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Leseprobe

Die Rache der Baba Jaga

Artur Rosenstern

Verlag Monika Fuchs

www.verlag-monikafuchs.de

www.artur-rosenstern.de

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Print-Ausgabe: ISBN 978-3-947066-40-7

© 2020 Verlag Monika Fuchs | Hildesheim

Text: Artur Rosenstern

Cover-/Umschlaggestaltung: Buchgewand Coverdesign | www.buch-gewand.de – Verwendete Grafiken/Fotos: FlowerVector – depositphotos.com; Lukasz Szwaj – shutterstock.com; Mykola Mazuryk – shutterstock.com; Instantly – stock.adobe.com

Layout und Satz: Die Bücherfüxin | Hildesheim | www.buecherfuexin.de

Lektorat: Carola Jürchott und Sigrid Strauß

Korrektorat: Larissa Rode

Alle Teile dieses Buches sind urheberrechtlich geschützt. Vervielfätigungen, Abdrucke, Bearbeitungen, Verfilmungen etc. sind nur mit Erlaubnis der Rechteinhaber gestattet. Anfragen richten Sie bitte an den Verlag.

Inhalt

Vorspiel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Finale

Artur Rosenstern

Auch im Verlag Monika Fuchs erschienen

In memoriam

Lüder Ahmels

Vorspiel

»Wo läufst du hin, du … du Idiot? Hast du keine Augen im Kopf?« Gisbert schrie seinen Fernseher an und klatschte mit der Hand auf den Oberschenkel. »Guck doch einmal nach rechts, da wartet die Sechs …« Er griff nach der Bierflasche und nahm einen kräftigen Schluck daraus, dann knallte er die Flasche auf den Couchtisch.

»Die werden es schon wieder vermasseln. Wetten?«, meinte er zu Sven gewandt.

»Sicher werden sie das«, pflichtete ihm sein Mitbewohner bei und drückte auf einer Untertasse in aller Ruhe den Zigarettenstummel aus. »Sie haben doch überhaupt keine guten Spieler … kchu, kchu …«. Er hustete und blies den Rauch gegen die Raumdecke. »Außer … kchu, kchu … außer Wichnijarek.«

»Und der hat heute seine Augen am Arsch!«

Gisbert hielt sich nicht für einen großen Fußballfan. Die Tabellenergebnisse verfolgte er lässig. Oft versäumte er es, sich über aktuelle Spiele zu informieren. Aber wenn der DSC Arminia spielte, war es ihm, als liefe Deutschland gegen seinen Erzfeind Italien im Finale einer Weltmeisterschaft auf. Die Spieltermine, die Gegner und sämtliche Ergebnisse dieser Mannschaft speicherte er augenblicklich in seinem Kopf. An diesem Samstagnachmittag spielte Arminia gegen den VfB Stuttgart. Es war ein Auswärtsspiel, es stand 1 : 1. Die zweite Spielzeit neigte sich langsam dem Ende zu. Etwa zwanzig Minuten hatten die Arminen noch, um einen Sieg einzuheimsen. Ein Sieg nach den sechs schmerzlichen Niederlagen in Folge war längst fällig, anderenfalls liefen sie Gefahr, auf den letzten Tabellenplatz abzusacken. Aber statt sich die Beine auszureißen, statt sich zu konzentrieren, verloren sie immer aufs Neue den Ball an den Gegner, ihre vagen Angriffsversuche wehrten die Schwaben mühelos ab. Das Spiel verlagerte sich zunehmend auf die Seite der Arminen. Je mehr das geschah, desto schneller vergrößerte sich der Schweißfleck unter den Achseln auf Gisberts T-Shirt, desto öfter griff er zur Bierflasche.

»Ich dreh noch durch«, rief er erneut. »Bewegt euch, ihr faulen Säcke!«

»Kühl dich ab, Mann«, meinte Sven beschwichtigend. »Die Welt geht doch nicht unter.«

Genau in diesem Moment drehte jemand den Schlüssel im Schloss der Eingangstür um, und im halbdunklen Flur erschien Boris, ihr Mitbewohner, in Begleitung einer Blondine mit schulterlangen, lockigen Haaren.

»Hallo Jungs«, sagte Boris und winkte den beiden durch die offene Wohnzimmertür zu. »Ich habe Julia mitgebracht.«

»Jetzt schon?«, wunderte sich Sven. »Es ist doch erst halb

fünf und wir haben fünf Uhr ausgemacht.«

»Ich war früher fertig«, entgegnete Boris und blickte auf seine Armbanduhr, »wir haben einen Bus eher genommen. Und jetzt ist es auf meiner Uhr schon fast Viertel vor und nicht halb fünf.«

»Hallo«, sagte Julia kleinlaut. Sie stand neben Boris und lächelte verlegen. Es schien ihr unangenehm zu sein, Sven und Gisbert gestört zu haben, sollten die beiden doch darüber entscheiden, ob sie in die WG einziehen dürfe. Sven gab in Kürze sein Zimmer auf. Er hatte zusammen mit seiner neuen Freundin Wiebke eine kleine Wohnung gemietet.

