Was du nicht erwartest
Jan Cole
www.verlag-monikafuchs.de | www.jancole.de
auch als Print erhältlich: ISBN 978-3-947066-47-6
Covergestaltung: Liv K. Schlett | Hildesheim
Bilder Cover: Nik: @StockSnap (Pixabay) | Hintergrund: @NoName (pexels) | Silhouetten Berlin und Frankfurt: @HS-Photos (depositphotos)
Kapitelvignetten: Freya Petersen | Hildesheim
Layout und Satz: Die Bücherfüxin | www.buecherfuexin.de | Hildesheim
© 2022 Verlag Monika Fuchs | Hildesheim
Alle Rechte vorbehalten.
Diese Geschichte beinhaltet Themen, die triggern können, beachtet ggf. die folgenden Hinweise:
Mai steckt tief in ihrer Essstörung, ihre Gedanken und Handlungen gestalten sich entsprechend. Während ihrer stationären Behandlungen erlebt sie Zwangsmaßnahmen.
Das Buch enthält außerdem die Erwähnung von Suizid sowie Festnahmen durch die Polizei.
Passt auf euch auf!
Inhalt
Vorwort
Nik
Mai
Nik
Mai
Nik
Mai
Nik
Mai
Nik
Mai
Nik
Mai
Nik
Mai
Nik
Mai
Nik
Mai
Nik
Mai
Nik
Mai
Nik
Mai
Nik
Mai
Nik
Mai
Nik
Nik
Nik
Nachwort
Nachwort zur Verlagsausgabe
Der Autor
Vorwort
Nik
Liebe Leserin, lieber Leser,
in deinem Mango-Saft ist Maracuja und dein Schafskäse kommt von der Kuh. Die regionalen Tomaten, die du gestern im Eckladen gekauft hast, sind tatsächlich aus der Region — wenn du zufällig in Spanien lebst. Und deine Lederjacke ist kunststoffbeschichtetes Vlies.
Du hast also schon viel durchgemacht, was Etikettenschwindel angeht, und es tut mir außerordentlich leid, dir mitzuteilen, dass du gerade wieder hereingefallen bist.
Das hier ist nicht das Buch, das du haben wolltest. Also … nicht wirklich. Wenn du wissen möchtest, warum, dann kannst du weiterlesen. Aber eigentlich ist dieses Buch nur für einen einzigen Menschen bestimmt.
Wenn du das hier liest und
… dann ist dieses Buch für dich.
Schreib mir doch einfach eine Mail an:
nik.alvarez@protonmail.com
Ich habe dir einen Namen gegeben, Stella, das heißt Stern. Natürlich weiß ich, dass die Wahrscheinlichkeit, dass du tatsächlich so heißt, verschwindend gering ist, aber Dinge ohne Namen verwirren mich. Und dich nur »das Mädchen« zu nennen oder »die junge Frau«, ist mir zu unpräzise. Ich hätte dich ja angesprochen, aber … ich konnte nicht. Das heißt, sprechen kann ich schon, aber nicht mit Menschen. Zumindest nicht so gut. Siehst du, da fängt es schon an, jetzt findest du mich bestimmt komisch. Hab ich ja toll hingekriegt.
Nik
Berlin
Ich denke, ich sollte die Geschichte von vorne erzählen, doch leider weiß ich nicht genau, wo der Anfang eigentlich liegt. Soll ich am Morgen des 11. April beginnen oder an dem Tag, als ich auf diese spezielle Schule wechselte, zu der ich mit der S-Bahn fahren muss? Denn wenn ich das nicht getan hätte, wäre ich Stella neunhundertzweiundvierzig Tage später nicht begegnet. Überhaupt, eigentlich müsste ich ja mit meiner Geburt beginnen oder sogar mit dem Beginn des Universums. Aber ich glaube nicht, dass ich jetzt über den Urknall referieren sollte, wenn man das einfach irgendwo nachlesen kann.
Doch wenn ich so daran denke, glaube ich, dass ich doch kosmologisch anfangen sollte. Und zwar beim Eintritt eines neuen Sterns in mein Sonnensystem. Stella.
Bahnhöfe sind mir suspekt, der Grund liegt auf der Hand. Menschen. Wenn es nur Züge, Straßen- und U-Bahnen gäbe, dann wäre die Atmosphäre sehr viel überschaubarer, doch Verkehrsmittel sind nicht zum Selbstzweck erfunden worden.
Der Schulweg ist immer der anstrengendste Teil meines Tages. Es fängt morgens an, wenn ich aus dem Haus gehe. Meine Mutter winkt mir jedes Mal hinterher, einen Abschiedskuss gibt sie mir nie, das hat sie sich schon sehr früh abgewöhnt. Es ist nicht so, dass ich sie nicht liebe, denn das tue ich, obwohl ich nicht weiß, wie das überhaupt geht, schließlich kann man den Begriff sehr vielfältig definieren, aber berühren soll mich möglichst niemand.
Ich muss dreihundert Schritte zur Haltestelle gehen, wo meistens noch andere Leute stehen und warten. Ich hasse das, weil es mich ablenkt. Ich muss schließlich die Sekunden runterzählen, bis die Bahn kommt, damit ich die richtige nehme. Natürlich wäre es kein Problem, sie zu verpassen, denn fünf Minuten später fährt noch eine und nach zehn Minuten die nächste. Aber dann hätte ich beim Umsteigen etwas weniger Zeit und müsste mich beeilen, was in der Regel zu größeren Schritten führt, das würde wiederum ihre Anzahl verringern und dann wäre ich so verwirrt, dass ich an dem Tag wahrscheinlich gar nicht mehr in der Schule ankommen würde. Meine Mutter kennt das schon, mehr als einmal musste sie meinen Schulweg absuchen, um mich irgendwo entlang der Strecke auf dem Boden kauernd zu finden, weil ich einfach nicht weitergehen konnte.
Aber an diesem Donnerstag geht alles glatt. Ich habe wie immer meine große Wollmütze auf, die meine Sicht und mein Gehör beeinträchtigt und mir so hilft, mich zu konzentrieren. Trotzdem bin ich erleichtert, als ich das Klassenzimmer betrete, weil dann einfach viel weniger Variablen auf mich einwirken können. Keine hupenden Autos und vor allem nicht so viele Leute, die telefonieren oder deren Absätze auf den Boden donnern. Manchmal habe ich das Gefühl, durchzudrehen, weil es so viele Leute gibt. Wenn die alle so viel denken wie ich, dann müssten wir in unseren Denkblasen ersticken.
