Cover

Madame Mendoza hat einen guten Beruf. Sie ist eine Wahrsagerin, Kartenlegerin und auch ein Medium. Ihr Beruf ist angenehm, sie muss sich nicht anstrengen, alles fällt ihr leicht. Wenn sie Karten legt, kommt die Vergangenheit ans Licht, auch die Zukunft zeigen die Karten. Aber am liebsten mag sie ihre Kristallkugel, da sie durch den Kristall alles sehen und alles voraussagen kann. Vor der Madame bleibt nichts verborgen.








Aber am Meisten Geld bringen die Seancen. Die Leute mögen die Wahrsagerin, sie bezahlen sie gern für ihre Dienste. Die Anzahl den Kunden wächst von Tag zu Tag. Die Madame könnte, ihrem Namen nach, eine Spanierin sein. Aber sie sieht weder wie eine Spanierin, noch, wie es in diesem Beruf üblich ist, wie eine Zigeunerin aus. Madame Mendoza sieht aus wie eine alte Porzellanpuppe: Sie ist blass, hat einen kleinen, runden, rosa Mund und große Augen. Ihr Körper ist klein und wirkt zerbrechlich.
Heute hielt die Madame eine Seance. Sie freute sich schon auf gute Bezahlung, wie es bei einer Seance üblich ist. Ihre Kunden sind Frau Lipitzki mit dem Sohn, Herrn Viktor Lipitzki, einem korpulenten Mann Mitte fünfzig. Viktor Lipitzki ist ein angesehener Geschäftsmann, er besitzt ein Restaurant und eine Pizzeria. Frau Lipitzki will den Geist ihres verstorbenen Mannes rufen. Um den Kreis zu bauen, brauchen sie vier Personen, die ihre Hände anfassend am runden Tisch sitzen und den Geist rufen. Darum nimmt außer der Mutter und dem Sohn auch eine alte Freundin der Frau Lipitzki an der Seance teil, Frau Zellner. Die alte Dame ist neunzig Jahre alt und ist nicht mehr bei bester Gesundheit, aber sie besucht die Wahrsagerin gern.
Das Zimmer, wo die Madame ihren Kunden empfängt, ist mittelgroß und gemütlich. Zwei kleine Fenster sind mit weinroten Samtgardinen dekoriert. Die Möbel sind aus rotem Holz, viele Kerzen flackern in den silber-goldenen Kerzenhaltern. Das Zimmer sieht aus wie eine Schatulle. In der Mitte steht ein runder Tisch, wo eine große, massive Steinplatte liegt. Diese Platte muss man drehen, wenn die Geister gerufen werden.
Geister rufen ist für Madame Mendoza sehr leicht, sie hat diese Gabe. Sie spricht ihre Beschwörungsformel, dreht die Steinplatte, dann fällt sie in Trance. Der Geist kommt in ihren Körper und spricht. Es ist für die Madame keine schwere Arbeit und es bringt viel Geld!
Heute läuft alles wie immer, drei Personen und das Medium nehmen ihre Plätze am runden Tisch ein. Die Madame dreht einmal die Steinplatte, ihr Opal-Ring glitzert geheimnisvoll im Schein der Kerzen. Sie spricht die Beschwörungsformel und ruft zum Schluss:
„Oh, Geist des verstorbenen Herrn Lipitzki! Wir rufen dich!“
Die Steinplatte dreht sich schneller und schneller.
Madame Mendoza fällt in Trance, ihre Lippen bewegen sich, und der Geist spricht aus ihr.
Aber der Geist, der spricht, ist nicht der des Herrn Lipitzki, der friedlich im Schlaf gestorben war, sondern der seines Geschäftspartners. Der Partner des Verstorbenen wird lange vermisst, nach einigen Jahren der Suche erklärt man ihn für tot.
Der Geist spricht:
„Viktor! Du hast mich umgebracht! Du Schweinehund!“
Frau Lipitzki schreit auf. Ihre alte Freundin, Frau Zellner, wird blass, sie schnappt nach Luft und schließt die Augen. Viktors Gesicht läuft rot an und er schnaubt aggressiv. Die Madame bewegt ihre Lippen, ihre Brust hebt sich, als ob sie etwas aus ihr ausstoßen will.
„Du hast mich mit der Bratpfanne geschlagen! Mit dem Fleischhammer zerlegt!“, brüllt der Geist.
Die neunzigjährige Frau Zellner hält sich ihre linke Seite und sinkt vom Stuhl. Sie atmet nicht mehr. Frau Lipitzki schreit ohrenbetäubend:
„Hören sie auf! Marie ist tot! Hilfe!“
Aber der Geist donnert:
„Es war so viel Blut! Überall war mein Blut! Viel Blut!“
Die Steinplatte dreht sich noch schneller. Frau Lipitzki zittert am ganzen Leib, sie springt vom Stuhl hoch, dann fällt sie zurück und wird ohnmächtig. Ihr Sohn schreit:
„Sei still! Halt den Mund!“
Aber der Geist hört nicht auf:
„Du hast meine Körperteile im Pizzaofen verbrannt!“
Die Steinplatte dreht sich, der Geist tobt, die beiden alten Frauen zeigen kein Lebenszeichen mehr.
Herr Lipitzki springt auf, nimmt die Steinplatte vom Tisch und schlägt Madame Mendoza mit voller Wucht auf den Kopf.

Sie schreit noch nicht einmal auf, fällt nur vom Stuhl auf den Boden.
Ja, Madame Mendoza hat einen gefährlichen Beruf …

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 09.06.2009

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /