WELT, WARTE!
ZUMINDEST, BIS HENRY UND ICH EINE ANDERE FINDEN
ANNA SCHLUTTER
Mit Illustrationen von FREYA PETERSEN
KLAPPENTEXT
In zehn Tagen geht die Welt unter!
Das mag jetzt vielleicht etwas drastisch klingen. Im Grunde genommen … ist es das auch: Ein Asteroid rast auf die Erde zu, um sie in Schutt und Asche zu legen. Und die Erwachsenen drehen völlig durch: Meine Mutter hängt ihren Job als Geschäftsführerin an den Nagel und arbeitet eine wilde Bucket-List ab. Mein Vater kümmert sich mehr um seine Enten als um unseren Haushalt. Aber das alles wird getoppt von meiner Schwester: Sie will unbedingt noch meinen Mathelehrer heiraten. Nur mein Freund Henry und ich behalten die Nerven und suchen eine Parallelwelt – eine Welt, die genauso ist wie unsere, nur ohne Untergang. Wie das funktioniert? Keine Ahnung! Doch wir werden es herausfinden!
Der Countdown läuft!
INHALT
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Danksagung
Die Autorin
Die Illustratorin
Für Oma Friedchen,
mit der ich am Ententeich sitze.
* * *
Für Oma Erika,
mit der ich Geschichten schreibe.
»Die Magie des Lebens liegt in der Kraft unserer Gedanken.« Frau Alba
In zehn Tagen geht die Welt unter.
Das mag jetzt vielleicht etwas drastisch klingen.
Im Grunde genommen – ist es das auch.
Wir sitzen alle auf der Wohnzimmercouch. Mama, Papa, Lille und ich, mit sperrangelweit offenen Mündern.
Gut, meiner war möglicherweise gerade offen, weil ich mir einen Chili-Cheese-Chip in den Mund schieben wollte, aber das tut ja nicht zur Sache. Meine mit Knabberzeug beladene Hand erstarrt nämlich auf halber Strecke, als ich höre, was der achrichtensprecher mit der leicht schiefen Krawatte da gerade in die Kamera nuschelt.
»… den Informationen der NASA zufolge wird in zehn Tagen um 15:35 Uhr ein Asteroid die Umlaufbahn der Erde kreuzen und mit ihr kollidieren. Es handelt sich um den Asteroiden 2023 BO3, der einen Durchmesser von über 10 Kilometern aufweist und somit zu den sogenannten ›global killern‹ zählt. Der letzte Asteroid einer solchen Größe löschte vor rund 65 Millionen Jahren die Dinosaurier aus. Die Regierungen aller Länder rufen jedoch dazu auf, nicht in Panik auszubrechen, da eine fünfprozentige Chance verbleibt, dass der Asteroid die Erde verfehlt …«
Keine Panik, das ist ein gutes Stichwort, aber kein besonders hilfreicher Ratschlag, wenn die Panik gerade durch dein Wohnzimmer schießt. Und zwar in Form einer 1 Meter 65 großen, neunzehnjährigen blonden Gestalt, die zufälligerweise deine ältere Schwester ist.
»Die Welt geht unter?!«, kreischt sie und rennt im Kreis wie ein Jack Russell Terrier mit Tobsuchtsanfall. »Die verdammte Welt geht unter?!«
Ich bin allerdings auch nicht viel besser – mein Blick zuckt von Ma zu Pa, von Pa zu Ma und dann wieder andersherum. Solche Momente sind es doch, in denen Eltern einem beruhigend den Kopf tätscheln und sagen sollten: »Alles halb so wild, Liebling.«
Doch so wie es aussieht, ist es nicht halb so wild. Es ist wild, sehr wild sogar, ungefähr so wildgeworden wie Lille, die sich inzwischen auf dem Wohnzimmerteppich zusammengekauert und hysterisch zu heulen begonnen hat.
Auch Pa ist kalkbleich, aber von dem war sowieso nicht viel zu erwarten. Mein Vater ist normalerweise immer der Erste, der flennt – egal ob bei Beerdigungen, Geburtstagen, Hochzeiten oder Schmonzetten, in denen am Ende der Golden Retriever dran glauben muss. Er hat eben eine »soziale Ader« (seine Worte), und das ist auch der Grund, warum er nicht wie Ma in der Leitung eines sehr erfolgreichen Unternehmens arbeitet, sondern stattdessen »liebender Vater und Hausmann« ist (ebenfalls seine Worte).
Während Pa sich bestens mit Windeln, Waschmitteln und beschichteten Bratpfannen auskennt, hält Ma Meetings ab, staucht Mitarbeiter zusammen und entwickelt Verkaufsstrategien, um den von ihrer Firma produzierten Kunststoff an irgendwelche Kunden zu verkaufen.
Meine Eltern kriegen sich deswegen ständig in die Haare.
Nicht wegen der Rollenverteilung in unserer Familie, die funktioniert super – es ist das Plastik, das den Haussegen manchmal schief hängen lässt. Pa findet es nämlich absolut unakzeptabel, dass Ma für ein Unternehmen arbeitet, das »die Weltmeere mit Müll verstopft und die Luft verpestet und unseren ganzen Planeten zugrunde richtet«.
»Oho.« Ma wirft Pa einen fast triumphierenden Blick zu. »Sieht so aus, als wäre meine Arbeit gar nicht das primäre Problem in puncto Weltuntergang.«
Pa starrt sie für einen Moment fassungslos an. Dann schlägt er die Hände vors Gesicht und beginnt, hemmungslos zu schluchzen.
Er und Lille sind nun völlig im Einklang – ein ergreifendes Jaulkonzert, das die Wände wackeln lässt.
»Nun reißt euch mal zusammen!«, befiehlt Ma, wie immer die Stimme der Vernunft, und schlingt beide Arme um Paps. »Das Ganze ist schließlich nicht zu hundert Prozent sicher. Und selbst wenn, euer Geheule bringt uns auch nicht weiter.«
»Du hast ja recht«, piepst Pa, schnäuzt in ein Taschentuch – und bricht gleich darauf wieder in Tränen aus.
Ich hoffe bloß, dass er nicht in Ohnmacht fällt. Das passiert ihm schon bei wesentlich harmloseren Dingen als dem Weltuntergang, Blut zum Beispiel. Deswegen haben Lille und ich ziemlich früh gelernt, uns die Pflaster selbst aufzukleben, und Pa konnte, obwohl das seiner »sozialen Ader« auch ganz gut entsprochen hätte, nicht Arzt werden. Das ist vielleicht auch besser so, denn dann würden meine Eltern jetzt beide zu viel arbeiten.
Ich bin trotzdem froh, dass er diesen Beruf in Erwägung gezogen hat, denn nur deswegen haben Ma und Pa sich überhaupt kennengelernt.
