicht ihn zu fragen, ob er das bei ihr auch machen konnte.
Aber, als hätte er ihre Gedanken gelesen, meinte er: „Ich würde deine Sachen und Haare ja auch trocknen, aber wenn ich heute noch mehr Magie verwende, falle ich nachher vor Erschöpfung vom Pferd. Es kostet nämlich einiges an Kraft einen Fluss zu stauen.“
„Danke, dass Ihr es getan und mich gerettet habt“, erwiderte Yris. Auch dem schwarzen General gegenüber sollte man höflich bleiben. Außerdem hatte sie wirklich allen Grund, ihm dankbar zu sein. „Es ist nicht schlimm, wenn Ihr mir jetzt nicht auch noch mit meiner nassen Kleidung helft.“
„Nein, ist es nicht. Ich denke, nasse Kleidung ist eine angemessene Strafe dafür, ins Wasser zu fallen.“
Als hätte sie sich freiwillig in den Fluss gestürzt! Dieser Mann war einfach unmöglich! Ab jetzt doch keine Höflichkeit mehr für General Rawen. Sie warf ihm noch einen wütenden Blick zu, dann drehte sie sich um und ging sich etwas zu essen holen. Mit ihrer Ration Brot und Schinken setzte sie sich auf einen kleinen Felsen in die Sonne, die heute glücklicherweise schien. Doch lange dauerte die angenehme Pause nicht. Schon bald scheuchte der General sie weiter. Warum hetzte er nur immer so? Unmöglich!

