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Leseprobe

Aurelias zauberblaues Geheimnis

Heike Herrgen

mit Illustrationen von Claudia Gabriele Meinicke

Klappentext

Hunderte kribbelnde Ameisen und ein blaues Licht

Seit die elfjährige Aurelia entdeckt hat, dass sie über eine magische Gabe verfügt, ist ihr Leben super­aufregend. Aber gerade als sie und ihr bester Freund Samuel unbedingt den Stadtpark und die zahmen Eichhörnchen retten müssen, versagt ihre zauberblaue Magie. Alles geht schief und bei jedem ihrer Wünsche bricht Chaos aus! Doch Aurelia weiß, wer ihr helfen kann: ihr unbekannter, geheimnisvoller Vater. Gemeinsam mit Samuel macht sie sich auf die Suche nach ihm. Wird es den beiden gelingen, ihn rechtzeitig zu finden?

Inhalt

1. Eine merkwürdige Sportstunde

oder: Wie alles begann

2. Die Rückkehr der Ameisen

oder: Wie Samuel in meine Klasse kam

3. Rettung in letzter Sekunde

oder: Wie ich das Kanu stahl

4. Samuels Angebot

oder: Wie Sherlock Holmes mich durchschaute

5. Die geheimnisvollen Zauberfischer

oder: Wie ich die allererste Spur fand

6. Die fiesen Stauberbrüder

oder: Wie sie plötzlich ihr Herz entdeckten

7. Wünsche mit Verfallsdatum

oder: Wie ich eine Menge Arbeit bekam

8. Samuels Zickenschwester

oder: Wie Rebecca zum Lämmchen wurde

9. Das Superkraftdesaster

oder: Wie alle plötzlich lossangen

10. Mamas Geheimnis

oder: Wie wir mit Nikoletta Limo tranken

11. Gundulus von Haberstecken

oder: Wie wir Kandidat Nr. 1 aufspürten

12. Party bei den Danhoffs

oder: Wie auch Ponyreiten nichts rettete

13. Der entscheidende Hinweis

oder: Wie wir die Wahrheit erfuhren

14. Das Parkfest

oder: Wie Fritz sich ziemlich wundern musste

15. Die Marienkäfer sind los

oder: Wie ich meditieren lernte

16. Einhorn und Hexenbesen

oder: Wie wir zum Bürgermeister gingen

17. Was sitzt im Baum und winkt?

oder: Wie wir in die Zeitung kamen

18. Die Abstimmung

oder: Wie wir ausgetrickst wurden

19. Das Leinbachfest

oder: Wie ich noch einmal ein Kanu stahl

20. Was noch gesagt werden muss

oder: Wie alles gut wurde

Die Autorin

Die Illustratorin

Eine merkwürdige Sportstunde

oder: Wie alles begann

Als ich am Montagmorgen die Sporthalle betrat, befestigte Herr Preisel gerade das Volleyballnetz.

»Hallo Aurelia!«

Er lächelte bemüht, während er das gelblich-grüne Veilchen an seinem Auge betastete. Das hatte er meinem Aufschlag von letzter Woche zu verdanken. Mein Ball war ihm direkt ins Gesicht geflogen. Ich bin nicht gerade eine Leuchte, wenn es um Sport geht, aber beim Volleyball sind meine Fähigkeiten einfach unterirdisch. Ich lächelte zurück und wischte mir die feuchten Hände an der Turnhose ab.

Nach ein paar Runden zum Aufwärmen ging es an die Auswahl der Mannschaften. Ich setzte ein gleichgültiges Gesicht auf, denn es war klar, dass es ein Weilchen dauern würde, bis ich unterkam.

»Bereit?«, fragte Herr Preisel.

Karl und Emma, die wählen durften, nickten. Berat und Leni, unsere beiden Sportskanonen, grinsten sich an. Klar, jeder wollte zuerst gewählt werden. Wie sie wohl gucken würden, wenn ich vor ihnen aufgerufen würde? Das war ein wirklich cooler Tagtraum.

»Karl beginnt«, sagte Herr Preisel.

Vermutlich würde Leni das Rennen machen, schließlich hatte Karl gerade in der Pause ihre Hausaufgaben abgeschrieben. Vielleicht hatte Leni so eine Art sechsten Sinn gehabt, dass Karl sich schon bald dafür revanchieren könnte.