Gisbert winkte Julia und Boris zu, bewegte sich aber keinen Millimeter vom Sofa hoch. Die Arminen starteten gerade ihren nächsten Angriff. Sein Blick streifte die junge Frau neben Boris zunächst flüchtig, bevor er für ein paar Sekunden an ihr haften blieb, als wollte Gisbert sich ihre Erscheinung einprägen. »Wow«, ging es ihm durch den Kopf, »dieses Sahneschnittchen will bei uns einziehen?«

Er verfolgte aufs Neue das Spiel. »Das könnte, meine Damen und Herren«, die Stimme des Kommentators dröhnte durch den Raum, »die letzte Chance für die Bielefelder sein. Ein Pass nach links, zurück zu Wichnijarek, er schießt und … und … so ein Pech … schon wieder der Pfosten …«

»Ach du Sch…« Gisbert schnellte in die Höhe, erstarrte für einen Augenblick vor dem Fernseher und presste die Lippen und Fäuste zusammen. »Das kann doch nicht wahr sein. Diese … diese Idioten!«, gab er lauthals von sich.

Es war nicht seine Art, eine Frau wie Julia so desinteressiert zu begrüßen. Doch auf dem Spielfeld lief Arminia auf. Kein Mensch, kein Ereignis, nicht einmal ein Weltuntergang, durften ihn stören.

»Setzt euch so lange zu uns«, schlug Sven vor. »Das Zimmer zeig ich dir gleich nach dem Spiel.«

Boris und Julia streiften die Schuhe ab und gesellten sich zu den Fußballfans auf die ausgelatschte hellbeige Sofaecke mit unregelmäßigen dunklen Flecken auf dem Lederbezug. Gisbert kam nicht umhin, sich Julia kurz vorzustellen. Er blickte ihr in die Augen und reichte ihr seine lasche Hand. Als sich ihre Hände berührten, ließ ihn ein leichter, unangenehmer Stromschlag aufschrecken.

»Oh«, sagte Julia und lächelte, »Entschuldigung, das liegt bestimmt an meiner Wolljacke.«

»Macht nix.« Er wandte sich erneut dem Fernseher zu. Trotz der Aufregung nahm er ihr blumig-süßes Parfüm wahr. Vor dem Tor der Arminen versammelte sich die ganze Zehnerhorde der Schwaben und war drauf und dran, den Ball ins Tor zu drücken. Mit gekonnten, treffsicheren Pässen hatten sie schon lange das Spiel beherrscht. Die Arminen waren selten an den Ball herangekommen, nur der Torwart geriet immer mehr ins Schwitzen.

Gisbert verfolgte die gefährlichen Ballpässe, sah jedoch Julia vor seinem inneren Auge, spürte, wie sich die penetrante, süßliche Note ihres Parfüms tief in seine Nasenlöcher und bis ins Gehirn bohrte, es umhüllte und benebelte. Er war nur einen Augenblick abgelenkt, als plötzlich ein tosender Jubelschrei auf dem Stuttgarter Fußballfeld ausbrach.

»2 : 1, meine Damen und Herren«, verkündete der Kommentator, »und es ist kein Wunder, absolut kein Wunder, das war abzusehen und war schon längst fällig …«

»Hab ichʼs doch gesagt«, bemerkte Sven, »die haben nix drauf.«

Gisbert prüfte die Spielzeitanzeige. Noch fünf Minuten bis zum Abpfiff! Es war kein glücklicher Tag für die Arminen und Fans wie Gisbert.

»Obwohl …« Er überlegte und linste zu Julia hinüber. »Abwarten. Der Abend ist schließlich noch jung.«

Kapitel 1

Gisbert Wrobel hatte keine Vorurteile gegenüber Ausländern, schon gar nicht gegenüber den ausländischen Frauen. Er glaubte lediglich das, was er für allgemein bekannt, für selbstverständlich hielt. Etwa dass in Polen die meisten deutschen Autos untertauchten, die französischen Frauen traumhaft gut im Bett waren, die Italiener von Gott geschaffen zum Singen und zum Verzehr ihrer weltbekannten Spaghetti und Pizzas (auch wenn er selbst als Kind gern Spaghetti gegessen hatte). Dass die Mehrzahl der südländischen Männer Machos war und die mit Schlitzaugen stets nur lächelten, weil sie genetisch aufs Grinsen programmiert waren, dass die Russen zum Frühstück statt Kaffee Wodka tranken und ihre Frauen sich ebenso anziehend kleideten wie häuslich-praktisch veranlagt waren.

Fragte man Gisbert, woher er diese Ansichten hatte, so konnte er sich daran nicht genau erinnern. Das wüsste doch jeder, würde seine Antwort ausfallen. Schon als kleiner Knirps hatte er derartige Sachen zu hören bekommen. In seinem Heimatort Neuenbeken, der im von Wäldern umgebenen Paderborner Land liegt und knapp über zweitausend Einwohner zählt, konnte kein Mensch mit etwas hinter dem Berg halten, schon gar nicht mit solchen »Grundwahrheiten«. Auch als Gisbert Jahre später in der weltbekannten ostwestfälischen Metropole Bielefeld Slawistik zu studieren begann, wollten seine Überzeugungen nicht sogleich den neueren weichen.

Es waren nun etliche Jahre verstrichen, seit er in Besitz des Studentenausweises gekommen war. Dieser besagte, dass Gisbert bereits im zwanzigsten Semester angelangt war. Ihm fehlten nur drei Scheine, um die Magisterarbeit endlich anmelden zu können. Immer war etwas dazwischengekommen.

Als engagierter Student wurde er in der Fachschaft sehr beansprucht, kümmerte sich insbesondere um die Belange der jüngeren Kommilitonen. Er wurde des Öfteren für die Organisation wichtiger Veranstaltungen eingespannt, wie etwa Streiks, weil er angeblich das Talent dazu hatte. Und was diese schnöde Arbeit an Zeit kostete, konnte kein Normalstudierender erahnen, schon gar nicht ein Streber, der das Studium in der Regelstudienzeit absolvierte.