Der Nachmittag verlief ereignislos, aber angenehm. Yris fühlte sich nicht mehr beobachtet und sie fanden auch sonst nirgendwo Spuren menschlichen Lebens, außer dem Pfad, dem sie folgten. Die Sonne schien weiter und sie scherzten und lachten.
Der Abend kam mit einer wundervollen Abenddämmerung: türkis, blau und gelb mit einem strahlendem Abendstern neben einem hellen Sichelmond. Yris grüßte hinauf zu dem Stern, der denselben Namen trug wie sie und sie hatte das Gefühl, dass er zu Antwort noch schöner funkelte.
Nach dem Essen, wie immer Brot mit Schinken, meinte der General: „Isla und Mohn, ihr habt die erste Wache. Carne, du die zweite. Ich muss heute Nacht schlafen, nachdem ich vorhin so viel Magie verwenden musste.“ Er warf einen bedeutungsvollen Blich auf Yris. Er immer mit seinen Anspielungen. Sie sah in böse an. „ Ich kann doch die zweite Wache mit Carne übernehmen!“, schlug sie vor.
„Nein, du wirst auch schlafen.“ Er nutzte wie immer seinen typischen Befehlston.
„Ihr könnt mich nicht davon abhalten einfach auf zu stehen und mit Carne Wache zu halten.“
Der schwarze General runzelte unfreundlich die Stirn. „Bist du dir sicher, dass ich das nicht kann?“, knurrte er.
Nein, war sie nicht, aber sie starrte ihn mit in die Hüften gestemmten Armen trotzig an.
Er überlegte einen Moment, dann gab er nach. „ Wir werden aber tauschen. Ich will, dass du zusammen mit Mohn die erste Wache übernimmst, Carne und Isla bekommen die zweite.“
Wenn er sich das so einbildete, ihr sollte es egal sein.
Kurze Zeit später wickelten sich alle in ihre Decken. Sarin, Berin, Isla und der General legten sich ums Feuer. Yris setzte sich neben Mohn, der mit dem Rücken an einen Baum lehnte. Sie lauschten auf die Geräusche der Nacht, das Flüstern der Bäume und Gräser, das Knistern der Flammen, das immer leiser wurde, während das Feuer immer weiter herunter brannte.
Irgendwann stand Mohn auf und schürte nach. Er ging eine Runde um das Lager und sah nach den Pferden. Das nächste Mal erhob sich Yris.
Nachtwache war eigentlich eine Mischung aus Langeweile, Müdigkeit und angenehmer Ruhe um Nachzudenken. Allerdings war es auch etwas unheimlich, denn überall im Dunkeln konnte Gefahr lauern. Ständig bildete man sich ein, eine Bewegung zu sehen oder ein ungewöhnliches Geräusch zu hören.
Außerdem war es fürchterlich kalt. Yris war froh, als ihre Wache endlich vorüber war, sie Carne und Isla wecken und sich schlafen legen konnten.
Der nächste Morgen kam viel zu früh. Sie war noch immer müde und ihre Zähne klapperten als sie sich aus ihrer Decke schälte. Oh, und ihr Rücken war verspannt und tat weh, weil der Boden so hart war. Nebel lag noch über der Landschaft, als sie auf die Pferde stiegen. Rao war heute etwas ruhiger und zerrte nicht mehr so an den Zügeln und etwas später schien auch die Sonne wieder. Kurz gesagt, der Vormittag war eigentlich ganz in Ordnung. Bis sie auf Spuren stießen.
Der General stieg ab um sie zu untersuchen. Tief vorn über gebeugt folgte er ihnen nach Südwesten, wo sie herkamen, dann nach Nordosten, wo sie hinführten. Nachdem er auch die Stelle begutachtet hatte, an der sie den Pfad kreuzten richtete er sich auf und meinte: „Hier sind mindestens 20 Menschen entlang gekommen, ein paar davon beritten. Ich fürchte, wir haben es hier mit den Räubern zu tun, vor denen die Krähen uns gewarnt haben.“
„Wann waren sie hier?“, erkundigte sich Sarin.
„Ich schätze gestern.“
„So knapp vor uns?“, fragte Berin erschreckt, „Was machen wir jetzt?“
„Nichts“, erwiderte der General mit einem Schulterzucken, „Wir reiten weiter wie bisher und hoffen.“ Doch auch er wirkte besorgt. Er stieg wieder auf und trabte los, um etwas Abstand zwischen sie zu bringen.
Yris stellte erstaunt fest, dass sie sich Sorgen um ihn machte. Wenn er nun in einen Hinterhalt geriet? Gegen 20 Mann kam wohl selbst er nicht an. Voraus reitende Kundschafter lebten gefährlich. Er nervte sie zwar oft, aber sie wollte auch nicht, dass er starb. Die ganze Zeit lauschte sie auf ungewöhnliche Geräusche, Schwerterklirren, Schreie. Aber alles was sie hörte war der Hufschlag der Pferde und die gedämpften Gespräche ihrer Gefährten. Und natürlich die Stimmen der Geister, die im Moment allerdings nicht sonderlich deutlich waren.
Sie war erleichtert, als der General wieder vor ihnen auftauchte.
„Ich glaube, dass wir bald wieder auf ein Dorf stoßen werden. Dort vorne sind Felder“, rief er ihnen schon von weitem zu.
Gemeinsam ritten sie weiter und tatsächlich tauchten bald wieder Wiesen und bebaute Äcker auf. Allerdings war keine Menschenseele zu sehen.
„Wahrscheinlich wissen sie von den Räubern und bleiben im Dorf“, vermutete Isla.
Das Dorf lag am Rande eines kleinen Waldes. Es war etwas kleiner, als das in dem Meister Roin mit seinen Krähen lebte. Um eine Dorfplatz scharten sich etwa 15 Häuser, der Pfad führte geradewegs hindurch.
Man sah einige Weiden, aber keine Tiere darauf. Auch Menschen waren keine unterwegs.
„Ist da jemand?“, rief der General
Es kam keine Antwort, alles schien verlassen.
„Verdammt!“, fluchte er. „Was ist hier los?“
In der Mitte des Ortes hielten sie an und stiegen ab. Plötzlich sah Yris etwas im Schatten eines Hauses liegen. Sie ging darauf zu.
„Bleib hier!“, befahl ihr General Rawen. „Wir müssen hier weg!“
Doch sie hörte ihm nicht mehr zu. Dort, am Boden in einer riesigen Lache aus Blut lag ein Mann. Seine Augen waren weit aufgerissen und glasig, in seiner Brust klaffte eine große Wunde. Er war tot.
Yris musste würgen.
„Verdammt!“, fluchte der General erneut.
„Von da an ging alles unglaublich schnell. Aus den Häusern kamen ungepflegte, grimmig aussehende Männer und bevor sie sich versah, waren sie umzingelt und wurden angegriffen.
Die Schwerter der Soldaten waren den Äxten und Keulen der Räuber weit überlegen und dem General konnte niemand das Wasser reichen. Er sah aus wie ein Kriegsgott, wie er so mit der einen Hand sein bereits blutiges Schwert schwang, während er mit der anderen Zauber um sich schleuderte, die jedes Mal zielsicher seine Feinde trafen.
Allerdings waren diese in der Überzahl. Und Yris besaß keine Waffe. Sie wollte zu ihren Gefährten laufen, doch jemand packte sie grob am Arm. Sie schlug und trat wie wild um sich, aber gegen den Räuber, der sie mit sich vom Kampfplatz zwischen die Häuser zerrte hatte sie keine Chance. Sie versuchte zu schreien, aber er hielt ihr den Mund zu.
„Wir wollen doch nicht, dass dein Magier auf uns aufmerksam wird“, spottete er.
Als sie jetzt Anstalten machte, ihn zu beißen, stieß er sie zu Boden. Sie kam hart auf und alle Luft wich aus ihren Lungen. Der Kerl beugte sich über sie. „Du bist wirklich hü...“, weiter kam er nicht mehr.
Aus seinem Bauch ragte eine Schwertspitze. Er begann Blut zu spucken und ging in die Knie, als der General sein Schwert wieder aus dem Leib heraus zog, den es durchbohrt hatte.
Yris sah entsetzt zu wie er weit ausholte und den Räuber mit einem brutalen Schlag enthauptete. Dann wischte er seine Waffe an der Kleidung des Toten sauber. Seine Augen glitzerten immer noch vor Zorn und der Aufregung des Kampfes.
„Alles in Ordnung?“, fragte er und kniete sich neben sie.
Sie wich schluchzend und am ganzen Leib zitternd vor ihm zurück.
„Was ist? Liegt es daran, dass ich den Kerl getötet habe? Yris, sieh mich an.“ Er fasste sie an den Schultern.
„Du wusstest bereits, dass ich schon Menschen getötet habe, genau wie Carne, Isla, Mohn, Berin und Sarin. Wir sind Soldaten, das ist Teil unseres Berufes.
Ich gebe zu, dass es nicht richtig ist. Aber es ist so.
Die Räuber haben auch den Mann getötet, den du vorhin gefunden hast und wahrscheinlich noch viele andere Einwohner dieses Dorfes. Sie wollten uns töten und du kannst dir sicher vorstellen, was der Kerl mit dir vorhatte.“
„Ich weiß, aber es tut mir trotzdem Leid, dass er sterben musste. Es tut mir um jeden Leid, egal was er getan hat, egal ob er es verdient hat“, schluchzte sie weiter. Sie konnte es nicht ertragen Menschen leiden zu sehen. Heute hatte sie zum ersten Mal jemanden sterben sehen. Seine Schmerzen, seine Angst waren durch ihren Körper geflossen, als wären es ihre eigenen.
„Yris, komm, bitte hör auf zu weinen!“
Der General klang leicht ratlos und dann hielt er ihr tatsächlich ein Taschentuch hin. Sie nahm es und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Ihr Schluchzen wurde zu einem erstickten Schluckauf, dann ließ sie sich von ihm aufhelfen.
„Komm mit, wir gehen zurück zu den anderen.“
Bei diesen Worten des Generals erschrak sie fürchterlich. „Was ist mit den anderen? Geht es ihnen gut?“ Sie heulte hier wie ein kleines Mädchen, während ihre Gefährten vielleicht Hilfe brauchten!
Doch der General beruhigte sie: „Mach dir keine Sorgen, nur Berin hat eine Platzwunde am Kopf, sonst haben wir nicht mal Verletzte. Wir hatten Glück, dass die Räuber ziemlich schnell geflohen sind, nachdem sie gemerkt haben, dass ich Magie beherrsche.“
Yris wollte so schnell sie konnte zu Dorfplatz laufen, wo der Kampf stattgefunden hatte, aber der er hielt sie am Arm fest.
„Vielleicht solltest du hier warten“, meinte er „Es ist kein schöner Anblick. Wir haben zwar keine Verluste, aber die Räuber. Mindestens zehn Tote. Ich würde es nämlich bevorzugen, wenn du nicht wieder anfängst zu weinen. Ich werde dir Mohn und Isla schicken, dann könnt ihr die Pferde suchen gehen. Hoffentlich sind sie noch in der Nähe.“
Sie waren noch in der Nähe. Die fliehenden Räuber hatten sie glücklicherweise nicht mitgenommen. Etwas außerhalb des Dorfes grasten sie in aller Seelenruhe. Als Yris näher trat hob Rao den Kopf und kam sogar etwas auf sie zu.
„Kommt, wir binden sie dort drüben an den Zaun und gehen dann Holz suchen“, meinte Isla, während er nach den Zügeln seines Falben griff.
„Warum Holz suchen?“, fragte Yris erstaunt.
„Natürlich um die Toten zu verbrennen. Wir können sie nicht einfach liegen lassen, damit die Tiere sie fressen.“
Verbrennen war die häufigste Bestattungsart in Aran. Außer bei einigen wenigen Völkern, meist denen, die in holzarmen Gegenden lebten, war es überall üblich, verbunden mit dem Glauben, dass der Rauch die Seele zu den Sternen tragen würde.
Yris bemühte sich, nicht schon wieder in Tränen aus zu brechen. Auch Isla sah traurig und erschöpft aus. Sie hatten inzwischen alle Pferde festgebunden und er meinte: „Kommt, wir sollten uns beeilen, denn wir werden eine ganze Menge Brennstoff brauchen.“
Mit schweren Schritten ging er auf den Wald zu und begann trockene Äste und Zweige auf zu lesen. Mohn und Yris taten es ihm gleich. Schon bald hatte sie soviel Holz, wie sie tragen konnte aufgehoben. Ihr war klar, dass sie es jetzt eigentlich zum Dorfplatz bringen sollte, wo zweifellos die Toten verbrannt werden würden, doch sie zögerte.
Angst vor dem Anblick der sich ihr bieten würde stieg in ihr auf.
Sie spürte den Tod bis dorthin wo sie stand. Wie ein schwerer, süßlicher Gestank hing er in der Luft, nahm ihr den Atem, drückte sie nieder.
Manchmal hasste sie ihre seltsamen, zusätzlichen Sinne.
Es kostete sie große Überwindung wieder in Richtung Dorfplatz zu gehen. Mit jedem Schritt wurde das Gefühl von Tod deutlicher. Sie trat um eine Hausecke und blieb stehen.
Berin saß auf dem Boden und hielt sich den Kopf, den ein weißer Verband zierte. Sarin und der General trugen die Leiche eines Mannes zu den anderen, die nebeneinander in der Mitte des Platzes lagen. Carne trat aus einem der Häuser. Er rief dem General zu: „Hier sind noch zwei Tote, ein Mann und eine Frau. Allerdings sieht es so aus, als wären die meisten Dorfbewohner geflüchtet bevor die Räuber kamen, ansonsten hätten wir sicher noch mehr Leichen gefunden.“
„Es ist eine Schande!“, schimpfte Sarin, „Es kann doch nicht wahr sein, dass es ein Trupp Halunken wagt, ein Dorf an zu greifen und aus zu rauben!“
„Keine Sorge“, erwiderte der General, „sie werden nicht mehr lange ihr Unwesen treiben. Entweder werden sich die Menschen, die hier in der Gegend leben zusammen rotten und sie beim nächsten Überfall erledigen oder sie werden das Eulenvolk verärgern und mit denen ist nicht zu spaßen. Sie jagen lautlos und effizient. Außerdem haben wir viele der Räuber getötet, sie haben keine Chance mehr.“
Er überlegte einen Moment und fuhr dann fort: „Aber du hast recht. Der König sollte etwas zum Schutz der Menschen hier tun. So etwas darf nie wieder vorkommen.“
Yris fragte sich gerade, ob den König das Schicksal der Leute hier überhaupt interessierte, als der General sie entdeckte. Er kam auf sie zu. „Was machst du schon wieder hier?“
„Ich bringe Holz“, entgegnete sie.
„Dann gib es mir und hol' noch mehr.“
Er streckte ihr die Arme entgegen und sie lud ihm die Äste und Zweige auf. Sie war froh, dass sie nicht näher zu den Toten gehen musste. Dann ging sie schnell zurück zum Wald. Auch als sie das nächste Mal mit Reisig kam, nahm er es ihr am Rande des Dorfplatzes ab.
Bis sie am späten Nachmittag genug Brennstoff zusammen hatten, sprach niemand mehr ein Wort. Yris tat vom Bücken der Rücken weh und an irgendetwas hatte sie sich die Hände aufgerissen. Doch ohne den General hätten sie wohl noch länger gebraucht. Seine Magie entzündete das Feuer und hielt es am Brennen, wenn es verlöschen wollte.
Yris stand wieder am Rand des Dorfplatzes. Sie fühlte den Tod jetzt noch stärker als zuvor. Außerdem stank es nach verbranntem Fleisch und Haaren. Sie musste würgen. Der General trat zu ihr.
„Du bist grün im Gesicht“, bemerkte er.
Sie hätte ihm wirklich gerne geantwortet, dass eine Frau sich nicht darüber freute, wenn man so etwas zu ihr sagte, aber leider war ihr dazu viel zu schlecht.
„Du solltest ...“, mehr sagte er nicht, denn sie beugte sich mit einem Würgen vornüber und übergab sich. Direkt auf seine Stiefel. Dann wurde sie ohnmächtig.
Als sie wieder zu sich kam und die Augen öffnete, blickte sie geradewegs in Carnes Gesicht. Er hielt sie im Arm und wischte ihr mit einem feuchten Tuch den Mund ab. Seine grünen Augen strahlten, als er sie angrinste.
„Du siehst sogar unglaublich gut aus, wenn dir schlecht ist und du gerade aus einer Ohnmacht aufwachst. Wie machst du das nur?“
So sagte man einer Frau, dass sie grün im Gesicht war!
„Geht' s wieder?“ Er strich ihr eine silberblonde Haarsträhne aus der Stirn.
Sie nickte zur Antwort. Carne musste kichern.
„Was ist los?“, fragte Yris.
„Ich finde es äußerst amüsant, dass du dich über dem General übergeben hast. Ich hätte mich das nicht getraut.“
„Es war nicht mit Absicht!“, protestierte sie.
„Natürlich nicht.“ Er grinste immer noch. „Wenn sich das am Königshof herum spricht ist sein Ruf ruiniert. Vollgekotzter schwarzer General! Was für eine Blamage. Er putzt gerade seine Stiefel und du hast wirklich Glück. Wenn mir das passiert wäre, er hätte mich mit kaltem Wasser oder einer Ohrfeige wieder aufgeweckt und mich die Dinger säubern lassen.“
„Ja, und meine Hose hättest du auch noch waschen können. Die ist nämlich auch voll, sogar in meine Stiefel ist es gelaufen.“
Der General beugte sich über Yris. Nachdem er sie einen Moment lag betrachtet hatte meinte er: „Gut, du bist nicht mehr ganz so grün im Gesicht. Ich hoffe das ist ein positives Zeichen.“
„Es geht schon wieder.“ Mit diesen Worten richtete sie sich auf und sah sich um. Sie befanden sich nicht mehr auf dem Dorfplatz sondern am Waldrand. Ein kleiner Bach plätscherte und die Pferde grasten friedlich. Yris konnte den Tod nicht mehr so sehr wie vorher fühlen, aber sie war trotzdem froh, als der General meinte: „Wir werden noch ein Stück weiter reiten und dann erst unser Nachtlager aufschlagen.“
Die Soldaten bestiegen ihre Pferde. Carne war vorher sogar noch so höflich, ihr beim aufsteigen zu helfen, dann setzten sie sich in Bewegung.
Berin stöhnte leise. Anscheinend tat ihm seine Kopfwunde weh.
Yris fragte: „Alles in Ordnung?“
„Bis heute Abend schaffe ich das schon noch und morgen früh ist es sicherlich schon besser“, entgegnete er mit einem etwas angestrengten Lächeln.
„Wie ist das überhaupt passiert?“, wollte sie von ihm wissen.
„Einer der Räuber hatte eine Steinschleuder und ich hab mich nicht schnell genug geduckt.“
Sie schauderte. Es hätte ihn auch töten können. Es grenzte sowieso an ein Wunder, dass sie alles so gut überstanden hatten. Sie waren nur zu siebt, Yris mitgerechnet und sie war nicht wirklich hilfreich und Feinde waren es mehr als doppelt so viele gewesen.
Erst als es fast zu dunkel war um den Weg, der vor einem lag zu sehen, hielten sie an und stiegen endlich ab. Sie versorgten die Pferde und entfachten ein Feuer. Yris setzte sich so nah davor, wie es ging. Es war schon fast so kalt wie letzte Nacht und sie wollte gerade wieder aufstehen, um sich ihre Decke zu holen, doch jemand kam ihr zuvor und legte sie ihr um die Schultern. Carne setzte sich neben sie. Er drückte ihr etwas Schinken, Käse und Brot in die Hand.
„Hier, wenn du dann noch Hunger hast, hole ich dir noch mehr. Wir hatten heute schließlich kein Mittagessen“,meinte er, bevor er sich über seine eigene Ration hermachte.
Erst jetzt merkte Yris, wie hungrig sie eigentlich war, aber auch die anderen schlangen ihr Essen regelrecht hinunter. Obwohl sich wahrscheinlich jeder wunderte, dass er nach den Erlebnissen des Tages überhaupt noch Appetit hatte.
Später saßen sie dann schweigend ums Lagerfeuer. Yris fielen fast die Augen zu. Sie musste sich zusammenreißen um nicht im Sitzen ein zu schlafen.
Als der General das bemerkte meinte er: „Du solltest dich hinlegen! Sarin und Carne haben die erste Wache, ich nehme die zweite.“
„Aber ich wäre eigentlich an der Reihe“, wandte Berin ein, „Carne war erst letzte Nacht dran.“
„Du hast eine Kopfverletzung.“ Damit war das letzte Wort gesprochen und im Grunde war jeder froh, der nicht Wache halten musste.
Yris rollte sich erschöpft in ihre Decke und schlief sofort ein. Doch mitten in der Nacht wachte sie wieder auf. Wie sie diese Kälte hasste! Ihre Zähne klapperten und sie zitterte am ganzen Körper. Sie krümmte sich noch enger zusammen, doch es half nichts. Sie fror.
Plötzlich spürte sie, dass jemand eine zweite Decke über sie breitete. Eine Hand legte sich vorsichtig auf ihre Schulter. Sie öffnete die Augen.
„Dein Volk musste anscheinend sehr viel heizen“, flüsterte der General.
„Wie kommt Ihr darauf?“, entgegnete sie ebenso leise, um die anderen nicht zu wecken.
Im schwachen Licht des Feuers sah es fast so aus, als lächelte er. Aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein.
„Wenn dein ganzes Volk die Kälte so schlecht vertrug wie du, dann hätten sie ganze Wälder abholzen und verbrennen müssen um ihre Häuser warm genug zu halten. Ich habe deine Zähne von da drüben noch klappern gehört!“, amüsierte er sich.
„Aber trotzdem könnt Ihr mir nicht Eure Decke geben“, protestierte sie, „Ihr werdet mir doch nicht erzählen, dass Ihr nicht friert.“
Er zuckte zur Antwort die Schultern. „Ich kann machen was ich will, ich bin der General. Und mich friert nicht.“
Zuerst hatte er neben ihr gekniet, doch jetzt stand er auf und wandte ihr den Rücken zu. Alter Rechthaber! Immer musste er das letzte Wort haben. Yris überlegte, dass sie eigentlich seine Decke nehmen und sie ihm an den Kopf werfen sollte, aber dazu war sie viel zu müde und die Decke viel zu warm.
Allerdings verfolgte die Kälte sie in ihre Träume. Darin befand sie sich in einer anderen Gegend, nicht mehr in der Heide, sondern auf einer Lichtung in einem herbstlichen Mischwald. Die Sterne schienen hell auf sie hinunter und sie lag wieder nur unter ihrer eigenen, dünnen Decke. Das Feuer, um das sie mit den anderen lagerte, war fast herunter gebrannt. Sie wollte sich aufrichten um nach zu schüren und sich die kalten Hände zu wärmen, da bemerkte sie den schwarzen General, der daneben saß und sie beobachtete.
„Ist dir kalt?“, fragte er.
„Mal wieder“, erwiderte ihr Traum-Ich und lächelte ihn an.
Er stand auf und legte sich auf seinen Ellbogen gestützt neben sie. Und lächelte tatsächlich zurück. Sie rutschte näher zu ihm hin und er zog sie an sich.
Sie flüsterte: „Ich würde dich jetzt so gerne küssen!“
„Schade, dass das nicht geht. Ich würde dir nur wehtun und diese bläulich-schwarze Färbung wäre auf deinen Lippen auch nicht schön“, meinte er, seinen Mund dicht an ihrem Ohr, sein Atem warm auf ihrer Haut.
„Glaub mir, ich würde dich auch gerne küssen und noch viel mehr.“
Ah! Yris wachte entsetzt auf. Sie hatte gar nicht gewusst, dass sie soviel Fantasie hatte. Sie und der General! Was für ein Alptraum.
Sie setzte sich auf und sah sich um. Die anderen waren größtenteils schon wach. Als sie dem Blick des Generals begegnete stieg ihr die Röte ins Gesicht. Wenn der von ihrem Traum wüsste! Nein, bitte nicht! Aber er konnte glücklicherweise keine Gedanken lesen. Hoffte sie jedenfalls.
Außerdem schien er gerade besonders schlechte Laune zu haben. Yris versuchte ihre Sachen zu packen, ohne seine Aufmerksamkeit zu erregen. Er sah nämlich so aus, als würde der nächste, der ihm in den Weg kam ein Donnerwetter erleben.
Mit eingezogenen Schultern und möglichst unauffällig huschte sie zu Carne hinüber.
„Was ist den mit dem schon wieder los?“, fragte sie leise.
„Berins Zustand hat sich verschlimmert, anscheinend hat er eine Gehirnerschütterung. Wir können wohl heute nicht weiter reiten und diese Verzögerung ärgert ihn.“
Yris sah sich nach Sarins Bruder um. Er lag mit geschlossenen Augen auf seiner Decke, war aber wach. Mohn kniete mit besorgter Miene neben ihm. Sie ging zu ihnen hinüber und fragte: „Kann ich irgendetwas für ihn tun?“
Ausgerechnet diesen Moment wählte der schwarze General um ihnen zu zu hören. „Ja! Du könntest ihn einfach heilen, dann könnten wir weiter reiten“, mischte er sich ein. Seine Stimme troff vor Ironie und Spott. Anscheinend war seine Laune nicht nur schlecht, sondern sogar abgrundtief schlecht.
Mohns Antwort war glücklicherweise hilfreicher. „Du könntest einen frischen Verband und den Topf mit heißem Wasser holen, der über dem Feuer hängt,“ schlug er vor.
„Natürlich!“ Sofort tat sie, was er gesagt hatte, dann setzte sie sich neben Berin auf den Boden und löste den alten Verband. Er war braun von getrocknetem Blut und die Platzwunde an der Stirn des Soldaten sah schlimm aus.
Yris strich ihm vorsichtig die Haare aus dem Gesicht, um sie säubern zu können. Dabei berührten ihre Finger seine Haut und sie spürte seine Schmerzen.
Plötzlich wusste etwas in ihr instinktiv was sie tun musste um ihm zu helfen. Ihre Hände glitten wie von selbst an seine Schläfen und sie nahm jetzt seinen Körper wahr, als gehöre er zu ihr. Irgendetwas, Magie, Kraft, wie auch immer man es nennen wollte begann von ihrem eigenen in seinen zu fließen. Es war warm und dort wo es von ihren Händen in seine Haut überging glühte silbernes Licht und kleine Funken sprangen hin und her. Man konnte sehen, wie sich die Kopfwunde schloss und Yris spürte, dass er keine Schmerzen mehr hatte, er war geheilt. Sie wollte ihn loslassen.
Aber sie konnte die Verbindung zwischen ihnen nicht trennen. Das Fließen der Kraft, vorher noch ein angenehmes Gefühl, tat ihr jetzt weh. Es fühlte sich an wie Trauer, als würde ihr etwas den Brustkorb zusammen schnüren. Sie konnte sich nicht bewegen. Tränen begannen ihr über die Wangen zu laufen. Berin starrte sie nur mit weit aufgerissenen Augen an. Auch er schien gelähmt zu sein.
Yris hatte die Kontrolle über die Magie verloren. Immer mehr davon verließ ihren Körper und floss in seinen. Sie wusste, dass sie sterben würde. Es war ihr Leben, dass da davon floss.
Sie gab ihre Versuche es zu stoppen auf. Es hatte keinen Sinn.
Doch plötzlich packte sie jemand und riss sie von Berin weg. Blass im Gesicht und mit Tränen in den entsetzt aufgerissenen Augen sah sie den General an.
„Du dummes Mädchen!“, schimpfte dieser, „Hast du so etwas jemals zuvor getan!?! Hat dir irgendjemand gezeigt, wie man einen Heilungszauber wirkt!?!“
Sie schüttelte nur wortlos den Kopf.
„Weißt du wie gefährlich es ist, wenn so etwas misslingt!?! Du hättest dich umbringen können!“, er schrie sie fast an.
„Ich wusste nicht einmal, dass ich das kann,“ entgegnete sie niedergeschlagen und erschöpft. Sie war gerade nur knapp mit dem Leben davon gekommen, da konnte er sie doch wenigstens jetzt in Ruhe lassen!
„Es ist einfach passiert,“ rechtfertigte sie sich.
„Einfach passiert!?! Wie kann so etwas einfach passieren!?!“, setzte er seine Strafpredigt fort.
Yris wurde langsam ärgerlich. Sie fuhr ihn an: „Lasst mich in Ruhe! Seid lieber froh, dass wir jetzt weiter reiten können. Das wolltet Ihr doch! Eure ständige schlecht Laune treibt mich in den Wahnsinn und ihr seid hochnäsig und arrogant! Könnt Ihr Euch nicht ein Mal höflich und freundlich verhalten? Ihr seid unausstehlich! “
So hatte wahrscheinlich noch nie jemand mit dem General gesprochen und wer weiß, was er ihr dafür antun würde, aber in diesem Moment war es ihr egal. Idiot, Idiot, Idiot!
Er hatte kein Recht, sie so zu behandeln und sie auch noch dummes Mädchen zu nennen! Diese Worte verletzten sie tiefer als alles andere, obwohl es von ihm eigentlich nicht anders zu erwarten war.
Erstaunlicherweise klang die Stimme des schwarzen Generals wieder ruhiger, als er antwortete: „Es stimmt, ich wollte weiter reiten. Aber nicht, wenn der Preis dafür dein Leben ist. Ich brauche dich noch.“
Der General ließ Yris noch eine Stunde Zeit, um sich zu erholen bevor sie die Pferde bestiegen. Berin hatte keinerlei Schmerzen mehr, jede noch so kleine Schnittwunde, jeder Mückenstich war verheilt. Er ritt neben ihr und bedankte sich mehrmals. Um sie aufzuheitern schenkte er ihr sogar einen Strauß aus Blättern, Gräsern und Huflattich, den er für sie gepflückt hatte. Das besserte ihre Laune wieder etwas.
Im Laufe des Tages wandelte sich die Landschaft, durch die sie kamen. Die Heide machte bewaldetem Karstgebirge Platz. Unterholz wucherte zu beiden Seiten des Pfades und zum Teil auch darüber und erschwerte so das Vorankommen.
Ihr Nachtlager schlugen sie in einem kleinen Tal neben einer Quelle auf. Eine hohe Felswand bot glücklicherweise etwas Schutz vor dem eisigen Wind, der schon seit Stunden wehte und immer stärker wurde.
Ohne den General und seine Magie wäre es schwer geworden, ein Feuer zu entfachen. Aber so flackerte es unruhig auf als er auf das gestapelte Holz deutete und es spendete wenigstens ein bisschen Wärme für Yris' kalte Finger. Außerdem konnte man darüber Suppe kochen.
Sie enthielt heute Eulenkraut, eine Pflanze, die in dieser Gegend häufig anzutreffen war. Die Knollen schmeckten nach nichts, waren aber sehr nahrhaft und mit den Blättern konnte man das Essen würzen. Angeblich war das Kraut eine der wichtigsten Zutaten in der Küche des Eulenvolkes, daher der Name.
Yris hatte eine Stelle, an der es wuchs entdeckt, als sie gerade mit den anderen Feuerholz gesammelt hatte. Sofort hatte sie begonnen, es aus zu graben. Es brachte nämlich etwas Abwechslung in ihren Speiseplan.
Gut, dass sie sich mit Pflanzen aus kannte, sonst hätte es wahrscheinlich wieder nur Brot mit Schinken gegeben und davon hatte sie eigentlich genug. Sicher hatte der General für das Proviant gesorgt, denn jeder normale Mensch hätte nicht für jeden Tag das Gleiche mitgenommen. Aber ihm konnte es ja egal sein, er aß ja fast nie etwas.
Heute schon. Er ließ sich sogar so weit herab, ihr ein Kompliment zu machen. „Deine Suppe ist ausgezeichnet. Schon lohnt es sich, dass wir dich mitgenommen haben“, sagte er, nachdem er seinen Teller geleert hatte. Auch den anderen schien es zu schmecken.
Berin lachte und meinte: „Deine Suppen sind auf jeden Fall hundertmal besser als die, die Carne mal gekocht hat. Ein Wunder, dass wir noch leben und er uns nicht vergiftet hat.“
Dafür fing er sich einen Knuff in die Schulter ein.
„Du kannst es doch auch nicht besser!“, entgegnete der auf diese Weise Geschmähte, „Du würdest es sogar schaffen, eine Suppe anbrennen zu lassen.“
„Stimmt, deswegen koche ich auch nicht sondern esse lieber,“ gab Berin zurück. Er nahm sich noch einen Teller Suppe und auch die anderen langten kräftig zu. Bald schon war der Topf leer gegessen und das schmutzige Geschirr gespült.
Das Feuer flackerte wieder heller und Yris rückte näher daran, um ihre kalten Finger zu wärmen. Sie musste gähnen. Die misslungene Heilung heute morgen hatte sie wirklich viel Kraft gekostet und sie war müde und erschöpft. Hoffentlich hatte sie nicht Nachtwache.
Leider schien der General da anders zu denken. Er saß im Schneidersitz neben ihr am Feuer und verkündete: „Berin und Isla haben heute die erste Wache, Yris mit mir die zweite.“
Eigentlich sollte sie ihn bitten, jemand anderen ein zu teilen, aber sie war zu müde um mit ihm zu diskutieren. Außerdem würde sie bei dem Wind und der Kälte sowieso nicht richtig schlafen können.
Sie nickte also nur und legte sich dann mit ihrer Decke möglichst nahe an die Felswand, denn dort war es wenigstens windstill. Aufgrund ihrer Erschöpfung schlief sie verhältnismäßig gut, traumlos und tief.
Sie wurde wach, weil sie jemand an der Schulter schüttelte.
„Yris, du musst aufstehen. Du bist dran mit Nachtwache,“ flüsterte Isla. Der Wind zerzauste sein dunkelblondes Haar und er schien froh zu sein, dass er sich jetzt hinlegen durfte.
Langsam und ihre Decke immer noch eng um sich geschlungen setzte sie sich auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Als sie sich umsah, bemerkte sie den General, der gerade zu den Pferden ging um nach zu sehen, ob dort alles in Ordnung war. Mohn lag schon in seine Decke gewickelt am Boden. Am Himmel zogen Wolkenfetzen dahin, die die Sterne verbargen. Ab und zu sah man den Mond, der sein fahles Licht über die Landschaft sendete oder ein Stück klaren Nachthimmel dahinter auftauchen.
Yris stand auf und ging ein bisschen auf und nieder um ihre kalten Muskeln auf zu wärmen. Dann warf sie etwas Holz ins Feuer und setzte sich mit ihrer Decke um die Schultern an die Felswand gelehnt hin. Kurz darauf gesellte sich der schwarze General zu ihr.
Nicht er schon wieder. Schweigend saßen sie nebeneinander und er starrte gedankenverloren in die Flammen. Sie folgte seinem Beispiel, nur ab und zu warf sie ihm einen verstohlenen Blick zu.
Dabei viel ihr etwas auf. Er hatte ein trockenes Blatt in der Hand, dass er nach und nach zerrupfte. Das an sich war eigentlich nichts Ungewöhnliches. Viele Menschen mussten ihre Finger ständig beschäftigen und deshalb immer mit irgendetwas spielen, aber sie hatte das noch nie bei ihm beobachtet.
Er schien vollkommen regungslos verharren zu können und sich nie unbewusst zu bewegen. Er gestikulierte auch nicht beim Sprechen. Und jetzt saß er da und zerrupfte Blätter! Vielleicht war das ein Zeichen von Nervosität. Aber warum sollte er nervös sein?
Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, meinte er plötzlich: „Yris?“ Er flüsterte um die anderen nicht zu wecken.
Sie flüsterte etwas ungehalten zurück: „Ja, was ist?“ Sie war immer noch wütend auf ihn.
„Ich...Es tut mir Leid, dass ich heute Morgen so unfreundlich zu dir war, vor allem, dass ich dich ein dummes Mädchen genannt habe, das bist du nicht. Ich bitte um Vergebung,“ murmelte er.
Yris blieb vor Staunen der Mund offen stehen. Der schwarze General bat sie um Entschuldigung! So etwas tat er sicher nicht oft. Sie brauchte einen Moment um sich wieder zu fangen und ihm zu antworten.
„Ist schon in Ordnung“, meinte sie und schenkte ihm ein kurzes Lächeln. Ganz war sie immer noch nicht besänftigt, aber sie war von Natur aus nicht nachtragend und man durfte ja schließlich nicht zu viel erwarten, also verzieh sie ihm fürs Erste. Es war nicht seine Stärke Fehler zu zu geben. Schon gar nicht vor anderen. Wahrscheinlich hatte er deswegen die Nachtwache mit Yris übernommen um ungestört mit ihr reden zu können. Typisch!
Sie konnte nicht anders, sie musste ihn einfach angrinsen, was er mit einem verwunderten Hochziehen der Augenbrauen quittierte.
„Was ist los?“, wollte er wissen.
„Ach nichts“, entgegnete sie, immer noch grinsend.
Dann geschah das Unglaubliche: Er erwiderte einen kurzen Moment ihr Lächeln. Und er hatte Grübchen in den Wangen.