Das Ganze hat sich in der französischen Stadt Lille zugetragen und alle, die bisher gut aufgepasst haben, bemerken wahrscheinlich schon eine beachtliche Parallele zu dem Namen meiner großen Schwester (der deswegen übrigens auch französisch ausgesprochen wird – Liiiiill). Pa hat dort nach der Schule ein freiwilliges soziales Jahr in einem Krankenhaus gemacht, und wie es der Zufall wollte, spazierte eines Tages meine Mutter in die Notaufnahme. Die beiden unterhielten sich etwa eine halbe Stunde in brüchigem Französisch, bis sie zu dem Schluss kamen, dass 1.) Ma sich eine Lebensmittelvergiftung zugezogen hatte und 2.) beide Deutsch können.
Und wo wir gerade bei der Namensgebung sind: Ratet mal, woran sich Ma höchstwahrscheinlich den Magen verdorben hat.
Brie. Französischer Weichkäse und – zufälligerweise – mein Vorname.
»Das ist doch nicht wahr, oder?«, schnieft Lille, die jetzt wie ein Baby über den Wohnzimmerteppich gekrabbelt kommt. »Das ist doch alles nicht wahr, oder?« Dann scheint ihr klar zu werden, dass der Nachrichtensprecher sich die Meldung wohl nicht einfach ausgedacht haben wird, und sie formuliert die Frage um: »Müssen wir wirklich alle sterben? So wie die Dinosaurier?« Ihre Mascara ist verlaufen und zieht sich in Striemen über ihr rotes Gesicht. Meine Schwester sieht so mitgenommen aus, dass ich fast selbst in Tränen ausbrechen könnte.
Ma streckt erneut die Arme aus und umschließt dieses Mal Lille, und wieder ertönt eine einzige Sinfonie aus Schniefen, Schluchzen und Schnäuzen.
Ich rücke ein Stück von meiner Familie ab. Ich brauche einen Moment, um diese Nachricht für mich selbst zu verdauen.
Vielleicht muss man gewisse Dinge erlebt, gewisse Erfahrungen gemacht haben, damit ein bevorstehender Weltuntergang einen Gefühlsausbruch verursacht. Ich kann nur dasitzen, aus dem Fenster starren, auf meine zwölf Jahre und die graue Welt, und mich fragen, ob ich diese Welt überhaupt schon gut genug kenne, um sie zu verlassen.
* * *
Dass die Welt in zehn Tagen untergeht, ist für mich im Gegensatz zu vielen anderen aber noch lange kein Grund, meinen Job aufzugeben.
Frau Alba, die freundliche alte Dame von nebenan mit dem zementgrauen Haar, das sich als Dutt voller Stricknadeln auftürmt, lässt Henry und mich einmal in der Woche ihren Dachboden entrümpeln und zahlt uns dafür fünf Euro pro Stunde.
»Eines Tages, wenn ich von dieser Welt gehe«, pflegt sie zu sagen, »möchte ich kein heilloses Chaos hinterlassen, mit dem sich dann irgendwelche armen Möbelpacker herumschlagen müssen.«
Deswegen ordnen wir alles nach Kategorien – Bücher, Kleidung, kaputte Dinge für den Müll – und packen es in Kisten.
Frau Albas Mann ist schon lange tot, und soweit ich weiß, hat sie keine Kinder oder anderweitige Verwandte. Damit sie sich nicht allzu einsam fühlt, trinken Henry und ich vor der Arbeit meist noch eine Tasse Tee mit ihr. Wir verbringen daher nicht nur viel Zeit auf ihrem Dachboden, sondern auch in der gemütlichen Küche.
Ich liebe Frau Albas Haus.
Es ist schon ganz alt und war vor vielen, vielen Jahren einmal ein Bauernhof. Der Garten ist riesig und verwunschen, und bis vor ein paar Jahren haben Henry und ich im Sommer fast jeden Tag zwischen den vielen Büschen und Bäumen Verstecken gespielt. Ein kleiner Fußweg schlängelt sich durch das hochwachsende Grün, darauf fühlt man sich wie in einem dieser riesigen Parks – man verliert völlig das Zeitgefühl und fürchtet, sich zu verlaufen, dabei ist man in Wirklichkeit nur ein paar Meter vom Haus entfernt.
Drinnen riecht es das ganze Jahr nach Weihnachten.
Die Möbel sehen aus, als wären sie aus allen Ländern der Welt zusammengewürfelt – orientalische Teppiche, afrikanische Skulpturen, chinesische Gemälde. Kaum ein Fleckchen ist nicht mit irgendwelchem Krimskrams vollgestellt, und sei es nur eine defekte Kuckucksuhr, die an der Wand lehnt.
Mein Lieblingsplatz ist die antike Holzbank mit dem Samt-Überwurf in der wuselig gemütlichen Küche. Meist teile ich sie mit Henry und Holger, Frau Albas kugelrundem kleinen Hund, der den gleichen Namen wie ihr verstorbener Ehemann trägt und den ganzen Tag friedlich vor sich hin schnarcht.
Wegen der ganzen Antiquitäten und exotischen Mitbringseln wette ich, dass Frau Alba in ihrem Leben viel herumgekommen ist. Doch immer, wenn ich sie danach frage, sagt sie nur: »Ach, diese langweiligen Geschichten alter Leute will doch keiner hören. Erzählt mir lieber etwas von euch, etwas aus dem Hier und Jetzt.«
Dann sitzen Henry und ich über unseren dampfenden Teetassen und berichten ihr von unseren Lehrern, Hobbys und Hausaufgaben. Heute dreht sich unser Gespräch allerdings nur um eins: den Weltuntergang.
»Kinder, ihr müsst selbstverständlich nicht mehr herkommen«, stellt Frau Alba klar, während sie mühevoll die schwere gusseiserne Teekanne anhebt und Henry und mir einschenkt. Frau Albas Tee ist der geheimnisvollste und gleichzeitig leckerste Tee auf der ganzen Welt. So süß, dass er dir wie geschmolzenes Karamell auf der Zunge zergeht, und von einer so hellen Farbe, dass man fast durch ihn hindurchschauen kann – aber wenn man ganz genau hinsieht, entdeckt man nicht den Tassenboden, sondern das zarte Gelb des Morgenhimmels. »Ihr müsst rausgehen und das Leben genießen. Zumindest das, was euch davon noch bleibt.«
»Man kann das Leben aber nicht genießen, wenn man weiß, dass man in zehn Tagen von einem Asteroiden erschlagen wird«, erwidert Henry und starrt missmutig in seine Tasse, ebenfalls auf der Suche nach einem Stück Sonnenaufgang.
Henry ist übrigens mein bester Freund, eigentlich schon immer, und mit immer meine ich seit zwölf Jahren. Wir waren Babys, als wir uns, reichlich unfreiwillig, kennenlernten.
Henrys Mutter hat sich nämlich ziemlich schnell nach seiner Geburt aus dem Staub gemacht, weil ihr »die Decke auf den Kopf gefallen ist«, und deswegen musste ich meine Krabbeldecke von da an mit ihm teilen.