Der Lehrer begrüßt mich, indem er eine Hand hebt und lächelt. Ich nicke ihm zu, dann gehe ich zu meinem Tisch an der Wand, möglichst weit weg vom Fenster, und warte auf die anderen. Wir sind nur zu fünft in unserer Klasse, denn es ist eine Schule für Menschen, die mehr Unterstützung brauchen als andere.
Die Namen von meinen Mitschülern konnte ich mir lange nicht merken und habe extra eine Fotokartei angelegt. Jetzt weiß ich, dass die Große mit den trüben Augen, die nichts sehen kann, Emanuela ist; der im elektrischen Rollstuhl ist Bernd und im Mechanischen sitzt Franzi. Dann gibt es noch Thomas, der immer einen Sturzhelm tragen muss, weil er manchmal umfällt, und Alex, der Autist ist wie ich.
In der Zeit, bis alle eintreffen, lege ich meine Stifte in der üblichen Reihenfolge auf den Tisch. Auf dem Tisch von Thomas vor mir liegen sie immer völlig durcheinander und ich muss mich zusammenreißen, ihn nicht darauf hinzuweisen, denn einmal hat er sich daraufhin umgedreht und gebrüllt:
»Ist mir scheißegal, Alter!«
Und er hat dabei mit der Faust auf meinen Tisch gehauen, sodass alle meine Sachen verrutscht sind und ich von vorne sortieren musste. Der Lehrer hat dann gesagt, dass jeder auf sich selbst achten und die anderen respektieren soll.
Den Unterricht an sich mag ich ganz gerne, vor allem das, was mit Mathe, Physik, Erdkunde, Geschichte, Deutsch und Biologie zu tun hat, also eigentlich fast alles. Diesen Donnerstag machen wir Mathe, was vor allem die Mädchen nicht mögen. Ich frage mich, ob alle Mädchen Mathe nicht mögen oder ob das nur in unserer Klasse so ist, schließlich gibt es ja auch Frauen wie zum Beispiel Ada Lovelace, die erste Programmiererin der Welt.
Geometrie kann ich gut. Da ist alles ganz klar.
In der Pause ist alles schon weniger klar, denn da gibt es keine Regeln. Jeder kann tun, was er will, lesen oder reden oder etwas spielen oder sein Pausenbrot essen, aber weil ich Regeln und Anweisungen gerne mag, hab ich mir für die Pause einfach meine eigenen gemacht: Ich esse erst mein Brot, dann gehe ich auf die Toilette und dann setze ich mich wieder auf meinen Platz und schreibe an meiner unendlichen Liste. Auf diese Liste schreibe ich seit ein paar Jahren alle Wörter, die mir einfallen, es darf nur keins doppelt vorkommen. Bis jetzt habe ich das auch hingekriegt, denn obwohl ich die ersten vierunddreißig Seiten verloren habe, sind die Wörter sowieso in meinem Kopf und ich schreibe sie nur auf, damit ich sehen kann, wie ich vorankomme.
An diesem Tag schaffe ich nur vier Wörter, bevor der Lehrer wiederkommt, denn er ist zu früh. Trotzdem fangen wir gleich wieder an und machen mit Erdkunde weiter. Ich erschrecke mich, als Thomas vom Stuhl fällt und zuckt, obwohl er das fast jeden Tag tut. Das Schlimme ist nur, dass ich nicht genau weiß, wann.
Zum Glück beendet der Lehrer den Unterricht pünktlich, sodass ich mich ohne Abweichungen auf den Heimweg machen kann. Aber dann kommt sie, die absolute Abweichung. Ganz genau kann ich nicht sagen, was an ihr mich so anzieht. Vielleicht die Art, wie sie die Seiten umblättert. Vielleicht die Art, wie sie die Füße unter der Bank verknotet hat. Vielleicht auch, wie konzentriert sie ist oder wie leuchtend und kräftig ihr Haar. Ich wundere mich, dass ich sie anstarre, eigentlich sind mir Menschen im besten Fall egal und im schlimmsten absolut unheimlich. Und ich gebe mir größte Mühe, Kontakt zu vermeiden, denn es ist einfach zu unberechenbar, was dann passiert. Doch jetzt wünsche ich mir, sie würde mich anschauen, mit ihren Augen, mit den Gedanken dahinter, die ich nicht lesen kann, ich wünschte, sie würde mich ansprechen, mit ihrer Stimme, die hell oder dunkel sein könnte, und Wörtern, die wer weiß wie betont und zu laut oder zu leise, zu schnell oder zu langsam gesprochen sein könnten. Ich vergesse, meine Schritte zu zählen, weil ich sie ansehe. Eigentlich ist sie nichts Besonderes, denke ich, und dennoch bringt sie mich aus dem Takt. Eine Bahn kommt, sie steigt ein und ist weg.
Ich stehe völlig falsch, viel zu weit rechts, aber ich merke es erst, als meine Bahn kommt und ich erst als Vierter einsteigen kann. Mein Lieblingsplatz im Abteil hinten rechts ist besetzt und ich muss links sitzen. Alles ist völlig verkehrt. Was hat dieses Mädchen nur mit mir gemacht? Ich muss an Pheromone denken, an Duftlockstoffe. Mein Kopf tut weh und ich hole die unendliche Liste heraus, um mich zu beruhigen. In Gedanken gehe ich die Wörter durch. Mädchen, Frau, Venus, Weiblichkeit, Ehefrau, Frauenzimmer, Lady, Pute, Freundin und Weib habe ich schon. Ich überlege. Vagina, schreibe ich. Ästhetik. Verlangen. Gunst. Interaktion.
»Hallo Nik«, sagt meine Mutter, als sie mir die Tür öffnet. Sie ist immer da, wenn ich am Nachmittag nach Hause komme, weil sie als freie Buchhalterin von Zuhause arbeitet. Früher, in ihrem alten Bürojob, hat sie wegen mir zu oft gefehlt.
»Wie war es in der Schule?«
Ich zucke die Schultern, gehe an ihr vorbei und den Flur entlang.
»Es gibt gleich Essen«, ruft sie mir hinterher, aber ich antworte nicht und gehe direkt in mein Zimmer, wo ich meinen Rucksack auf seinen Platz auf der Kommode lege und meinen Laptop hochfahre. Ich bin merkwürdig aufgeregt, als ich den Keyfile-Stick, den ich immer in der Hosentasche bei mir trage, in den USB-Port stecke, mich einlogge und den Browser starte. Mit den Füßen drehe ich den Stuhl, auf dem ich sitze, von einer Seite zur anderen. Ich öffne die Suchmaschine und tippe zwei Wörter ein.