Kurz vor Sonnenaufgang wurde die Wolkendecke dichter und es begann zu nieseln.
„Verdammt!“, fluchte der General.
Er zog sich die Kapuze seines Mantels über den Kopf, stand auf und weckte die Soldaten ziemlich unsanft.
„Aufwachen! Wir müssen los, sonst sind wir nass, bevor wir auch nur die Pferde bestiegen haben. Vielleicht haben wir Glück und das Wetter ist dort wo wir hinkommen besser“, knurrte er.
So schnell hatten sie es noch nie geschafft am Morgen aufbruchsbereit zu sein. Jeder war in seinen Mantel gehüllt, gefrühstückt wurde im Sattel. Alle hatten schlecht Laune, sogar Carne. Fast war der General heute der Fröhlichste der kleinen Gruppe und das wollte etwas heißen.
Bis zur Mittagszeit hatte sich der Regen noch verschlimmert. Es schüttete wie aus Kübeln und der Platz, an dem sie Rast machten war eine einzige Schlammwüste. Yris war von oben bis unten durchnässt. Ihr Mantel, vorher hellgrau, war inzwischen dunkelgrau von Wasser, braun am Saum von Dreck. Schwer und klamm hing er, wie ihre restliche Kleidung an ihr.
Als sie in ihren Satteltaschen nach trockenen Sachen suchen wollte, stellte sie fest, dass sie so etwas zum zweiten Mal innerhalb von nur vier Tagen nicht mehr besaß. Auch ihre Satteltaschen hatten mit der Zeit den Regen durchgelassen. Allen anderen schien es ähnlich zu gehen. Niedergeschlagen und schweigend standen sie beieinander und aßen Brot mit Schinken. Hinsetzen konnte man sich nicht, wenn man nicht voller Schlamm wieder aufstehen wollte. Der General, der sich gerade eben noch mit einem nachdenklichen Ausdruck auf dem Gesicht umgesehen hatte, war verschwunden.
Yris überlegte was sie tun sollte. Sie hatte keine Lust sich zu den Soldaten zu gesellen. Da sie immer sehr empfindlich auf die Gefühle anderer reagierte war ihr die schlechte Laune, die von ihren Gefährten ausging im Moment einfach zu viel. Aber bei den Pferden wollte sich auch nicht stehen bleiben, also beschloss sie, sich andere Gesellschaft zu suchen.
Durch den Matsch stapfte sie zu einem der großen Bäume, die um ihren Rastplatz herum standen. Mit geschlossenen Augen lehnte sich sich gegen seinen mächtigen Stamm. Es war eine alte Buche und Yris konnte sie flüstern hören. Wenigstens einer, der sich über den Regen zu freuen schien. Ihre Rinde war rau und feucht und Yris genoss das Gefühl vorsichtig darüber zu streichen.
Doch plötzlich legte sich eine Hand auf ihre Schulter. Erschreckt riss sie die Augen auf. Der schwarze General stand vor ihr, seine Kapuze hatte er abgestreift, Strähnen seines nassen Haares hingen ihm ins Gesicht.
„Ich will dich ja nicht in einem interessanten Gespräch stören, aber du solltest lieber dein Pferd holen“, sagte er.
Sollte das ein Witz sein? Machte er sich mal wieder über sie lustig? Sie wollte ihm hinterher rufen, was er mit dem interessanten Gespräch meine, doch er hatte ihr bereits den Rücken zugedreht und ging auf die Soldaten zu. Darauf würde sie ihn später noch ansprechen.
Jetzt ging sie erst einmal zu Rao, nahm seine Zügel und wollte aufsteigen, doch der General hielt sie davon ab.
„Nehmt auch eure Pferde und folgt mir“, befahl er. Dann führte er seinen Rappen, der nicht allzu begeistert zu sein schien, dass er sich schon wieder bewegen sollte, einen steilen Abhang hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter. Die anderen taten es ihm gleich.
Im Gänsemarsch stiegen sie in ein kleines, tiefes Tal hinab, auf dessen Grund Felsbrocken und Geröll herum lagen. Nasse, glitschige Blätter bedeckten den Boden und man musste sich Mühe geben, um nicht aus zu rutschen.
In einer der Felswände des Tals meinte Yris einen schwarzen Fleck erkennen zu können. Der schwarze General schritt direkt darauf zu und als sie näher waren sah man, dass es sich dabei um den Eingang zu einer Höhle handelte.
„Wir werden hier bleiben, bis es aufhört zu regnen“, sagte er.
Vor Erleichterung stöhnte Yris auf. Ein trockener Platz! Sie zog Rao hinein. Der erste Teil der Grotte war groß genug für die Pferde. Weiter hinten verengte sie sich und irgendwann führte sie nur noch als schmaler, dunkler Gang tiefer ins Gestein. Tropfsteine ragten von der Decke und wuchsen vom Boden empor.
Der General sagte: „Wenn jemand Holz holt mache ich Feuer.“
Etwas besseres hätte er nicht sagen können. Sie stürmten fast wieder in den Regen hinaus. Ein Feuer! Wärme! Trockene Kleidung! Jeder suchte soviel Brennmaterial wie er tragen konnte und brachte es in die Höhle.
Nachdem etwas davon zu einem Haufen aufgeschichtet war streckte der General seine Hand danach aus. Erst krümmte er seine Finger zusammen, dann streckte er sie ruckartig wieder und das nasse Holz ging in Flammen auf. Es brannte wie Zunder.
Yris setzte sich so nah wie möglich davor. Sie wärmte sich etwas auf, dann holte sie feuchte Sachen aus ihren Satteltaschen und begann sie zu trocknen. Der General hatte Mohn indes angewiesen, einen Topf mit Wasser zu füllen.
„Warum?“, wollte Carne wissen, „Wir haben doch gar keine Zutaten um eine Suppe zu kochen.“
„Es redet auch keiner von Suppe“, entgegnete der General.
Er wartete bis das Wasser kochte, dann nahm er aus seiner Tasche einen kleinen, ledernen Beutel. Vorsichtig gab er etwas von dessen Inhalt in den Topf. Kurze Zeit später erfüllte ein angenehmer Geruch die Luft. Yris atmete tief ein und genoss das würzige Aroma.
„Was ist das?“, erkundigte sie sich.
„Regentee“, erwiderte er nur.
Sie sah ihn mit zusammen gezogenen Augenbrauen an.
Spöttisch meinte er: „Keine Sorge. Man kann es trinken und es schmeckt wirklich gut. Ich versuche schon nicht, euch zu vergiften.“
Sicherlich, wenn er jemanden umbringen wollte hatte er bestimmt effektivere Methoden. Sie nahm den Becher, den er ihr reichte und nippte vorsichtig daran. Das heiße Getränk floss ihre Kehle hinunter und wärmte sie augenblicklich von innen heraus. Herrlich.
„Wo habt Ihr das her?“, fragte sie ihn.
Er bat auch den Soldaten etwas an während er erklärte: „Es ist ein altes Kräuterrezept des Nachtvolkes.“
Dann nahm er sich selbst einen Becher voll und ließ sich neben Yris auf dem Boden nieder.Er saß sehr nah neben ihr.
Sie lehnte sich unbewusst zu ihm hinüber und atmete tief ein. Sie selbst und ihre anderen Gefährten fingen langsam an zu stinken, schließlich hatten sie sich seit Tagen nicht mehr richtig gewaschen, aber der schwarze General nicht. Er roch noch immer verdammt gut. Es war ein herber, würziger Duft, fast ähnlich dem des Kräutertees, den er gekocht hatte. Yris neigte ihren Kopf noch etwas näher zu ihm hinüber.
Allerdings stellte sie fest, dass er sich mal wieder rasieren könnte, obwohl ihm die Bartstoppeln eigentlich gar nicht so schlecht standen. Irgendwie waren die sexy.
„Nein!“, wies sich sich in diesem Moment innerlich zurecht. Das war der schwarze General, so jemanden fand sie nicht attraktiv! Vielleicht war da doch noch etwas anderes in dem Tee!
Es regnete den ganzen Tag ununterbrochen weiter und so waren sie gezwungen, in der Höhle zu bleiben. Carne holte glücklicherweise einen Satz Würfel hervor und sie spielten Jahagan bis es zu dunkel wurde. Bei diesem Spiel wurde zu Beginn einer Runde eine Zahl genannt, an die man möglichst nahe herankommen musste. Man konnte sich aussuchen, wie oft man die fünf Würfel werfen wollte, die Augenzahlen wurden addiert und wer dabei am nächsten an die Zahl kam, der hatte gewonnen.
Nach dem Abendessen meinte der General: „Morgen werden wir weiter reiten, egal wie das Wetter ist. Wir können nicht ewig hier bleiben.“
„Wie habt Ihr diese Höhle überhaupt gefunden?“, wollte Yris wissen.
Erst sah er sie an, als wäre er entsetzt, dass sie das nicht wusste, dann ließ er sich aber doch dazu herab, es ihr zu erklären: „Das hier ist ein Karstgebirge. Karst ist aufgrund seiner Beschaffenheit immer durchzogen von Tunneln und Grotten. Dieser Eingang hier war auch sehr leicht zu finden, denn das Tal dort draußen ist ebenfalls eine einstige Höhle, deren Decke allerdings eingestürzt ist. Das erkennt man am Geröll am Boden, das du ja hoffentlich bemerkt hast.“
Yris beschloss ihm seine Unfreundlichkeit zu verzeihen, schließlich hatten sie dank ihm wenigstens einen trockenen Platz zum Schlafen.
Mit Nachtwache war sie glücklicherweise nicht an der Reihe, sondern Mohn, Sarin und Carne. Sie konnte sich also hinlegen. Allerdings war es gar nicht so einfach, auf dem harten, steinernen Untergrund eine bequeme Position zu finden. Aber nachdem sie einen ganzen Haufen Kiesel und kleine Steinchen weg geschoben hatte, ging es einigermaßen. Sie schloss die Augen und lauschte, wie draußen vor der Höhle der Regen auf die Blätter prasselte. Normalerweise empfand sie solche Geräusche als beruhigend, aber heute hoffte sie nur, dass es bis morgen aufgehört haben würde.

