Cover

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Impressum

Ganz schön einsam

Der arme Lou

Ein Kätzchen namens Noah

Ein großes schwarzes Buch

Zu Besuch bei Henriette

Dr. Thomas Fechner

Noah zieht ein

Klassenfahrt nach Hamburg

Operation Waldmeister

Besuch im Krankenhaus

Wieder zu Hause

Zwillinge

Fliegen ist schöner

Aller Anfang ist nass

Merkt er was?

Rennmäuse sind die Rettung

Geheimnisse bei Mango-Eis

Zusammen sind wir stark

Dank

Sibylle Luig

Ulrike Barth-Musil

Sibylle Luig

Operation Waldmeister

 

mit Bildern von Ulrike Barth-Musil

 

Verlag Monika Fuchs

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Menschen oder Ereignissen wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.

www.verlag-monikafuchs.de

www.magiehochzwei.com

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Überarbeitete Neuausgabe der 2017

im Selbstverlag erschienenen Erstausgabe

ISBN 978-3-947066-22-3

© 2018 by Verlag Monika Fuchs | Hildesheim

Layout und Satz: Die Bücherfüxin | www.buecherfuexin.de

Silhoutte Berlin: © HS-Photos (Heike Schulz) | depositphotos.com

Cover und Illustrationen: Ulrike Barth-Musil | Potsdam

Text: Sibylle Luig | Berlin


Ganz schön einsam

»Autsch!«, rief Elli. Einer der kleinen Zettel, die Josefine mit einem Gummi durch die Klasse schoss, hatte sie an der Lippe getroffen. Jetzt lag er vor ihr auf dem Pult, und Elli konnte sich nicht entschließen, ob sie ihn einfach runterfegen oder aufmachen und lesen sollte. Andere Schüler hatten anscheinend gelesen, was darauf stand. Immer wieder kicherte jemand. Zögernd griff Elli nach dem Zettel.

»Elektra«, hörte sie die Stimme ihrer neuen Klassenlehrerin, Frau Sauter. »Ich dachte, ich hätte euch gebeten, in euren Deutschbüchern die Seite 7 durchzulesen. Aber wenn dein Zettel interessanter ist, dann willst du vielleicht an die Tafel kommen und ihn vorlesen?«

Jetzt schien auf einmal die ganze Klasse zu kichern. Wussten alle bis auf Elli, was Josefine geschrieben hatte? Mit rotem Kopf stand Elli auf, strich ihren Rock glatt und ging zögernd an die Tafel.

»Na, was steht denn da nun Spannendes?« Frau Sauter war eine große, dicke Frau mit rotgefärbten, kurzen Haaren und einer durchdringenden Stimme.

Elli faltete den Zettel auf, starrte ihn an und wäre am liebsten im Boden versunken.

»Kannst du nicht lesen?«, fragte Frau Sauter und schnappte ihr den Zettel aus der Hand.

»Elektra liebt Philip«, trug sie laut vor und hielt den Zettel hoch, damit alle das von einem Pfeil durchbohrte Herz sehen konnten, neben dem links »Elektra« und rechts »Philip« stand.

»Das ist ja sehr interessant«, sagte Frau Sauter.

»Wer hat das geschrieben?«

Keiner meldete sich, und Elli sagte auch nichts. Josefine schien sie jetzt schon nicht zu mögen, dabei kannten sie sich noch gar nicht.

»Du kannst wieder auf deinen Platz gehen, Elektra«, sagte Frau Sauter. »Wenn hier in der Klasse keine Ruhe einkehrt, setze ich euch alle um. Dann sitzt ihr nicht mehr neben euren Freunden aus der Grundschule. Elektra und Josefine, ihr zwei könnt gleich den Platz tauschen.«

Elli ging zu ihrem Pult und packte ihre Sachen ein. Philip schaute sie dabei nicht an.