Henrys Vater ist Manager und verdient genug, um ein protziges Haus mit Dachterrasse direkt neben uns zu bewohnen, aber zu viel, um sich ab und zu mal eine Auszeit für seinen Sohn zu nehmen. Deshalb hat er nach der Flucht seiner Frau meinen Pa als den idealen Babysitter auserkoren und Henry Tag für Tag bei uns abgeliefert. Glaubt aber nicht, dass er uns dafür jemals irgendeinen Dank entgegengebracht hat. Im Gegenteil, ich finde, er verhält sich Pa gegenüber ganz schön überheblich, und das nur, weil in unserer Familie Ma das Geld verdient.
Aber mein Vater hat ein viel zu gutes Herz, um Henry deswegen wegzustoßen. Er hat uns damals sogar farblich aufeinander abgestimmte Strampler gestrickt und einen von diesen Zweisitzer-Buggys gekauft, um ausgedehnte Spaziergänge zu machen (die meistens an den städtischen Ententeich führten, aber dazu später mehr).
»In zehn Tagen kann man viel über das Leben lernen«, gibt Frau Alba zu bedenken und rührt einen Zuckerwürfel in ihren Tee.
»Mhh«, macht Henry geknickt und lässt die Schultern hängen.
Ich kann gut nachvollziehen, warum er sich so niedergeschlagen fühlt. Henry hat schon immer ganz große Pläne für die Zukunft geschmiedet. Vielleicht, weil ihn sein Leben bisher nicht besonders zufriedengestellt hat – seine Mutter ist untergetaucht und sein Vater hat zu allem Übel auch noch eine unausstehliche Ersatzfrau angeschleppt, Svetlana, die schon vor einigen Jahren bei ihnen eingezogen ist.
Ich kann Svetlana nicht leiden. Sie trägt Schuhe mit Riesenabsätzen, die bei jedem Schritt gespenstisch auf dem Boden hallen, und ihre Lippen malt sie nicht nur knallrot an, sie umrandet sie auch noch, sodass sie ganz aufgespritzt aussehen.
Na ja, vielleicht sind sie das auch.
Auf jeden Fall haben Henry und ich schon alles Mögliche versucht, um sie rauszuekeln, aber nichts davon hat funktioniert. Sie klackert nach wie vor durch das Haus, guckt der Putzfrau bei der Arbeit zu und dreht ihre mit künstlichen Fingernägeln besetzten Däumchen.
Doch Svetlana ist ja bloß die Spitze des Eisbergs. Henrys eigentliches Problem liegt viel tiefer und hat genau an dem Tag angefangen, als seine Mutter in ein Taxi gestiegen ist und sein Vater verzweifelt an unserer Haustür geklingelt hat.
Ich glaube, wenn man so oft vernachlässigt wird wie Henry, fängt man ganz automatisch an, lieber in seinen Vorstellungen zu leben. Und Henrys Vorstellungen reichen von bahnbrechenden Erfindungen über wagemutige Bergbesteigungen bis hin zur Karriere als Hollywood Filmstar – Hauptsache, seine Zukunft wird glorreich und glücklich.
Aber so wie es aussieht, hat er nicht mehr allzu viel Zeit, um diese Pläne zu verwirklichen. Wenn er eine glorreiche, glückliche Zeit haben will, müssen wir tatsächlich etwas Bahnbrechendes entdecken, und zwar schnell. Etwas, das Spaß macht und uns von dem ablenkt, was in den nächsten zehn Tagen passieren wird.
»Man reist besser mit leichtem Gepäck.« Eingeritzt in einen Holzbalken auf Frau Albas Dachboden
Eigentlich macht es uns immer sehr viel Spaß, Frau Albas Dachboden zu entrümpeln. Doch gerade sitzt Henry nur auf einem der Umzugskartons und stützt seinen Kopf hundeelend auf seine Arme ab, welche sich wiederum niederschmetternd in seine Knie bohren.
»Willst du hier jetzt wirklich einfach nur so rumsitzen und Trübsal blasen?«, seufze ich, während mein Blick durch den Dachboden schweift.
Frau Alba war ganz und gar nicht einverstanden damit, dass Henry und ich uns lieber hier oben verkriechen, als rauszugehen und Spaß zu haben, aber eins kann ich euch sagen: Ein nasskalter Oktobertag, an dem die Menschheit gerade erfahren hat, dass die Welt untergeht, ist sowieso nicht der beste Tag, um Spaß zu haben.
Henry und ich waren jedenfalls heilfroh, für ein paar Stunden von den durchdrehenden Erwachsenen zu Hause wegzukommen.
Jetzt umgibt uns die dämmerige, friedliche Atmosphäre eines staubigen Dachbodens und hier oben ist absolut niemand, der weint (Pa), kreischt und verzweifelt um sich schlägt (Lille) oder die ganze Zeit ins Telefon brüllt, dass sich niemand morgen vor der Arbeit drücken kann, nur weil uns in zehn Tagen ein Asteroid auf den Kopf fällt (Ma).
»Aber wozu denn noch aufräumen«, nuschelt Henry griesgrämig. »In zehn Tagen wird doch sowieso die ganze Welt verwüstet.«
Darauf weiß ich im Grunde gar keine vernünftige Antwort, aber während ich die beruhigende Stille hier oben in mich aufsauge, merke ich, dass es mir eigentlich nie richtig um das Aufräumen ging und auch nicht um das Geld. Ich liebe es einfach, die ganzen interessanten Sachen zu inspizieren, mir eine Geschichte zu ihnen auszumalen und für ein paar Stunden alles andere auf der Welt zu vergessen.
»Ach komm«, erwidere ich also und beginne, mich wahllos durch einen Haufen Krempel zu wühlen. »Vielleicht finden wir ja irgendwas Spannendes.«
Henry schaut mir kritisch zu, und ich muss zugeben, dass mir momentan bloß Schrott durch die Hände wandert. Zerrissene alte Kleider, ein paar miefende Patchworkdecken, seltsame Kopfbedeckungen.
Doch als ich all das zur Seite geschoben habe, sehe ich, dass sich dieser ganze Kram nicht bloß auf weiterem Kram auftürmt, sondern auf einer Truhe. Einer sehr interessant aussehenden Truhe, die mich an die Schatzkisten aus Piratenfilmen erinnert. Henry hat mir mal eine ähnliche Truhe zum Geburtstag geschenkt, die ich als Schmuckkästchen benutze. Doch diese hier ist viel größer, so groß, dass sich problemlos einer von uns beim Spielen darin verstecken könnte (also, wenn wir noch spielen würden. Das machen wir natürlich nur noch ganz selten. Dafür fühlt Henry sich meistens schon viel zu erwachsen). Sie ist mit aufwendigen Schnitzereien verziert und hat einen goldenen Riegel, den man hochschieben muss, um sie zu öffnen.