Außerdem gehörte Gisbert der ESG an, der evangelischen Studentengemeinde, mit deren Leiter, Pfarrer Lüdecke, ihn seit etlichen Semestern eine tiefe Freundschaft verband. Immer dann, wenn er Gisbert wegen irgendeines Anliegens anrief, konnte dieser nicht ablehnen. Es war inzwischen zur Tradition geworden, dass Gisbert mindestens einmal in der Woche bei dem Pfarrer auf ein Glas Wein vorbeischaute. Da der Pfarrer allein sein Dasein fristete, eine ausgefallene Weinsammlung besaß, sich arbeitsbedingt nicht bereits um neun Uhr aus dem Bett bemühen musste und über theologische und weltpolitische Themen gern viele Worte verlor, fielen diese Abende – genauer gesagt Nächte – meist sehr lang aus. Gisbert verpasste mitunter die eine oder andere Vorlesung am folgenden Tag.

Doch es gab noch andere Gründe für das nicht planmäßig verlaufende Studium. Sein langjähriger Mitbewoh­ner Sven, ein bekennender Computerfreak, studierte nämlich im zweiundzwanzigsten Semester. Mit ihm zusammen hatte Gisbert bereits etliche Nächte hindurch die brandneuesten Computerspiele getestet und sich so das aktuelle technische Wissen angeeignet. Besonders im Grundstudium, als sie noch nicht ahnten, wie viel Zeit ein geisteswissenschaftliches Studium in Anspruch nehmen würde. Inzwischen waren sie sich des Problems bewusst und verabredeten sich zum Spielen nicht mehr viermal die Woche, sondern lediglich dreimal. Die eine oder andere Woche sogar nur zweimal. Sie nahmen es ernst. Schließlich wollten sie fertig werden.

Vor einiger Zeit hatte Gisbert begonnen, sich Sorgen um seine Figur zu machen. Der an einer fortgeschrittenen Chipssucht leidende Sven hatte stets diverse Chipssorten in seinem Zimmer gelagert und sie großzügig mit Gisbert geteilt. Des Öfteren hatten sie sich zudem mit Dosenbier eingedeckt. Diese Kombination, hatte Gisbert sich sagen lassen, dürfte der Grund für seinen zunehmend über den Hosenbund hängenden Bauch sein. Zuweilen blieb er morgens splitternackt vor dem Spiegel stehen und betrachtete nachdenklich seine Rundungen und die immer größer werdenden Geheimratsecken. Er platzierte sich seitlich zum Spiegel, legte die rechte Hand auf den Bauch, zog ruckartig die Bauchmuskeln ein und presste die Luft aus sich heraus.

Zugleich hob er die Unterarme hoch, spannte, so arg er konnte, den Bizeps an, ballte die Hände zu Fäusten und verweilte für einige Sekunden, ohne zu atmen, in dieser Position. So, stellte er sich vor, könnte die Traumfigur aussehen. Aber wie um Himmels Willen konnte er das bewerkstelligen? Fürs Fitnessstudio hatte er keine Zeit. Das stand fest. Joggen, Radfahren und überhaupt körperliche Aktivitäten jeder Art waren nie und nimmer sein Ding. Zwar hatte Fußball zu seinen Lieblingssportarten gehört, allerdings nur so lange, wie ihn niemand aufforderte, selbst die Jagd auf den Ball aufzunehmen.

Ab und an flüsterte ihm seine innere Stimme zu, je öfter er sich in der Position vorm Spiegel übte, desto zügiger würden sich die Muskeln straffen, desto schneller würde die Bauchwölbung schrumpfen. Natürlich erforderten diese Übungen wie jede richtige Sportart eiserne Disziplin! Er sollte das jeden Morgen durchziehen, dachte er, was nicht einfach war. Nach dem Klingeln des Weckers blieb er gern eine Weile im Warmen liegen und musste sich dann verständlicherweise sputen, um nicht zu spät zur Vorlesung zu kommen. Für körperliche Aktivitäten vor zwölf Uhr war er einfach nicht geschaffen, hatte Gisbert einst festgestellt. Nicht einmal dafür, ausgiebig Bizeps, Bauch und Po vorm Spiegel anzuspannen. In den Abendstunden fühlte er sich ebenfalls zu dösig. Tagsüber hatte er den Kopf dafür nicht frei. Dieser Umstand weckte in ihm manchmal trübe Gedanken. Dann half nur eins: sich mit Sven zu vergleichen. Das wirkte! Sein Freund war Lichtjahre von Gisberts angestrebter Traumfigur entfernt.

Obwohl Gisbert bereits zweiunddreißig wurde, war er nie in den Genuss einer festen Freundin gekommen, abgesehen von der Italienerin Carla, die einst – und zwar noch in der Grundschule – hinter einem Busch auf dem Schulhof ihre zarten Lippen auf seinen Mund gedrückt hatte. Sie hatten sich ewige Liebe geschworen, ganz so, wie es Verliebte in einer Vorabendserie taten, die Gisberts Mutter tagein, tagaus verfolgte. Nachdem Gisbert nur drei Tage später Carla mit seinem besten Schulkameraden Jens knutschend erwischt hatte (hinter demselben Busch!), schwor er sich, nie und nimmer einer Frau sein volles Vertrauen zu schenken. Zumindest so lange, bis er die Volljährigkeit erlangt hatte und die Charakteristika dieser Spezies besser zu durchschauen imstande war.