»Das haste jetzt davon«, zischte Josefine Elli böse zu, als sie sich mit ihrer Schultasche in der Hand auf die andere Seite der Klasse drängelte. Elli sagte nichts. Warum war Josefine nur so fies zu ihr? Sie hatte ihr doch nichts getan. Das Mädchen, neben dem Elli nun saß, trug eine weiße Rüschenbluse mit einem blauen Faltenrock und hieß Sofie.

»Komischer Name, Elektra«, sagte Sofie zur Begrüßung. Alle nannten Elektra nur Elli, bis auf ihre Mutter manchmal, aber das wussten weder Frau Sauter noch Sofie.

Anstatt zu Sofie zu sagen, sie könnte sie auch Elli nennen, sagte sie trotzig: »Mir gefällt der Name.«

»Umso besser«, sagte Sofie und redete von da an nur noch mit Mascha, die auf ihrer anderen Seite saß. Links von Elli saß niemand und rechts von ihr diese Sofie, die so tat, als sei sie Luft. Elli fühlte sich schrecklich alleine.

Sofie und Mascha verstanden sich so gut, dass ihr ständiges Gequatsche nur wenige Tage später zum nächsten Umsetzen führ­te, und Elli landete neben einer Charlotte.

Außer Philip kannte Elli keines der Kinder in ihrer neuen Klasse. Irena, Emilia und Anton waren in der 5 a, Luis und Nicholas waren in die 5 c gekommen, und die anderen Kinder aus ihrer alten Klasse waren auf andere Schulen gegangen oder noch auf der Grundschule geblieben.

»Ist doch nicht schlimm«, hatte ihre Mutter gesagt. »Du wirst bestimmt schnell neue Freundinnen finden. Und Philip ist ja auch in deiner Klasse.«

Ja, Philip war da, aber neue Freundinnen hatte Elli bisher nicht gefunden. Auch nach drei Wochen noch nicht.

»Die sind alle total bescheuert«, sagte Elli eines Tages nach der Schule zu Philip.

»Total«, sagte Philip. Er hatte an der Ecke der Reichsstraße auf sie gewartet. Josefine sollte nicht merken, dass sie den gleichen Nachhauseweg hatten. Sie hörte einfach nicht auf, Philip und Elli zu ärgern. Elli traute sich kaum noch, mit ihm zu reden.

»Aber die Jungs sind ganz nett. Also der Leon, neben dem ich gerade sitze, der ist okay«, sagte Philip.

»Toll«, sagte Elli genervt.

»Ist doch nur Schule«, sagte Philip, um sie zu trösten.

»Ja, nur sechs schreckliche Stunden jeden Tag.« Elli schüttelte den Kopf, dass ihre rotblonden Locken nur so flogen.

»Wollen wir zu dir gehen und uns in die Eiche setzen?«

In Philips Garten wuchs eine riesige alte Eiche, in die sie eine Strickleiter gehängt hatten. Wenn man die ersten drei Meter Stamm überwunden hatte, konnte man gemütlich auf den Ästen liegen, so breit waren sie. Und das war auch der einzige Ort, an dem man vor Philips doofer Nachbarin sicher war.

»Ich hab jetzt Fußballtraining«, sagte Philip.

»Ach ja.«

Philip spielte zurzeit dauernd Fußball. Nachmittags hatte er fast nie Zeit. So kam es Elli jedenfalls vor. Na gut, dann würde sie eben alleine nach Hause gehen und in ihrem neuen Buch lesen, bis ihre Mutter und ihre Tante kamen.

»Da ist ein Mädchen in meiner Klasse, die ist so richtig gemein zu mir«, sagte Elli beim Abendessen, während sie missmutig in ihren Spaghetti stocherte.

»Wirklich?«, fragte ihre Mutter. »Was macht sie denn?«

»Sie sagt, dass ich in Philip verliebt bin.«

Tante Eva, die mit ihnen zu Abend aß, kicherte.