»Nicht« und »Willst«.
Mehr als diese beiden Wörter vom Titel des Buches, das Stella an der S-Bahnhaltestelle gelesen hat, waren für mich nicht lesbar gewesen. Ansonsten weiß ich nur, dass zwei Personen mit Kapuzen auf dem Cover gewesen sind.
»Roman«, füge ich noch hinzu, dann tippe ich auf Enter und wühle mich durch die Datenüberschwemmung.
Ich höre, wie meine Mutter wieder ruft, aber da bin ich gerade auf die Website eines Autors namens Jan Cole gelangt, der ein Buch mit dem Titel »Act Sor — Was Du Nicht Willst« geschrieben hat. Es handelt sich um den zweiten Band einer Trilogie, der dritte Band soll noch in diesem Sommer erscheinen, auf dem Cover ist unten eine Großstadt abgebildet und darüber zwei Personen, beide mit Kapuzen.
»Nik, warum machst du es mir so schwer?«
Im Türrahmen steht meine Mutter, die Hände in die Seiten gestützt. Ich sehe sie an und weiß nicht, was ich falsch gemacht habe.
»Komm einfach zum Essen, ja?«
»Okay«, sage ich, und sie dreht sich um und geht.
Ich lege meine Suchergebnisse in einem Textdokument an. Dann schreibe ich alles dazu, was ich über die Unbekannte an der Haltestelle weiß, und speichere die Datei unter dem Namen »Stella«. Fünfzehn Minuten sind vergangen und ich gehe zu meiner Mutter in die Küche, wo es nach Käse und Bratfett riecht.
»Ist ja ganz kalt«, sage ich, als ich in mein Arepa de Queso beiße. Meine Mutter lacht, aber es ist nicht ihr lustiges Lachen, sondern ein anderes, schrilles. Als wäre sie in Wahrheit sauer, aber sicher bin ich mir dabei nicht.
»Hast du schon angefangen zu packen?«, fragt sie.
Ich schüttle den Kopf und starre auf einen Punkt in der Mitte vom Tisch.
Meine Mutter will, dass ich nächsten Montag für ein paar Wochen in eine Klinik gehe, damit sie und ich wieder ein besseres Team werden. Dabei komme ich gut mit ihr zurecht, nur sie anscheinend nicht mit mir. Und ich verstehe nicht, warum ich in eine Klinik muss, weil sie nicht mit mir klarkommt.
Jetzt lacht meine Mutter nicht mehr, sondern seufzt. Schweigend essen wir weiter.
Als die Mahlzeit beendet ist, gehe ich wieder in mein Zimmer. Ich mache meine Hausaufgaben, aber ich kann mich nicht konzentrieren, weil ich die ganze Zeit an Stella denken muss. Manchmal öffne ich das Dokument und lese alles durch. Dann denke ich daran, wie sie da saß, mit ihrem Buch und ihrem Gesicht, und ob ich verliebt bin, und wenn ja, warum, und wenn nein, warum nicht. Was ist verliebt sein genau? Ich google es, aber die Antworten, die ich finde, sind nicht sehr sachlich. Schmetterlinge im Bauch? Was für ein Unsinn, wie sollen die da reinkommen und es schaffen, nicht von der Magensäure zersetzt zu werden?
Weiche Knie, Herzklopfen. Wie findet man raus, ob man verliebt ist oder einfach nur krank wird?
Ich drehe mich in meinem Schreibtischstuhl eine Runde nach rechts und eine nach links. Dann weiß ich es. Ich muss Stella wiedersehen und ein genaues Protokoll über meine Gefühle erstellen. Ein Experiment machen.
Ich klicke auf meinen Internetverlauf und schreibe mir alle Dinge heraus, die Leute als Symptom für Liebe genannt haben.
Schmetterlinge im Bauch.
Nur noch an diese Person denken.
Herzklopfen.
Sich wünschen, immer mit der Person zusammen zu sein.
Die ganze Zeit lächeln.
Weiche Knie.
Kribbeln in der Hose.
Überdreht sein.
Daneben setze ich eine Skala von 1 gar nicht bis 10 stark. Ich drucke die Liste in zweifacher Ausführung aus und lege sie in eine Mappe, dann räume ich meinen Schulrucksack aus, Bücher, Mäppchen, Geldbeutel, Brotdose, Trinken, alles an seinen Platz. Mein Kopf rattert durch meine Freizeitoptionen, ich könnte meine Leseliste abarbeiten, Podcasts hören, Programmieren oder einen Film schauen. Aber nichts fühlt sich richtig an, mein Inneres scheint förmlich zu jucken. Wahrscheinlich wird Stella nicht vor morgen früh wieder an der S-Bahnhaltestelle auftauchen. Wenn überhaupt, vielleicht ist das gar nicht ihr Schulweg. Aber ich muss wissen, ob ich verliebt bin, ich brauche Ergebnisse. Jetzt.
Ich nehme meine Schultasche wieder zur Hand und lege die Mappe mit dem Beobachtungsbogen hinein, außerdem zwei Kugelschreiber. Mein Handy stecke ich auch ein, aber ausgeschaltet, damit es nicht zum Störfaktor wird. Dann gehe ich in den Flur, ziehe leise Schuhe und Jacke an und verlasse das Haus.
Ich laufe die Schritte zur nächsten S-Bahnhaltestelle, dazu muss ich über eine Brücke gehen, die über die Gleise führt, und dann zwei Treppenabsätze nach unten auf den Bahnsteig. Die 41, die ich nehmen will, fährt in fünf Minuten, und weil ich keine Extraschritte zur Bank machen will, bleibe ich stehen.
Es ist zu laut, als die Bahn einfährt. Ich steige ein und habe Glück, mein Lieblingsplatz ist frei, also ist alles wie immer, außer, dass ich gar nicht zur Schule will.
An der Haltestelle, wo ich Stella gesehen habe, steige ich aus. Ich gehe den Bahnsteig entlang, um mir einen Überblick zu verschaffen, aber es ist unmöglich, eine Stelle zu finden, an der ich alles im Blick haben kann. An beiden Enden gibt es Treppen, die nach unten führen, und dazwischen versperren Fahrkarten- und Snackautomaten die Sicht. Und natürlich die Menschen, die an den Stahlsäulen der Dachkonstruktion lehnen oder einfach im Weg rumstehen. Nachdem ich ein paar Mal hin und hergelaufen bin, setze ich mich genau dorthin, wo Stella am Mittag auch gesessen hat, auf einen der Gitterstühle direkt unter dem blauweißen Schild, auf dem »Landsberger Allee« steht.