Nun aber war er ein gestandener Mann … sozusagen … kurz davor, tatsächlich Akademiker zu werden. Das Vertrauen zum weiblichen Geschlecht hatte er bisher nicht wiedererlangt. Diese Spezies stellte für ihn ein unlösbares Rätsel dar. Er unterhielt gern einige, man könnte sagen, rein kumpelhafte Beziehungen zu Studentinnen in seinem Semester, wagte allerdings nicht, eine von ihnen hinter einen Busch zu ziehen, geschweige denn zu küssen. Das machte ihm zu schaffen und verursachte weitere trübe Gedanken.

In der letzten Zeit hatte sich die Situation ein wenig zugespitzt: Immer dann, wenn Gisbert seinen Eltern einen Besuch abstattete, bombardierte ihn seine Mutter mit Fragen, die in etwa lauteten: »Und? Wann bist du fertig?«, oder: »Wann willst du endlich heiraten?« Immer öfter erwähnte sie dabei Jens, seinen Schulfreund, der ihm vor vielen Jahren Carla ausgespannt hatte. Der Kerl hatte inzwischen eine Banklehre absolviert, danach geheiratet (ausgerechnet jene Carla), drei zuckersüße Kinder gezeugt und obendrein ein Einfamilienhaus im mediterranen Stil mit einem sagenhaften Blick auf den umliegenden Wald gebaut. Einen flotten BMW fuhr Jens außerdem auch. Wenn all das nicht beneidenswert war …

Natürlich beneidete Gisbert seinen Schulkameraden insgeheim. Je länger er sich bei den Eltern aufhielt und den Kerl auf der Straße mit Kind und Kegel herumkurven sah, desto tiefer und deutlicher fraß sich dieses Gefühl in sein Herz. Aus diesem Grund vermied er es, länger als eine Nacht in seinem Elternhaus zu bleiben. Er blieb genauer gesagt nur so lange, bis die Mutter seine verschwitzte, muffige Wäsche gewaschen, gebügelt und zusammengelegt hatte. Manchmal lieferte er samstagnachmittags seinen Wäscherucksack bei ihr ab, verbrachte die Nacht bei einem anderen alten (weniger erfolgreichen) Kumpel und sonntags, so gegen Mittag, holte er den Rucksack wieder ab.

Mitunter zeigte er Verständnis für seine Eltern. Immerhin war er der einzige männliche Nachkomme der Familie Wrobel und musste, Vaters Ansicht nach, für den Fortbestand des Namens in seinem Heimatort sorgen. Seine ältere Schwester Monika würde es nie tun können, sagte der Vater. Erstens war sie eine Frau und würde (sollte sie jemals heiraten) mit höchster Wahrscheinlichkeit den Namen ihres Mannes annehmen. Zweitens ließ sie sich nach ihrem Medizinstudium zu Hause kaum blicken, fuhr für verschiedene Hilfsorganisation in der Dritten Welt herum. Auf einen Mann und Kinder hätte sie schlichtweg keine Ambitionen. Jedenfalls zur Zeit nicht. Hoffentlich, erwähnte der Vater einmal besorgt, schleppe sie nicht eines Tages irgendeinen Afrikaner an …

Wie konnte Gisbert seine Eltern beschwichtigen? Wie konnte er sie vertrösten?

Eines winterlichen Tages brachte Sven ihn auf eine exzellente Idee. Er solle sich auf einer geeigneten Internetplattform registrieren und sich gelegentlich mit Frauen treffen. Das würde seine Eltern mit Sicherheit für eine Zeitlang zufriedenstellen. Wenn er Glück hätte, würde er auf diese Weise vielleicht die Liebe seines Lebens an Land ziehen.

»Nun, warum eigentlich nicht?«, fragte sich Gisbert.

Er ließ sich von seinem netzerfahrenen Freund die bestgeeigneten Internetseiten vorführen, die Vor- und Nachteile erklären und sogar das Profil ausformulieren. Eine halbe Nacht brauchten sie dafür. Gisbert vertraute ihm, denn sein Mitbewohner hatte zwei seiner letzten Freundinnen auf diesem Weg kennengelernt.

Svens Finger flitzten über die Tastatur, dabei sprach er den Text deutlich vor sich vor: »Junger… dynamischer Hecht … sucht die Liebe des Lebens … Ich will … dich ver…führen, dein Herz … für ewig erobern … mit dir zusammen … tausend Kerzen abbrennen …«

»Wie bitte?« Gisbert lachte auf. »Tausend Kerzen abbrennen?«

»Ja, Mann«, sagte Sven. »Du musst den Mädels klar­ machen, dass du ein Romantiker bist. Ganz wichtig! Frauen fahren auf so was ab.«

»Ich dachte, sie stehen auf Kohle.«

»Das natürlich auch. Ach ja, hab ich fast vergessen.« Er fuhr fort: »Finanziell … hmh … unabhängig…«

»Was soll das schon wieder?«, rief Gisbert empört. »Ich bin doch noch Student und lebe von den Zuwendungen meines Vaters.«

»Das ist erstmal egal. Das machen alle so, sonst meldet sich bei dir kein Schwein.«

»Aber was erzähle ich ihnen, wenn sie die Wahrheit erfahren?«

»Wahrheit, Wahrheit … Du musst doch ihnen nicht beim ersten Mal dein Herz ausschütten. Wenn eine Frau sich in dich verguckt, dann ist es ihr egal. Glaub mir!«

»Hm …«

Auf Gisberts Anzeige meldeten sich in der Tat vier Frauen und er traf sich sogar jeweils einmal mit ihnen, aber die Liebe seines Lebens war leider nicht dabei. Für Katja, mit der er zuletzt ein Rendezvous im Bielefelder Restaurant Bernstein hatte, empfand er zwar gewisse Sympathien und er verstand sich fabelhaft mit ihr, erzählte Witze und lachte ausgiebig, doch als der Ober die Rechnung auf den Tisch legte, konnte Gisbert sie nicht vollständig begleichen. Fast hätte er gesagt: »Wir zahlen getrennt!«, war aber dann froh, es nicht getan zu haben. Denn einen großen Teil seiner Rechnung musste Katja notgedrungen mit übernehmen. Daraufhin verschwand sie über alle Berge und ignorierte sämtliche SMS.