Ich jedenfalls besaß keinen sechsten Sinn. Ich stand in der muffigen Halle und dachte, wie genial es wäre, wenn Karl »Aurelia« rufen würde, als ich das Kribbeln zum ersten Mal spürte. Es war ein Gefühl, als würden hunderte Ameisen über meine Füße laufen. Irritiert schaute ich auf meine schwarzen Turnschuhe. Keine Ameisen. Dann wurde alles um mich herum blau. Es war ein schönes Blau mit einem Hauch von Türkis.

»Aurelia!«, rief Karl laut und deutlich.

Das Kribbeln verschwand, ebenso der Blaufilter. Dass ich meinen Namen gehört hatte, war sicher Einbildung gewesen. Genauso wenig, wie es hier Ameisen oder türkisfarbenes Licht gab, würde Karl mich als Erste in seine Mannschaft wählen.

Mit einem Mal fühlte ich mich unglaublich müde. Wurde ich krank? Am liebsten wäre ich nach Hause gegangen, hätte mich ins Bett gelegt und mich von Oma mit Apfelpfannkuchen und Kakao verwöhnen lassen. So wie im Winter, als ich die schlimme Erkältung gehabt hatte. Trotzdem war es sicher besser, bis zum Ende der Stunde durchzuhalten. Sonst dachten die andern noch, ich wollte mich drücken.

Ich atmete tief durch.

»Aurelia, nun stell dich doch endlich hinter Karl!«, rief Herr Preisel.

Karl hatte mich wirklich in sein Team gewählt? So verdattert, wie er allerdings schaute, höchstens aus Versehen. Ich ging zu ihm hinüber und fragte mich, wie man jemanden aus Versehen wählen konnte. Die anderen tuschelten: »Karl ist verliebt.«

Konnte das der Grund sein? Hatte Karl vielleicht gerade an mich gedacht, meinen Namen in seinem Kopf gesprochen, und dann war er einfach so aus seinem Mund herausgepurzelt?

Ich überlegte, ob es irgendwelche Anzeichen dafür gab, dass er tatsächlich in mich verliebt sein könnte. Gestern hatte er ein Bonbonpapier auf mein Pult geschnipst und gekichert, aber besonders romantisch kam mir das nicht vor. Allerdings war es nicht immer leicht zu wissen, was die Jungs dachten. Möglicherweise fanden manche ja das Schnipsen von Bonbonpapier romantisch. Ich jedenfalls war nicht in Karl verliebt. Da war ich mir sicher.

Wir begannen mit dem Volleyballspiel und ich hatte gleich Aufschlag. Herr Preisel brachte sich unauffällig in Sicherheit, aber ich war immer noch so kraftlos, dass ich es nicht einmal schaffte, den Ball übers Netz zu bringen.

Am Schluss verloren wir mit neun Punkten, aber Herr Preisel klopfte Karl auf die Schulter und sagte: »Das war ein feiner Zug von dir, Junge, auch mal den Schwächeren eine Chance zu geben.«

Karl nickte verwirrt.

Auf dem Nachhauseweg durch den Park dachte ich über die seltsame Sportstunde nach. Vor allem das Ameisenkribbeln und das türkisblaue Licht beschäftigten mich. Ich vergaß ganz, nach den Eichhörnchen Ausschau zu halten und bemerkte Skippy erst, als er mir vor die Füße sprang. Es gab drei Eichhörnchen im Park und Skippy war das mutigste – und das dickste, vermutlich, weil er sich von allen Parkbesuchern füttern ließ. Sein linkes Vorderpfötchen war weiß, was total süß aussah.

Ich hielt an und holte ein paar Nüsse aus meiner Jackentasche. Aus dem Gebüsch näherten sich Fluffi (der einen sehr fluffigen Schwanz hatte) und Öhrchen (ein Ohr sah ein wenig angenagt aus und hatte keinen Haarpinsel mehr). Ich ging langsam in die Hocke und legte eine Nuss auf meine Handfläche. Skippy schnappte sie sich und verschwand auf einem Baum. Fluffi und Öhrchen fraßen nicht aus der Hand. Gerade als ich zwei Nüsse für sie auf den Boden legen wollte, setzte ein Mordslärm ein. Fluffi und Öhrchen rasten davon. Ich fuhr herum und sah, dass ein Bagger das Mäuerchen zum Rosengarten niederriss. Als ich näher heranging, rief ein Bauarbeiter, dass ich stehenbleiben sollte.