»Schau mal, Henry!« Fasziniert fahre ich mit meinen Fingern über die Eisenbeschläge und das abgenutzte Holz. Sofort schießen mir tausend Ideen durch den Kopf, wo diese Truhe herkommen könnte und was sie schon alles erlebt hat. »Die ist bestimmt Hunderte von Jahren alt und hat früher einem Piratenkönig gehört, der …«
»Genau so eine habe ich letztens bei IKEA gesehen«, unterbricht Henry mich schroff, aber ich erkenne an seinem neugierigen Seitenblick, dass er bloß seine bockige Grundhaltung nicht aufgeben will.
»Na, wenn das so ist, müssen wir sie ja nicht öffnen«, flöte ich. »Wir können einfach diesen ganzen Kram wieder drauflegen und in einer anderen Ecke weitermachen. Vielleicht finden wir ja da vorne noch was Spannendes …« Ich tue so, als würde ich mich abwenden, doch da hat Henry bereits einen Satz nach vorn gemacht. Jetzt kniet er neben mir und schaut gierig auf die Truhe.
»Wir könnten ja vielleicht mal einen kleinen Blick reinwerfen«, erwidert er möglichst unbeeindruckt. »Nur aus Forschungszwecken.«
»Ja klar, Forschungszwecke.« Wir grinsen uns an, und im nächsten Moment fuhrwerkt Henry schon aufgeregt am Verschluss herum.
Fast bedächtig hebt er den Deckel an und wir stoßen uns leicht die Köpfe, als wir uns beide gleichzeitig vorbeugen, um den ersten Blick in den Innenraum der Truhe zu erhaschen – nur um gleich darauf enttäuscht wieder zurückzusinken.
Ich weiß nicht genau, was wir erwartet haben. Goldbarren vielleicht oder wertvollen Schmuck. Doch in der Truhe lagert nur noch mehr verstaubtes Zeug: eine seltsam aussehende Vase und ein zusammengerolltes Papier auf einer weiteren Schicht alter Kleidung.
»Na toll.« Henry verschränkt die Arme und ist kurz davor, in seine Weltuntergangsdepression zurückzuverfallen, deswegen muss ich ganz schnell etwas unternehmen.
»Nein, schau mal hier, eine Schatzkarte!«, improvisiere ich, schnappe mir das vergilbte Papier und rolle es schwungvoll auseinander.
Henry legt den Kopf schief. »Das ist doch nur ein blödes Bild.«
Dagegen kann ich leider nichts einwenden, obwohl Poster vielleicht eine bessere Beschreibung wäre. Ein sehr altmodisches Poster. Es erinnert mich an die mittelalterlichen Zeichnungen in unserem Religionsbuch. Das Bild zeigt die Welt, unsere Welt, die in Flammen steht – Menschen, Tiere, Häuser, sogar das Meer scheint zu brennen, was ich jetzt mal als künstlerische Freiheit bezeichnen würde. Allerdings ist das nur die eine Hälfte des Ganzen. Durch die Mitte des Posters zieht sich eine verschwommene Linie, und auf der anderen Seite ist alles traumhaft schön. Die Menschen liegen sich in den Armen, die Tiere sehen glücklich aus, Blumen blühen und das Meer schimmert in einem malerischen Türkis.
»Himmel und Hölle«, mutmaße ich, den Religionsunterricht immer noch im Hinterkopf. »Oder das Fegefeuer gegen das Paradies.«
»Eher eine Art Parallelwelt«, erwidert Henry gelangweilt. Egal, wie wenig interessiert er an einer Sache ist – mir Recht geben oder meine Behauptungen auch nur unkommentiert im Raum stehen lassen, kann er nicht.
Zwischen uns herrscht schon immer eine Art Wissenskampf, und mit immer meine ich, schon im Kindergarten. Sind diese roten Beeren jetzt giftig oder nicht – Henry und ich können uns über die blödesten Sachen streiten, und nicht selten endet dieser Streit wie damals im Kindergarten damit, dass einer von uns sich in Lebensgefahr begibt, um seine Position zu beweisen. (Die Beeren waren giftig, ich hatte recht. Henry musste ins Krankenhaus.)
»Wieso denn Parallelwelt?«, knurre ich zurück. »Das Bild stellt ja wohl ganz klar den Tag des Jüngsten Gerichts dar und die Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Die bösen Menschen kommen ins Fegefeuer, die guten Menschen ins Paradies.«
»Bei der mittelalterlichen Vorstellung der Apokalypse entsteht das Paradies aber erst, nachdem die alte Welt untergegangen ist. Und auf den beiden Bildern sieht man ja wohl die gleiche Welt, deshalb handelt es sich um die Darstellung einer Parallelwelt«, gibt Henry mit strenger Stimme zurück.
Wütend starre ich ihn an. Er soll sich bloß nicht als großer Religionsexperte aufspielen, schließlich ist das eins der wenigen Fächer, in dem ich immer bessere Noten habe als er. »Und was ist mit dem Garten Eden?«, widerspreche ich ihm hochnäsig. »Der ist schließlich auch auf der Erde. Und das Paradies.«
»Im Garten Eden gab es aber nur zwei Menschen, Adam und Eva, und hier auf dem Bild sieht man über zehn.«
Mist, kann es wirklich sein, dass Henry diese Diskussion gewinnt? Angestrengt fixiere ich das Bild. Henry hat recht, es ist zweimal genau die gleiche Welt – sogar genau die gleichen Menschen, die gleichen Tiere, die gleiche Landschaft. Nur dass sie auf der einen Seite in Flammen steht und auf der anderen völlig harmonisch aussieht.
Plötzlich muss ich wieder an den Weltuntergang denken, an den Asteroiden, der in zehn Tagen einschlagen wird. »Du, Henry? Wird unsere Welt auch so brennen wie die auf dem Bild?« Ich robbe ein Stück näher an ihn heran und habe mit einem Mal überhaupt keine Lust mehr zu streiten. Viel lieber würde ich ein paar tröstende Worte hören.