Eine Bahn fährt ein, zischt und öffnet die Türen. Ich lege den Kopf in den Nacken, starre die gläserne Überdachung an, deren rechteckige Scheiben blind geworden sind, und lasse meine Gedanken rollen. Manchmal mag ich es, meinen Kopf nicht zu steuern, sondern nur zuzuhören. Es wird kälter. Es wird dunkler. Wenn Stella nicht bald kommt, werde ich wirklich frieren. Aber sie kommt nicht.
Es ist Abend. Wind. Meine Jacke ist nicht außerordentlich qualifiziert für diese Witterung. Ich beobachte die Leute, die vorbeilaufen. Manche gehen schnell, manche langsam, manche zu zweit oder allein, manche in Gruppen. Besonders schaue ich mir die Paare an. Ob ich erkennen würde, dass sie verliebt sind, wenn ich sie einzeln treffen würde? Manche von ihnen lächeln, einige sehen aber auch gar nicht so glücklich aus. Ich bin verwirrt, setze mich ganz nach hinten auf die Sitzfläche und stelle meine Füße auf die Kante, sodass die Knie sich an meiner Brust befinden. Wozu ist das mit dem Verlieben gut, wenn man sich doch auch ohne Gefühle fortpflanzen kann?
Es wird immer später. Ich würde mich gerne noch weiter zurücklehnen, aber ich kann es nicht.
Dann wird es etwas leerer an der Haltestelle. Menschen kommen seltener vorbei, nur ab und zu fährt eine Bahn. Meine Augen werden müde. Ich trainiere meine Muskeln, hebe mir die Hand vor das Gesicht und fixiere erst meine Finger, dann das Plakat auf der gegenüberliegenden Seite. Es fühlt sich ein bisschen an wie Achterbahnfahren, oder zumindest so, wie ich mir das vorstelle, denn ich bin noch nie Achterbahn gefahren. Meine Hände werden steif und ich ziehe meine Jackenärmel darüber. Dann stehe ich auf und gehe ein paar Schritte. Fünf rechts von den Sitzen weg, zurück zum Ausgangspunkt, fünf nach links und wieder zurück. Ich muss auf die Toilette, aber ich kann nicht weg, weil ich Stella dann verpassen könnte. Ich setze mich wieder, ziehe die Beine an und lege mein Kinn in die Mulde zwischen die Knie, wo es fast perfekt drinliegt.
Und warte.
Mai
Berlin
Meine Hände zitterten, als ich die Schnallen meiner Schultasche schloss.
»Blödes Ding!«, fauchte ich, meinte eigentlich aber mich selbst.
Vor über einer Viertelstunde hatte die Schulglocke geläutet und die ganze Klasse war aus dem Raum gestürzt. Nur Mara hatte mir kurz Tschüss gesagt, ansonsten hätte ich mich mal wieder gefragt, ob ich überhaupt existierte.
Ein paar Minuten lang hatte ich meine Sachen in die Tasche gepackt. Buch, Mäppchen, Block, Hausaufgabenheft. Und das alles so langsam, bis auch der Lehrer mit einem gemurmelten »Tschüss Maike« aus dem Klassenzimmer geflohen war.
Jetzt konnte ich mich zurücklehnen und sah aus dem Fenster. Frühling. Die Blätter der Bäume, die am Rand des Schulhofs standen, waren hellgrün und leuchteten richtig, wenn die Sonne hinter den Wolken hervorschaute. Eigentlich schön, aber nicht für mich. Die Luft war immer noch kalt und die sanften Sonnenstrahlen schafften es nicht, mich aufzuwärmen.
Ich beobachtete, wie Schüler unten auf den Hof liefen, Richtung Straße oder Fahrradständer gingen oder in Gruppen beieinanderstanden. Ein Unterstufenschüler schleuderte seinen Turnbeutel in die Luft, fing ihn wieder auf und warf dann einen anderen Jungen damit ab. Er lachte.
Ich hatte keine Lust auf die Kälte draußen und keine Lust auf den langen Heimweg. Ich lief über eine Stunde. Natürlich könnte ich den Bus nehmen, aber ich wollte gar nicht sofort nach Hause und außerdem hatte ich heute Morgen zu viel gegessen, eine ganze Banane.
Von allen Obstsorten hatte ich mir natürlich die kalorienreichste gekrallt. Typisch ich. Typisch verfressen. Und so ganz und gar nicht magersüchtig.
Sag ich ja, dachte ich, das ist einfach nur lächerlich.
Vor einem Jahr noch, da hätte ich die Psychologen wegen der Diagnose nicht ausgelacht oder zumindest nur ein bisschen. Aber jetzt, nach der Tortur in der Klinik, in der sie mich wie ein Schwein gemästet hatten? Zwar hatte ich seit der Entlassung vor drei Monaten einiges wieder abgenommen, aber ich war längst nicht wieder so schlank wie zuvor.
DÜNN, behaupteten die Ärzte. MAGER, sagten sie.
Völliger Unsinn.
Ich atmete tief aus, dann erhob ich mich und verzog das Gesicht, als die Bewegung den Schmerz an meinem Po aufflammen ließ. Die Stühle waren sehr hart, meistens schob ich meine Hände zwischen Sitzfläche und Hintern, so lange jedenfalls, bis sie entweder einschliefen oder ich etwas in mein Heft notieren musste.
Ich zog meine Jacke an und legte den Riemen der Tasche über meine Schulter. Dann ging ich nach draußen. Neununddreißig Stufen bis zu meinem Klassenzimmer. Irgendwann einmal hatte ich sie gezählt. Einmal hoch, einmal runter, und zwischendurch einmal ein Drittel zum Biologieraum runter und zurück. Und natürlich die Stufen an der Eingangstür, vier, zweimal am Tag. Hundertzwölf Stufen.
Vor der Tür blies mir der Wind ins Gesicht. Mir war ohnehin schon kalt, aber sofort krabbelte das Eis in meinen Fingern die Arme hinauf. Wie ein Thermometer, nur andersrum.
Es half nichts. Ich stapfte los. Schritt für Schritt.
Ich war müde, als ich die Treppe zur Wohnung meiner Familie hochschlich. Mein Körper fühlte sich an, als sei er mit Blei gefüllt, und seit ich das Haus betreten hatte, war da wieder dieser Nebel in meinem Kopf.