Gisbert war der Meinung, nichts dafür zu können. Er hatte in den zwei Wochen davor mit den anderen drei »Fischen« aus dem Netz sein ganzes Monatsbudget verprasst, und sich für diesen Zweck Geld zu leihen, hatte er keine Lust. Letztlich kam er zum Schluss, Frauen von heute seien zu anspruchsvoll und zu wählerisch. Sie säßen auf einem verdammt hohen Ross und warteten auf einen Märchenprinzen. Einige ihr Leben lang. Schuld an allem sei Hollywood. Viel zu viel pseudoromantisches Zeug käme aus dieser Fabrik. Einen so einfühlsamen, immer schmusebereiten Helden und Tausendsassa, wie ihn Hollywood tagtäglich kreierte, gäbe es auf dieser Welt nicht.

Früher sei alles anders gewesen, hatte ihm sein Vater eines klirrendkalten Abends vor dem knisternden Kamin berichtet. Man packte einfach die Braut und führte sie zum Altar. Als Gisbert allerdings das Wörtchen packen näher erklärt haben wollte, zeigte sich der Papa nicht kooperativ.

»Na ja, packen halt …«, sagte er, stand auf, legte den rechten Arm um die Schultern der Mutter und ließ sich vergnügt und schallend lachend gemeinsam mit ihr aufs Ledersofa fallen. Sie zappelten eine Weile mit den Beinen und küssten sich innigst.

»Du Schelm!«, meinte sie, halbherzig mit ihm schimpfend, verpasste ihm einen saftigen Klaps auf den Po und befreite sich geschickt aus der Umarmung.

Irgendetwas verheimlicht uns doch diese Generation, dachte Gisbert. Aber was?

Sven hatte eine klare Meinung dazu: »Früher war alles ganz klar. Der Mann schaffte die Kohle ran und die Frau klapperte mit dem Geschirr in der Küche, ging einkaufen und sorgte für die Gemütlichkeit im Haus. Jeder wusste genau, was er zu tun hatte. Daher lief alles wie geschmiert.«

»Aber das kann doch nicht alles gewesen sein?«, konterte Gisbert. »Und erzähl du das mal deiner Freundin …«

Sven vertrat diese wunderliche Meinung ausschließlich in Männergesellschaft. Sobald sich seine Freundin zur Runde gesellte, verwandelte er sich im Nu in einen charmanten, kleinlauten Frauenversteher.

»Nicht alles, aber fast. Das war die Grundlage.«

»Du spinnst!«

Sven berichtete ferner, er habe einen guten Bekannten, der vor zehn Jahren mit Hilfe einer Vermittlungsagentur eine Russin an Land gezogen habe. Er habe sie auf der Stelle geheiratet, obwohl sie sich lediglich mit Hilfe von Handzeichen verständigen konnten. Seine Frau schmeiße den ganzen Haushalt, bügele die unzähligen Hemden und lege die Unterhosen zusammen, kümmere sich jede Minute um die Kinder (ob Tag oder Nacht), und der Kerl sei nach zehn Jahren Ehe immer noch überglücklich mit ihr. Wenn er um sechs Uhr morgens wach werde, stehe tagein, tagaus der wohlduftende Kaffee auf dem Küchentisch bereit, die Schuhe seien geputzt und die Brötchen für die Arbeit geschmiert. Jederzeit würde er diese Frau noch einmal heiraten!

»Und was hat das mit der Generation unserer Eltern zu tun?«, wollte Gisbert wissen.

»Ganz einfach«, erklärte ihm Sven. »In Russland ist die Zeit stehen geblieben. Ich meine, was die Rollenverteilung in der Familie angeht. Dort steht die Frau am Herd und hinterfragt nicht ihre Bestimmung. Der Mann ist der Boss und muss sich nicht um die Küche oder die stink­dreckigen Windeln kümmern.«

»Verstehe …«, sagte Gisbert nachdenklich und kratzte sich dabei hinterm Ohr. Er hatte zwar noch nie einen Gedanken an seine künftige Rolle in der Familie verschwendet und hatte keine Vorstellung davon, wie diese aussehen könnte, würde er einmal den Bund fürs Leben eingehen. Eines begriff er aber nach dem Gespräch mit Sven. Dieser Schritt musste wohlüberlegt getan werden, die Rollenverteilung musste vorher klipp und klar sein, gut ausgehandelt. Sonst würde die Ehe spätestens im »verflixten siebten Jahr«, von dem er gehört hatte, scheitern.

Doch allzu sehr zerbrach er sich darüber nicht den Kopf, das wollte er nicht. Zumindest solange er noch studierte. Sollte er irgendwann die Liebe seines Lebens treffen, würde er sowieso nicht über Nacht heiraten. So etwas gehörte sich heutzutage nicht, meinte er.

Kapitel 2

Wenige Wochen nach diesem Gespräch trat Julia auf den Plan. Sie suchte dringend eine Bleibe, denn ihr Vermieter hatte ihr unvermutet gekündigt. Von Boris hatte sie erfahren, dass in seiner Wohngemeinschaft gerade jemand auszog. So war sie in Svens altem Zimmer gelandet, das sich direkt neben Gisberts Zimmer befand.