Doch Henry sieht nicht aus, als hätte er davon besonders viele übrig. »Ich glaube schon«, erwidert er trübsinnig. »Ich hab jedenfalls im Internet gelesen, dass es eine riesige Explosion gibt, wenn der Asteroid auf der Erde einschlägt. Und durch den Aufprall entsteht wohl so eine Art Feuerball, der alles ringsherum niederbrennt.«
Mein Bauch beginnt, sich zusammenzuziehen. Wenn ich besorgt oder ängstlich bin, kriege ich immer Bauchschmerzen. Um mich von dem Gefühl abzulenken, sehe ich mir lieber die schöne Seite des Bildes an. Die Parallelwelt. »Du, Henry?«
»Mhh?«
»Was genau ist eine Parallelwelt?«
»Na ja.« Henry kräuselt seinen Mund, wie immer, wenn er eingehend überlegt. »Ich weiß nicht, ob es dafür überhaupt eine festgelegte Definition gibt. Ich würde sagen, eine Parallelwelt ist eine Welt, die genauso ist wie unsere eigene Welt, nur mit kleinen Unterschieden.«
»Du meinst, es könnte noch eine andere Welt geben, in der wir beide existieren? Und Mama und Papa? Und Lille?«
»Keine Ahnung.« Henry zuckt mit den Schultern. »Ich weiß nur, dass es diese Theorie gibt, nicht, ob diese Welten wirklich zu finden sind. Aber das Universum ist riesig, möglicherweise sogar unendlich groß, deshalb könnte ich mir das schon vorstellen.«
Für einen Moment versuche ich mir auszumalen, dass es irgendwo da draußen im weiten, weiten Universum noch einen anderen Planeten gibt, auf dem Henry und ich gerade auf dem Dachboden von Frau Alba sitzen und uns über Parallelwelten unterhalten. Eine Welt, genau wie unsere, nur mit kleinen Unterschieden. Aber was für Unterschiede?
»Du, Henry? Könnte es dann nicht vielleicht sein, dass es eine Welt gibt, die genau wie unsere ist – nur dass sie nicht untergehen wird?«
»Oh Brie.« Henry sieht aus, als bereiteten meine Fragen ihm Kopfschmerzen. »Das ist so hypothetisch, das kann man nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten.«
»Aber es ist nicht unmöglich?«
»Ich weiß nicht, ob in diesen Sphären überhaupt irgendwas unmöglich ist.«
Die Gedanken in meinem Kopf schwirren nur so herum und ich kann nicht anders, als sie Henry auf die Nase zu binden. »Das heißt, wenn wir den Eingang zu so einer Parallelwelt finden, können wir unserer untergehenden Welt entkommen?«
»Vergiss es, Brie. Wissenschaftler suchen schon ewig nach solchen Portalen, genau wie sie auch schon ewig nach diesem blöden Bernsteinzimmer suchen. Die haben sogar so Maschinen wie einen Teilchenbeschleuniger und trotzdem noch keine Parallelwelt gefunden.«
»Ja, Wissenschaftler. Wissenschaftler gehen viel zu rational an die Sache heran. Sie sehen die Welt nicht wie wir, Henry. Wir haben etwas, das sie nicht haben.«
»Und das wäre?«
»Vorstellungsvermögen. Kindliche Fantasie.« Die meisten in meiner Klasse würden lieber kopfüber in ein Brennnesselfeld springen, als sich selbst als »kindlich« zu bezeichnen, aber ich habe das noch nie verstanden. Ich finde es eigentlich ziemlich cool, ein Kind zu sein.
»Es tut mir leid, Brie, aber ich glaube, bei der Erforschung von Parallelwelten sind umfassende Kenntnisse im Bereich der Astrophysik ein kleines bisschen hilfreicher als kindliche Fantasie.« Und mit diesen Worten steht Henry auf, klopft sich den Staub von der Hose und stapft in Richtung Leiter.
Ich schaue ihm nach – und dann wieder auf das Bild in meinen Händen. Die Welt, die in Flammen steht, und daneben ihre Parallelwelt, in Ordnung und Harmonie.
Alle um mich herum tun so, als wäre dieser Weltuntergang unumgänglich. Und das, obwohl es eine fünfprozentige Chance gibt, dass wir dem Ganzen entkommen. Okay, diese Wahrscheinlichkeit ist vielleicht nicht besonders hoch.
Was aber, wenn es noch einen ganz anderen Ausweg gibt? Einen Ausweg, der vielleicht nur eine Prise Fantasie benötigt?
»Eine Rückreise wäre leider nicht möglich. Ich würde das wohl eher nicht probieren.« Astrophysiker Stephen Hawking (angeblich)
Den restlichen Tag habe ich es geschafft, den Weltuntergang mehr oder weniger auszublenden. Meine Eltern und ich gehen betont gelassen mit der Situation um, so als ob gar nichts wäre (ich glaube, Ma hat Pa eine Standpauke gehalten, dass er sich vor uns Kindern nicht so gehen lassen darf). Als ob nichts wäre heißt im Klartext: Wir haben einen großen Topf Spaghetti zum Abendbrot gekocht und eine ausgedehnte Runde Monopoly gespielt, die ablief wie immer (Ma gewinnt, Pa beschwert sich über den Kapitalismus und ich nehme mir vor, endlich die Definitionen von Kapitalismus und Kommunismus auswendig zu lernen, bevor Henry mich damit kalt erwischt). Lille war unterwegs, aber sie spielt sowieso nicht gerne Brettspiele.
Als ich am nächsten Morgen aufstehe (oder besser gesagt Mittag, denn geweckt hat mich niemand), könnte ich mir fast einbilden, das mit dem Weltuntergang bloß geträumt zu haben. Aber auch wirklich nur fast, denn eins kann ich euch sagen.
Wenn eure große Schwester plötzlich mit eurem Mathelehrer im Wohnzimmer steht und verkündet, ihn heiraten zu wollen – dann ist wirklich Weltuntergang.
Zuerst denke ich, Herr Schniegendiegel ist gekommen, um mich eigenhändig zur Schule abzuholen. Die schwänze ich nämlich gerade. Aber dann fällt mir wieder ein, dass ich sie rechtlich gesehen gar nicht wirklich schwänze, denn es findet kein Unterricht mehr statt. Gestern Abend wurde in den Nachrichten durchgesagt, dass die Schulpflicht landesweit aufgehoben ist. Das heißt im Klartext so viel wie: Ihr sterbt in neun Tagen sowieso alle, da müsst ihr nun wirklich nicht mehr die dritte binomische Formel kennenlernen.
Mir fällt außerdem auf, dass Herr Schniegendiegel nicht Lilles Hand halten müsste, um mich zum Unterricht abzuholen.
Und wäre Herr Schniegendiegel gekommen, um mich zum Unterricht abzuholen, hätte Lille bestimmt nicht gesagt: »Ma, Pa, das ist Peer. Wir wollen heiraten.«
Aber vielleicht sollte ich nochmal ganz von vorn beginnen.
Herr Schniegendiegel ist seit zwei Jahren mein Mathelehrer und sieht schon mindestens seit diesen zwei Jahren gut aus. Wie er vorher aussah, kann ich natürlich nicht beurteilen. Eigentlich kann ich sein Aussehen auch jetzt nicht beurteilen, weil ich Herrn Schniegendiegel viel zu alt finde, um ihn gutaussehend zu nennen, aber das ist nun mal die allgemeine Meinung. (Herr Schniegendiegel? Ohh, der sieht vielleicht gut aus …) Und ich glaube, so alt ist er auch noch gar nicht. Nur ziemlich alt. 30 oder so.
Viele Mädchen aus meiner Klasse behaupten, ihre Mütter wären nach dem Elternsprechtag ganz entzückt von Herrn Schniegendiegel gewesen. Meine Mutter war nicht entzückt.
Aber meine Mutter war auch nicht beim Elternsprechtag.
Pa geht immer hin, aber letztes Halbjahr hatte er genau an dem Tag die Grippe und Lille musste einspringen. Sie ist immerhin schon volljährig. Tja – und dann hat es zwischen ihr und Herrn Schniegendiegel wohl gefunkt. Immerhin stehen die beiden gerade in unserem Wohnzimmer und verkünden ihre Verlobung.
»Lille Liebling, der Weltuntergang nimmt uns alle mit, aber deshalb müssen wir uns nicht gleich verloben.« Ma will die ganze Sache offensichtlich schnell abhandeln. Sie hat nur einen flüchtigen Blick auf Herrn Schniegendiegel geworfen und hackt schon wieder konzentriert auf ihren Laptop ein.
Manche Leute versuchen, die Welt zu retten (ich habe es gestern Abend in den Nachrichten gesehen, sie wollen trotz extrem geringer Erfolgschancen probieren, den Asteroiden aus der Bahn zu schießen). Ma dagegen versucht, ihre Firma vor dem Untergang zu retten.
»Doch, das müssen wir!«, kreischt Lille. »Wenn ich in meinem Leben noch heiraten will, muss ich das innerhalb der nächsten neun Tage tun!« Sie stampft mit dem Fuß auf den Boden und schaut auffordernd zu Pa, der neben Ma und mir auf dem Sofa sitzt.
Er befindet sich in Schockstarre, wie immer. Als Lille zu heulen beginnt, zuckt er zusammen und fixiert Herrn Schniegendiegel mit zusammengekniffenen Augen. »Kenne ich Sie nicht von irgendwoher?«
Herr Schniegendiegel wird rot, die Frage ist ihm sichtlich unangenehm. »Ich bin … ich war der Mathelehrer Ihrer Tochter.« Pa will zu einem entrüsteten Ausspruch ansetzen, da fügt Herr Schniegendiegel eilig hinzu: »Bries! Bries Mathelehrer! Gott bewahre.«
Pa seufzt, halb erleichtert, halb irritiert. Dann kratzt er sich am Kopf. Offensichtlich hat er keine Ahnung, wie man in so einem Moment reagiert. Schließlich scheint er sich an die amerikanischen Spielfilme zu erinnern, die wir gern sonntagabends zusammen gucken, denn er fragt mit autoritärer Stimme: »Und was sind Ihre Pläne mit meiner Tochter?« Das Ganze sieht ziemlich merkwürdig aus, da Pa immer noch auf dem Sofa sitzt und Herr Schniegendiegel verlegen auf ihn herunterschaut. Doch würde Pa stehen, würden vermutlich seine Knie zittern.
Herr Schniegendiegel tritt nervös von einem Fuß auf den anderen. »Ich ... ich würde sie gern heiraten ...«
»Ach ja, das ... sagten Sie ja bereits.« Pa wirkt für einen Moment aus der Fassung gebracht. Dann setzt er erneut mit drohender Stimme an: »Und was machen Sie beruflich?«
»Ich ... bin Lehrer.«
»Ach ja, das ... sagten Sie auch schon.« Pa zupft peinlich berührt an seinem linken Ohr. (An seinem eigenen, meine ich. Nicht an Herrn Schniegendiegels.)
Er startet einen letzten Versuch, den strengen Schwiegervater zu spielen und donnert: »Werden Sie in Zukunft gut für meine Tochter sorgen?«, woraufhin Ma wütend auf den Tisch schlägt und Pa zur Schnecke macht (»Du denkst, unsere Tochter kann nicht für sich selbst sorgen? Du denkst, das muss ein Mann übernehmen?«) und Lille hysterisch heulend dazwischen schreit: »Welche Zukunft?!«.
Herr Schniegendiegel schaut während der darauffolgenden Diskussion verstört von einem zum anderen und möchte offensichtlich am liebsten im Boden versinken. Dann fällt sein Blick auf mich und seine Gesichtszüge entspannen sich etwas. »Hallo, Brie. Na? Hast du deine Hausaufgaben schon gemacht?«
Ich muss extra laut reden, um gegen Lilles Gemecker anzukommen. »Ich hatte Schwierigkeiten bei Aufgabe B.«
»Oh ja, der Teil hatte es in sich.«
»Ich werde vermutlich nicht mehr erfahren, ob ich es richtig habe, oder?«
Herr Schniegendiegel öffnet den Mund, um mir zu antworten, schließt ihn dann aber wieder. Ich kann es verstehen.
»Ihr könnt mir das nicht ausreden! Mein Entschluss steht fest! Peer und ich heiraten, und zwar in genau neun Tagen!« Lille schlingt ihren Arm um Herrn Schniegendiegel. »Ja, ihr habt richtig gehört, am Tag des Untergangs! Dann muss ich wenigstens nicht mehr denken, in neun Tagen geht die Welt unter, sondern kann mich darauf konzentrieren, dass in neun Tagen meine Hochzeit ist!«
»Aber Lille ...« Nun ist auch Pa den Tränen nahe. »Dein Traum war doch immer eine richtige Märchenhochzeit. Ganz pompös und und und ... aufwendig und ...«
»DAFÜR IST ABER KEINE ZEIT MEHR!« Lille hat Herrn Schniegendiegel schon halb aus der Tür gezerrt. »Ich habe noch neun Tage, um diese verdammte Hochzeit zu planen und das werde ich. Das lenkt mich wenigstens von unserer schrecklichen Situation ab. Das wird die verdammt nochmal beste Weltuntergangshochzeit, die es je gab.«
Und damit knallt sie die Tür zu, und die beiden sind weg.
Auch Ma klappt ihren Laptop zu und steht auf. »Tja, was soll man dazu sagen? Da versuche ich jahrelang, ihr emanzipierte Werte einzuimpfen und dann verlobt sie sich mit neunzehn Jahren. Ich muss jetzt in die Firma. Die schlagen da alles kurz und klein.«
»Wer?«
»Irgendwelche Randalierer, die glauben, nur weil die Welt untergeht, hat nichts mehr Konsequenzen. Die wollen Weltuntergang? Ich gebe ihnen Weltuntergang!«
»Karen, warte!« Pa greift nach ihrem Arm. »Das ist doch viel zu gefährlich. Wer weiß, wie die drauf sind. Vergiss doch die Firma. Was spielt die Firma jetzt noch für eine Rolle?«
»Was die Firma jetzt noch für eine Rolle spielt?« Ma schiebt Pa weg und reißt die Arme in die Luft. »Eine große Rolle Josef, eine große! In dieser Firma steckt meine Karriere, meine Zeit, mein Leben! Die lasse ich mir doch nicht von irgendwelchen Halbstarken kaputt machen!«
Und mit diesen Worten ist auch Ma auf und davon.
Pa und ich bleiben im Wohnzimmer zurück, resigniert, schweigend.