Elli hätte sich denken können, dass Eva das lustig finden würde. Sie wünschte sich, sie hätte es nicht gesagt.

»Und sie sagt, dass ich einen komischen Namen habe. Elektra, so heißt kein Mensch, sagt sie.«

»Elektra hieß meine Oma, also deine Uroma, Elli«, sagte ihre Mutter und nahm sich noch eine Portion Spaghetti. »Ich mochte sie sehr gerne.«

»Ich kenn ja noch nicht mal meine Oma«, sagte Elli. »Ich wünschte, ihr hättet mich nach dir benannt, Mama. Matea, das klingt so schön.«

»Das wäre ja langweilig«, stöhnte Tante Eva. »Die große und die kleine Matea. Na, ich danke.«

Typisch Tante Eva. Nichts war schlimmer, als wenn irgendwas oder irgendwer langweilig war.

»Als wir klein waren fanden sie unsere Namen komisch, weißt du noch, Eva?«, fragte Ellis Mutter ihre Schwester. »Vor allem meinen Namen.« Sie lachte, als sie sich daran erinnerte.

»Was ist denn lustig an Matea?«, fragte Elli immer noch schlecht gelaunt.

»So hieß früher einfach niemand. Das fanden alle komisch«, sagte ihre Mutter.

»Und mich haben sie nach Adam gefragt: Eva, wo ist denn dein Adam?«, fiel Tante Eva ein.

Sie kicherten bei dem Gedanken daran.

Elli wurde traurig, als sie ihre Mutter und ihre Tante zusammen kichern hörte. Zu zweit konnte man darüber lachen, dass man einen komischen Namen hatte, aber alleine war das nicht so einfach. Wenn sie Eva und Matea zusammen sah, dann fühlte sie sich manchmal schrecklich einsam.

»Ist mir egal, was früher war. Ich hab einen seltsamen Namen, und die Mädchen in der Klasse lachen mich aus«, beharrte sie.

»Du hast keinen seltsamen Namen, sondern einen besonderen, das ist ein Unterschied«, sagte ihre Mutter.

»Ein besonderer Name für ein besonderes Mädchen«, sagte Tante Eva stolz.

»Ich bin überhaupt nicht besonders«, sagte Elli. »Für die Mädchen in meiner Klasse bin ich Luft – bestenfalls.«

Ellis Mutter streichelte ihr liebevoll über den Kopf.

»Ist doch so, die anderen Mädchen nehmen mich gar nicht wahr«, sagte Elli. »Nur die, die mich ärgern wollen.«

Eva griff über den Tisch nach Ellis Hand. »Elli, du bist etwas ganz Besonderes. Eines Tages wirst du das wissen.« Und zu Matea sagte sie »Muss doch nicht sein, dass sie sich so fühlt.«

Irgendwie klang das vorwurfsvoll, fand Elli.

»Natürlich nicht!«, sagte Ellis Mutter, als ob sie sich verteidigen wollte. Ins Gespräch vertieft hatte sie immer heftiger über Ellis Kopf gestreichelt.

»Aua, Mama!« in Ellis Haaren knisterte es. Sie hatten sich elektrisch aufgeladen.

»Entschuldige, Süße!« Matea zog ihre Hand zurück.

»Außerdem sieht das doch ein Blinder mit Krückstock«, sagte Tante Eva und betrachtete Ellis Locken, die jetzt in alle Richtungen von ihrem Kopf abstanden.

»Was sieht ein Blöder mit Krückstock?«, fragte Elli und versuchte, ihre rebellisch gewordenen Haare wieder zu glätten. Es gelang ihr nicht.

Bei dem bloßen Versuch knisterten sie noch gefährlicher. Evas Kater Nero, der es sich beim Essen auf Ellis Schoß bequem gemacht hatte und eingeschlafen war, maunzte erschrocken. Er sprang auf und versteckte sich unter dem Sofa.

Matea schaute von ihrer Schwester zu ihrer Tochter und stützte dann stöhnend ihren Kopf in beide Hände. Ihre blonden Locken fielen in sanften Wellen vor ihr auf den Tisch. Mateas Haare standen nie in alle Himmelsrichtungen von ihrem Kopf ab, wie die von Elli es manchmal taten.

»Bitte streitet nicht«, sagte Elli. »Das macht alles nur noch schlimmer.«

»Wir streiten nicht, wir haben nur Meinungsverschiedenheiten«, sagte ihre Mutter.

Ein anderes Wort für Streit, dachte Elli und schob ihren Teller weg. Sie hatte keinen Hunger mehr.

»Ich hab Meinungsverschiedenheiten mit Josefine aus meiner Klasse«, sagte sie. »Ich bin der Meinung, dass sie eine Arschkuh ist, und sie sieht das anders.«

Eva kicherte, und Matea seufzte schon wieder.

»Jetzt lach doch mal«, sagte Eva und stieß ihre Schwester mit dem Ellenbogen in die Seite.

Matea rang sich ein Lächeln ab. »Ist es so schlimm im Gymnasium, meine Süße?«

»Ich hab da keine Freundin in der Klasse.«

»Und was ist mit Philip?«

»Der sagt, dass die Jungen in der Klasse nett sind, aber die Mädchen sind Arschkühe.«

»Das haben wir jetzt verstanden«, sagte Matea streng, während Eva weiter kicherte.

»Es ist nicht schön, allein zu sein«, sagte Elli. »Ihr versteht das nicht. Ihr seid nie allein. Ihr seid immer Schwestern. Auch wenn ihr euch streitet.«

Jetzt kicherte auch Eva nicht mehr. »Du bist auch nicht alleine. Wir sind doch da.«

»Gar nicht. Ihr seid den ganzen Tag in eurer Praxis zusammen, und ich bin alleine in der Schule. Und selbst wenn. Ihr seid erwachsen, und ihr seid Zwillinge.«

Einen Augenblick schwiegen alle, dann sagte ihre Mutter: »Komm, Elli, du findest bestimmt eine Freundin.«

»Matea hat recht«, stimmte Eva ihrer Schwester zu. »Wenn man sich etwas wirklich wünscht, dann schafft man es auch.«

»Lass dich von Josefine nicht ärgern«, sagte Matea. »Es gibt doch noch andere Mädchen in der Klasse. Ich kann mir nicht vorstellen, dass alle Josefine toll finden.«

Elli überlegte. Wahrscheinlich hatten ihre Mutter und ihre Tante recht. Sie war nicht die Einzige, die von Josefine geärgert wurde. Henriette zum Beispiel. Josefine nannte Henriette immer »Henriette Bimmelbahn« wie die Lok aus dem Bilderbuch. Und zu Antonia, die ein bisschen stämmiger war, sagte sie ständig Tonni statt Toni und lachte sich dann halbtot.

Als Elli später im Bett lag und nicht einschlafen konnte, beschloss sie, am nächsten Tag in der Schule anzufangen, sich eine Freundin zu suchen. Sie stand nochmal auf, holte vom Schreibtisch einen Zettel und einen Stift und machte eine Liste aller Mädchen in ihrer Klasse.

Josefine begann ihre Liste, und den Namen strich sie gleich durch. Eine Freundin würde Josefine nie werden. Als zweiten Namen schrieb sie Sofie auf.

Elli überlegte, ob sie Sofie auch gleich durchstreichen sollte, ließ es aber bleiben. Sie wollte sich wirklich bemühen, eine Freundin zu finden. Schließlich stand auf ihrem Zettel:

Josefine
Alexandra
Sofie
Antonia
Mascha
Frieda (mit ie)
Margarethe
Frida (mit i)
Lena
Henriette
Lea
Charlotte

Sie würde von unten mit der Suche nach einer besten Freundin anfangen, schließlich saß sie gerade neben Charlotte.

»Schläfst du noch nicht?« Ihre Mutter streckte den Kopf zur Tür herein. Hinter ihr kam ihr Kater Mihai ins Zimmer. Er sprang auf Ellis Bett und drehte sich dreimal um sich selbst. Dann legte er sich gemütlich zu ihren Füßen hin und fing an zu schnurren.

»Jetzt schlafe ich auch bald«, sagte Elli.

Matea legte sich neben Elli aufs Bett. Gemeinsam sahen sie ­hinauf an die blaue Decke mit den weißen Sternen über Ellis Himmelbett.

»Wenn ich nicht schlafen kann, zähle ich die Sterne«, sagte Elli und kuschelte sich an ihre Mutter.

Das Himmelbett hatten ihre Mutter und Tante Eva ihr zum zehnten Geburtstag geschenkt. Sie hatten die Stoffe ausgesucht und zusammen die weiten Vorhänge genäht, die man rund ums Bett zuziehen konnte. In der ersten Nacht hatten sie zu dritt darin geschlafen.

»Denk daran, was man in der ersten Nacht in einem neuen Bett träumt, das wird wahr«, hatte Tante Eva ihr kurz vor dem Schlafen ins Ohr geflüstert. Elli hatte geträumt, dass sie fliegen könnte. Aber weil das nie wahr werden würde, hatte sie es Tante Eva gar nicht erst erzählt. Jetzt musste Elli auf einmal daran denken. Fliegen zu können, das wäre etwas Einzigartiges. Wenn sie fliegen könnte, dann würden auch Sofie und Josefine plötzlich nett zu ihr sein. Und alle anderen sowieso.

»Es ist gut, einen Ort zu haben, an dem man glücklich ist«, sagte ihre Mutter in ihre Gedanken hinein und küsste Elli auf die Stirn, bevor sie wieder zu Eva in die Küche ging.

Das stimmte. Ihr Himmelbett war etwas Besonderes, und in ihrem Himmelbett war Elli glücklich. Gleich morgen wollte sie sich auf die Suche nach einer Freundin machen, der sie ihr Bett zeigen konnte. Sie las noch zwei Seiten in ihrem neuen Lieblingsbuch.

Aus der Küche hörte sie Matea und Eva mit Geschirr klappern und sich unterhalten. Elli liebte diese vertrauten Geräusche. Es war schön zu wissen, dass ihre Mutter und ihre Tante wach waren und auf sie aufpassten, während sie im Bett lag. Als sie schon fast eingeschlafen war, hörte sie, wie Tante Eva auf einmal lauter wurde.

»Du musst es ihr sagen, Matea. Sie hat ein Recht darauf zu wissen, wer sie ist.«

Aber noch bevor Elli darüber nachdenken konnte, wem Matea was sagen sollte und warum, war sie bereits eingeschlafen.


Der arme Lou

Als Elli am nächsten Morgen in die Klasse kam, saß Henriette allein an ihrem Pult und starrte auf ihr Handy. Glücklich sah sie dabei nicht aus. Vielleicht war Elli wirklich nicht die Einzige, die sich nach einer Freundin sehnte? Sie zögerte einen Augenblick, und fast hätte sie Henriette angesprochen, aber dann kam Frau Sauter in die Klasse. Elli konnte Henriette nur noch zunicken und sich schnell hinsetzen.

Im Unterricht blieb der Platz neben Henriette frei. Elli überlegte, wer dort zuletzt gesessen hatte. Es fiel ihr nicht ein. Frau Sauter versetzte Kinder, wenn sie fand, dass sie störten. Und irgendwer schien Frau Sauter immer zu stören. Elli drehte sich nach rechts und links um, um zu schauen, wer von den Mädchen da war.

»Wenn du einen solchen Bewegungsdrang hast, Elektra, dann komm doch bitte an die Tafel«, sagte Frau Sauter. »Vielleicht kannst du dich an die Vokabeln erinnern, die wir gestern in Englisch zum Thema Herbst gelernt haben.«

Elli hatte die Worte geübt, die Frau Sauter abfragte, und konnte alles beantworten. Aber Frau Sauter korrigierte die Aussprache jedes einzelnen Wortes und schüttelte dabei den Kopf, als könnte sie gar nicht begreifen, dass jemand so schlecht Englisch sprach.

»Manche lernen es nie«, sagte Frau Sauter kopfschüttelnd zur Klasse, nachdem Elli sich wieder gesetzt hatte. »Für Englisch braucht man einfach ein bisschen Talent und Sprachgefühl.«

Elli bemühte sich, ihren Kopf so zu halten, dass nicht alle sahen, wie rot sie geworden war. Sie dachte an Frau Linse, ihre Klassenlehrerin aus der Grundschule. Wie nett sie gewesen war im Vergleich zu Frau Sauter.

Als die Stunde zu Ende war, blieb Elli auf ihrem Platz sitzen. Sie hatte keine Lust, auf den Gang zu gehen und dort alleine rumzustehen. Und wenn sie sich zu Philip stellte, würde Josefine sie sofort wieder aufziehen. Da tat sie lieber so, als müsste sie sich noch auf die nächste Stunde vorbereiten.

»Das war gemein von Frau Sauter«, sagte Henriette und setzte sich auf den freien Platz neben Elli. »Mach dir nichts draus. Zu mei­nem Cousin ist sie auch immer so fies gewesen.«

»Jetzt nicht mehr?«

»Nee, der geht jetzt in die Achte. Da traut sie sich nicht mehr, sagt er. Die ist nur zu den Kleinen fies.«

»Ich hätte auch gerne einen Cousin in der achten Klasse«, sagte Elli.

»Kannst meinen haben«, Henriette zog die Nase kraus, aber dann lachte sie. »Nee, der ist schon ganz okay.«

Ellis Herz klopfte. So viel hatte sie noch mit niemandem aus der Klasse geredet. Und jetzt ausgerechnet mit Henriette, die auf Platz zwei ihrer »Beste-Freundinnen-Liste« stand. Sie fasste sich ein Herz: »War was vorhin? Du sahst traurig aus.«

»Erzähl ich dir in der großen Pause. Da kommt Herr Müller«, sagte Henriette und stand auf.

Herr Müller unterrichtete Naturwissenschaften und war Ellis Lieblingslehrer. Er hatte nicht nur das spannendste Fach, er war auch netter als alle anderen Lehrer am Gymnasium. Er war groß und grauhaarig, und wenn er den Schülern zuhörte, setzte er seine Brille ab und schaute sie ganz genau an. Dabei legte er die Brille meistens irgendwohin, wo er sie nicht wiederfand, und später suchten sie alle zusammen.

Aber heute konnte Elli sich kaum darauf konzentrieren, was Herr Müller sagte, so sehr freute sie sich auf die große Pause.

Als es endlich klingelte, ging sie hinter Henriette her auf den Pausenhof.

»Wenn alle Lehrer so nett wären wie Herr Müller, dann könnte man es glatt hier aushalten, oder?«, fragte Henriette.

»Gefällt es dir nicht auf dem Gymnasium?«, fragte Elli.

»Doch, ist schon ganz in Ordnung hier.«

»Weil du vorhin so traurig aussahst.«

»Ach so, ja. Ich bin traurig, weil es meinem Hund schlecht geht.«

»Du hast einen Hund?« Elli merkte, wie sie ein bisschen eifersüchtig wurde. Sie hätte so gerne auch ein eigenes Tier gehabt.

»Ja, Lou. Er ist noch ein Welpe, ein Beagle. Ich hab ihn gerade erst bekommen. Und seit Mittwoch jault er und versucht, sich am Ohr zu lecken. Der Tierarzt sagt, dass da nichts ist. Er meint, dass Lou sich vielleicht nicht wohl fühlt bei mir. Wenn es nicht besser wird, müssen wir den Züchter anrufen, meint mein Vater.«

»Oh«, sagte Elli.