Es war Liebe auf den ersten Blick, dessen war sich Gisbert absolut sicher. Doch anscheinend empfand das nur er so. Julia beachtete ihn wenig, kam meist spät aus der Bibliothek nach Hause und verschanzte sich in ihrem Zimmer. Traute sich Gisbert einmal, an ihrer Tür anzuklopfen, beantwortete sie seine Fragen kurz und knapp. Mehrmals versuchte er vergeblich, mit ihr ein längeres Gespräch zu führen. Sie blockte seine Versuche ein ums andere Mal ab.

»Kannst du bitte den Fernseher leiser stellen?« Sie stand einmal an seiner Tür und schleuderte Funken, weil es ihr zu laut war – ausgerechnet während Arminia spielte!

»Hmh… mach ich schon … Willst du vielleicht Chips?« Er hoffte, sie damit in sein Zimmer zu locken.

Sie winkte ab. »Das Zeug macht fett!«, verkündete sie, kehrte ihm den Rücken zu und stolzierte erhobenen Hauptes in Richtung Küche.

Gisbert schaute blöd drein. Sie hatte recht, das sah er ein und betastete seinen rundlich-speckigen Bauch. Julia stand wohl mehr auf athletisch gebaute Typen. Das stimmte ihn etwas traurig, denn traf diese Vermutung zu, so hatte er bei ihr keine Chance.

»Ich muss unbedingt etwas dagegen unternehmen«, sagte er sich, griff in die knisternde Tüte, fischte vier Chips heraus und zerkaute sie krachend. Ein paar Krümel fielen auf seinen Pullover, er fegte sie mit dem Handrücken auf das Sofa und dann auf den Teppich.

Julia schien zu der Sorte Frauen zu gehören, die genau wissen, was sie wollen. Zielstrebig und obendrein attraktiv, wie sie war, hatte sie nur beim ersten Gespräch schüchtern gewirkt. Sie war erst vierundzwanzig, hatte bereits ein Germanistikstudium in Kiew absolviert und arbeitete an ihrer Doktorarbeit. Die deutsche Sprache beherrschte sie tadellos, obwohl mit leichtem Akzent und dem typisch rollenden R. Gisbert wagte es nicht, mit seinen Russischkenntnissen dagegenzuhalten. Bei dem Gedanken kamen ihm fast Tränen der Scham. Zwar hatte er vor Jahren einige Wochen in Sankt Petersburg zugebracht, um die Sprache zu lernen, doch seitdem vieles vergessen. Das Thema ihrer Doktorarbeit merkte sich Gisbert nicht, behielt nur, dass es zufälligerweise etwas mit Frauen- und Männerbildern in der modernen Literatur zu tun hatte – eine Sache, mit der er sich später eingehender beschäftigen wollte.

Nach dem Fußballspiel warf er entschlossen sein Notebook an und tippte im eBay-Suchfenster das Wort »Hanteln« ein. Rund einhundert Kaufangebote spuckte die Suchmaschine aus: diverse Varianten und Farben, ganze Hantelsets, mit und ohne Zusatzgewichte, mit und ohne Kunststoffummantelung.

Drei Tage später stellte der Postbote schwer atmend ein Paket vor der Wohnungstür ab und ließ Gisbert den Empfang bestätigen. Im Paket befand sich ein zweiundzwanzigteiliges Hantelset, das Gisbert auf der Stelle in der Diele ausbreitete, mit Neugier betrachtete und betastete. Er beschloss, die Gewichte nicht gleich unterm Bett zu verstauen, sondern bis zum Abend in der Diele liegen zu lassen. Julia sollte nämlich seine Anschaffung bestaunen, von seinem Ehrgeiz Notiz nehmen.

Seine Rechnung ging auf. Als Julia gegen neun Uhr die Eingangstür öffnete, übte sich Gisbert in der Diele in ärmellosem weißem Unterhemd und Boxershorts eifrig im Hantelheben, in jeder Hand eine Fünf-Kilo-Hantel. Dabei schwitzte er aus allen Poren, eine muffig-salzige Wolke umgab ihn. Er war sich dessen bewusst, das Risiko war es ihm jedoch wert.

»Wow …« Julia staunte und lächelte entzückt. »Was ist denn das?«

»Das ist«, erklärte Gisbert stolz, »das Geheimmittel gegen Bauchspeck.«

Julia musterte ihn interessiert.

»Aha… Das ist vernünftig!«

Gisbert presste weiterhin die Gewichte an sich heran, stemmte sie wieder von sich weg und zählte laut: »… vierundzwanzig, fünfundzwanzig, sechsundzwanzig …«

»Fleißig, fleißig …«, fuhr Julia fort und streifte dabei ihre Schuhe ab. »Mein Bruder hatte früher auch so ein Set, aber ohne den Kunststoff drum herum.«

»Du hast einen Bruder?«

»Ja. Wieso?«

»Ach … nur so, du hast von ihm nie erzählt.«

»Du hast nie danach gefragt.« Sie grinste.

Beinahe hätte er empört »Wann sollte ich das denn?« gerufen, riss sich aber zusammen und hielt den Mund. Dass sie sich ihm gegenüber bisher reserviert gezeigt hatte, wird sie selbst wissen, dachte er. Er wollte ihr keinen Vorwurf machen. Anders hingegen stand es mit Boris, ihm vertraute sie mehr an. Von ihm wusste Gisbert auch, dass Julias Herz nicht vergeben war. Offenbar hatte sie neben der Doktorarbeit keinen Platz für Männer in ihrem hübschen Kopf, mutmaßte Gisbert. Das zu ändern, hatte er sich nun zur Lebensaufgabe gemacht.