Ich sehe Pa an, wie elend ihm zumute ist und möchte ihn aufmuntern. »Ist doch nicht so wild, Paps.« Ich klopfe ihm auf die Schulter. »Immerhin hast du noch ...«
»... die Enten, du hast recht«, unterbricht er mich, schon wesentlich zuversichtlicher, und springt ebenfalls vom Sofa auf, um raus in den Garten zu unserem Ententeich zu rennen.
Das »mich« bleibt mir im Hals stecken.
* * *
Wenn mich sowieso meine gesamte Familie im Stich lässt, kann ich mich auch meinem eigenen Kram widmen. Ich beginne, das Internet zum Thema Parallelwelten zu durchforsten. Das wollte ich eigentlich schon gestern Abend machen, aber Ma und Pa haben so viel Wert darauf gelegt, dass wir zusammen Monopoly spielen. Schon nach kurzer Zeit bin ich wie erschlagen von den ganzen Informationen, die ich bei meiner Recherche finde.
Wie es scheint, ist die Vorstellung von Parallelwelten gar kein so abwegiges Hirngespinst. Es gibt sogar mehrere Theorien dazu. Das, worüber Henry und ich gestern gesprochen haben, ist nur eine davon. Mit einer anderen hat sich Stephen Hawking auseinandergesetzt, ihr wisst schon, dieser absolut geniale Physiker. Und ihr werdet es nicht glauben: Er hält die Theorie tatsächlich für möglich!
Kurz vor seinem Tod hat er eine Art mathematische Erklärung angefertigt, die zeigen soll, wie diese Paralleluniversen gemessen werden könnten. Natürlich ist das alles hochwissenschaftlich und für eine naturwissenschaftliche Niete wie mich ungefähr so verständlich wie Mandarin. Mal ganz zu schweigen von der Tatsache, dass ich nur noch neun Tage hätte, um auf dem Gebiet der Physik so ein Profi zu werden, dass ich Stephen Hawkings Formeln überprüfen könnte.
Aber ich möchte meine letzten neun Tage auch nicht mit Mathe verbringen. Sondern mit Fantasie.
Mit Fantasie möchte ich mich auf die Suche nach einer Parallelwelt machen. Einer Parallelwelt, in der es auch eine Brie gibt, eine Brie und einen Henry und eine Lille und eine Ma und einen Pa. Und ein Haus, das genauso aussieht wie unseres, und eine Stadt, die genauso aussieht wie unsere, und Berge und Meere und Wüsten, all das, was es auf unserer Welt auch gibt.
Nur, dass es nicht untergeht.
Es soll dort auch einen Baum geben, einen Baum wie der, unter dem Henry und ich gerade sitzen. Wir waren schon so oft hier, dass wir ihn nur noch »unseren Baum« nennen. Das alles hat in Physik angefangen.
Ich denke, dass ich im Physikunterricht nie sehr gut aufgepasst habe, ist schon deutlich geworden, aber ich führe es hier aus gegebenem Anlass noch einmal an. Ich habe nämlich lieber verträumt aus den großen staubigen Fenstern geschaut, als unserer Physiklehrerin zuzuhören.
Da unsere Schule auf einem Berg liegt, kann man aus dem Physikraum die anderen Berge in der Gegend sehr gut beobachten. Und auf einem von ihnen habe ich den großen, alten Apfelbaum entdeckt, der ganz allein auf einer unberührten Blumenwiese steht. Dieses Bild hatte etwas Harmonisches, Beruhigendes an sich, und irgendwann beschloss ich, diesen Baum zu suchen.
Henry hat zwar in Physik noch nie irgendwo anders hingeschaut als an die Tafel, ist aber trotzdem ohne zu zögern mit mir durch die umliegenden Wälder geradelt, um diesen magischen Ort zu finden.
Magisch ist er auch jetzt noch.
Keine Geräusche sind zu hören, bis auf das sanfte Rascheln des Grases im Wind und ein paar herumspringende Vögel. Die Glücklichen – haben keine Ahnung, was sie erwartet.
»Schon verrückt, oder?« Henry beißt von der Karotte ab, die er sich mitgenommen hat. Henry isst gerne Karotten. Er sagt, das hilft ihm beim Nachdenken. »Überall auf der Welt herrscht Chaos. Nur hier nicht.«
Wir schauen auf unsere kleine Stadt hinab. Von hier oben hat man einen unschlagbaren Ausblick, fast alles ist zu sehen. Da vorne Frau Albas Haus ... Da unsers ... Da der kleine Tante Emma Laden und der Stadtpark, und da hinten, auf dem gegenüberliegenden Berg, unsere Schule.
Wenn man genau hinsieht, kann man sogar das Fenster des Physikraumes erkennen, ein winzig kleiner Punkt. Ich habe dann immer das Gefühl, mir selbst gegenüberzusitzen, so als säße die Vergangenheits-Brie hinter der Scheibe und würde gemütlich den Baum beobachten.
»Du hast recht.« Ich lege meine Handfläche auf die kühle Baumrinde. Sie fühlt sich fest und beruhigend an, jetzt, wo alles andere auf der Welt so chaotisch und verwirbelt ist. »Ich hab heute Morgen die Nachrichten gesehen. Überall drehen die Leute durch. New York, Moskau, Tokio ...«
»Sie bekriegen sich gegenseitig. Keiner hält sich mehr an die Gesetze.«
»Wieso sollten sie auch? Es gibt kaum noch Polizisten, die ihren Job machen und sie einsperren.«
»Und selbst wenn sie im Gefängnis landen – die Wärter dort arbeiten mit Sicherheit auch nicht mehr. Keiner, der auf sie aufpasst.«
»Das macht mir Angst, Henry.«
Henry zieht die Schultern hoch und spuckt das letzte Fitzelchen Karotte ins Gras. Auch das macht er immer. Er sagt, so kann er nach dem Grübeln die schlechten Gedanken loswerden. »Du brauchst keine Angst zu haben. Hier kennt jeder jeden, die Leute passen gegenseitig auf sich auf. Schau genau hin. Alles wie immer, oder?«
Ich kneife die Augen zusammen. Autos fahren über die Straßen, halten vor Ampeln. Kühe grasen auf den Weiden. Menschen gehen spazieren. Kirchenglocken läuten. Aus Schornsteinen weht Rauch.
In unserer kleinen Welt ist alles in Ordnung.
Noch.