Beim ersten Versuch, aufzuschließen, verfehlte ich das Schlüsselloch, aber dann klappte es doch. Ich betrat den Flur, stellte meine Tasche auf dem Boden ab und ließ die schwere Jacke von meinen Schultern rutschen.
Von den Treppenstufen war mir ein wenig schwindelig, helle Punkte gewitterten in meinem Kopf.
Meine Mutter streckte den Kopf aus der Küchentür.
»Wo warst du schon wieder so lange?«, fragte sie.
»Ich war …«
»Essen ist fertig.«
Sie sah mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an und strich sich eine rötlich-blonde Strähne aus der Stirn. Wir hatten dieselben Haare, nur dass meine kürzer waren und statt kraus nur leicht gewellt.
»Entschuldigung«, sagte ich und zog meine Schuhe aus, dann folgte ich meiner Mutter ins Esszimmer. Meine kleine Schwester Emma saß auf ihrem Platz, den Ellenbogen aufgestützt und das Smartphone in der Hand. In der Mitte des Tisches stand ein Auflauf, er dampfte, sie können nicht lange auf mich gewartet haben.
»Ich hab schon auf dem Heimweg was gegessen.«
»Ich glaube dir kein Wort«, sagte meine Mutter und schaufelte eine große Portion auf einen Teller und stellte ihn vor mir ab. Ich nahm meine Gabel und klopfte damit auf die Käsekruste, unterteilte das Viereck in sechs gleich große Stücke. Mir war schlecht und immer noch ein wenig schwindelig. Ich legte die Gabel zur Seite und meine Mutter schnaubte.
»Ich … hab wirklich keinen Hunger«, sagte ich und stand auf. Die Hand meiner Mutter schnellte an meinen Arm und hielt mich fest. Meinen Oberarm konnte sie mit den Fingern fast ganz umschließen. Sie glitt mit ihrer Hand nach unten, wo der Arm am Ellenbogen breiter wurde, und dann zu meinem Handgelenk.
Sie schüttelte den Kopf. »Nur Knochen«, sagte sie und fasste sich an die Stirn. »Setz dich wieder hin und iss was!«
Ich schüttelte den Kopf und zog meinen Arm weg. Ich hasste mich dafür, dass ich ihr solche Sorgen bereitete, aber ich hielt es nicht aus, hier zu sitzen. Emma starrte in ihr Essen, die Faust um die Gabel geballt, es tat mir so leid alles, so leid, aber ich konnte nicht anders.
»Entschuldigung«, murmelte ich, sah Tränen in den Augen meiner Mutter und dann trübte sich auch mein Blick. Ich ging langsam aus dem Raum, hastete dann über den Flur, an der Wand entlangtastend, weil die Tränen jetzt wie Sturzbäche aus meinen Augen quollen und ich nichts mehr sehen konnte. Nachdem ich mir in meinem Zimmer Rotz und Tränen mit meinem T-Shirt vom Gesicht gewischt hatte, legte ich mich ins Bett, ich wollte einfach nur schlafen. Mein Kopf fühlte sich schwer an, obwohl er flach auf dem Bett ruhte. Ich rollte mich auf die Seite, zog die Beine an meine Brust und stopfte ein Kissen zwischen die Knie, damit sie nicht schmerzhaft aufeinanderlagen. Ich machte die Augen zu und es fühlte sich an, als würde ich irgendwo hingezogen. Es drehte mich auseinander, mein Bewusstsein kippte in die eine Richtung, mein Körper in die andere, als wollten sie nichts mehr miteinander zu tun haben. Aber ich durfte nicht schlafen, nicht, bevor ich mein Sportprogramm absolviert hatte.
Mühsam setzte ich mich auf. Meine Arme fühlten sich taub an. Ich schüttelte sie aus und es kribbelte unangenehm, dann erhob ich mich, ohne daran zu denken, dass ich das langsam tun musste. Mir wurde schwarz vor Augen und ich schwankte.
Als ich wieder sehen konnte, kramte ich meine Sportsachen hervor und zog mich um. Ich wusste, dass ich jetzt rennen musste. Es war das Einzige, was half.
Die Sportschuhe nahm ich in die Hand und schlich durch den Flur. Leise schloss ich die Wohnungstür hinter mir, setzte mich oben auf die Stufen und band die Schnürsenkel zu. Draußen machte ich ein kleines Stück Hopserlauf und Kreuzschritte, dann joggte ich los. Meine übliche Runde. Aus dem Wohnviertel heraus und über die Brücke, am Fußballplatz vorbei und in den Wald. Die kalte Luft schnitt in meine Lunge. Das war das Einzige, was ich von meinem Körper spürte, diesen stechenden Schmerz in der Brust, meine Beine liefen automatisch, Schritt, Schritt, Schritt. Ich hatte Mühe, auf dem Weg zu bleiben und die richtigen Abzweigungen zu nehmen. Ich wollte die Augen schließen und meinen Körper einfach machen lassen. Ich wollte … die Augen … mein Körper … Wald, Blätter, Licht … die Augen …
Zack!
Plötzlich lag ich auf dem Boden. Feuchtes Laub klebte an meiner Wange und mein Kopf knirschte, wahrscheinlich war er hart aufgeschlagen. Schwächling, sagte ich mir und rappelte mich auf, zupfte mir die Blätter von der Kleidung. Nicht weit von mir war ein Mann mit seinem Hund und schaute mich an.
»Alles in Ordnung bei Ihnen?«, rief er.
»Ja«, rief ich zurück und machte ein Daumen-hoch Zeichen. Dann lief ich weiter. Doch schon nach wenigen Schritten taumelte ich wieder und fiel, fiel, fiel.
Nik
Berlin
Ich muss eingeschlafen sein und ärgere mich. Der Himmel ist fahlgrau geworden und ein feuchter Film hat sich über meine Haare, Haut und Klamotten gelegt. Ich fühle mich eklig, Tau, Wasser aus der Atmosphäre. Ich setze mich gerade hin und ein Stich fährt in meinen Rücken. Meine Schultern knacksen, als ich sie bewege.
Neben mir sitzt eine alte Dame und lächelt mich an.
»Na, junger Mann?«, fragt sie. »Die letzte Bahn verpasst?«
»Nein«, sage ich. »Ich warte auf jemanden.«
Ich schrumpele mein Gesicht zusammen und kneife die Augen zu. Danach fühle ich mich ein wenig wacher. Durst habe ich auch, ich lecke an meiner taufeuchten Hand, obwohl das unhygienisch ist. In Zeiten der Not muss man manchmal Dinge tun, die man sonst nicht tun würde. Die Dame sieht zu mir hinüber. Ich lecke weiter, jetzt an den Ärmeln meiner Jacke. Die Frau schaut weg.