»Warum reißen Sie die Mauer ein?«, brüllte ich zurück. Schließlich war sie nicht kaputt.

»Wir müssen die Zufahrt verbreitern! Damit die Baufahrzeuge durchkommen!«

Er zeigte auf den Rosengarten. In der Mitte stand ein Springbrunnen, der aussah wie ein wasserspeiender Delfin. Allerdings spie der schon lange kein Wasser mehr. Vor ein paar Jahren hatte ein umgestürzter Baum sein Steinbecken zertrümmert. Es war super, dass die Männer das endlich in Ordnung bringen wollten. Ich ging weiter und hüpfte am Ende des Parks über die niedrige Hecke, die ihn von unserem Garten trennte.

Als ich erzählte, dass der Brunnen repariert werden sollte, strahl­te Oma. Tante Ottilie klatschte in die Hände vor Freude.

»Wusstest du, dass wir schon als Kinder am Springbrunnen gespielt haben?«, fragte sie. »Als deine Oma noch ganz klein war, ist sie in das Becken gefallen und ich musste sie retten!«

Natürlich wusste ich das. Tante Ottilie erzählte es jedes Jahr auf dem Parkfest.

Wir setzten uns zum Mittagessen.

»Wie war es in der Schule?«, fragte Oma und da musste ich wieder an die Sportstunde denken. Weil ich mich jetzt aber völlig normal fühlte, wollte ich Oma nicht mit kribbelnden Füßen und plötzlich auftauchendem türkisblauem Licht beunruhigen. Vermutlich hatte ich mir das alles nur eingebildet.

»Wie immer«, antwortete ich und nahm mir Kartoffelbrei.

»Nebenan sind neue Leute eingezogen«, berichtete Tante Ottilie.

»Ich habe ihnen einen Kuchen gebacken«, erklärte Oma. »Bringst du ihn bitte rüber, Aurelia? Und sag ihnen, dass sie sich unbedingt den nächsten Sonntag für unser Parkfest freihalten müssen!«

Tante Ottilie runzelte die Stirn. »Ich dachte, der Apfelkuchen ist für uns?«

Rasch versprach Oma, später ein paar Waffeln zu backen. Ich blickte auf die halbmondförmige Narbe an meinem Daumen. Dort hatte mich der Hund unserer früheren Nachbarn gebissen, als ich ihnen beim Einzug einen Korb mit Muffins überreichen sollte.

»Wie sind denn die neuen Nachbarn?«, fragte ich zögernd.

Tante Ottilie zuckte mit den Schultern. »Der Lastwagen parkte so vor dem Küchenfenster, dass man gar nichts sehen konnte.«

Nach dem Essen stellte Oma die Kuchenplatte vor mich und legte eine Einladung zum Parkfest obendrauf. Ich war nicht besonders scharf darauf, bei fremden Leuten zu klingeln, aber neugierig war ich schon. Vielleicht hatten sie Kinder? Das wäre toll, denn in unserem Viertel wohnten fast nur alte Leute.

Das Gartentor zum Nachbarhaus stand weit offen. Das war ein gutes Zeichen. Offenbar besaßen sie keinen Hund. Ansonsten ver­riet der Garten nichts, da lag kein Fahrrad vor dem Eingang und kein Fußball auf dem Rasen. Nur ein wunderschöner kleiner Hirschkäfer saß mitten auf dem Weg. Ich hob ihn auf und brachte ihn in Sicherheit. Dann klingelte ich.

Hinter dem mattierten Glas der Haustür näherte sich jemand in meiner Größe. Die Tür schwang auf und ein Junge mit glänzend schwarzen Haaren linste heraus. Seine Augen waren nicht dunkel wie sein Haarschopf, sondern strahlend blau. Er blickte auf den Apfelkuchen und lächelte erfreut.

Ich wollte mich gerade vorstellen, als ein großer, schneeweißer Hund die Diele entlanggaloppierte und zum Sprung auf mich ansetzte. Ich ließ die Kuchenplatte fallen und riss schützend die Hände nach oben.

Im selben Moment kribbelten meine Füße. Der Hund und die Diele sahen plötzlich ganz türkisblau aus. Und das war nicht das einzig Merkwürdige, denn der Hund stoppte mitten im Sprung. Er stieß ein trauriges Winseln aus und setzte sich auf sein Hinterteil.