Es war ziemlich dunkel, als Yris die Augen aufschlug. Das Feuer glühte nur noch schwach und vom Höhleneingang her drang erst ein leichter Schimmer des neuen Tages. Carne kam gerade von draußen herein, während sie sich langsam aufsetzte und sich ausgiebig streckte.
„Guten Morgen alle zusammen!“, rief er fröhlich, „Stellt euch vor, es regnet nicht mehr!“
„Kein Grund so zu schreien und uns alle auf zu wecken“, brummte Isla missmutig. Er war morgens irgendwie immer schlecht gelaunt, das war Yris schon mehrmals aufgefallen.
Carne ließ sich davon aber nicht beirren. „Ja, ich finde auch, dass heute ein wundervoller Tag ist“, lachte er nur, dann ging er vergnügt pfeifend zu den Sätteln und dem Gepäck, die in einer Ecke der Höhle lagen und fischte sich etwas zu essen aus dem Haufen.
Juhu! Wieder ein leckeres Frühstück bestehend aus inzwischen sehr altem Brot und Schinken. Auch Yris holte sich ihre Ration und würgte sie hinunter.
Nachdem auch alle anderen gegessen und gepackt hatten ritten sie los. Alles war feucht und Wasser tropfte von den Blättern und Zweigen der Bäume. Frühnebel lag über der Welt. Eigentlich erwartete Yris, dass dieser sich bis zum Mittag auflösen würde, aber genau das Gegenteil war der Fall. Er wurde immer dichter.
Der General schien besorgt zu sein und auch den Soldaten ging es ähnlich. Sie sprachen nur wenig und wenn, dann im Flüsterton, als fürchteten sie, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie kamen auch wesentlich langsamer voran, als die Tage zuvor, da der Nebel die Sicht einschränkte und man vorsichtig reiten musste um nicht vom Pfad ab zu kommen und sich zu verirren. Yris, die Nebel unter normalen Umständen eigentlich mochte, fühlte sich ebenfalls unwohl und unsicher.
Dann, kurz nach der Mittagsrast ließ der General die kleine Gruppe erneut anhalten und absteigen. Sie mussten sich sehr nah zusammen stellen, um sich in der trüben Suppe überhaupt noch erkennen zu können.
„Wir haben die Nebelmauer erreicht“, meinte er leise und in seiner Stimme fehlte die gewöhnliche Selbstsicherheit und Arroganz.
„Wenn wir jetzt einfach so weiter reiten, werden wir uns hoffnungslos verlaufen und wir könnten von Glück reden, sollten wir jemals wieder zurück finden.. Dieser Nebel ist magischen Ursprungs, er dient dazu, die Stadt des Nebelvolks zu schützen und lässt deswegen nur Angehörige dieses Volkes passieren. Wahrscheinlich wäre ich mithilfe meiner Magie in der Lage gewesen, einen Weg hindurch zu finden, aber vielleicht wäre es auch schief gegangen. Deswegen bin ich froh, dass wir eine Angehörige des Nebelvolkes gefunden haben“, erläuterte er, dann wurde seine Stimme schärfer und fordernd: „Yris, du wirst uns durch diesen Nebel führen.“
Er hatte bereits früher erwähnt, dass das der Grund war, aus dem er sie mitgenommen hatte, aber sie hatte sich bisher nicht allzu viele Gedanken darüber gemacht. Doch jetzt, da sie mitten im Nebel stand, hatte sie Angst.
„Wie soll ich das machen?“, fragte sie, einen Hauch von Panik in ihrer Stimme unterdrückend, „Ich war noch nie zuvor hier. Woher soll ich wissen, wo ich hingehen muss?“
„Instinkt“, erwiderte der General und zuckte gleichgültig die Schultern, „Dein Volk konnte sich darauf schon immer sehr fest verlassen und du sogar noch mehr. Du hast jemanden geheilt ohne überhaupt zu wissen, dass so etwas möglich ist.“
„Nein“, entgegnete sie nur. Die Heilung wäre beinah schief gelaufen und sie würde nichts riskieren. Ihr Herz raste und ihre Knie begannen zu schlottern, als sie sagte: „Ich werde euch nicht durch den Nebel führen. Ich will nämlich nicht schuld daran sein, wenn wir uns verlaufen und dann verhungern. Diese Verantwortung lasse ich mir nicht aufbürden.“
„Es ist mir egal, was du willst und was nicht“, meinte der General nur kalt, „Wenn du nicht tust, was ich sage, werde ich dich dazu zwingen.“
Yris starrte ihn entsetzt an. Wie konnte er nur? Sie wollte nicht! Sie hatte Angst um ihr Leben und das ihrer Gefährten und verdammt noch mal auch um seines! Sie würde niemanden ins Verderben führen, denn sie war sicher, dass sie den Nebel nicht heil durchqueren konnten.
„Und wie wollt Ihr mich zwingen?“, fauchte sie ihn an.
Er zog nur seinen Handschuh aus und streckte seine Hand nach ihrem Gesicht aus. Sie wich mit einem erstickten Schrei zurück.
„Ich müsste dich nicht einmal schlagen. Es würde vollkommen ausreichen, dich zu berühren und du würdest vor Schmerzen schreien. Das weißt du ganz genau“, meinte er.
Der Blick seiner kalten, silbergrauen Augen bohrte sich in ihre weit aufgerissenen grünen. Leider hatte er Recht. Yris hatte ihn erst ein Mal Haut auf Haut berührt, in der Gaststube ihres Onkels und es war sehr schmerzhaft gewesen. Oh ja, so konnte er sie foltern, bis sie um Gnade bettelte und das zu tun traute sie ihm sogar zu.
Hilfe suchend wanderte ihr Blick zu den Soldaten. Sie würden nicht zulassen, dass er ihr weh tat! Doch keiner wagte es, ihr auch nur in die Augen zu schauen. Betreten hielten sie die Köpfe gesenkt. Sie würden sich nicht gegen ihren General stellen, egal wie gerne sie sie mochten. Sie hatten Angst vor ihm und das Schlimmste daran war: Yris konnte sie sogar verstehen.
Der schwarze General war niemand, dem man ungestraft den gehorsam verweigerte.
Jetzt fragte er: „Also, hast du dich entschieden? Führst du uns freiwillig oder muss ich dich dazu zwingen?“
Eigentlich hatte sie keine Wahl. Sie wusste genau, dass sie unter Schmerzen schnell nachgeben würde und außerdem fürchtete sie, dass die mit der Berührung verbundene bläulich-schwarze Verfärbung ihrer Haut dauerhaft bleiben könnte. Sie wollte nicht mit entstelltem Gesicht zu ihrem Onkel zurück kehren. Obwohl natürlich andererseits die Gefahr bestand, dass sie überhaupt nicht mehr zurück kehren würde.
Sie schloss die Augen und fühlte den kühlen Nebel, der ihre von heißen Tränen benetzten Wangen streichelte.Plötzlich wusste sie mit Sicherheit, dass sie gehorchen musste. Es war ihr Schicksal.
Sie hob stolz ihr Kinn und nickte. Der General zog seinen Handschuh wieder an, dann sagte er: „Gib mir deine Hand.“
Sie fragte sich zwar warum, doch sie hielt sie ihm hin. Er griff schnell danach und bevor sie sich versah hatte er mit einer schimmernden, schwarzen Schur eine Schlinge um ihr Handgelenk geknüpft. Das andere Ende wand er um seine eigenes.
„Was soll das?“, protestierte Yris. Empört versuchte sie den Knoten zu lösen, doch es ging nicht.
„Lass das“, entgegnete er unwirsch, „das ist verzaubertes Seil, nur ich kann es wieder öffnen.“
„Auch durchschneiden lässt es sich nicht“, fügte er noch hinzu, als sie sich umdrehte um Carne um sein Messer zu bitten.
Er erklärte: „Außerdem dient es nur zur Sicherheit. Ich fürchte nämlich, dass du, wenn du dich von deinen Instinkten durch den Nebel führen lässt, versuchst uns los zu werden. Alles in dir wird sich dagegen sträuben uns dabei zu haben, weil wir nicht zum Nebelvolk gehören.“
Yris gab keine Antwort und sah demonstrativ an ihm vorbei. Da wandte er sich an die Soldaten: „Ihr solltet euch ebenfalls aneinander binden.“
Sie gehorchten sofort. Aus Berins Satteltaschen kramten sie eine Rolle Seil hervor, dass sich einer nach dem anderen um die Hüfte wand. Auch der General befestigte ein Ende an seinem Körper.
Als sie nun alle auf diese Weise eine lange Kette bildeten, deutete er in den Nebel hinein.
„Nach dir“, sagte er zu Yris.
Langsam und vorsichtig setzte diese sich in Bewegung, die anderen folgten ihr, ihre Pferde am Zügel, im Gänsemarsch.
Zu Beginn konnte man den Pfad zu seinen Füßen noch erkennen, doch bald nicht mehr. Mit jedem Schritt sah man weniger, irgendwann war alles um die kleine Reisegesellschaft herum weiß.
Der Nebel schluckte auch alle Geräusche. Zuerst hatte Yris das Knirschen der Hufe der Pferde und der Sohlen ihrer Gefährten am Boden noch deutlich vernommen, aber es wurde immer dumpfer und leiser und nach einiger Zeit hörte sie es gar nicht mehr. Überall war trüber, feuchter Nebel.
Zuerst hatte Yris furchtbare Angst, doch je weiter sie gingen und je weniger ihr Hör- und Sehsinn sagen konnten, desto mehr sagte ihr Instinkt. Der General hatte Recht gehabt.
Sie fühlte sich willkommen, zu hause, sicher. Ihre Schritte wurde schneller und sie hätte zu laufen begonnen, wenn er sie nicht daran gehindert hätte. Er hielt, obwohl sie an ihm fest gebunden war, ihre Hand unbarmherzig fest. Sie versuchte sich, wie er vorausgesagt hatte von ihm los zu reißen.
„Er soll zurück gehen, er hat hier nichts verloren!“, schrie etwas in ihr.
Sie wehrte sich mit aller Kraft gegen seinen Griff, doch es hatte keinen Zweck. Irgendwann gab sie es auf.
Inzwischen hatte Yris jegliches Zeitgefühl verloren, aber sie waren wohl an die drei Stunden durch den undurchdringlichen Nebel gewandert, als er sich wieder zu lichten begann. Man konnte bald erkennen, dass sie sich noch immer auf einem Pfad befanden, allerdings hatte er sich verändert. Er war gepflastert und am Rand mit großen Steinen begrenzt. Auch die Landschaft war anders als zuvor. Schilf und Schwertlilien wuchsen überall, ab und zu streckte auch eine Silberbirke ihre Zweige über den Weg.
Anscheinend war um sie herum Sumpf, durchzogen von kleinen Wasserläufen, die man immer wieder mithilfe steinerner Brücken überqueren musste. Auch kleine Wasserfälle plätscherten und rieselten zwischen den Pflanzen.
Yris atmete glücklich und erleichtert auf. Sie hatten es geschafft, die Nebelmauer zu durchqueren.
Der General nickte zufrieden und entfernte die Schnur von Yris Handgelenk. Auch die anderen lösten ihr Seil und verstauten es wieder. Dann bestiegen sie die Pferde und setzten ihren Weg reitend fort.
Ihr Nachtlager schlug die kleine Gemeinschaft in den Ruinen eines halb verfallenen Hauses auf. Es musste einst sehr groß und schön gewesen sein. Seine Mauern waren aus weißem Stein erbaut und in den vielen Fensteröffnungen waren zum Teil noch Scheiben aus teurem, klaren Glas vorhanden. Doch nun waren Dach und Wände eingestürzt und Efeu überwucherte alles.
So gut wie diese Nacht hatte Yris auf dieser Reise noch nie geschlafen. Sie lag auf einem Bett aus weichem Moos, weiße Nebelschwaden schienen nur für sie zu tanzen und ab und zu, wenn sie den Blick auf den Himmel frei gaben, leuchteten die Sterne hell auf sie herab.
Der neue Morgen kam mit einer warmen, strahlenden Sonne, die den immer vorhandenen Nebel golden färbte. Auf Yris Gesicht lag ein glückliches Lächeln, während sie ihre Decke zusammen rollte und hinter Raos Sattel befestigte. Sie fühlte sich so zufrieden und fröhlich, dass sich ihre gute Laune auch vom Anblick des schwarzen Generals nicht dämpfen ließ. Er wirkte mürrisch und arrogant wie immer. Allerdings kam es ihr heute so vor, als wäre er unglücklich. Auch wenn das bei ihm schwer zu beurteilen war.
Später, nachdem sie aufgebrochen waren kam Yris aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die Welt um sie herum schien ihr wunderschön: der sanfte Nebelschleier, das plätschernde und rauschende Wasser, die Pflanzen und die Ruinen der weißen Häuser, von denen immer mehr rechts und links des Weges auftauchten.
Yris wunderte sich. Wieso lebte hier niemand mehr? Wieso war das Nebelvolk verschwunden? Warum war ihr Volk verschwunden und was war mit ihrer eigenen Familie? Sie erinnerte sich kaum noch an ihre Eltern. Fast alles was sie wusste, war, was ihr Madan erzählt hatte: Ihre Mutter hatte Aria geheißen und der Name ihres Vater war Rejan gewesen. Eines Tages, im Winter bei schlimmstem Schneetreiben waren sie in seinem Gasthaus aufgetaucht und hatten ihm eine kleines Kind in den Arm gedrückt. Yris. Sie hatten ihn angefleht, sich um ihre Tochter zu kümmern. Sie könnten sie nicht anders beschützen, sagten sie. Madan hatte eingewilligt, aus welchem Grund wusste er nicht. Sie hatten noch am gleichen Abend das Gasthaus wieder verlassen, obwohl er versucht hatte sie zurück zu halten, weil das Wetter immer schlechter wurde.
Er hatte Aria und Rejan vorher nicht gekannt und er war auch nicht wirklich Yris' Onkel, aber sie hatte ihn immer so genannt. Für sie war er es. Sie war aufgewachsen, als wäre sie sein eigenes Kind.
Ihre richtigen Eltern waren seit diesem Tag verschwunden und sie war sich sicher, dass sie tot waren.
Die Äußerung des Generals, dass sie auch einen Bruder und eine Schwester hatte hielt sie für Unsinn. Sie wollte ihn irgendwann fragen, wie er auf diese Idee kam, aber im Moment hasste sie ihn dafür viel zu sehr. Schließlich hatte er gedroht, sie zu foltern! Freiwillig würde sie nicht mit ihm reden.
Er ritt gerade mit unbewegter, steinerner Miene neben ihr und sie warf ihm einen zornigen Blick zu. Auf das, was dann geschah war sie nicht gefasst gewesen.
Er wandte sich zu ihr um und sie sah ihm in die Augen. Ihr unheimlicher, zusätzlicher Sinn setzte ein und sofort riss eine Woge von Gefühlen sie fast vom Pferd. Er litt unerträglich unter Schuld, die er auf sich geladen hatte, er empfand Furcht, Trauer und grauenhaften Schmerz wegen irgendetwas und Yris hätte vor Mitleid weinen können. Aber da war auch Hass und Wut, so abgrundtief und grausam, dass sie zurück zuckte.
Der Gesichtsausdruck des schwarzen Generals zeigte nichts von all dem, was in ihm vor ging. Es war als würde er eine Maske tragen. Allerdings konnte sie sich auch nicht vorstellen, dass sich die ganzen Emotionen, die sie bei ihm gespürt hatte auf einem menschlichen Gesicht widerspiegeln konnten.
Voller Entsetzten senkte sie den Blick und starrte auf ihre Hände, die Raos Zügel umklammerten. Sie wusste nicht, wie sie mit dem Wissen um seine Gefühle umgehen sollte, was sie ihm gegenüber empfinden sollte. Mitleid? Hass?
Da lenkte er sein Pferd näher an ihres und beugte sich zu ihr hinüber.
„Was ist?“, fragte er, „Du bist wieder grün im Gesicht.“
„Nichts, alles in Ordnung“, log sie.
Der kurze Augenblick, in dem sie gespürt hatte, was er fühlte war vorüber, trotzdem konnte sie den Zweifel an ihrer Antwort in seiner Miene erkennen. Natürlich glaubte er ihr nicht. Um ihn daran zu hindern, weiter nach zu bohren, kam Yris ihm zuvor.
„Sagt mir warum das Nebelvolk verschwunden ist“, forderte sie.
Einen Moment lang starrte er sie nur an und sie dachte schon er würde gar nicht mehr antworten, doch da begann er mit leiser Stimme ein Lied zu singen. Und zu ihrem Erstaunen konnte er wirklich gut singen.
„Dort wo sich die Birken wiegen,
Bäche plätschern, Blätter fliegen,
dort steht eine große Stadt,
die viele weiße Häuser hat.

Vom Nebelvolk wurd' sie gebaut,
auf Land, das ihnen anvertraut.
Schützen wollten sie's und pflegen
und all die Tier und Pflanzen hegen.

Einst war die Stadt wohl wunderschön,
so einzigartig an zu seh'n.
Silberbirken wuchsen dort,
steh'n noch immer an dem Ort.

Doch lange schon verlassen
sind die schönen weißen Gassen,
überwuchert nun von Pflanzen,
die leicht im Winde tanzen.

Die großen Häuser und Hallen,
die Mauern längst verfallen,
von der Welt entrückt,
der Wald holt sie zurück.“
„Das ist das Lied von der verlassenen Stadt, jedes kleine Kind in Aran kennt es“, meinte Yris, „aber es erklärt nicht, warum die Nebelstadt verlassen ist.“
Der General nickte zustimmend, doch dann fügte er hinzu: „Ja, jeder kennt es, allerdings gibt es nur Wenige, die die letzte Strophe kennen:
Das Nebelvolk zog in den Krieg,
nicht viel von ihnen übrig blieb,
in fernen Landen sich versteckt,
ihre Stadt wurd' nicht entdeckt.“
„Woher kennt Ihr sie dann?“, erkundigte sie sich mit einem skeptischen Ausdruck in den Augen.
Seine Blick war ins Leere gerichtet, als er antwortete: „Jemand, den ich kannte hat dieses Lied geschrieben.“
„Erklärt mir was er damit meint. Welcher Krieg?“
Mit leiser Stimme entgegnete er: „Der geheime, letzte Krieg des Nebelvolkes.“
„Gegen wen?“, wollte sie wissen. Man musste ihm anscheinend jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen.
„Gegen den König.“
„Gegen welchen König?“
„Natürlich den jetzigen, König Marûhn I. von Aran.“
„Aber dann kann das doch noch gar nicht so lange her sein!“, rief Yris erstaunt aus.
„Es war vor sieben Jahren“, meinte er nur.
„Was ist geschehen?“
Es dauerte einen Moment, bis er antwortete, aber er schien sich jetzt entschlossen zu haben, ihr alles zu erzählen, ohne dass sie ständig nachfragen musste.
„Das Nebelvolk war stolz. Es weigerte sich, wie viele andere Völker ebenfalls, einen Bund mit dem König ein zu gehen und sich ihm zu unterwerfen. Aufgrund der besonderen Fähigkeiten, die dein Volk besaß, unter anderem das Hellsehen, ahnten sie, dass ihr Untergang und der aller anderen wilden Völker bevor stand, wenn sie nichts unternahmen. Also sammelten sie all ihre verfügbaren Streitkräfte in ihrer Stadt. Du musst wissen, dass beim Nebelvolk auch Frauen in den Krieg zogen.
Es war ein herrlich anzusehendes Heer. Im Gleichschritt marschierten hochgewachsene, in grau und silber gekleidete Krieger lautlos durch den Nebel. Doch sie wurden verraten. Ein Angehöriger ihres eigenen Volkes berichtete dem König von ihren heimlichen Plänen und als nun ihre Armee die Nebelmauer durchschritt, wurden sie bereits erwartet.
Auf einer Anhöhe warteten der Verräter, eine Kompanie Soldaten des Königs und sieben Magier. Die Krieger des Nebelvolks bemerkten ihre Feinde und gingen zum Angriff über. Bevor sie allerdings die Anhöhe ganz erreicht hatte, verharrte plötzlich jeder von ihnen mitten in der Bewegung und alle Augen starrten ins Leere. Alle auf einmal hatten sie eine Vision. Eine Vision, die der Verräter mithilfe der Magier verstärkte und jedem von ihnen sandte. Eine Vision, die Tod und Verzweiflung zeigte, den Untergang des Nebelvolks an genau jenem Tag.
Nur wenige glaubten, dass sie diese Zukunft ändern konnten, viele ergriffen die Flucht und wurden erbarmungslos gejagt. Andere wiederum blieben einfach stehen, zu nieder geschmettert um sich zu wehren und wurden nieder gemacht. Einige kämpften noch aus Wut und Verzweiflung, um ihr Leben so teuer wie möglich zu verkaufen.
An diesem Tag metzelten 112 Leute des Königs beinahe ein ganzes Volk nieder. Kaum einer entkam, denn die Soldaten hatten modernere, bessere Waffen und die Magier töteten mit einem Fingerschnipsen.
Als die in der Stadt zurück gebliebenen, Kinder und Alte davon hörten, flohen sie aus Aran, wenn sie es schafften. Die Nebelstadt war von da an verlassen, das Nebelvolk für alle anderen verschwunden, denn niemand, der an diesem Tag für den König gekämpft hatte, erzählte was geschehen war.“
„Und wieso kennt Ihr dann diese Geschichte?“, fragte Yris.
Sie sah den General mit großen Augen voller Tränen an, doch er erwiderte ihren Blick nicht. Er hatte den Kopf gesenkt und schien die Mähne seines Pferdes zu betrachten.
„Weil ich einer dieser sieben Magier war“, flüsterte er.