Schulkinder kommen vorbei, steigen in die Bahnen.
Jetzt könnte Stella schon mal kommen, ich habe schon fast keine Lust mehr auf das Experiment. Meine Kehle ist trocken, meine Extremitäten und mein Rücken schmerzen, und ich mache mir bald in die Hose. Immerhin wird das blasse Licht immer kräftiger. Aber Stella kommt und kommt nicht.
Es wird Mittag. Die Sonne scheint mir ins Gesicht. Dann kommen Wolken auf und bringen Regen, der vom Wind zu mir unter das Dach geweht wird, die kalten Tropfen stechen mir wie lauter feine Nadeln in die Haut, und dann stehen plötzlich zwei Personen vor mir. Groß, mit breiten Brustkörben. Ich sehe genauer hin. Nein, das sind Westen, sie tragen beide das Gleiche. Polizei.
Sie schauen mich an und ich schaue weg.
»Hallo?«
Jetzt schaue ich wieder zu ihnen.
»Wie heißt du?«, fragt der Jüngere.
Ich sage nichts. Manchmal denke ich, wenn ich Leute nicht beachte, dann sind sie gar nicht wirklich da. Ich ziehe mir meine Mütze so tief, dass sie nicht nur die Ohren, sondern auch die Augen bedeckt. Dann spüre ich eine Berührung an der Schulter und zucke zurück. Alarm, Alarm, kreischt mein Kopf, und ich reiße mir die Mütze vom Kopf. Die Stelle an meinem Arm, wo der Polizist mich angefasst hat, fühlt sich an wie verbrannt.
»Wie heißt du, Junge?«, fragt er wieder.
Sie sind näher gekommen und stehen dicht vor mir. Über mir. Sie sollen weggehen.
Die beiden sehen sich an. Der mit den grauen Haaren greift nach dem Funkgerät seitlich oben an seiner Brust und spricht hinein.
»Wir haben hier einen Jungen, er redet nicht, die Beschreibung passt.«
»Hat er einen Ausweis dabei?«
Die Stimme aus dem Funkgerät ist verzerrt und dumpf.
»Moment … Hast du einen Ausweis dabei, Junge?«
Nein. Habe ich nicht. Aber ich kann es ihnen nicht sagen oder den Kopf schütteln, ich kann gar nichts. Sie machen mir Angst und ich bin eingefroren. Meine Mütze umklammere ich ganz fest. Ich will weglaufen.
Der Grauhaarige nickt dem Jüngeren zu und der kommt noch einen Schritt näher an mich heran, zieht mich hoch und will meine Taschen durchsuchen. Aber da zerbricht das Eis, das mich gefangen hält. Ich schlage die Hand des Polizisten beiseite und renne los. Einfach nach vorne. Ich pralle direkt gegen den anderen Polizisten und weil er so überrumpelt ist, macht er unwillkürlich einen Schritt zur Seite. Der Weg ist frei. Los los los!
Doch bevor ich einen weiteren Schritt machen kann, hat mich einer der beiden schon geschnappt, alles geht schnell, in einer einzigen geschmeidigen Bewegung nimmt er meine Hände, zieht eine davon über meinen Kopf und es tut so weh, dass ich mich umdrehen muss. Dann zieht er beide Hände hoch, dass sie zwischen meinen Schulterblättern liegen. Ich knurre und ruckele und versuche, mich wieder umzudrehen, ich versuche, nach vorne wegzulaufen, doch der Polizist hält mich fest wie ein Anker.
Jetzt berührt mich der andere Polizist, greift in meine Taschen, tastet mich ab, durchsucht danach meinen Rucksack. Ich fauche und blecke meine Zähne, aber er sieht mich nicht an.
»Kein Ausweis«, sagt er nach einer Weile zu seinem Kollegen.
Dieser wiederholt die Worte in sein Funkgerät.
»Wehrt sich aber und wollte abhauen«, fügt er hinzu. »Wir nehmen ihn mit aufs Revier.«
Ich spüre etwas Kaltes an meinen Händen. Der Griff des Polizisten wird schwächer und ich will die Hände nach vorne ziehen, aber ich kann nicht. Ein schlagender Schmerz an meinen Gelenken. Es klirrt ein wenig. Handschellen. Sie kneifen in meine Haut und fühlen sich hart an meinen Knochen an. Ich mag das überhaupt kein bisschen. Null Prozent.
Die Polizisten schleifen und schieben mich über den Bahnsteig und die Treppen nach unten. Ich gehe widerwillig mit ihnen durch eine kahle Unterführung und dann wieder Treppen hoch, oben angekommen spanne ich alle meine Muskeln an und will wegrennen, ich sträube mich und versuche zu kämpfen, aber eigentlich habe ich keine Chance. Die Polizisten halten mich bombenfest und drücken einfach an den Handschellen, dass es wehtut und ich aufgeben muss.
Ich werde zu dem Polizeiwagen geschoben, der ein paar Meter entfernt am Straßenrand steht. Ich versuche, die Schritte zu zählen, komme aber durcheinander. Ich werfe meinen Kopf hin und her.
»Nicht«, sage ich. »Langsam.«
»Du kannst ja sprechen«, sagt der eine Polizist. »Wie ist dein Name?«
»Nik«, sage ich. »Nik Alvarez.«
Er schnaubt leise.
»Warum nicht gleich so?«
»Erschrocken«, sage ich. »Können wir nochmal zurück und den Weg bis zum Auto langsamer gehen?«
Sie ignorieren mich.
»Bitte«, füge ich hinzu.
»Nein, so ein Quatsch.«
Ich drehe meinen Kopf so weit es geht nach hinten und sehe ihn böse an. Er schiebt mich weiter. Sie schließen das Auto auf und öffnen die hintere Tür. Er fasst meinen Kopf an und drückt ihn nach unten, damit ich einsteige. Weil er mich so schiebt, habe ich gar keine andere Wahl. Der Polizist legt meinen Rucksack neben mich und schnallt mich an, als es mir auffällt.
»Meine Mütze!«, rufe ich. »Wo ist meine Mütze?!«
Ich will aufspringen, aber der Sicherheitsgurt hält mich zurück, die Polizisten schlagen die Tür zu und steigen vorne ein. Ich schaue durchs Fenster und sehe meine Mütze auf dem Boden liegen, ganz einsam und allein und verloren, ich muss sie bei der Rangelei oben an der Treppe fallen gelassen haben. Mit einiger Verrenkung, nach der ich ganz außer Atem bin, öffne ich die Gurtschnalle und beginne, auf der Rückbank hin und her zu rutschen und mich gegen die Türen zu werfen, so gut es eben geht mit den Händen hinter dem Rücken. Links, rechts, links, rechts.
»Gib Ruhe«, sagt der Grauhaarige, greift nach hinten und packt meinen Arm. Ich zappele.
»Meine Mütze!«, keuche ich. »Sie ist runtergefallen. Meine Mütze!« Ich gebe ein grollendes Geräusch von mir und trampele mit den Füßen.
»MEINE MÜTZE!«
Wieder das Schlagen einer Tür. Der jüngere Polizist ist ausgestiegen. Ich sehe, wie er den Weg zurückgeht, und werde schlagartig ruhig. Ich muss mich konzentrieren. Seine Schritte zählen. Ich presse mein Gesicht an das Fenster. Der Polizist hebt die Mütze auf und kommt zurück. Für den zweiten Weg braucht er zwei Schritte mehr.
»Er macht sie nicht gleich lang«, sage ich. »Gleich lang!«
Die Tür rechts von mir geht auf, der Polizist setzt mir die Mütze auf. Er beugt sich über mich, um mich wieder anzuschnallen, diesmal finde ich das ganz lustig, als wäre ich ein kleines Kind. Nur dass er mir so nah kommt, mag ich nicht.
»Sie müssen lernen, gleich große Schritte zu machen«, sage ich ihm.
Er schüttelt den Kopf und die Tür knallt wieder zu.
Das Revier gefällt mir. Die Gänge sind leer, die Wände grau. Grau beruhigt mich. Grau erzählt nichts. Grau macht keine Geräusche. Das Büro, in das die Polizisten mich führen, ist weniger schön. Irgendwer hat die schönen Wände mit Bildern verschandelt, kreischend bunte Gemälde und Poster. Außerdem ist zu viel in dem Raum drin, Schreibtisch, Tisch, Stühle, ein Sessel und ganz viele Schränke. Nicht eine einzige Wand ist frei und ich werde nervös.
Die Polizisten bedeuten mir, mich zu setzen, aber ich will nicht. Die Stühle gefallen mir nicht.
»Dann bleib halt stehen.«
Der jüngere Polizist verlässt den Raum, der andere setzt sich hinter den Schreibtisch. Er tippt irgendwas in seinen Computer und schaut mich nicht mehr an. Ich überlege gerade, ob ich einfach gehen kann, da kommt der andere Polizist wieder. Mit meiner Mutter. Sie geht mit schnellen Schritten auf mich zu, aber bevor sie mich erreicht, bremst sie ab und bleibt stehen. Ihre Augen sind nass. Vielleicht mag sie das Büro auch nicht.
»Nik«, sagt sie.
Ich nicke ihr zu.
»Setzen Sie sich doch, Frau Alvarez«, sagt der Polizist am Schreibtisch, aber als ich mich zu ihm drehe, fällt ihr Blick auf meine Hände hinter dem Rücken.
»Nehmen Sie ihm sofort diese Dinger ab!«, sagt sie und ihre Worte klingen ganz scharfkantig. Der jüngere Polizist kommt zu mir und hantiert an den Handschellen. Meine Mutter schüttelt den Kopf.
»Was fällt Ihnen ein?!«, sagt sie. »Ihn wie so einen Schwerverbrecher zu behandeln!«
»Er wollte weglaufen«, sagt der Ältere und meine Mutter schnaubt.
»Und Sie sind nicht stark genug, um das ohne Handschellen hinzukriegen?«
Ich grinse ein bisschen. Dann sind meine Hände endlich befreit, und ich rolle erleichtert meine Schultern und schüttle die Arme. Ich reibe mir über die schmerzenden Handgelenke und entdecke rote Striemen. Haben sie damit nicht mein Recht auf körperliche Unversehrtheit verletzt und somit gegen das Grundgesetz verstoßen?
Jetzt setzt sich meine Mutter auf einen der Stühle und dann fangen sie und die Polizisten an zu reden. Der Polizist stellt Fragen, von wegen, wie alt ich sei und ob so etwas schon einmal passiert wäre, und meine Mutter antwortet ihm. Ihre Stimme klingt müde, so wie meistens, wenn sie mit Ärzten oder Lehrern über mich spricht. Eigentlich ist sie nicht so, oft lacht sie und ist lustig, und manchmal macht sie laut Musik an und tanzt durch die ganze Wohnung. Aber in letzter Zeit macht sie das immer seltener. Sie hat mir erklärt, dass sie sich allmählich Sorgen macht, weil ich älter werde, und sie nicht weiß, wie ich später alleine zurechtkommen soll. Ich verstehe das nicht so ganz, sie ist doch immer da und ich bin nicht alleine, also ist die Überlegung hinfällig.
Obwohl mich die Musik oft gestört hat, mag ich es viel lieber, wenn sie tanzt und singt und nicht so müde aussieht wie jetzt. Um mich abzulenken, versuche ich zu schätzen, wie viele Akten in den Schränken sind. Das ist schwer, weil sie unordentlich sind, zumindest in dem Aktenschrank an der linken Wand. Der gegenüber ist ordentlicher.
»Nik!«
Meine Arme zucken. Ich sehe zu meiner Mutter und den Polizisten hinüber. Fast habe ich vergessen, dass sie da sind.
Sie steht auf und nimmt ihre Tasche.
»Wir können gehen«, sagt sie.
Sie gibt den beiden Beamten die Hand, sie wünschen alles Gute und geben ihr meinen Rucksack, dann wollen sie auch mir die Hand schütteln. Ich schaue weg und rühre mich nicht.
»Machen Sie sich nichts draus«, sagt meine Mutter zu den Polizisten. »Er schüttelt nicht gerne Hände.«
Wir verlassen das Revier und gehen über den Parkplatz zu ihrem Auto. Die zwei orangefarbenen Lichter unter den Scheinwerfern blitzen auf, als meine Mutter aufschließt.
Ich will mich auf den Rücksitz setzen, wie immer, aber sie hält mich zurück, als ich die hintere Tür öffne.