»Du hast ihn erschreckt!« Der Junge tätschelte den Hundekopf.

Wäre ich nicht so durcheinander gewesen, hätte ich ihm sicher gesagt, dass es eher umgekehrt gewesen war. Ich blickte auf den Kuchen, der von der Plastikplatte gerutscht war und jetzt auf der obersten Stufe lag. Der Hund betrachtete mich mit großen, blanken Augen. Eine riesige rosa Zunge hing aus seinem Maul.

»Er ist noch ein Welpe«, sagte der Junge, »und ein bisschen wild.«

Er bückte sich, schob den Kuchen zurück auf die Platte und hob die Einladung auf. Dann nahm er meinen Arm und zog mich ins Haus.

»Ich bin Samuel«, sagte er, als wir in einer großen Küche mit viel Chrom und Glas standen. In der Mitte stapelten sich Umzugskisten. »Gut, dass du gekommen bist! An Essen hat hier niemand gedacht.« Er stellte die Kuchenplatte auf den Tisch und deutete auf einen Stuhl. »Du bleibst doch und isst mit, oder?«

Das Kribbeln und das türkisblaue Licht waren verschwunden, aber im Gegensatz zu heute in der Schule konnte ich mir nicht einreden, dass alles nur Einbildung gewesen war. Außerdem fühlte ich mich wieder ziemlich kraftlos. So, als würden das Kribbeln und das türkisblaue Licht Energie aus mir saugen. Ich ließ mich auf einen der Stühle sinken.

»Hey.« Samuel musterte mich besorgt. »Alles okay mit dir? Tut mir leid wegen Brutus, er freut sich immer wie verrückt, wenn jemand kommt.«

Ich blickte zu Brutus, der verschüchtert hinter den Umzugskartons hervorlugte. Obwohl er so groß war, sah er wirklich wie ein Welpe aus, mit riesigen Augen, babyweichem weißen Fell und viel zu großen Pfoten. Er winselte leise.

»Du kannst ihn streicheln, das mag er.«

»Vielleicht ein andermal«, sagte ich schnell.

Welpe hin oder her. Brutus war ein riesiger Hund, und mit ihm in einem Raum zu sein, war beunruhigend genug.

Samuel stellte Teller auf den Tisch und schnitt zwei krumme, ziemlich große Stücke aus dem Apfelkuchen heraus.

»Gabeln gibt’s gerade keine.« Er wies mit dem Kopf auf die noch nicht ausgepackten Kartons. Dann nahm er sein Kuchenstück in die Hand und schob es in den Mund. »Hmm!«, brummte er. »Das­ischköslich!«

Ich starrte auf meinen Teller. Seltsame Dinge geschahen. Wenn ich etwas ganz arg wollte oder ganz doll nicht wollte, begannen meine Füße zu kribbeln und alles wurde türkisblau und dann …

»Wie heißt du?«, fragte Samuel.

Ich blickte auf. »Aurelia.«

»Die Goldene.«

Samuel schnitt sich ein zweites Stück Kuchen ab.

»Die Goldene?«, echote ich.

»Das ist lateinisch, außerdem gibt es noch eine Qualle und einen Asteroiden, die Aurelia heißen.«

»Woher …?«

»Ich habe den Großen Brockhaus, dreißig Bände. Hat mir Opa geschenkt, als er zu meiner Tante gezogen ist und nicht alles mitnehmen konnte.«

Ich sah ihn fragend an.

»Das ist ein Lexikon!«

»Und du liest das einfach so durch?«

»Yep.« Er nahm sich ein drittes Stück Apfelkuchen. »Es ist wichtig, den Dingen auf den Grund zu gehen. Ich bin jetzt bei E. Gut, dass du nicht Frieda heißt.«

Ich nickte. Frieda war ein wirklich öder Name.

»Wohnst du hier in der Nähe?«, fragte Samuel.

»Bei meiner Oma und meiner Tante nebenan. In Nummer vierzehn. Der Kuchen ist von meiner Oma, ein Willkommensgeschenk zum Einzug.« Leider war für Samuels Eltern nur ein kleiner Teil übriggeblieben.

Ich zeigte auf die Einladung und sagte: »Diesen Sonntag ist unser Parkfest. Es wäre toll, wenn ihr kommen würdet. Oma und Tante Ottilie helfen jedes Jahr bei der Organisation und dann trifft sich das ganze Viertel.«

»Super! Sag ihnen vielen Dank!« Er grinste irgendwie niedlich. »Warum wohnst du bei deiner Oma? Bist du zu Besuch?«

Ich schüttelte den Kopf. »Meine Mutter ist gestorben, als ich noch ein Baby war.« Ich hatte keine Erinnerung an meine Mutter und es machte mich auch nicht traurig, das zu sagen. Oma und Tante Ottilie waren meine Familie.

Samuel rieb sich nachdenklich über die Stirn. »Und wo steckt dein Vater?«

»Keine Ahnung«, sagte ich leise. Ich wusste nichts über ihn, nicht einmal seinen Namen. Oma und Tante Ottilie wussten es auch nicht. Mama hatte ihnen nie ein Sterbenswörtchen verraten.

Ein Mann mit roten Haaren, die an den Schläfen schon leicht grau waren, und Augen so blau wie Samuels betrat die Küche.

»Oh! Besuch, wie nett.« Samuels Vater gab mir die Hand.

»Das ist Aurelia«, stellte Samuel mich vor. »Sie wohnt nebenan. Das ist mein Vater Stefan.«

Die Tür öffnete sich nochmals und ein Mann mit dunklen Augen und schwarzen kurzen Haaren kam herein. »Oh, Besuch!« Auch er streckte mir die Hand entgegen. »Akio Danhoff. Samuels anderer Papa.«

Ich blinzelte überrascht. Samuel hatte zwei Väter? Davon hatte ich schon gehört, aber bis eben kannte ich niemanden, bei dem das so war.

»Akio ist ein japanischer Name«, erklärte mir Samuel, »seine Mut­ter ist Japanerin.« Dann deutete er auf mich. »Das ist Aurelia, und ihre Oma hat Kuchen für uns gebacken.«

»Das ist ja wunderbar.«

Akio lächelte.

Stefan legte Samuel die Hand auf die Schulter.

»Wir müssen leider noch mal rüber ins Büro. Es gibt ein Pro­blem mit dem Computer.«

»Okay.«

Akio öffnete die Tür.

»War nett, dich kennenzulernen, Aurelia.«

Stefan sagte: »Bis bald!«

Dann waren wir wieder allein.

»Sie haben ein Maklerbüro übernommen«, erklärte Samuel. »Du weißt schon, sie helfen Leuten, die ihre Häuser verkaufen oder vermieten wollen.«

Ich nickte. Ich wusste, was ein Makler war.

Samuel sah mich irgendwie forschend an.

»Sie sind sehr nett«, sagte ich schnell.

»Aber ständig unterwegs.« Samuel legte den Kopf ein wenig schief, was ziemlich süß aussah. »Sind wir die erste Regenbogenfamilie, die du kennenlernst?«

»Regenbogenfamilie?«

»So nennt man Familien, die ein wenig anders sind. So wie meine mit zwei Vätern.«

»Das ist ein wirklich cooler Name.« Ich lächelte. »Und ja, ich schätze, ihr seid die ersten, die ich kennenlerne.«

Samuel lächelte breit zurück.

Ich stand auf. Nachdem ich den Apfelkuchen gegessen hatte, waren meine Kräfte zurückgekehrt.

»Dann gehe ich mal.« Ich musste dringend nachdenken.

Samuel brachte mich zur Tür.

»Man sieht sich. Und noch mal danke für den leckeren Kuchen!«

Oma und Tante Ottilie saßen im Wohnzimmer und hörten sich eine Oper an. Ich winkte ihnen kurz, damit sie wussten, dass ich wieder da war. Dann ging ich in mein Zimmer. Ich warf mich aufs Bett und grübelte über die Ereignisse des heutigen Tages nach. Was geschah da mit mir? Und vor allem: Gab es einen Zusammenhang zwischen dem Kribbeln, dem türkisblauen Licht und dem, was dann passiert war? Denn dass Karl mich als Erste in seine Mannschaft gewählt hatte und Brutus mitten im Sprung zurückzuckte, war schon reichlich merkwürdig gewesen.

Allerdings konnte es gut sein, dass Brutus sich tatsächlich erschreckt hatte, als mir die Kuchenplatte aus der Hand gefallen war. Schließlich hatte es laut gescheppert, das konnte einem jungen Hund schon Angst machen.

Blieb noch Karl. Das ließ sich nicht so leicht erklären. Ob er wirklich in mich verliebt war? Hätte ich das nicht merken müssen?