6
Yris


Yris konnte ihn nicht dafür hassen, nicht nachdem sie vorher gespürt hatte, wie sehr er darunter litt, was er getan hatte. Aber sie hatte jetzt wieder Angst vor ihm, jetzt da sie wusste, wozu er fähig war. Auf sein Geständnis hatte sie auch nicht geantwortet, sondern nur stumm und niedergeschlagen die Gegend betrachtet. Die Ruinen waren immer näher zusammen gerückt und man erkannte, dass die Häuser hier einst noch höher und prächtiger gewesen waren, als die, auf die sie zuerst gestoßen waren. Sie hatten das Zentrum der Nebelstadt erreicht. Vor ihnen lag ein großer, gepflasterter Platz an dessen einer Seite sie anhielten und abstiegen, ihnen gegenüber erhob sich ein bewaldeter Berg. Yris musste sich derweil immer wieder vorstellen, wie es hier ausgesehen haben musste, als hier noch Menschen gelebt hatten und das machte sie unheimlich traurig. Wie schlimm musste das dann erst für den schwarzen General sein. Allerdings hatte er sich vollkommen unter Kontrolle und man konnte ihm überhaupt nicht ansehen, was er fühlte.
„Bindet die Pferde hier an“, meinte er indes und wies auf eine Stange vor einem Brunnen am Rand des Platzes, die wohl auch einst für diesen Zwecḱ gedacht war. Es befand sich sogar klares, sauberes Wasser im Becken und die Pferde konnten davon saufen.
Er befahl, etwas Proviant in einen Rucksack zu packen, den sie abwechselnd tragen sollten, dann ging er ihnen voraus, quer über den Platz. Yris fragte sich, wo er hin wollte.
Als sie am Fuß des Berges zwischen zwei Bäumen den Anfang einer Treppe ausmachte, befürchtete sie es zu wissen.
Erstaunlich ebenmäßige Stufen aus grauem Stein führten in unzähligen Windungen den Hang hinauf. Man konnte nicht erkennen, wo sie endeten, denn der Gipfel des Berges war in dichten Nebel gehüllt.
Nach den ersten 50 Stufen begannen Yris' Beine zu schmerzen, irgendwann nach der 130 Stufe kam sie zum dritten Mal durcheinander und gab das Zählen auf. Carne und Berin, die sich vorhin noch angeregt unterhalten hatten verstummten, weil ihnen der Atem nicht mehr reichte. Doch es ging immer weiter, Schritt für Schritt, Stufe für Stufe.
Als sie erneut eine Biegung der Treppe hinter sich hatten und wieder ein neues, schier endlos scheinendes Stück vor ihnen lag meinte Sarin: „Ich wüsste zu gerne, wie viele vermaledeite Stufen das noch bis ganz oben sind.“
„Der Legende nach sind es insgesamt 1413“ entgegnete der General während er unbeirrt weiter stieg.
„1413?!?“, rief Isla entsetzt aus.
Auch die anderen sahen ziemlich verzweifelt drein.
„Ganz recht“, meinte der schwarze General nur trocken. Er wirkte noch überhaupt nicht angestrengt, während Yris bereits das Gefühl hatte, ihre Beine beständen nur noch aus Schmerzen und ihre Lunge würde bald den Dienst versagen.
Den Soldaten schien es allerdings ähnlich zu gehen. Mohn, der hinter ihr ging atmete schwer und Berin verlangte, dass endlich jemand anderes den Rucksack mit dem Proviant tragen sollte. Nachdem Carne den Rucksack übernommen hatte, stiegen sie ohne noch mehr zu sprechen weiter.
Sie hatten schätzungsweise bereits an die 500 Stufen hinter sich, als Sarin plötzlich das Schweigen brach.
„Könnten wir nicht langsam eine Rast einlegen?“, bat er.
Der General warf ihm einen erstaunten Blick zu, dann schüttelte er denn Kopf.
„Noch nicht“, sagte er.
Yris hätte beinahe angefangen zu weinen. Sie konnte nicht mehr! Doch trotzdem schleppte sie sich weiter die Treppe hinauf.
Vielleicht gute 400 Stufen weiter oben kreuzte ein kleiner Bach ihren Weg, der sich in unzähligen Kaskaden und Wasserfällen den Hang hinunter ergoss. Man konnte ihn mithilfe einer kleinen Brücke ohne Geländer überqueren. Es war regelrecht ungewohnt, einen kurzen Moment auf einem ebenen Pfad zu gehen, doch es war schnell vorbei.
Bald darauf meinte Isla: „Bitte, können wir Rast machen und etwas essen.“
Der General würdigte seine Reisegefährten nicht mal eines Blickes, er schüttelte nur verneinend den Kopf.
Yris hätte ihn schlagen können. Auch zu ihrem Schmerzen in Beinen und Lunge hatte sich Hunger gesellt. Es musste schon weit nach Mittag sein und diese dumme Treppe wollte und wollte kein Ende nehmen.
Nach weiteren 300 Stufen, die ihr aber eher wie 3000 vor kamen, bat Berin um eine Pause, doch auch dieses Mal wurde sie ihnen nicht gewährt.
Nach erneuten 250 Stufen hatte sie schließlich genug. Sie konnte endgültig nicht mehr.
„Können wir nicht endlich Rast machen und zu Mittag essen?“, meinte sie.
Der General, der immer noch voraus ging, wandte sich nach ihr um, dann nickte er.
„Wir rasten hier“, sagte er.
Yris und die Soldaten stöhnten erleichtert auf und ließen sich auf den Stufen nieder. Mohn, der den Rucksack inzwischen trug, holte das Proviant heraus und sie begannen zu essen.
Die Pause währte allerdings nicht lange. Sobald sie fertig waren ging es auch schon weiter und die Schmerzen ergriffen unverschämt schnell wieder Besitz von Yris' Beinen. Am liebsten hätte sie laut geschimpft, auf ihr Volk, das so etwas baute, auf das Nebelglas überhaupt und auf den General, der sie hier hinauf scheuchte.
Doch plötzlich endete die Treppe.
Vor ihnen lag ein gepflasterter Pfad, der geradewegs auf ein weißes Gebäude zuführte. Eine Allee aus Birken säumte den Weg und kleine weiße, goldene und violette Blumen wucherten im Gras drumherum. Auf halber Strecke erweiterte sich der Pfad zu einem runden Platz mit einem Springbrunnen in der Mitte, der allerdings trocken und voller verwelkter Blätter war. Der allgegenwärtige Nebel legte auch hier seinen feuchten, dicken Schleier über alles.
Ein paar Stufen führten zu einem hohen Portal hinauf durch das man in das Innere des Gebäudes kam. Es war ein riesiger Saal, überwölbt von einer gewaltigen Kuppel. Den Boden zierten Mosaike aus Millionen winziger, bunter Steinchen. Yris entdeckte abstrakte Muster, aber auch Bilder von irgendwelchen Sagen und Ereignissen.
Voller Bewunderung sah sie sich um. Auch ihre Gefährten bestaunten mit offenen Münder das Wunder, dass sich ihren Augen bot, selbst der General konnte seine Begeisterung nicht verhehlen.
In der Mitte des Raums befand sich ein hohes, steinernes Podest, an dessen Fuß sich trockenen Blätter häuften, die der Wind in das Gebäude getragen hatte. Darauf lag eine silbern schimmernde Kugel.
Yris konnte die Macht spüren, die davon ausging. Instinktiv näherte sie sich einige Schritte. Dem General schien es derweil ähnlich zu gehen, sicher fühlte auch er die Magie dieses Gegenstandes. Sie meinte sogar, einen Hauch von Ehrfurcht in seiner Stimme zu erkennen, als es sagte: „Das ist das Nebelglas, wir haben es gefunden.“
Er schritt langsam darauf zu, blieb aber kurz vor dem Podest stehen, wandte sich um und sah Yris an.
„Hol es!“, befahl er ihr.
Sie überlegte, warum er das wohl von ihr verlangte. Vielleicht hatte er Angst, dass das Glas durch einen Zauber geschützt war und nur die Berührung Angehöriger des Nebelvolkes akzeptierte, ähnlich der Nebelmauer. Sie überlegte, ob es ihr etwas nutzen würde, sich zu weigern, aber er würde sicher seinen Willen durch zu setzten wissen, wenn sie nicht gehorchte.
Vorsichtig näherte sie sich also dem Podest. Sie spürte nichts ungewöhnliches, außer der immer stärker werdenden Kraft des Dings. Die trockenen Blätter raschelten, als sie hindurch schritt. Stufe für Stufe erklomm sie die Treppe, dann stand sie direkt vor der schimmernden Kugel, deren trübes, silbernes Licht irgendwie zu pulsieren schien. Sie zögerte einen Moment, aus Angst und Ehrfurcht, dann legte sie entschlossen ihre Hände an beide Seiten des Nebelglases. Wärme durchflutete sie, das Licht strahlte immer heller und Yris bemerkte, dass ihre Haut ebenfalls zu leuchten begann.
Da schrie sie auf und ihre Augen weiteten sich entsetzt. Plötzlich waren da Geräusche, Gerüche und Bilder und Wissen, viel zu viel. Wie eine gewaltige, kalte Welle überrollte es sie, spülte alles weg, ihre ganze Persönlichkeit, ihr ganzes Sein.
Sie hatte Visionen, unzählige auf einmal und viele davon waren traurig und schlimm. Niemand sollte so viel wissen. Schmerz erfasste ihren Körper, den sie aber nur noch am Rande wahrnahm. All die Magie und die Fähigkeiten des Nebelglases hatten von ihr Besitz ergriffen. Es entfiel ihren zitternden Fingern ohne das sie es überhaupt bemerkte und zersplitterte auf dem Boden in abertausende winziger, funkelnder Scherben.
Aber das Wissen und die Visionen blieben.
Der General packte sie und schüttelte sie, doch auch das dämmte die gewaltige Flut von Informationen nicht ein, die durch ihren ganzen Körper rauschte.
„Komm zurück, Yris!“, rief er.
Schließlich schlug er ihr hart ins Gesicht.
Mit einer unglaublichen Anstrengung riss sie sich zusammen und es gelang ihr, alles zurück zu drängen. Doch es war immer noch da, tief in ihr, lauerte wie eine dunkle, kalte Wand in ihrem Unterbewusstsein. Entsetzt starrte sie dem General ins Gesicht, der sie in den Armen hielt.
„Yris?“, fragte er besorgt.
„Ich weiß alles“, flüsterte sie voller Panik „es ist alles in meinem Kopf!“
Dann begannen die Tränen, die der Schock zuerst zurück gehalten hatte zu fließen.

Es dauerte lange bis sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, auf der Brust des General prangte inzwischen ein großer nasser Fleck. Jetzt, als sie aufhört hatte zu schluchzen und nur noch leise schniefte, hob er sie hoch und lehnte sie vorsichtig gegen das Podest. Das Laub unter ihr, über das einer der Soldaten eine Decke gebreitet hatte, war angenehm weich und sie entspannte sich ein wenig.
Die anderen standen in einem engen Kreis zusammen und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen. Um sie herum auf dem Boden lagen die vielen Scherben des Nebelglases, die inzwischen nicht mehr funkelten.
Als Yris hörte, dass ihr Name fiel horchte sie auf.
„Was ist mit ihr geschehen?“, wollte Carne gerade wissen.
Der General blickte einen kurzen Moment nachdenklich drein, dann meinte er: „Aus mit unbekannten Gründen hat das Nebelglas seine Magie und seine Fähigkeiten an sie abgegeben.“
Von allen Seiten erntete er erstaunte Blicke.
„Das heißt...“, begann Isla.
„Das heißt, dass sie alles weiß. Alles was war, ist und noch sein wird“, vollendete der General den Satz. Dann sah er sich schnell nach ihr um. Yris tat, als ob sie nicht zuhörte. Sie befürchtete, dass er sonst nicht weiter sprechen würde und sie wollte wissen, was er noch zu sagen hatte.
Tatsächlich fuhr er fort: „Ich glaube allerdings nicht, dass sie diese Wissen im Moment einsetzten oder wiedergeben kann, es ist zu viel. Niemand kann so viele Informationen auf ein Mal verarbeiten. Deswegen ist sie auch zusammen gebrochen.“
Sie bildete sich ein, dass er schwer schluckte bevor er noch leiser als zuvor weiter redete: „Es hätte sie beinahe in den Wahnsinn getrieben.“
Sie drohte erneut in Tränen aus zu brechen während sie sich der mitleidigen Blicke der Soldaten nur allzu sehr bewusst war. Ihr war vollkommen klar, dass der Wahnsinn noch immer tief in ihr lauerte, wie ein schmerzender Dorn, der sich in ihr Fleisch gebohrt hatte. Und er würde nie wieder weggehen. Das Wissen würde immer da sein, ob sie es nun wollte oder nicht.
Plötzlich meinte Berin: „Was machen wir jetzt? Das Nebelglas ist zerbrochen. Was werdet Ihr dem König sagen, General?“
Über diese Frage hatte der Angesprochene anscheinend schon nachgedacht. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf und sagte, ohne Gefühl in seiner Stimme: „Es ist zerbrochen, aber seine Fähigkeiten sind noch da. Das Mädchen wird lernen müssen damit um zu gehen. Wir nehmen sie mit.“
Yris' Unterkiefer klappte nach unten. Wie konnte er das von ihr verlangen? Sie wollte nicht an den Hof und das schreckliche Wissen für den König einsetzten, es würde sie verrückt machen! Heute war sie diesem Schicksal nur knapp entronnen und sie wollte das nicht noch einmal versuchen. Sie wollte nur nach Hause, zu ihrem Onkel und ein einigermaßen normales Leben führen! Sie begann wieder zu schluchzen.
Der General bemerkte das und kam mit gerunzelter Stirn auf sie zu.
„Geht weg“, schrie sie ihn unter Tränen an. „Lasst mich in Ruhe!“
Sie kauerte sich auf der Decke zusammen, ihre Arme um die Knie geschlungen, ihr Gesicht verbergend.
Den ganzen restlichen Tag starrte sie nur ausdruckslos auf die Mosaike am Boden während die anderen sich unterhielten und ihre Schlafplätze herrichteten. Irgendwann ließ Carne sich neben ihr nieder und hielt ihr etwas zu essen hin. Als sie nicht darauf reagierte legte er es ihr einfach in den Schoss. Yris ignorierte es weiter, doch nach einiger Zeit stand plötzlich der schwarze General vor ihr.
„Iss oder ich werde dich dazu zwingen“, meinte er.
Sie hob den Kopf und funkelte ihn wütend an. Mit verschränkten Armen stand er da und wippte ungeduldig mit dem Fuß. Er würde nicht weggehen bevor sie nicht gegessen hatte und wenn es ihm zu lange dauerte, dann würde er seine Drohung wahr machen. Am liebsten hätte sie das Stück Brot nach ihm geworfen, doch das würde auch nichts nutzen. Stattdessen schnaubte sie abfällig, wandte sich von ihm ab und kaute lustlos auf dem zähen Schinken und dem trockenen Backwerk herum. Dann rollte sie sich zusammen und versuchte zu schlafen.
Doch mit dem Schlaf kamen die Albträume, schreckliche Kriege, Verzweiflung, Einsamkeit und dazwischen immer wieder das gleiche: Wasser. Yris träumte, dass sie in tiefes, dunkles Wasser fiel, dass sie auf zu tauche versuchte, sich irgendwo festhalten wollte, doch unbarmherzig trugen Wellen und Strömung sie fort und drückten sie nach unten.
Mitten in der Nacht wachte sie schließlich schweißgebadet auf. Sei brauchte einen Moment um sich zurecht zu finden und zu begreifen, dass das die Realität war, dass hier nirgendwo Wasser war. Gerade als sie sich einigermaßen beruhigt hatte und die Augen wieder schließen wollte, traf sie eine grausame Erkenntnis. Mit einem Schlag wurde ihr bewusst, dass all die Ereignisse aus ihrem Traum ebenfalls real waren. Bis auf das mit dem Wasser waren es die Visionen, die die Kräfte des Nebelglases ihr gaben. Zum wiederholten Male an diesem schrecklichen Tag kullerten ihr große Tränen über die Wangen.
Unfähig wieder ein zu schlafen rollte sie sich zusammen und versuchte einfach nur, an etwas anderes, etwas schönes zu denken. Doch es ging nicht, immer wieder kamen die Bilder aus dem Traum wieder. Bis sich eine Hand, die in einem weichen Lederhandschuh steckte, zärtlich auf ihre Stirn legte. Mit dem Daumen strich der General vorsichtig über ihre Haut. Yris hielt die Augen geschlossen. Sie wusste nicht warum, aber irgendwie beruhigte sie das was er tat. Sie stellte sich einfach vor, es sei jemand anderes als er, vielleicht ihr Onkel, der sie oft getröstet hatte, als sie noch ein kleines Kind gewesen war.
Tatsächlich schlief sie bald darauf doch wieder ein, diesmal traumlos und tief.

„Verdammt! Wieso habt ihr nicht mehr zu essen eingepackt?“, schimpfte jemand lautstark und Yris schlug die Augen auf. Es war Morgen, aber der Nebel dämpfte das Licht und alles wirkte grau und trüb. Die Soldaten waren bereits wach. Sie saßen gemeinsam auf dem Boden. Carne schüttelte den augenscheinlich leeren Rucksack, der zuvor ihr Proviant und die Decke enthalten hatte.
„Du wirst wohl hungrig marschieren müssen bis wir wieder bei den Pferden sind“, brummte Isla.
Carne stöhnte unglücklich, dann bemerkte er, dass sie wach war und ein Grinsen huschte über sein Gesicht.
„Guten Morgen, Nebelmädchen! Wie geht’s dir?“, wollte er wissen.
„Ich bin nur ein bisschen müde“, entgegnete sie schnell.
Sie konnte ihm nicht erklären, wie es sich anfühlte, diese dunkle Wand aus Wissen im Kopf zu haben, die schien, als könne sie jeden Moment wie eine Sintflut über sie hereinbrechen. Schock und Furcht saßen ihr noch zu tief in den Knochen. Außerdem waren da noch der General und seine Aussage, dass er sie anstatt des Nebelglases mit zum König nehmen wollte.
Gerade kam er mit schnellen Schritten durch das große Portal geeilt, das nach draußen führte. Er sah, dass sie alle wach waren und rief natürlich prompt: „Auf, wir haben nicht ewig Zeit! Wir gehen!“
Gehorsam erhoben sie sich. Yris legte ihre Decke zusammen und steckte sie in den Rucksack. Sie wollte ihn schultern, doch Mohn nahm ihn ihr wortlos ab. Dann marschierten sie los.
Auf dem Rückweg zur Treppe drehte sie sich noch einmal um und betrachtete das weiße Gebäude mit der hohen Kuppel, umgeben von Grün und in dichten Nebel gehüllt. Es kam ihr unbeschreiblich schön und majestätisch vor. Irgendwie bedauerte sie, dass sie es wohl nie wiedersehen würde. Mit einem leisen Seufzen wandte sie sich davon ab und setzte ihren Weg fort.
Der Abstieg war wesentlich leichter zu bewältigen als der Aufstieg und sie brauchten auch nicht einmal halb so lang dafür. Noch vor Mittag standen sie wieder auf dem großen Platz am Fuß des Berges. Sie banden die Pferde los und ließen sie dann auf einem kleinen Stückchen Wiese zwischen den Ruinen grasen, während sie selbst endlich frühstückten.
Yris hatte allerdings keinen großen Hunger, lange vor den anderen war sie fertig. Sie ging zu Rao und bürstete mit energischen Bewegungen sein glattes braunes Fell. Irgendwie war das beruhigend und ihm tat es auch gut. Doch bald schon musste sie ihn wieder satteln, denn der General wollte die Reise fortsetzen.
Sie ritten den Weg zurück, den sie gestern gekommen waren. Es ging an den vielen schönen weißen Ruinen vorbei, durch das sumpfige Gelände voller Schwertlilien und Silberbirken, über die kleinen Wasserläufe und alles schien sich von Yris zu verabschieden. Die Blüten und Blätter neigten sich vor ihr und flüsterten mit ihren leisen, rauschenden Stimmen, wünschten ihr viel Glück. Hier war die einstige Heimat ihres Volkes und sein Zauber würde noch lange bestehen bleiben, auch nachdem sich niemand mehr seiner erinnerte.
Im Lauf des Nachmittags schließlich erreichte die kleine Gruppe die Nebelmauer. Sie banden sich wieder aneinander, aber das wäre gar nicht nötig gewesen, hinaus zu kommen war leichter als hinein. Bis sie ihr Nachtlager aufschlugen hatten sie den Nebel vollkommen hinter sich gelassen und die letzten Strahlen der Abendsonne vergoldeten die Landschaft.
Sie befanden sich auf einer von hohem Gras bewachsenen Lichtung in deren Mitte sie ein sanft flackerndes Feuer entzündet hatten. Ein kleiner, aber tiefer Tümpel bot eine Tränke für die Pferde, sie selbst hatten ihre Wasserschläuche unterwegs an einem klaren Bach gefüllt. Es war nämlich nicht ratsam, Trinkwasser aus einem stehenden Gewässer zu nehmen, es war oft schmutzig und es ab zu kochen half da meist auch nicht.
Als es um sie herum langsam dunkel wurde hüllte sich Yris in ihren Mantel und zog sich die Kapuze über den Kopf. Irgendwie fühlte sie sich plötzlich seltsam unbehaglich. Sie bildete sich ein, dass sie wieder beobachtet wurden. Aufmerksam sah sie sich um und lauschte in die Nacht hinein, aber sie konnte nichts verdächtiges entdecken und alles was sie hörte war der unheimliche, klagende Schrei einer Eule.
Sie überlegte, ob sie den anderen etwas sagen sollte, doch da meinte der General: „Heute müssen wir wieder eine Nachtwache aufstellen, denn wir befinden uns außerhalb der Nebelmauer in der Wildnis und es besteht die Gefahr einer Überfalls.“
Kaum hatte er seinen Satz vollendet, da erklang auch schon eine kalte, harte Stimme: „Eben so einer findet gerade statt, meine Herren, eine Nachtwache könnt Ihr Euch sparen. Ich rate Euch auch, nicht nach den Waffen zu greifen, wenn Ihr nicht augenblicklich von Pfeilen durchlöchert werden möchtet.“
Im Dunkel um sie herum konnte man schattenhafte Gestalten ausmachen, die wie schwarze Geister plötzlich aus dem hohen Gras aufgetaucht waren. Mindestens 20 gespannte Bögen waren auf die kleine Gemeinschaft gerichtet, die gegen den Hintergrund ihres Feuers auch gut zu erkennen sein musste.
Yris kauerte sich möglichst klein zusammen und wagte nicht, sich zu bewegen. Voller Furcht hielt sie den Atem an.
Doch der General erhob sich langsam aber geschmeidig und mit unglaublich ruhiger Stimme meinte er: „Ich hätte nie erwartet, dass es stimmt, was man sich über das Eulenvolk und seine Fähigkeit sich lautlos an zu schleichen erzählt. Aber es ist wahr.“
„Das ist es“, erwiderte die kalte Stimme ungerührt „genauso wie die Gerüchte darüber, dass selbst die Dunkelheit der tiefsten Nacht nicht dunkel ist für sie. Deswegen werdet ihr jetzt Euer Feuer löschen und Euch dann widerstandslos entwaffnen lassen. Egal was Ihr tut, bedenkt, dass wir Euch sehen können als wäre es heller Tag.“
Möglichst ohne hastige Bewegungen und nach einem kurzen Blickwechsel mit dem General griff Carne nach seiner Feldflasche und leerte den Inhalt in die Glut. Mit einem leisen Zischen erstarb auch das letzte Flackern und es wurde dunkel.
Kein Laut war zu hören, als die Eulen näher kamen, doch das leise Geräusch, mit dem ein Waffengürtel geöffnet wird und das Klirren mit dem er zu Boden fällt, verrieten Yris, was geschah. Bebend vor Angst kauerte sie da.
Was würden sie mit ihr und den anderen machen? Würden sie sie umbringen? Wieso hatten sie das nicht schon längst getan?
Sie hätte beinahe erschreckt aufgeschrien, als sie von groben Händen gepackt und hoch gezogen wurde. Sie konnte weder etwas sehen, noch etwas hören und nur mit Mühe gelang es ihr, die in ihr aufkeimende Panik zurück zu drängen.
Indes legten sich die beiden Hände tastend an ihre Hüfte, dann war ein erstauntes Schnauben zu hören. Die seltsame Mischung aus Pfeifen, Zischen und Schnalzen, die daraufhin erklang war für Yris nur schwerlich als Sprache erkennbar, doch genau das musste es sein: die Sprache des Eulenvolks.
„Keine Waffen?“, wollte die kalte Stimme von vorhin mit Nachdruck wissen.
Wieder erklangen seltsamen Wörter, die anscheinend keine Vokale enthielten, dann wurden Yris' Arme nach vorne gerissen und mit einem rauen Seil an den Handgelenken zusammengebunden. Sie konnte nur vermuten, dass es ihren Gefährten ähnlich erging und obwohl sie wusste, dass sie nicht weit voneinander entfernt sein konnten fühlte sie sich einsam und verloren. Sogar die Nähe des schwarzen General wäre ihr in diesem Moment tröstlich vorgekommen.
Plötzlich zerrte etwas an ihren gefesselten Armen und sie wurde nach vorne gerissen. Stolpernd setzte sie sich in Bewegung. An ihren Handgelenken musste ein längeres Seil befestigt sein, an dem sie nun gnadenlos vorwärts gezogen wurde. Sie konnte auch die unsicheren Schritte der Soldaten hinter sich hören und den Hufschlag der Pferde, die die Eulenmenschen anscheinend ebenfalls mitnahmen. Ein brutaler Gewaltmarsch durch die Nacht begann.
Schon nach kurzer Zeit war Yris' Haut von den Fesseln wund und aufgescheuert und ihr ganzer Körper schmerzte, da sie immer wieder stürzte weil sie überhaupt nichts sehen konnte. Nichteinmal abfangen konnte sie ihren Fall mit den zusammengebunden Händen.
Jedes Mal wenn sie wieder Bekanntschaft mit dem harten Boden machen musste, wurde sie danach auch noch von einem Eulenmenschen, der anscheinend neben ihr ging, wieder hoch gerissen und weiter vorwärts gestoßen. Heiße Tränen flossen über ihre Wangen, die sich dort mit Dreck und Blut aus den entstehenden Verletzungen mischten. Sie konnte nicht mehr.
Doch irgendwann bemerkte sie, dass sie wieder Umrisse erkennen konnte. Sie stolperte nicht mehr so oft über Wurzeln und rannte auch nicht mehr gegen Bäume. Leises Vogelgezwitscher begrüßte den neuen Tag und gab ihr Hoffnung.
Gerade führten die Eulen sie und die anderen in ein tiefes Tal hinab. Vor einer gewaltigen Felswand hielten sie schließlich an. Jemand rief etwas in der seltsamen Sprache und man hörte ein leises Knirschen, dann wurde Yris vorwärts gestoßen, direkt auf eine Tür im Fels zu und um sie herum herrschte plötzlich wieder vollkommene Dunkelheit. Unsicher und verängstigt blieb sie stehen.
Doch auf einmal loderten helle Fackeln auf und sie musste geblendet die Augen schließen.
„Willkommen in der Höhlenfestung der Eulen!“, meinte die harte, kalte Stimme spöttisch.
Mühsam öffnete Yris ihre Augen wieder und sah sich unter dem Saum ihrer Kapuze heraus um. Sie befand sich inmitten ihrer Gefährten, die wie sie erschöpft wirkten und ebenfalls deutlich die Spuren nächtlicher Stürze trugen. Nur der General nicht. Aufrecht und stolz stand er schräg vor ihr und musterte die hochgewachsene Gestalt, die anscheinend der Sprecher der Truppe Eulen war, die sie gefangen genommen hatte.
Die Gestalt trug ebenfalls einen langen Mantel mit Kapuze und überragte die Eulenmenschen, die mit Fackeln wie Leibwächter neben ihr standen um gut zwei Köpfe.
Yris sah zum ersten Mal in ihrem Leben Angehörige dieses Volkes und sie staunte nicht schlecht. Das Erste, was einem auffiel, wenn man sie ansah waren die riesigen Augen, deren Pupillen sich fast beliebig weiten konnten um so auch den letzten Lichtstrahl einzufangen und zu nutzen. Sie trugen fast alle Kleidung in braun, grau und beige und ihre lockigen Haare wurden von Federn geschmückt. Bis auf den Sprecher waren sie ausnahmslos relativ klein und ausgesprochen zierlich.
Dieser meinte indes: „Kennt Ihr mich noch General?“, und schlug seine Kapuze zurück wodurch sein Gesicht entblößt wurde.
Yris erstarrte.
Das war nicht möglich, das konnte einfach nicht sein. Vor ihr stand ihr absolutes Ebenbild. Die Frau war zwar anscheinend etwas älter und ihre Züge waren schärfer, aber trotzdem war die Ähnlichkeit unverkennbar. Ihre Haare hatten das gleiche Silberblond, ihre Augen die gleiche, seltsame Farbe.
„Wie könnte ich die Frau vergessen, die mich für den Rest meines Lebens mit dieser Narbe gezeichnet hat?“, entgegnete der General derweil und fuhr sich mit seinen zusammengebundenen Händen über das Gesicht, „ Natürlich kenne ich Euch noch, Larissa Lavila. Allerdings hatte ich nicht erwartet, Euch hier zu treffen.“
„Ob Ihr es glaubt oder nicht, aber ich hatte erwartet, Euch zu treffen. Vor ein paar Tagen hatte ich einen sehr interessanten Traum, oder besser gesagt eine Vision, die Euch gefesselt in meinen Händen zeigte“, lachte die Frau.
Der General musterte sie nachdenklich, dann verzogen sich seine Lippen zu einem spöttischen Grinsen.
„Hat Euch Eure Vision auch gezeigt, was ich dabei habe? Ich habe nämlich eine kleine Überraschung für Euch gefunden. Seht sie Euch an!“
Mit einem Kopfnicken wies er auf die völlig verwirrte Yris. Die fremde Frau, die ihr so unglaublich ähnlich sah kam nach einem abschätzenden Blick auf sie zu und riss ihr die Kapuze vom Kopf. Dann erstarrte sie.
„Ist sie Euch nicht wie aus dem Gesicht geschnitten?“, fragte der General scheinheilig „Ich hätte nicht geglaubt, dass sich Schwestern so ähnlich sehen können ohne Zwillinge zu sein, aber Ihr, Larissa und unsere Yris, ihr habt mich vom Gegenteil überzeugt.“
Die zwei Frauen starrten sich einen Moment lang perplex an, doch die ältere der beiden fing sich schnell wieder.
„Wisst Ihr“, wandte sie sich an den schwarzen General, der augenscheinlich sehr zufrieden daneben stand, „ich hätte gerade nicht übel Lust Euch hier auf der Stelle höchst persönlich zu exekutieren.“
„Das würde ich nicht tun, außer Ihr wollt Eurer kleinen Schwester Schmerzen zufügen. Sie erträgt es nämlich gar nicht, wenn andere leiden und sterben“, entgegnete er siegessicher.
Aus der unterdrückten Wut in der Stimme der Frau wurde lodernder Zorn und ihr Aufschrei in der Sprache der Eulen schien ein ziemlich derber Fluch zu sein. Dann knurrte sie auch für Yris verständlich: „Wehe Euch, wenn Ihr ihr auch nur ein Haar gekrümmt habt, verdammter Bastard!“
Er lachte. Aber nicht lange. Larissa Lavila war unglaublich schnell und ihr Schlag traf ihn vollkommen unvorbereitet. Mit einem leisen, für einen Mann viel zu hohen Schmerzenslaut ging er in die Knie und Yris hatte entgegen ihres üblichen Verhaltens überhaupt kein Mitleid. Er war selbst schuld, schon viel zu oft hätte sie das auch gerne getan.
Die Frau, die angeblich ihre Schwester war wollte sich indes wieder ihr zuwenden, doch da ertönte lautes, fröhliches Gelächter und ein Mann bahnte sich seinen Weg durch die umstehenden, grinsenden Eulen, die ihm alle respektvoll Platz machten. Er war eindeutig einer von ihnen, denn er hatte die gleichen, riesigen Augen. Allerdings war er ein ganzes Stück größer und er trug strahlend weiße Gewänder, die schwer von goldenen und schwarzen Stickereien waren. Seinen dunkelbraunen Lockenkopf zierte ein Kranz aus Federn, die funkelten als beständen sie aus purem Gold. Er war hübsch, wenn auch auf fremde und exotische Weise.
Jetzt legte er einen Arm um die Taille der Frau und flüsterte ihr grinsend etwas ins Ohr, wofür er einen bösen Blick erntete. Yris wollte gar nicht wissen, was er gesagt hatte. Nun wandte sich der Mann ihr zu und musterte sie mit schief gelegtem Kopf.
„Larissa, meine Gemahlin, willst du uns nicht vorstellen?“, meinte er dann in der allgemein gebräuchlichen Menschensprache von Aran zu seiner Ehefrau. Allerdings sprach er mit einem wirklich heftigen Akzent, er neigte nämlich dazu, sämtliche Vokale zu verschlucken und war deswegen ziemlich schwer zu verstehen.
Die Angesprochene verdrehte die Augen, löste sich aus seiner Umarmung, wies mit der einen Hand auf ihn und sagte: „Yris, das ist mein Ehemann Trx, der Fürst der Eulen. Trx, das ist meine kleine Schwester Yris Lavila“
„Sehr erfreut, Schwägerin!“, rief er aus, reichte ihr dann seine Hand, bemerkte, dass sie sie nicht schütteln konnte, weil die ihren noch aneinander gefesselt waren und zog sie daraufhin kurzerhand in eine stürmischen Umarmung.
Als er sie wieder losgelassen hatte benötigte Yris einen Moment um sich zu fangen, das ging ihr einfach alles viel zu schnell. Erst traf sie eine Frau, die ihr bis auf Haar glich, dann erfuhr sie, dass das anscheinend ihre Schwester war, dann verpasste ihre angebliche Schwester dem General einen Schlag in... nun ja, und schließlich lernte sie ihren Schwager, den Fürsten der Eulen kennen.
„Ich habe ziemlich viele Fragen“, begann sie letztendlich unsicher.
„Die können wir morgen immer noch klären“, entgegnete der Fürst, „jetzt solltest du erst einmal ein heißes Bad nehmen und dich dann schlafen legen. Du hast es bestimmt nötig. Tut mir wirklich Leid, dass meine Leute und meine Frau so brutal zu dir waren.“
„Und was ist mit meinen Gefährten?“, wollte Yris wissen.
Die Soldaten standen immer noch stumm und unsicher neben ihr, auch der schwarze General hatte sich inzwischen wieder aufgerappelt, war aber so klug zu schweigen um einen erneuten Schlag zu vermeiden. Angespannt erwarteten sie alle die Antwort. Das Eulenvolk und der König waren Feinde, also waren auch seine Leute Feinde für sie.
Der Fürst runzelte nachdenklich die Stirn, meinte dann aber: „Dir zu Liebe, Schwägerin, werden wir sie ebenfalls als unsere Gäste behandeln. Nehmt Ihnen die Fesseln ab.“
Sofort gehorchten die umstehenden Eulen seinem Befehl und Yris' Gefährten wurden losgebunden und weg geführt. Auch sie selbst geleitete ein junger Mann, der eine brennende Fackel trug einen langen, in den Fels gehauenen Korridor hinunter, dann eine schmale, gewundene Treppe hinauf und schließlich durch eine niedrige Tür in ein kleines Zimmer.
Auf dem Boden lagen weiche, weiße Teppiche und die Wände schmückten bunte Malereien. Das Bett an einer Wand, das von einen ebenfalls weißen Vorhang halb verdeckt wurde, wirkte zwar etwas kurz, aber dafür bequem und durch ein kleines Fenster aus trübem Glas schienen die ersten Strahlen der eben aufgehenden Sonne.
Yris hätte sich am liebsten gleich hingelegt, doch der Eulenmann bedeutete ihr, ihm zu folgen und führte sie erneut durch eine Tür. In dem angrenzenden Raum befand sich eine Feuerstelle mit einem Kessel darüber und eine große, hölzerne Wanne. Sie hätte sie gerne genutzt, allerdings wusste sie nicht, ob sie heute noch in der Lage sein würde, eimerweise Wasser zu schleppen und es zu erhitzen bis es für ein Bad reichte. Sie war viel zu erschöpft. Doch da drückte der Eulenmann ihr bereits einen Eimer in die Hand und wies auf ein rundes Stück Holz, dass aus der Wand ragte. Erstaunt ging sie hinüber. Als sie näher kam, erkannte sie, dass es innen hohl war.
Fragend sah sie den Mann an. Er machte ihr mit Händen und Füßen verständlich, den Eimer darunter zu stellen, dann zog er einen an dem Holzrohr befestigten Schieber nach oben. Klares Wasser plätscherte und füllte langsam das Gefäß. Yris fielen vor Staunen fast die Augen aus dem Kopf.
„Wie geht das?“, fragte sie begeistert.
Doch der Eulenmann musterte sie nur verständnislos und mit schief gelegtem Kopf, dann grinste er und zwitscherte fröhlich etwas in seiner seltsamen Sprache. Mit seinen schlanken, schmalen Fingern wies er auf eine weitere hölzerne Tür in der Felswand, winkte kurz , drehte sich nach einem erneuten Grinsen um und verschwand mit raschen Schritten aus dem Raum. Jetzt war es an Yris, ihm verständnislos hinterher zu blicken.
Was sollte das gerade eben? Was hatte er zu ihr gesagt? Seltsam. Kopfschüttelnd beschloss sie, dass er ihr wohl eine gute Nacht und ein angenehmes Bad gewünscht hatte und dass sie das jetzt wohl am besten genießen sollte.
Dank der hölzernen Wasserleitung war der Kessel über dem Feuer schnell gefüllt und musste sich nur noch erhitzen. Sie nutzte derweil die Zeit um sich in den zwei Zimmer etwas umzusehen und hinter die Tür, auf die der Eulenmann gewiesen hatte zu blicken. Vorsichtig legte sie Hände an den eisernen Knauf und zog sie langsam auf. Zum wiederholten Male an diesem Tage staunte sie nicht schlecht.
Hinter der Tür befand sich zwar nur ein Schrank, doch dieser war gefüllt mit Unmengen flauschiger, weißer Handtücher, bunter Seifen und unzähliger verschiedener Flaschen, Döschen und Gläsern, von denen jedes einen anderen, duftenden Badezusatz enthielt.
Trotz ihrer Müdigkeit öffnete Yris jedes einzelne davon und schnupperte daran. Sie erkannte die Gerüche unterschiedlichster Kräuter und Blumen, wie Salbei, Lavendel oder den Duft von Rosen, aber es gab auch Gefäße, deren Inhalt sie nicht identifizieren konnte, der aber trotzdem ihrer Nase schmeichelte. Es war gar nicht so einfach, sich für etwas zu entscheiden, doch schließlich wählte sie ein kleines Döschen aus reinem, blauem Glas mit violetten Sprenkeln darauf und nachdem sie das inzwischen heiße Wasser aus dem Kessel in die Wanne gegossen hatte gab sie ein wenig von dem Pulver aus der Dose dazu. Sofort verbreitete der Duft von Kornblumen im Raum und Yris atmete zufrieden ein. Herrlich.
Nachdem sie sich ihrer stinkenden, schmutzigen Kleidung entledigt hatte, ließ sie sich ins Wasser sinken und schloss glücklich und entspannt die Augen, alle ihre Probleme für einen Moment vergessend, sogar die dunkle Mauer aus Wissen, die immer noch tief in ihrem Bewusstsein lauerte. Wie eigentlich zu erwarten schlief sie augenblicklich ein und erwachte erst wieder, als ihr Badewasser bereits kalt war. Zitternd wusch sie sich noch damit, spülte sich dann mit einem zusätzlichem Eimer den restlichen Schmutz vom Körper und wickelte sich in ein riesiges Handtuch. Zum Glück hatte sie den Stopsel am Boden der Wanne bemerkt, der es ihr ermöglichte das Bad ohne große Mühe auszulassen und schon bald konnte sie sich endlich ins Bett fallen lassen. Die Wasserleitungstechnik der Eulen grenzte wahrhaft an Zauberei, so etwas hatte sie noch nie gesehen. Über den Überlegungen, wie das wohl funktionierte schlief sie schließlich ein.
Das Aufstehen war so angenehm wie schon lange nicht mehr und Yris fühlte sich erfrischt und munter, obwohl sie nicht viel mehr als fünf Stunden geschlafen haben konnte. Trotzdem hätte sie die Wärme der weichen Decken gerne noch länger genossen, wenn sie der Hunger nicht aus dem Bett getrieben hätte. Es war ziemlich dunkel in ihrem Zimmer, da das einzige Fenster nach Osten ging und die Sonne inzwischen wohl im Süden stand. Deswegen war sie froh, dass sie sie auf dem Boden des Raums eine Kerze entdeckte, die sie rasch entzündete.
Schade, dass sie jetzt ihre schmutzige Kleidung von gestern wieder anziehen musste. Gestern nach dem Bad hatte sie es nicht über sich gebracht und deshalb nackt geschlafen, nur in ein großes Handtuch gewickelt. Aber es ging leider nicht anders.