»Nik, ich bin in den letzten Stunden fast rasend vor Angst gewesen.«
Meine Mutter sieht mich komisch an. Ihre dunklen Haare hängen irgendwie strähnig in ihr Gesicht und mir fallen die Falten um ihre Mundwinkel auf, die ich noch nie zuvor bemerkt habe.
»Ich habe mit Doktor Niebel gesprochen, nachdem die Polizei angerufen hat. Er hat in der Klinik angerufen und sich dafür eingesetzt, dass du heute schon aufgenommen werden kannst. Ich weiß, das ist nicht leicht für dich. Aber ich denke, es ist gut, wenn jemand uns beiden ein bisschen hilft. Jetzt, wo du erwachsen wirst und sich Dinge verändern.«
»Ich komme zurecht«, sage ich.
Meine Mutter deutet auf meine Körpermitte und erst jetzt fühle ich ungewohnte Wärme zwischen meinen Beinen. Ich sehe nach unten. Ein dunkler Fleck in der Mitte meiner Hose und zwei Bahnen, die rechts und links nach unten führen. Die rechte ist länger und ich schüttle das linke Bein, um es gleichmäßig zu machen, aber es klappt nicht. Es wundert mich nicht, dass ich mir in die Hose gemacht habe, schließlich bin ich seit über vierundzwanzig Stunden nicht mehr auf der Toilette gewesen.
»Na und?«, sage ich. »Das ist menschlich.«
Meine Mutter schüttelte den Kopf.
»Nein, Nik. In deinem Alter ist es nicht menschlich, in die Hose zu machen. In deinem Alter achtet man auf sich selbst und geht zur Toilette und in deinem Alter rennt man nicht einfach so aus dem Haus und verbringt die Nacht an irgendeiner Haltestelle. Was wolltest du überhaupt dort?«
»Experiment«, sage ich. »Ich wollte ein Experiment durchführen.«
Meine Mutter verzieht den Mund zu einem Lächeln, dann schüttelt sie den Kopf.
»Ach Nik.«
Ich grinse ein bisschen zurück und will ins Auto einsteigen.
»Moment«, sagt meine Mutter und geht zum Kofferraum.
Ohne meinen Rucksack, dafür mit der Plastiktüte eines Supermarktes, kommt sie wieder.
»Setz dich da drauf.«
Ich finde das komisch, aber wenn sie meint. Nachdem ich die Tüte auf den Sitz gelegt und mich angeschnallt habe, fahren wir los. Ich zähle die Straßenlaternen, an denen wir vorbeikommen. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht …
»Wir müssen vorher kurz zuhause vorbei«, sagt meine Mutter.
»Vor was?«
»Ach Nik! Ich fahre dich in ein Krankenhaus.«
… dreizehn, vierzehn, fünfzehn, sechzehn …
»Was soll ich denn da?«, frage ich.
Meine Mutter schüttelt den Kopf.
»Das habe ich dir doch erklärt. Man muss deinen Gedanken helfen, damit du dich besser zurechtfindest und wir ein besseres Team sein können, du und ich. In der Klinik sind Ärzte wie Doktor Niebel einer ist.«
»Ich hab aber keine Lust«, sage ich.
Zu Doktor Niebel bin ich regelmäßig gegangen, als ich noch jünger war. Wir haben geredet und Spiele gespielt, aber die meiste Zeit war es sehr langweilig. Man konnte sich nicht gut mit ihm unterhalten, weil er immer über mich und meine Gefühle reden wollte, und nicht über die Dinge, die mich interessierten.
Die Anzahl der Straßenlaternen hab ich schon längst aus den Augen verloren. Sie sausen schräg über mich hinweg, ohne dass ich weiß, an wie vielen wir schon vorbeigekommen sind.
»Ich hab keine Lust, dahinzugehen«, sage ich, diesmal lauter.
»Das macht nichts«, sagt meine Mutter.
Aber ich finde sehr wohl, dass das was macht. Wir biegen in unsere Straße ein. Meine Mutter dreht sich zu mir um.
»Du bleibst hier drin«, sagt sie. »Ich hol dir ein paar Sachen aus deinem Zimmer und du wartest.«
»Ich will selbst meine Dinge einpacken«, sage ich, doch meine Mutter schüttelt den Kopf.
»Du würdest Ewigkeiten brauchen und am Ende hättest du deine Tasche sowieso nur voller sinnlosem Zeug.«
Sie zieht den Schlüssel ab und steigt aus. Als sie die Tür zuschlägt, greife ich nach dem Griff von meiner, doch da piepst es und macht Klick. Sie hat abgeschlossen. Ich rüttle an dem Griff und lasse die Wut in mir durch den Mund raus, wie ein Löwe.
Nach etwa fünfzehn Minuten kommt meine Mutter wieder, stellt meine Sporttasche in den Kofferraum und steigt wieder ein. Sie reicht mir eine Hose nach hinten.
»Zieh die an«, sagt sie, dann fahren wir wieder los.
Ich knöpfe die nasse Hose auf und ziehe sie nach unten. Dafür muss ich meinen Po anheben und stoße mir den Kopf am Autodach. Ich ziehe auch die Unterhose aus und stopfe beides in die Plastiktüte.
Es ist viel zu kompliziert, die neue Hose im Auto anzuziehen. Ich lege sie auf meinen Schoß. Das werde ich machen, wenn wir aussteigen. Es ist kalt ohne Hose, außerdem bemerke ich jetzt den Geruch. Aber es geht, finde ich. Den Geruch meines eigenen Urins finde ich nicht so schlimm wie den von anderen.
Wir fahren eine Weile, dann halten wir am Straßenrand und steigen aus. Ich habe keine Ahnung, wo wir hier genau sind, ich glaube, nicht mehr in Moabit, wo wir wohnen, dafür sind wir zu weit gefahren. Rechts
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Verlag Monika Fuchs
Bildmaterialien: Verlag Monika Fuchs
Cover: Verlag Monika Fuchs
Lektorat: Verlag Monika Fuchs
Korrektorat: Verlag Monika Fuchs
Satz: Die Bücherfüxin
Tag der Veröffentlichung: 12.07.2022
ISBN: 978-3-7554-1716-3
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
CN:
Diese Geschichte beinhaltet Themen, die triggern können, beachtet ggf. die folgenden Hinweise:
Mai steckt tief in ihrer Essstörung, ihre Gedanken und Handlungen gestalten sich entsprechend. Während ihrer stationären Behandlungen erlebt sie Zwangsmaßnahmen.
Das Buch enthält außerdem die Erwähnung von Suizid sowie Festnahmen durch die Polizei.
Passt auf euch auf!