»Sind das die Fünf-Kilo-Hanteln?«, fragte Julia.

»Ja … D… das sind sie.«

»Darf ich auch?«

»Was … auch?«

»Na die Hanteln!«

»A… aber sicher.«

Er staunte nicht schlecht. Bisher hatte er keine Frau gekannt, die sich für Hanteln interessierte, geschweige denn die Dinger selbst in die Hand zu nehmen wagte. Das war ein Volltreffer. Mit dem Kauf hatte er ihr ja nur klar­ machen wollen, dass ihm sein Aussehen nicht schnurzegal war, und hatte sich vorgenommen, die Gewichte täglich zu stemmen, damit seine Figur in absehbarer Zukunft mit der eines Athleten gleichzog. Dass dies bald geschehen würde, bezweifelte Gisbert keine Minute. Es galt nur noch, Julia davon zu überzeugen.

Er legte die Hanteln vorsichtig in ihre Hände und sagte:

»Pass auf, sie sind schwer.«

»Das weiß ich.« Sie stellte sich hüftbreit hin, packte fest zu und hob die Gewichte langsam hoch, dann noch einmal und noch einmal …

»D… das ist ja … ein Ding«, rief Gisbert aus, nachdem sie die Hanteln etwa zehnmal an ihre Brust gedrückt hatte und dabei kaum Ermüdungserscheinungen zeigte. Hätte sie ihm einen Tag zuvor erzählt, dass sie früher mit Gewichten trainiert hatte, hätte er es ihr nicht abgenommen. Auf den ersten Blick, obwohl gut einen Kopf größer als er, sah sie schmächtig aus, hatte zarte Gesichtszüge, samtweiche, helle Haut und zudem das schulterlange, lockige Haar eines Models. »Erzähl bloß nicht, du hast das von deinem Bruder gelernt«, setzte er hinzu.

»D… doch, hab ich«, presste Julia durch die zusammengekniffenen Lippen hervor. »Von wem denn sonst?«

»Na ja, man weiß nie. Vielleicht bist du eine Profisportlerin im Gewichtheben … ganz nebenbei.«

Sie ging in die Knie und ließ die Hanteln behutsam auf den Teppich rollen. »Das ist schon lange her«, sagte sie und atmete schwer. »Ich bin völlig aus der Übung. Früher konnte ich sie fünfzigmal nacheinander stemmen.«

»Ach nee …«

»Aber doch!«

Sie erzählte ihm, dass ihr Bruder sie in der Kindheit immer beschützt und ihr außerdem etliche Selbstverteidigungstricks beigebracht hätte. Für Mädchen hätte es in ihrer Stadt keine Möglichkeit gegeben, an solchen Kursen teilzunehmen. Sie mussten sich brav in Gymnastik oder Eiskunstlauf üben. Sportdisziplinen wie Karate oder Judo waren Männerdomänen. Und da sie schon im Mädchenalter attraktiv ausgesehen hatte und von Jungs angebaggert worden war, war es nur verständlich, dass ihr Bruder sich um sie gesorgt hatte.

»Ist er noch in der Ukraine?« Gisbert wurde plötzlich klar, dass er selbst vorhatte – wenn man es genau nahm – sie anzubaggern. Die Vorstellung, es womöglich mit Julias sportlich durchtrainiertem Bruder zu tun zu bekommen, gefiel ihm nicht sonderlich.

»N… nein.« Sie stutzte und blickte todernst drein.

»In Deutschland?«

»Nein.« Sie zögerte einen Augenblick lang, dann fuhr sie fort: »Er ist vor … vor vier Jahren irgendwo in Russland untergetaucht. Ich habe keinen Kontakt mehr mit ihm.«

»Wieso das?«

»Er … er hat Feinde.«

»Aha.« Fast hätte er gefragt, mit wem ihr Bruder sich angelegt hatte, hielt aber lieber den Mund. Es könnte ja sein, dachte er, dass es Julia unangenehm war, darüber zu sprechen.

Sie zog sich in ihr Zimmer zurück. Gisbert war überglücklich. Er hatte es endlich geschafft, bei ihr Interesse für sich (oder zumindest für seine Hanteln) zu wecken. Darauf konnte er aufbauen, sagte er sich, Schritt für Schritt, jeden Tag ein wenig mehr.

Allabendlich, kurz bevor Julia um neun Uhr mit einem Bücherstapel aus der Bibliothek zurückkehrte, rollte er das Hantelset in die Diele und trainierte, bis ihm der Schweiß von der Stirn tropfte. In seinem mit allerlei Kram voll­gestopften Zimmer konnte er das natürlich auf keinen Fall tun. Die Diele hingegen, wo außer dem Schuhregal und einem Schubladenschrank nichts im Weg stand, eignete sich vorzüglich für das Muskeltraining. Zudem gab es dort einen mannshohen Spiegel, in dem er quasi in Echtzeit beobachten konnte, wie sein Bauchspeck schwand und der Umfang seiner Oberarme hingegen zunahm.