Ihre bloßen Zehen bei jedem Schritt tief in den flauschigen Teppich grabend wollte sie gerade ihre Sachen holen, als sie das Kleid bemerkte. Es hing über der Lehne eines niedrigen Stuhls und jemand musste es, wie die Kerze, gebracht haben während sie geschlafen hatte. Yris hob es vorsichtig hoch. Bewundernd strich sie über den geschmeidigen und leichten weißen Stoff. Obwohl das Kleid keinerlei Verzierungen aufwies und sehr schlicht war, war es wunderschön. Auch ein Satz frischer Unterwäsche lag dabei und unter dem Stuhl stand ein Paar passender, weißer Pantoffeln. Sie zögerte lange, bevor sie endlich wagte, die Sachen anzuziehen, die saßen wie angegossen. Auf keinen Fall durfte sie vergessen, sich dafür zu bedanken, egal was heute geschehen würde und wie verwirrt sie auch sein würde, wenn sie mit ihrer angeblichen Schwester gesprochen hatte. Jetzt musste sie aber erst einmal etwas zu essen suchen.
Mit der Kerze in der Hand öffnete sie langsam die Tür und trat auf den dunklen Gang hinaus. Es wäre gut zu wissen, in welche Richtung man gehen musste. Soviel hatte sie schon von der Höhlenfestung der Eulen gesehen, dass ihr klar war, wie leicht man sich hier verlaufen konnte, wenn man den Weg nicht kannte. Doch trotzdem entschied sich Yris, einfach nach rechts zu gehen. Irgendwo würde sie schon hinkommen.
Nach einer scheinbar endlosen Reihe von finsteren Korridoren, Treppenfluchten und Abzweigungen konnte sie endlich vor sich einen schwachen Lichtschein ausmachen. Erleichtert beschleunigte sie ihre Schritte und eilte darauf zu. Vor ihr lag ein riesiger Saal mit großen Spitzbogenfenstern an der einen Seite, durch die helles Sonnenlicht schien. An langen Tischen saßen Gruppen von Eulen. Manche aßen, andere unterhielten sich oder spielten Yris unbekannte Würfel- oder Brettspiele. Sie alle blickten ihr neugierig hinterher während sie durch den Raum schritt. Im gegenüberliegenden Eck hatte sie nämlich ihre Reisegefährten entdeckt, die ebenfalls Essteller vor sich stehen hatten. Der General hob den Kopf als sie näher kam und sie bildete sich ein, für einen kurzen Moment Bewunderung in seinem Blick zu erkennen derweil er ihr Kleid betrachtete.
Carne meinte sogar: „Du siehst aus wie eine Schneekönigin!“
Sie drehte sich grinsend und ließ ihren Rock um sich herumwirbeln. Dann ließ sie sich neben General Rawen auf der Bank nieder, der ein Stück zur Seite gerutscht war um ihr Platz zu machen. Ihr fiel erst wieder ein, dass sie eigentlich wütend auf ihn war, als sie bereits saß. Egal, jetzt war sie zu faul um wieder aufzustehen.
„Wo habt ihr das Essen her?", fragte sie stattdessen mit einem hungrigen Blick auf die Teller ihrer Gefährten, die mit dampfendem Eintopf gefüllt waren.
„Du kannst meine Portion haben. Ich bin froh, wenn ich sie loswerde, ich will nichts", sagte der schwarze General schnell und schob ihr seinen Teller und seinen Löffel hin. Höflich bedankte sich Yris und machte sich, nachdem sie den Soldaten einen guten Appetit gewünscht hatte eilig darüber her. Beinahe hätte sie sich die Zunge verbrannt. Es war verdammt heiß, aber gut.
„Ich wüsste zu gerne, was da drin ist", murmelte sie zwischen zwei Bissen.
„Das kann ich dir sagen", meinte erstaunlicherweise der General und ein winziges Grinsen huschte über sein Gesicht, „ich habe mich bereits danach erkundigt. Natürlich benutzen sie dafür Eulenkraut, einige andere Gewürze und Kräuter, Bohnen und außerdem Fleisch. Von Eichhörnchen, Fröschen, Mäusen und Ratten."
Berin verschluckte sich an seinem Essen und bekam einen Hustenanfall. Auch alle anderen schienen sich sehr zurückhalten zu müssen um nicht alles davon wieder auszuspucken. Angewidert schoben sie ihre Teller von sich. Nur Yris nicht.
Genüsslich schob sie sich noch einen Löffel voll in den Mund, nickte und sagte: „Habe ich mir schon fast gedacht, Rattenfleisch gab es bei den Krähen ja schließlich auch. Als Ihr ausnahmsweise auch einmal etwas gegessen habt."
Idiot.
Sie hatte eigentlich gehofft, ihn mit ihrer Aussage ebenfalls zu erschrecken, doch seine Miene zeigte nur gelindes Erstaunen und dann meinte er sogar: „Ich weiß. Viele der wilden Völker ernähren sich vom Fleisch dieser Tiere. Mich wundert nur, dass dir das nichts ausmacht.“
Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern.
„Es schmeckt doch gut. Allerdings habt Ihr, fürchte ich, den anderen den Appetit verdorben“, sagte sie derweil sie sich wieder über ihren Teller beugte.
Der schwarze General schien heute unnatürlich gut gelaunt zu sein. Er knurrte niemanden an und hätte sogar beinahe richtig gegrinst! Jetzt streckte er sich ausgiebig, wobei das weite, schwarze Hemd, das er trug seinen schlanken Körper umspielte. Anscheinend hatten die Eulen auch ihm und den anderen Soldaten frische Kleidung überlassen. Es stand ihm wirklich ausgezeichnet und Yris ärgerte sich. Wieso musste ihr ausgerechnet dieser Idiot irgendwie gefallen? Es gab doch auch andere hübsche Männer!
Trotzdem konnte sie nicht widerstehen. Sie musste sich einfach etwas zu ihm hinüber lehnen und tief einatmen. Er roch so unglaublich gut. Und er hatte Kiefernnadeln für sein Badewasser benutzt.
„Kornblumen!“, murmelte er da plötzlich und sie rutschte schnell wieder ein Stück weg. Errötend widmete sie sich wieder ihrem Eintopf.
„Hä?“, fragte Sarin.
„Erstens heißt es 'Wie bitte?' und zweitens: 'Nichts'“, entgegnete der General, doch Yris wusste genau, was er gemeint hatte.
Ein Räuspern lenkte ihre Aufmerksamkeit auf einen Eulenmann, der neben sie getreten war.
„Frau Yris? Die Fürstin und der Fürst erwarten Euch“, meinte er mit heftigem Akzent und wies mit ausgestrecktem Arm auf eine große, eisenbeschlagene Tür am anderen Ende des Raums, „Wenn Ihr mir bitte folgen wollt.“
Der skeptische Blick, den der General ihr nach warf folgte ihr durch den Saal, als sie dem Mann hinterher schritt. Mit einem immensen Kraftaufwand schob er einen der schweren Türflügel gerade so weit auf, dass sie hindurch konnte.
Vor Yris erstreckte sich eine zweite Halle, deren hohes Kreuzgewölbe von grauen Steinsäulen getragen wurde. Auch hier fiel durch die Fenster an an einer Seite des Saals Licht herein und zeichnete helle Muster auf die großen Steinplatten, die den Boden bildeten. Am hinteren Ende erhob sich ein Podest auf dem zwei weiß gepolsterte Stühle mit kunstvollen Schnitzereien im dunklen Holz der Lehne standen.
Auf dem einen saß Larissa Lavila, die Fürstin der Eulen, elegant, majestätisch und wunderschön. Auf dem anderen saß - oder eher fläzte – ihr Ehemann, der Fürst. Er hing vollkommen schief auf seinem Thron, die Füße in den weißen Lederstiefeln hatte er über die Armlehnen gehängt. Als Yris näher kam warf ihm seine Frau einen bösen Blick zu und er setzte sich grinsend aufrecht hin.
„Sei gegrüßt, Schwägerin! Gut geschlafen?“, rief er ihr fröhlich entgegen. Seine gute Laune war unglaublich ansteckend und irgendwie wirklich süß.
„Hervorragend! Dank Eurer großzügigen Gastfreundschaft“, erwiderte sie lächelnd, dann machte sie Anstalten, sich vor dem Fürstenpaar niederzuknien, doch Larissa stieg schnell die Stufen zu ihr hinunter und hielt sie davon ab.
Lass das, du bist doch nicht meine Untertanin, sondern meine Schwester! Komm, du musst mir so viel erzählen!“
Sie führte sie zu einem langen Tisch in der Mitte der Halle und bedeutete ihr, sich zu setzen. Auch der Fürst erhob sich von seinem Thron und schlenderte herüber.
„An dieser Tafel tagt normalerweise der Rat der Eulen“, erläuterte er, ließ sich in einen der großen Stühle fallen und legte seine Füße auf die Tischplatte.
Yris wandte sich derweil unsicher an seine Frau: „Glaubt Ihr wirklich, dass ich Eure Schwester bin? General Rawen könnte das nur erfunden haben.“
„Er ist vieles, aber kein Lügner. Außerdem kann wohl niemand leugnen, wie sehr wir uns ähneln“, entgegnete diese überzeugt.
„Es könnte Zufall sein“, widersprach Yris.
„Nein, niemals“, mischte sich der Fürst ein, „dazu ist die Ähnlichkeit viel zu groß und ihr seid beide vom Nebelvolk, das allgemein nicht mehr allzu viele Angehörige zählt, oder?“
„Das solltest du eigentlich sicher wissen“, meinte seine Frau empört, während Yris nur nickte, „Wir sind schließlich seit 6 Jahren verheiratet!“
„7, geliebte Gemahlin“, spottete der Fürst, „es ist schon 7 Jahre her, dass du mich geheiratet hast und somit zur Fürstin der Eulen wurdest.“
„Wirklich?“, Larissa schien nachzudenken, dann sagte sie: „Stimmt, du hast recht. Entschuldige vielmals.“
Sie beugte sich zu ihm hinüber und küsste ihn, dann wandte sie sich wieder Yris zu: „Als ich unsere Eltern zum letzten Mal sah, erwartete meine Mutter ein Kind und ich bin ganz sicher, dass du das warst. Auch dein Name spricht dafür. In unserer Familie war es üblich, seinen Kinder Blumennamen zu geben. Larissa bedeutet zum Beispiel Pfefferminze, Yris ist die Schwertlilie und Mutter hieß Aria, Rose.“
„Aria?“, fragte Yris erstaunt, „Onkel Madan, der Mann, bei dem ich aufgewachsen bin, sagte tatsächlich, dass meine Eltern sich als Aria und Rejan vorgestellt hätten!“
„Siehst du?“, grinste die Fürstin, „du bist sicher meine kleine Schwester!“
Yris lächelte zurück, doch dann wich ihre Freude einem traurigen, nachdenklichen Ausdruck. Mit leiser Stimme fragte sie: „Warum sind sie tot? Warum haben sie mich bei einem wildfremden Menschen zurückgelassen?“
Ihre Schwester senkte den Kopf und schwieg einige Augenblicke, bevor sie antwortete: „Vater besaß in hohem Maße die Gaben des Nebelvolks, er war einer der der größten Seher, die je gelebt haben. Wenn ich morgens die Treppe herunter kam, stand immer schon genau das auf dem Tisch, auf das ich Appetit hatte und ohne aufzusehen sagte er zum Beispiel: 'Schatz, das grüne Kleid steht dir wirklich ausgezeichnet' oder er meinte mit einem verzweifeltem Blick: 'Könntest du bitte deinen Bruder davon abhalten, das anzuziehen, was er gerade aus seinem Schrank holen will? Es sieht wirklich schlimm aus'. Und er hatte immer recht.“
Ein weiches Lächeln huschte über das Gesicht der Fürstin und nahm ihm für einen kurzen Moment den harten Zug, den das Leben dort hinterlassen hatte. Doch nur für einen winzigen Augenblick, dann war es wieder vorbei.
„Leider machte er sich dadurch viele Feinde“, setzte sie ihre Erzählung fort, „Obwohl er kein Interesse daran hatte, wurde er in die Intrigen und Machtspiele der Politik hineingezogen und einer seiner mächtigen Gegner verbannte ihn schließlich aus der Nebelstadt. Mutter begleitete ihn, doch Henri und mich ließen sie zurück. Mein Bruder war damals erst zwölf Jahre alt und ich musste auf ihn aufpassen, sonst wäre ich auch mit meinen Eltern gegangen. Aber ich musste bleiben und sah Vater und Mutter nie wieder.
Das einzige Mal, dass wir noch einmal von ihnen hörten, war durch einen Brief, den sie kurz nach deiner Geburt sendeten. Es war ein Abschiedsbrief. Vater wusste, dass sie sterben würden, denn der damalige König, Mahrûhns Vater, ließ Jagd auf sie machen und vor seinen Häschern gab es kein Entkommen. Da ich kaum hellseherisch begabt bin, weiß ich nicht genau, wie es geschah, ich spürte nur eines Tages, dass sie tot waren.“
Larissa wusste es nicht genau, aber Yris wusste es. Schon während der letzten Sätze der Fürstin waren plötzlich Bilder in ihrem Kopf. Zwei Frauen, die sich mit blanken Schwertern gegenüber standen und ein Mann daneben, der Tränen in den großen braunen Augen hatte vor einem Hintergrund aus Eis und Schnee. Rejan wirkte wirklichkeitsfern, als wäre er in seinen eigenen Gedanken und Visionen gefangen, bereits wissend, welches Schicksal in und seine Gemahlin erwartete.
Aria war groß und schlank und man sah, von wem ihre Töchter ihr Aussehen geerbt hatten. Sie schwang ihre Waffe mit erstaunlicher Geschwindigkeit, doch ihre Gegnerin ebenso.
Die andere Frau war ebenfalls groß und fast übernatürlich schnell. Ihre feuerroten Haare trug sie in einer komplizierten Flechtfrisur aus der sich bereits einige lange, gelockte Strähnen gelöst hatten. Unzählige Geschichten rankten sich um ihre tolldreisten Taten. Man nannte sie die rote Jägerin. Als Auftragsmörderin versetzte sie damals ganz Aran in Angst und Schrecken.
Und Yris musste jetzt mitansehen, wie sie vor 19 Jahren ihre Eltern getötet hatte. Sie konnte die Vision nicht beenden, die Bilder ließen sich nicht aus ihrem Kopf vertreiben. Hilflos beobachtete sie, wie sich das scharfe Schwert nach einem harten Kampf durch den Körper ihrer Mutter bohrte um gleich darauf ihren Vater zu enthaupten. Blut färbte den zuvor weißen Schnee rot.
Dann erst kam sie zitternd wieder zu sich, Tränen benetzten ihre Wangen und sie hatte das Gefühl, das Herz würde ihr zerspringen. Doch die Hand ihrer Schwester lag auf der ihren und spendete ihr auf diese Weise Trost.
„Du hast mehr von den Gaben des Nebelvolks als ich, nicht wahr?“, fragte die Fürstin mit sanfter Stimme.
Yris senkte den Kopf, bemühte sich ihr leises Schluchzen und den Schmerz unter Kontrolle zu bringen und flüsterte schließlich: „Meist kommen mir meine Fähigkeiten eher wie ein Fluch denn wie Gaben vor“ und mit schwacher Stimme erzählte sie Larissa auch noch vom Nebelglas und all seinem Wissen, dass jetzt in ihrem Kopf war.
Der Fürst hatte indes seine Füße vom Tisch genommen und sich gespannt nach vorne gebeugt. Als Yris geendet hatte pfiff er leise.
„Ist dir klar, was du damit für eine Macht hast? Du weißt alles! Was würden viele Leute dafür geben, über dieses Wissen zu verfügen!“, rief er.
„Aber ich will es nicht und ich verfüge auch nicht wirklich darüber“, entgegnete sie verzweifelt, „denn es ist zwar da, aber ich kann und will es nicht benutzen, sonst triebe es mich mit Sicherheit in den Wahnsinn. Es macht mir Angst!“
Larissa fuhr ihr zärtlich durchs Haar und meinte: „Niemand wird dich dazu zwingen, es zu benutzen, kleine Schwester“
Yris hätte schon wieder weinen mögen.
„Doch“, sagte sie stattdessen leise und niedergeschlagen, „der schwarze General. Er will mich zum König bringen.“
Ihre Schwester fauchte wütend.
„Bastard! Eher wird er sterben!“, knurrte sie und ihr Augen sprühten vor Zorn.
Sie war bereits aufgesprungen und Yris zweifelte nicht daran, dass sie ihre Drohung sofort in die Tat umsetzten würde. Sicher hatte sie auch irgendwo in den Falten ihres weißen Kleides einen Dolch oder ein Messer verborgen.
„Nein!“, schrie sie also, bevor die Fürstin zur Tür eilen konnte, „bitte Larissa, lass ihn!“
Sie wollte nicht, das irgendjemand starb, auch nicht der schwarze General. Egal was er ihr schon angetan hatte und was er vorhatte.
Die Fürstin zögerte einen Moment, ließ sich aber dann missmutig wieder in ihren Sessel fallen und knurrte: „Ich werde nicht zulassen, dass er meiner kleinen Schwester Angst macht!“
„Kein Grund in meinen in meinen Hallen ein Blutbad anzurichten“, mischte sich Trx beschwichtigend ein, „Wir werden uns noch früh genug mit ihm beschäftigen. Jetzt könnten wir unseren Gast ein wenig herumführen“
Er schenkte seiner Schwägerin ein strahlendes Lächeln, das dafür sorgte, dass diese sich gleich um einiges besser fühlte, und erhob sich.
„Was hältst du davon? Willst du unsere Höhlenfestung sehen?“, fragte er und legte auf Vogelart seinen Kopf schief.
„Natürlich!“, erwiderte Yris fast schon wieder heiter und ließ sich vom Fürsten auf die Füße ziehen. Dieser Mann hatte eine Art, die es einem fast unmöglich machte, traurig zu sein, wenn er es nicht war.
Seine Frau stand inzwischen ebenfalls auf.
„Ich werde mich derweil dann wohl den Regierungsgeschäften widmen, da der Herr Fürst sich lieber anderweitig beschäftigt“, seufzte sie theatralisch.
„Deswegen hab ich dich ja geheiratet, damit du mir die Arbeit abnimmst“, kicherte der so Zurechtgewiesene und küsste seine Frau, bevor er Yris mit sich zog.
Er hatte sie gerade durch das große Tor in die Halle mit den vielen Tischen und Bänken geschoben, als ein lauter Ruf ertönte.
„Papa!“
Ein kleiner Junge kam auf den Fürsten zugelaufen. Hintendrein folgte ein noch kleineres Mädchen, das sich mit dem Laufen anscheinend noch relativ schwertat. Beide Kinder hatten herrliche, silberblonde Locken und riesige, grüne Augen. Man erkannte auf den ersten Blick wer ihre Mutter war und den Vater konnte man dann natürlich auch erraten.
Trx erwiderte zärtlich die stürmische Umarmung seines Sohnes und schenkte seiner Tochter ein weiches, strahlendes Lächeln.
„Was macht ihr den hier? Seid ihr gekommen um eure Tante Yris zu begrüßen?“, fragte er.
„Wir wollten schauen, ob sie wirklich aussieht wie Mama, wie alle behaupten“, bekannte der Junge mit der Offenheit eines Kindes, seine Schwester stand mit großen Augen daneben, dann schien sie einen Entschluss getroffen zu haben.
„Tante Yris!“, rief sie und klammerte sich an deren Beine.
„Das sind Rke und Rosaria“, erklärte der Fürst und der Stolz stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
„'Rke' bedeutet 'Nebelsohn'. So heiße ich weil meine Mama zum Nebelvolk gehört“, erläuterte der Kleine, zufrieden darüber, das zu wissen.
Yris zollte dem die gebührende Bewunderung und fragte, derweil sie ihre Nichte hoch hob: „Und was bedeutet 'Rosaria'?“
„Buschwindröschen!“, krähte ihr Neffe und ließ sich von seinem Vater wieder auf den Boden setzten.
„Kommt ihr mit uns spielen?“, wollte er dann wissen, woraufhin sich seine Schwester noch enger an ihre Tante klammerte und ein fröhliches Glucksen von sich gab.
Yris liebte ihre neue Familie jetzt schon und sie hätte nichts lieber getan. Dem Fürsten schien es ähnlich zu gehen, denn nach einem kurzen Blick auf seine strahlende Schwägerin und seine Kinder fragte er: „Was wollt ihr denn spielen?“
„Mäusejagd!“, forderte sein Sohn und unter den interessierten und belustigten Blicken der Eulenmenschen, die sich in der großen Halle aufhielten jagte Yris schließlich zusammen mit dem Fürsten einen Haufen glücklich kreischender Kinder zwischen den Tischen und Bänken hindurch, denn zu Rke und Rosaria hatten sich noch einige andere Eulenkinder gesellt, die ebenfalls mitspielen wollten. Anscheinend war das hier keine ungewöhnliche Szene und Yris fand es unglaublich faszinierend, dass ein Fürst so etwas tat. Allerdings machte es auch unglaublich Spaß, auch als der Spieß schließlich umgedreht wurde und sie nun vor den Kindern davonlaufen sollten.
Sie hastete einen Gang zwischen zwei langen Tischen entlang, vier Kinder hinter sich und zwei vor sich, die versuchten, ihr den Weg abzuschneiden. Gerade so schaffte sie es mit einem raschen Haken, den kleinen, nach ihr ausgestreckten Händen zu entgehen und trotz der Anstrengung huschte ein glückliches Grinsen über ihr Gesicht. Doch dann stolperte sie über irgendetwas, fiel und fand sich plötzlich gegen eine muskulöse, nach Kiefern und verschiedenen, würzigen Kräutern duftende Männerbrust gepresst.
„Eindeutig Kornblumen!“, bemerkte die zu dem Mann gehörige Stimme und Yris versuchte sich so schnell sie konnte aus dem Griff des schwarzen Generals zu winden. Das Blut stieg ihr ins Gesicht und sie hoffte, dass er das auf die Anstrengung beim Laufen schieben würde. Wieso hatte auch ausgerechnet er wieder zur Stelle sein müssen um sie aufzufangen? Hätte das nicht zum Beispiel auch Carne machen können? Bei ihm wäre es ihr nur halb so peinlich gewesen. Ein kurzen Moment kam ihr der unglaubliche Verdacht, dass sie in Wahrheit über eine Barriere aus Magie gestolpert war und dass eine gewisse Person es beabsichtigt hatte, sie in seine Arme stolpern zu lassen, aber das war unsinnig, warum sollte er so etwas tun?
„Danke“, murmelte sie also nur unter Aufbietung aller ihr verbliebenen Würde und vermied es dem General in die Augen zu schauen. Sie hätte ihren Schwager beinah aus Dankbarkeit umarmt, als er zu ihrer Rettung eilte.
„General!“, rief er, fröhlich grinsend, „Gut, dass ich Euch sehe! Möchtet Ihr Yris und mich nicht bei einer Führung durch unsere Höhlenfestung begleiten?“
„Verzeihung Fürst, aber meint Ihr nicht, dass es äußert unklug wäre, einem Feind wie mir auf diese Weise Eure militärischen Geheimnisse zu enthüllen? Was würde Eure Frau dazu sagen?“, entgegnete General Rawen in seiner gewohnten zynischen Manier.
Trx lachte nur und man hätte sich keine zwei unterschiedlicheren Männer vorstellen können, als den strahlenden, weißgekleideten Fürsten der Eulen mit den riesigen warmen Augen und den schwarzen General in seinem schwarzen Hemd, absichtlich verletzend, mit harten Augen in der Farbe von kaltem Silber. Doch Yris sah, vielleicht nur durch ihre besonderen Sinne, dass sie sich trotzdem irgendwie gegenseitig Respekt entgegen brachten.
„Wieso bezeichnet Ihr Euch übrigens als meinen Feind, General?“, fragte da plötzlich der Fürst und sein Lachen wich erstaunlichem Ernst, „Ihr habt Euch mir gegenüber bisher noch nicht feindselig verhalten und ich urteile nicht grundlos schlecht über einen Menschen“
Der General konnte seine Überraschung nicht verbergen.
„Grundlos? Hat Euch Eure Frau nicht erzählt was ich getan habe?“, rief er aus.
Trx schwieg einen Augenblick, dann zeigte sich ein trauriges Lächeln auf seinen Lippen. Leise meinte er: „Natürlich hat sie es mir erzählt. General, sie war selbst dabei und niemals wird sie es vergessen. Doch ich glaube, dass Ihr bereits dafür bezahlt habt und es immer noch tut. Und ich glaube an das Gute im Menschen, egal welchen Volkes er auch sein mag und daran, dass jeder Vergebung und Frieden verdient hat“