Die Rückkehr der Ameisen

oder: Wie Samuel in meine Klasse kam

Es dauerte nicht lange, bis die Ameisen wieder zuschlugen. Am nächsten Morgen, wir hatten gerade Mathe, klopfte es und die Direktorin schob Samuel herein. Er sah sich schüchtern um.

»Das ist euer neuer Mitschüler, Samuel Danhoff. Er kommt aus Norddeutschland.«

Auch die Direktorin war neu an unserer Schule. Mit ihr hatten nach den Sommerferien einige junge Lehrer angefangen, weil so viele in Pension gegangen waren. Das war richtig cool. Herr Preisel, unser Sportlehrer, konnte sogar Saltos schlagen. Zum Glück hatte ich ihn und nicht seinen Vorgänger, den alten Herrn Pattenberg, bei meiner Volleyballattacke getroffen, denn vielleicht hätte der das gar nicht überlebt.

Als Samuel mich entdeckte, lächelte er. Plötzlich war mir ein klein wenig wie im letzten Winter, als ich an Omas Glühwein genippt hatte. Mir wurde ganz warm im Bauch und mein Kopf fühlte sich für einen Moment schwerelos an.

»Willkommen in der 5d«, sagte unser Mathelehrer Herr Stöckel.

»5d?«, wiederholte die Direktorin. Eine Falte grub sich zwischen ihre Augenbrauen. »Ist hier nicht die 5a?«

In diesem Moment wurden mir zwei Dinge klar: Erstens, dass es keine so gute Idee gewesen war, das Türschild mit Kartoffeldruck zu gestalten, und zweitens, dass die Direktorin Samuel gleich wieder mitnehmen würde.

Gerade, als ich das dachte, kribbelte es in meinen Füßen. Das fahle Morgenlicht wurde türkisblau.

»Nein, Frau Beier«, sagte Herr Stöckel, »hier ist die 5d, die 5a ist ganz am Ende des Flurs auf der anderen Seite.«

»Oh.« Die Direktorin schaute betrübt zu Samuel.

Das Kribbeln war jetzt ziemlich heftig. Das Klassenzimmer leuch­tete, als würde es von hundert blauen Glühbirnen erhellt. Frau Beier sah sich nachdenklich um. Einen Augenblick lang dachte ich, sie hätte das eigenartige Licht bemerkt.

»Wenn ich es so recht bedenke«, sagte sie, »könnt ihr einen Jungen aber gut gebrauchen.«

»Auf jeden Fall«, stimmte ihr Herr Stöckel zu, »hier gibt es einen ziemlichen Mädchenüberschuss!«

In unserer Klasse waren 14 Mädchen und 13 Jungs. Ich hätte das nicht als ziemlichen Mädchenüberschuss bezeichnet, aber ich war schließlich kein Mathelehrer.

»Dann bleibst du einfach hier!«, verkündete Frau Beier. Sie nickte in Samuels Richtung und eilte mit federnden Schritten zur Tür.

Ich wartete darauf, dass das Kribbeln und das türkisblaue Licht verschwanden, aber sie blieben.

»Gut, Samuel«, sagte Herr Stöckel, »dann müssen wir uns nur noch überlegen, wo wir dich hinsetzen.«

In der ersten Reihe war noch ein Pult frei. Samuel wollte schon darauf zusteuern, aber Herr Stöckel schüttelte den Kopf. Er deutete auf den Platz neben mir, wo Karl gerade einen Kaugummi unter die Tischplatte klebte.

»Karl, ab in die erste Reihe, da kann ich ein Auge auf dich haben! Samuel, du setzt dich in die dritte Reihe auf Karls alten Platz.«

Das Blaulichtkribbeln verschwand, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Ich fühlte mich so schwach, dass ich einen Moment die Augen schließen musste.

»Aurelia«, sagte Samuel da leise zu mir, »das war ganz schön knapp. Fast hätte sie mich wieder mitgenommen.«

In meinem Kopf sausten die Gedanken umher wie die Kugel in einem Flipperkasten. Es war erneut passiert! Wieder hatten meine Füße gekribbelt und das türkisfarbene Licht war erschienen. Dann war ein Wunsch in Erfüllung gegangen. Eigentlich sogar zwei. Denn Samuel war jetzt nicht nur in meiner Klasse, er saß auch neben mir. Sicher schnipste er kein Bonbonpapier in meine Richtung oder klebte eklige Kaugummis unter die Tischplatte. Ich wagte einen Blick zur Seite. Samuel packte gerade seine Mathe­sachen auf den Tisch. Als er bemerkte, dass ich ihn ansah, zwinkerte er mir mit seinen tollen blauen Augen zu.