Ergab sich dabei ein Gespräch mit Julia, schwebte er auf Wolke Sieben. Den nächsten Schritt zu tun, fehlte es ihm aber an Mut. Er nahm sich immer aufs Neue vor, seine Zuneigung zu ihr deutlich zum Ausdruck zu bringen, ihr mitzuteilen, dass er sie als Frau begehrte und gern mit ihr gehen (oder erstmal nur mit ihr zusammen Hanteln heben) würde, wusste aber nicht, wie er das geschickt einfädeln sollte. Da er einer Frau solch intensive Gefühle noch nie entgegengebracht hatte, fürchtete er umso mehr, voreilig zu handeln. Er hatte schließlich in den zweiunddreißig Jahren seines Lebens nicht herausfinden können, wie man mit einem deutschen Mädchen umging beziehungsweise wie man es charmant »anbaggerte«. Nun stand ihm plötzlich die große Aufgabe bevor, innerhalb kurzer Zeit herauszufinden, wie man ein Mädchen aus fernem Lande dazu brachte, sich in einen zu verlieben. Wer wusste schon wirklich, wie eine hochattraktive russisch-ukrainische Frau tickte, die zudem einen Doktortitel anstrebte?

Er beschloss, sich bei Boris Rat zu holen. Dieser war immerhin in Russland groß geworden und schien auf diesem Gebiet bewandert zu sein. Er hatte zwar keine Freundin, erzählte aber, er sei vor einigen Jahren mit einem Mädchen liiert gewesen, nämlich bevor er mit einundzwanzig Jahren seinem Heimatland den Rücken gekehrt hatte. Warum er diese Beziehung nicht aufrechterhalten hatte, wusste Gisbert allerdings nicht. Das schien ihm nicht von Bedeutung zu sein. Auf den Burschen war sonst Verlass, auch wenn er in zweifelhafte Geschäfte verwickelt zu sein schien. Er hatte sich bei Gisbert etliche Male Geld geliehen, hatte es aber immer pünktlich zurückgezahlt. Er trug ein gut gefülltes Portemonnaie mit sich herum und fuhr einen windschnellen, tiefergelegten GTI IV mit getönten Scheiben. Hin und wieder chauffierte er damit Mädchen aus seinem Semester herum.

Eines frühen Abends, während Julia in der Bibliothek war, klopfte Gisbert bei Boris an und offenbarte ihm seine Gefühle für Julia.

»Kannst du mir helfen?«, fragte er.

»Wie helfen …?«

»Na ja, du weißt doch bestimmt, wie man das Herz einer Ukrainerin erobert. Oder?«

Boris grinste, zog dann die Nase hoch und verkündete: »Du musst dich anziehen warm, mein Junge. Das ist ein harter Nuss.« Das R rollte er stärker als Julia, obwohl er vier oder fünf Jahre länger als sie in Deutschland zugebracht hatte.

»Meinst du?«

»Aber ganz sicher«, gab er fachmännisch zur Antwort. »Ich kenne jemand, der hat schon probiert bei Julia.«

»Echt?«

»Ja. Sie ihn knallhart abgeblitzt.« Er blieb vor dem kleinen, runden Wandspiegel stehen, griff nach dem Kamm, fuhr damit seinen Seitenscheitel entlang und pustete die hängengebliebenen Härchen vom Kamm auf den Boden.

»Vielleicht mochte sie ihn nicht?« Gisbert nutzte die Pause für einen Einwurf.

Boris starrte ihn aus dem Spiegel mit gerunzelter Stirn an. »Vielleicht … aber vielleicht auch nicht.« Darauf klopfte er den Kamm auf dem Handrücken aus. »Der Kerl war aber sehr attraktiv.«

»Aha …«

»Ja, und sehr sportlich.« Er fuhr mit der rechten Hand über sein etwas abstehendes, gewelltes Haar und drückte es ohne Erfolg an den Kopf. »Aber wenn du trotzdem willst probieren, dann du musst großes Herz haben und großzügig sein.«

»Großzügig? Wie meinst du das denn?«

»Ich meine so, wie ich das gesagt: groß-zü-gig, ganz stark großzügig.« Boris wandte Gisbert sein Gesicht zu, setzte gewichtig seine neue Sonnenbrille auf die kantige Nase und breitete die Arme aus. »Sooooo großzügig. Kapierst du?«

»Ich … ich weiß nicht …«

»Also, pass auf! Wenn du willst eine Russin oder Ukrainerin beeindrucken, dann du musst überall für sie bezahlen.«

»Hm … Wo zum Beispiel?«

»Nicht zum Beispiel. Überall, hab ich gesagt. Du gehst mit ihr in Restaurant oder du sie einladen in Konzert oder Kino, dann du, ohne einmal mit dem Auge zucken, für sie zahlen. Egal wie teuer! Sonst kannst du einpacken dein Spielzeug.«

»Und das ist das Geheimnis?«

Gisbert entsann sich plötzlich seiner missglückten Frauen­bekanntschaften aus dem Internet. Bei den ersten Treffen hatte er auf Svens Anraten ebenfalls brav alle Rechnungen beglichen und aus diesem Grund zügig sein Konto überzogen. Keine dieser Frauen war zu seiner Freundin geworden, nicht einmal für einen einzigen Tag, nicht einmal für eine Stunde. Aber vielleicht tickten die ukrainischen Frauen in der Tat anders und wussten solche Gesten zu schätzen? Gisbert schöpfte plötzlich Hoffnung. Für Julia wollte er keine Mühe scheuen, das stand fest.

»Aber nicht nur das«, fuhr Boris fort. »Unsere Frauen lieben Geschenke.«

»Wer mag sie nicht? Unsere doch genauso.«

»Ja, aber unseren Frauen du musst oft einfach so zwischendurch etwas schenken. Kosmetik oder einfach Blumen oder so … oder gute Strümpfe kaufen, einfach so!«

»Strümpfe?!«

»Ja. Und du darfst den 8. März niemals vergessen!«

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Verlag Monika Fuchs
Cover: Verlag Monika Fuchs
Tag der Veröffentlichung: 31.03.2020
ISBN: 978-3-7487-3408-6

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