7
Yris


Der General schwieg lange nach dem der Fürst der Eulen geendet hatte. Ohne ein Wort und anscheinend tief in Gedanken und Erinnerungen versunken folgte er Yris und ihrem Schwager durch die Höhlengänge in der Festung der Eulen. Trx hatte längst zu seinem fröhlichen Selbst zurückgefunden und erläuterte ihr mit Begeisterung jede Kleinigkeit, die ihr ins Auge stach. Schnell hatte er sie so von dem abgelenkt, was er zum schwarzen General gesagt hatte und auch die nächsten Stunden waren nicht dazu geeignet, sie daran zu erinnern. Sie spielte mit Eulenkindern, unterhielt sich lange mit ihrer Schwester, alberte mit Carne, Berin und Sarin beim Abendessen herum und bekam General Rawen den ganzen restlichen Tag nicht mehr zu Gesicht. Erst abends, in ihrer Kammer, fiel es ihr wieder ein. Was hatten die beiden gemeint?
Es dauerte nicht lange bis Yris es wusste. Sie hatten über den letzten Krieg des Nebelvolkes gesprochen. Vor sieben Jahren hatten der schwarze General und andere im Auftrag König Marûhns I. Yris' Volk ausgerottet. Und Larissa Lavila, Nebeltochter, inzwischen Fürstin der Eulen war dabei gewesen. Sie war eine der wenigen Überlebenden.
Jetzt war ihr klar, warum ihre Schwester den schwarzen General so sehr hasste und es wunderte Yris regelrecht, dass dieser Mann noch am Leben war.
Allerdings hatte sie auch sein Leid und seine Reue gefühlt, wie sehr seine Schuld ihn quälte. Auch gerade jetzt ermöglichte ihr zusätzlicher Sinn das wieder. Sie sah ihn vor sich, wie er in seinem Zimmer im Schneidersitz auf dem Boden saß, einen unerträglich schmerzvollen Ausdruck auf dem Gesicht. Aber das ging sie nichts an. Sie drehte sich auf die andere Seite und versuchte endlich zu schlafen.
Doch es ging nicht. Immer wieder überrollten sie seine Gefühle wie gewaltige, dunkle Wogen und schon bald konnte sie es nicht mehr ertragen. Zitternd glitt sie aus dem Bett. Barfuß, nur mit dem Nachthemd und dem weißen Morgenmantel, den ihr ihre Schwester geliehen hatte, bekleidet, huschte sie zur Tür und auf den Gang hinaus. Wie in Trance fand sie den Weg zu seinem Zimmer. Sie zweifelte auch nicht daran, dass sie vor der richtigen Tür stand. Leise drückte sie die Klinke hinunter und trat in den Raum.
Eine einzelne Kerze erhellte General Rawens Gesicht und ihr flackerndes Licht spiegelte sich schimmernd in seinen Augen als er langsam aufblickte.
„Was tust du denn hier?“, fragte er und seine Stimme klang rau und müde.
„Ihr haltet mich mit Eurer Verzweiflung vom Schlafen ab, General“, flüsterte Yris und ließ sich ihm gegenüber auf dem Boden nieder.
Er musterte sie einen Moment lang verwundert, dann glitt ein winziges Lächeln über seine Lippen.
„Du seltsames Mädchen! Was willst du denn dagegen machen?“, fragte er.
Sie zuckte die schmalen Schultern.
„Das weiß ich nicht so genau. Wollt Ihr vielleicht...ähm...“
Mitten im Satz brach sie ab, zögerte kurz und sagte schließlich: „...mit mir darüber reden?“
General Rawens silberne Augen funkelten amüsiert.
„Interessante Taktik um einen schwarzen General zu trösten“, bemerkte er, „Du bist wirklich etwas besonderes“
Yris schenkte ihm ein fröhliches und auch ein wenig erleichtertes Lächeln, weil es ihm wieder besser zu gehen schien, doch plötzlich verdüsterte sich seine Miene und seine Augen wurden hart und kalt. Hass und Zorn gingen von ihm aus wie dunkler Nebel und sie zuckte entsetzt zurück.
„Was ist? Was habt Ihr?“, wollte sie wissen.
Der General schwieg.
„Bitte, sagt es mir!“, flehte sie und rutschte, ihre Furcht ignorierend näher zu ihm hin. Sie ging sogar so weit, ihm ihre schlanke, blasse Hand auf die Schulter zu legen.
Flüsternd fragte sie: „Wem zürnt Ihr so sehr?“
„Mir selbst“, entgegnete er, doch Yris wusste, dass er zuerst jemand anderen hatte nennen wollte. Kurz war ein Bild dieser Person in ihrem Geist aufgeblitzt, ein blonder, elegant gekleideter Mann, mit scharfen Zügen und stechenden, blauen Augen. Obwohl sie ihn noch nie gesehen hatte, wusste sie sofort, wer dieser Mann war. Marûhn I., König von Aran. Sie dachte einen Moment über diese erstaunliche Erkenntnis nach. Nie hätte sie gedacht, dass der schwarze General seinen Herrn und König hassen könnte, viel eher hätte sie angenommen, dass die beiden ein fast freundschaftliches Verhältnis pflegten. Aber es gab keinen Zweifel daran. Woher auch immer ihr Wissen kam, es war die Wahrheit.
„Ihr lügt“, flüsterte sie also, „es mag sein, dass Ihr wütend auf Euch selbst seid, aber noch viel mehr gilt Euer Zorn dem König. Warum?“
Er starrte sie entsetzt an, musste wohl zuerst damit zurechtkommen, dass sie es wusste, dass sie theoretisch alles wissen konnte. So dumm zu fragen, wie sie darauf kam war er aber nicht.
Schließlich fing er sich wieder.
„Sag es mir einfach, wenn du etwas schon weißt und ich es dir nicht noch einmal erzählen muss, denn ich werde etwas weiter ausholen“, begann er mit einem müden Lächeln.
„Schon von meiner Geburt an stand fest, dass ich als Sohn eines schwarzen Generals ebenfalls diesen Weg einschlagen sollte. Meine ganze Kindheit war der Ausbildung und mein ganzes Leben dem König gewidmet. Einst liebte ich ihn wie einen Bruder, doch das änderte sich mit der Zeit. Verstehst du, ich habe in seinem Namen Dinge getan, die mich bis in den Tod verfolgen werden, jede Nacht habe ich Albträume. Und ich schaffe es nicht, etwas daran zu ändern, dass ich es immer noch tue. Stattdessen schalte ich mein Gewissen aus und gehorche. Er benutzt die Menschen Yris, schmiedet Intrigen und geht über Leichen um seine Ziele zu erreichen. Ich weiß, dass ein König das tun muss um an der Macht zu bleiben und dass gerade das einen starken König ausmacht, außerdem sorgt er gut für sein eigenes Volk und alle, die ihm gehorchen leben in Frieden, aber ich ertrage es nicht mehr“, meinte er bitter, „Mein Vater wäre wirklich enttäuscht von mir“
Yris erfasste tiefes Mitleid für diesen Mann und schon fast zärtlich fragte sie: „Und Eure Mutter?“
General Rawen senkte den Kopf.
„Ich kenne sie nicht. Kurz nach meiner Geburt hat sie mich meinem Vater übergeben und ist dorthin verschwunden, wo sie herkam. Nur Vater wusste, wer sie war und er hat das Geheimnis ihrer Identität mit ins Grab genommen“, erzählte er und Yris konnte nicht anders, als ihn in den Arm zu nehmen und ihren Kopf an seine Schulter zu legen, obwohl sie ihn eigentlich nicht mochte, obwohl er der schwarze General war.
„Tut mir Leid, dass Euer Vater tot ist“, murmelte sie und meinte es aus tiefstem Herzen. Er schüttelte nur den Kopf.
„Ich bin schon lange darüber hinweg, dass er und die anderen tot sind“
Yris schob sich ein Stück von ihm weg und musterte ihn scharf.
„Welche anderen?“, fragte sie misstrauisch.
Er entgegnete: „Er und die anderen schwarzen Generäle. Von einst sieben bin nur noch ich allein übrig geblieben“
Sie schnappte entgeistert nach Luft.
„Wie kann das sein?“, brachte sie schließlich mühsam hervor, „Das wusste ich nicht!“
„Das weiß kaum jemand, denn offiziell leben sie noch. Glaubst du, der König lässt im ganzen Land herum erzählen, dass seine mächtigen, starken und klugen schwarzen Generäle alle der Reihe nach ermordet wurden und nur einer noch am Leben ist? Und dass dieser auch jeden Tag damit rechnet, seinem Mörder zu begegnen?“, erwiderte er.
Yris versuchte, das Schaudern zu unterdrücken, dass sich ihrer bemächtigen wollte. Jemandem war es gelungen, sechs schwarze Generäle zu töten, Magier, Krieger, Feldherren, ohne dass das Volk davon erfuhr und sie hatte selbst gesehen, wozu General Rawen in der Lage war. Wenn selbst er sich Sorgen zu machen schien, das machte ihr Angst.
„Ist dir kalt?“, fragte der General sie da, „Du zitterst ja! Was geisterst du auch mitten in der Nacht nur mit einem dünnem Nachthemd und einem auch nicht viel dickeren Morgenmantel bekleidet durch die Gegend? Barfuß bist du auch noch! Willst du dich erkälten, verdammt?“
Bevor sie wusste, wie ihr geschah hatte er sie hochgehoben, in sein Bett gelegt und zugedeckt.
„Ich habe deinem Onkel versprochen, gut auf dich aufzupassen und dich zu beschützen“, verkündete er, „Dieses Versprechen gedenke ich auch zu halten. Und ich werde auch nicht schon wieder einen Fehler im Namen des Königs begehen“
Yris wollte ihn noch fragen, was er mit seinem letzten Satz meinte, aber plötzlich wurde ihr bewusst, wie müde sie eigentlich war. So wichtig war das nun sicher auch wieder nicht und als der General sich an den Bettpfosten gelehnt auf dem Boden niederließ und die Kerze löschte übermannte sie der Schlaf.
Sie erwachte träge und zufrieden, gemütlich in die weichen Decken geschmiegt. In die Decken des Generals. Das ganze Bettzeug roch nach ihm und Yris drückte die Nase in das Kissen. Am liebsten hätte sie sich einfach noch einmal zusammengerollt und weitergeschlafen, doch irgendetwas kitzelte sie am Handgelenk. Schläfrig öffnete sie die Augen.
Der schwarze General lehnte immer noch am Bett, allerdings war sein Kopf auf die Matratze gesunken und er schlief. Schwarze Strähnen ringelten sich auf dem weißen Laken und berührten Yris Handgelenk. Sie konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen und fuhr vorsichtig mit dem Finger hindurch. Gestern Abend hatte sich ihr Bild von diesem Menschen radikal verändert. Sie verstand ihn jetzt, sah die weiche und freundliche Seite an ihm. Lange Zeit lag sie nur still da, betrachtete ihn während er schlief und spielte mit seinen feinen, seidigen Haaren.


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Texte: verval
Bildmaterialien: verval
Tag der Veröffentlichung: 06.03.2012

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