»Henry?«
»Mhh?«
»Ich habe nochmal über Parallelwelten recherchiert.«
»Und?«
»Stephen Hawking glaubt, dass sie existieren könnten.«
»Ich glaube auch, dass sie existieren könnten. Das bedeutet nicht unbedingt, dass es möglich ist, sie zu finden.«
»Aber wir können sie suchen, Henry. Wir können uns auf die Suche machen. Nicht mathematisch oder wissenschaftlich, sondern auf die Brie und Henry-Art. Weißt du noch, wie wir früher auf der Jagd nach Feen und Kobolden waren? Wir haben den ganzen Wald durchkämmt, sind magischen Hinweisen gefolgt ...«
»... und haben am Ende nichts gefunden.«
»Aber wir hatten Spaß!« Meine Augen blitzen ihn an. »Wir hatten Spaß, Henry, darum geht es mir.«
»Ich weiß nicht, Brie.« Henry zieht die Beine an. »Ich will meine letzten Tage nicht mit der Suche nach etwas verbringen, das wir eh nicht finden werden.«
»Womit willst du sie dann verbringen?«
Aber darauf fällt ihm auch keine Antwort ein, und plötzlich macht mich das Ganze schrecklich traurig.
»Vielleicht finden wir ja auf diesem Weg heraus, was wir wirklich tun wollen«, füge ich hinzu. »Bitte, lass es uns wenigstens versuchen.«
»Und wie willst du es versuchen?«
»Erstmal müssen wir nach Hinweisen Ausschau halten. Und wenn wir dann welche gefunden haben, gehen wir auf Expeditionen ...«
»Du kannst gerne nach Hinweisen Ausschau halten, so viel du willst, aber ich fahre jetzt nach Hause. Svetlana hat den halben Supermarkt leer gekauft. Sie meint, wenn die Leute anfangen zu hamstern, kriegen wir nichts mehr ab. Heißt im Klartext: das Haus ist voller Süßigkeiten und ich werde so viel davon in mich hineinstopfen, wie ich kann.«
»Okay, aber Henry?«
»Ja?« Er hebt sein Fahrrad auf und dreht sich zu mir um.
»Wenn ich einen Hinweis finde, sage ich dir Bescheid, und dann machen wir uns auf die Suche«, stelle ich leicht trotzig klar.
Ein Lächeln huscht über Henrys Gesicht.
»Meinetwegen, Brie.«
»Ich esse auch ungewaschenes Obst. Manchmal. Selten. Eigentlich wasche ich es lieber.« Pa
Von nun an verläuft der Tag schleppend.
Als ich nach Hause komme, sitzt Pa vor dem Ententeich in unserem Garten und drückt drei seiner Lieblinge an sich. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass Pa seine Enten genauso lieb hat wie Lille und mich. Die Dinger haben sogar Namen, aber glaubt bloß nicht, dass ich mir die alle merken kann.
Am besten kenne ich Helga und Gary, und das auch nur, weil Gary mich einmal gebissen hat (»Aua, Pa! Die eine hat mich gebissen!« – »Das ist ein der, Brie, das ist Gary!«) und Helga regelmäßig ausbüchst (»Helga ist weg! Helga ist weg! Brie, Lille, Schuhe anziehen, wir müssen sie suchen!« (Kleine Zusatzinfo: Es war ein Uhr nachts)).
Pa ist aber nicht geisteskrank oder so. Das könnte man natürlich vermuten, weil er sich Enten im Garten hält und ihnen Namen gibt, aber theoretisch läuft das alles auf rein geschäftlicher Basis. Pa baut nämlich Schwimmhilfen für verletzte Enten. Das ist jedenfalls sein Traum. Seine Geschäftsidee.
Alles hat damit angefangen, dass er vor ein paar Jahren eine verkümmerte kleine Ente im Stadtpark entdeckt hat. Sie konnte nicht schwimmen und war kurz vorm Verhungern.
Also hat Pa sie kurzerhand eingepackt, mit nach Hause genommen und aufgepäppelt. Zwar ging es der Ente, Christa, schon nach ein paar Tagen viel besser, aber schwimmen konnte sie immer noch nicht. Pa hatte sich aber inzwischen so in seine kleine Christa verliebt, dass es für ihn nur noch eines gab: ihr das Schwimmen ermöglichen!
Und so kam es, dass sich von nun an riesige Blätter mit komplizierten Modellzeichnungen über den Küchentisch rollten, Pa Tag und Nacht über seinen Konzepten brütete und er einen richtigen Ententeich im Garten für Christa anlegte, um seine Ideen mit ihr auszuprobieren.
Zwar hat nie etwas davon wirklich funktioniert – weder die kleinen Entenschwimmflügel noch die kleinen Entenboote -, und Christa hat längst das Zeitliche gesegnet (nicht wegen Pas Experimenten, keine Sorge), aber Pas Liebe für Enten blieb bestehen. Und für Entenschwimmhilfen.
Nur dass von seinen jetzigen Enten leider keine anatomisch eingeschränkt ist, sodass er seine neuesten Entwürfe nicht testen kann.
Na ja, jedenfalls hockt Pa am Ententeich, als ich nach Hause komme, und ich beschließe, ihn dort einfach in Ruhe sitzen zu lassen.
Vielleicht haben Enten ja eine beruhigende Wirkung auf manche Menschen. Oder so.
In der Küche treffe ich Lille an, die auf dem Boden inmitten eines riesigen Haufens cremeweißen Stoffes sitzt und wild darin herumschneidet.
»Hey Lille, ähm ... was machst du denn da?«
Mit hochrotem Kopf schaut sie auf. »Ich nähe mir mein Hochzeitskleid, sieht man das nicht?!«
»Hat der Haufen Stoff da auf dem Boden zufälligerweise etwas damit zu tun, dass unsere Gardinen nicht mehr am Fenster hängen?«
»Willst du mir jetzt einen Vorwurf dafür machen, dass ich keine Zeit mehr habe, irgendwelche Stoffgeschäfte abzuklappern?«, kreischt Lille und ich kriege Panik, dass sie sich mit der Schere in die Hände schneidet. Sie pausiert nämlich beim Kreischen nicht mit der Arbeit.
»Nein, natürlich nicht«, versuche ich sie schnell zu beschwichtigen. »Das Kleid wird bestimmt toll, Lille.«
Das ist mein Ernst.
Obwohl sie versucht, es aus unserer Küchengardine zu schneidern. Unsere Küchengardine ist nämlich eigentlich ganz hübsch. Cremefarbene Spitze. Weißer Volant. Und Lille ist gut in solchen Dingen. Sie studiert Modedesign und wollte sich schon immer ihr Hochzeitskleid selbst nähen.
Vermutlich hat sie nur auf etwas andere Umstände gehofft.
Ich will mich gerade an ihr vorbei aus der Küche schleichen, als Ma hereinkommt. Sie trägt ungewöhnlich sportliche Kleidung und wirkt ebenfalls ganz aufgescheucht.
»Hey Ma, wie war es in der Firma?«
»Es gibt keine Firma mehr.« Ma reißt die Küchenschränke auf und wühlt sich wahllos durch unser Sortiment an Trinkflaschen. Einige fallen auf den Boden, doch das ignoriert meine Mutter.
»Alles kurz und klein gehauen. Kurz und klein. Die Schreibtische, Computer ... Die ganzen Papiere
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 06.12.2023
ISBN: 978-3-7554-6296-5
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