»Schlagt bitte Seite 70 auf!«, sagte Herr Stöckel, aber ich war viel zu sehr damit beschäftigt, darüber nachzudenken, warum all diese Dinge plötzlich passierten.

War das vielleicht Magie? Nein, versuchte ich mich zu beruhi­gen. Das konnte nicht sein. Schließlich wusste jeder, dass es Zauberei nur in Fantasyromanen und Kinofilmen gab. Dennoch hatte ich mir weder das Kribbeln noch das Licht eingebildet. Und warum konnte ich mir plötzlich Dinge wünschen?

Was, wenn es doch Magie gab? Besaß ich vielleicht, ohne es zu wissen, einen magischen Gegenstand? Die letzten neuen Sachen hatte ich allerdings schon vor zwei Monaten zu meinem Geburtstag bekommen. Einen riesi­gen Stapel Bücher – und die waren weder alt noch geheimnisvoll gewesen, sondern brandneu und eingeschweißt. Da ich mir auch kein Amulett oder einen Ring mit einem glitzernden Stein in irgend­einem mysteriösen Laden besorgt hatte, war das mit dem magischen Gegenstand eher unwahrscheinlich.

Vielleicht hatte mich ja jemand verzaubert? Aber wer und warum? Plötzlich kam mir eine andere Idee: Was, wenn ich diese Fähigkeit geerbt hatte? Ich musste unbedingt Oma nach der Schule über Mama ausfragen! Meinen Vater kannte sie ja leider nicht.

»Aurelia!, ertönte die Stimme von Herrn Stöckel. »Welchen Winkel hast du gemessen?«

Ich blickte auf mein leeres Blatt und das Geodreieck. Winkel wovon?

»75«, sagte da Samuel leise, und als ich es wiederholte, lächelte Herr Stöckel. »Ganz ausgezeichnet, Aurelia!«

Beim Mittagessen fragte ich Oma beiläufig: »Was war eigentlich das Lieblingsessen meiner Mutter?«

»Apfelpfannkuchen«, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen.

»Und ihr Lieblingsnachtisch war Vanilleeis mit heißen Himbeeren«, ergänzte Tante Ottilie.

Natürlich wusste ich das schon, aber so wirkte meine nächste Frage unauffälliger. »Habt ihr das oft gegessen? Früher, meine ich?«

Schließlich konnte das ein Anzeichen dafür gewesen sein, dass sich Mama erfolgreich etwas gewünscht hatte.

Die beiden nickten.

»Und was aß sie nicht so gerne?«

»Fisch mochte sie nicht, das gab jedes Mal Gemecker.«

»Ihr habt Fisch gekocht, obwohl sie den nicht mochte?«

»Natürlich«, antwortete Oma, »jeden Freitag. Man kann sich ja nicht nur von Apfelpfannkuchen ernähren!«

»Und ihr habt für sie nicht etwas anderes gemacht?«, fragte ich zur Sicherheit nach.

Oma schüttelte den Kopf. »Dein Opa war da sehr streng.«

Ich stocherte missmutig in meinen Bohnen. Das klang nicht so, als hätte Mama die Kribbelblaulichtgabe besessen. Und auf meinen Vater musste ich das Gespräch gar nicht erst bringen. Oma und Tante Ottilie wussten rein gar nichts über ihn.

Eigentlich war damit meine Frage beantwortet, aber ich fragte trotzdem: »Oma, kennst du das, wenn die Füße plötzlich so kribbeln?«

Oma nickte. »Das sind Durchblutungsstörungen, Liebes. Vielleicht solltest du doch mehr Sport treiben!«

Nach dem Essen setzte ich mich an den Küchentisch und machte meine Hausaufgaben. Zumindest versuchte ich es. Immer wieder musste ich daran denken, was in der Schule passiert war und dass die einzige Person, die mir weiterhelfen konnte, vermutlich mein unbekannter Vater war. Als es an der Haustür klingelte, sprang ich auf. Wahrscheinlich war es nur der Apothekenbote, der Hühneraugenpflaster oder Brennnesseltee für Tante Ottilie brachte, aber ich hatte ohnehin keine Lust mehr, weiter über Geometrie zu brüten.

»Aurelia!« Samuel lächelte mich an. Meine Laune wurde schlagartig besser. »Kommst du mit, Brutus ausführen?«

Jetzt erst sah ich, dass sich der weiße Hund hinter ihm versteckte. Am liebsten wäre ich einen großen Schritt zurückgetreten, aber ich riss mich zusammen. Schließlich wollte ich nicht, dass Samuel mich für einen Feigling hielt.

»Klar.«

Zum Glück schien Brutus auch Angst vor mir zu haben. Er würde hoffentlich gar nicht nah genug an mich herankommen, um

beißen zu können. Rasch ging ich die paar Schritte zur Wohnzimmertür.

»Ich führe mit Samuel von nebenan seinen Hund aus«, rief ich, damit Oma und Tante Ottilie Bescheid wussten. Dann schlüpfte ich hastig in meine Sneakers, war aber nicht schnell genug. Oma erschien neugierig in der Diele. Sie wuss­te natürlich, dass ich vor Hunden Angst hatte.

»Ich bin Annemarie Schmidt, Aure­lias Oma«, stellte sie sich vor und drückte Samuels Hand. Nach dessen Gesichtsausdruck zu schließen, ziemlich fest.

»Ihr Kuchen war fantastisch«, presste Samuel hervor. »Vielen Dank, das war die Rettung.«

Oma lächelte zufrieden.

»Meine Väter hatten ganz vergessen, dass man bei einem Umzug auch mal etwas essen muss.«

Als Samuel »Väter« sagte, schaute Oma kein bisschen verwundert. Ich hatte ihr und Tante Ottilie erzählt, dass neben uns jetzt eine Regenbogenfamilie wohnte.

Brutus schielte seitlich an Samuel vorbei und betrachtete mich nervös.

»Gute Idee mit dem Spaziergang«, sagte Oma. »Das hilft bestimmt gegen das Kribbeln in den Füßen. Und ich backe jetzt einen Kirschkuchen für später. Mit extra viel Streusel.«

Samuel leckte sich die Lippen.

»Danke, dass du mitkommst«, sagte er, als wir auf dem Gehweg standen. »Ich dachte, du könntest mir vielleicht ein bisschen die Gegend zeigen.«

Ich nickte. »Wenn du die Straße ein paar Minuten weitergehst, kommst du in den Wald.«

Es gab auch einen Hundespielplatz in der entgegengesetzten Richtung, aber da wollte ich bestimmt nicht hin. Wir setzten uns in Bewegung.

»Ich glaube, Brutus hat Angst vor dir.« Samuel deutete auf seinen Hund, der so weit entfernt von mir lief, wie es seine Leine zuließ.

Ich zuckte mit den Schultern.

»Vielleicht denkt er, dass ich gleich wieder etwas auf den Boden werfe und einen Heidenlärm mache.«

»Ich hatte eigentlich gehofft, dass er ein schlauer Hund ist.«

Samuel runzelte die Stirn.

Ich nickte, auch wenn ich Brutus für ziemlich clever hielt. Er hatte begriffen, dass ich ihn jederzeit aufhalten konnte. Meine Gabe war schon ziemlich cool.

»Was war das vorhin mit den kribbelnden Füßen?«, fragte Samuel.

Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. »Meine Füße kribbeln in letzter Zeit ziemlich oft und Oma meint, ich soll mehr Sport machen.«

»Hast du Lust, nachher auf unserem Rasen Fußball zu spielen?«

»Ich bin nicht besonders gut im Kicken«, gab ich zu.

»Macht nichts, ich zeig’s dir. Unser Rasen ist nämlich das Beste am Haus. Papa Akio sagt, genau so einen Rasen brauchen wir. Er kickt nämlich auch gern. Wenn er Zeit hat.«

»Oma und Tante Ottilie spielen am liebsten Brettspiele, Hauptsache, man kann gemütlich dabei sitzen.«

Samuel lachte. »Ich mag Brettspiele auch.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Verlag Monika Fuchs
Bildmaterialien: Verlag Monika Fuchs
Cover: Verlag Monika Fuchs
Lektorat: Anke Höhl-Kayser
Satz: Die Bücherfüxin
Tag der Veröffentlichung: 24.11.2023
ISBN: 978-3-7554-6197-5

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