»Dann nehmen sie ihn mir vielleicht wieder weg.« Henriette weinte fast.

»Bestimmt nicht!« Elli griff nach Henriettes Hand. »Ich hab eine Idee, was wir machen.«

»Du?«, fragte Henriette, und Elli fand, dass es so klang, als würde Henriette ihr das nicht zutrauen. Aber sie war sich ganz sicher, dass sie ihr und Lou helfen konnte.

»Ja, ich«, sagte sie bestimmt. »Warte nach der Schule auf mich. Lou wird schon wieder. Versprochen.«

Nach der Schule riefen sie von Henriettes Handy bei Ellis Mutter in der Praxis an.

»Ich kann heute beim besten Willen nicht, Schatz. Ich hab eine OP. Das kann dauern. Bringt den Hund doch morgen.«

Elli wollte nicht bis morgen warten. Sie wollte Henriette jetzt beweisen, dass sie ihr helfen konnte.

»Dann gib mir Tante Eva«, verlangte Elli.

Und Tante Eva sagte Ja. Sie durften Lou um drei zu ihr bringen.

»Ich schau mir das Ohr gerne an. Jaulen vor Schmerz, das geht ja gar nicht.« Wie immer klang Tante Eva sehr bestimmt.

»Danke, danke, danke«, rief Elli in den Hörer.

Und Henriette sagte »danke, danke, danke« zu Elli und umarmte sie.

»Müssen wir deine Eltern noch fragen?«, wollte Elli von Henriette wissen.

»Wenn, dann meinen Vater, aber der ist noch nicht da«, sagte Henriette, und sie machten sich auf den Weg.

Als sie bei Henriette zu Hause ankamen, lag Lou in einer dunklen Ecke im Wohnzimmer und winselte.

Er hob gerade mal den Kopf, um Henriette zu begrüßen, dann vergrub er ihn wieder unter seinen Pfoten.

»Oje, der Arme«, seufzte Elli.

Elli und Henriette knieten sich vor ihn hin.

»Ich weiß nicht mal, wie wir ihn zur Praxis bringen sollen. Er will nicht laufen, und ich kann ihn doch nicht tragen«, seufzte Henriette.

Nein, zum Tragen war Lou zu schwer, auch wenn er ein Welpe war.

»Vielleicht zusammen? Wenn wir ihn in eine große Einkaufstasche setzen? Mit einem Kissen drin?«

»Gute Idee!«, rief Henriette. »Komm mit!«

In der Küche fanden sie hinter einem Schrank eine blaue Ikea-Tasche.

»Da passt sogar sein weiches Körbchen rein, glaube ich.«

Henriette lief nach oben und kam kurz darauf mit einem Hundekörbchen wieder. Sie setzen es in die Tasche, und dann hoben sie den wimmernden Lou gemeinsam in sein Körbchen hinein. Ganz vorsichtig, damit sie ihm nicht wehtaten.

»Ohne dich würde ich das nie schaffen«, ächzte Henriette, und Elli lächelte glücklich.

»Ist doch klar«, sagte sie. Dann legten sich beide jeweils einen Henkel der Tasche über die Schulter und hoben sie auf »eins, zwei, drei« hoch.

Einen Augenblick schwankte die Tasche und mit ihr Lou bedenklich zwischen ihnen vor und zurück, aber dann pendelte sie sich ein.

Henriette gab die Adresse von der Praxis in ihr Handy ein. Elli war sich nicht sicher, ob sie den Weg von Henriettes Wohnung aus finden würde.

»Ankunft 14:58«, verkündete Henriette einen Moment später. »Perfekt.« Sie folgten den Anweisungen der Handystimme durch die Straßen, bis sie bei der Praxis von Matea und Eva ankamen.

Auf den Stufen vor dem Haus saß Tante Eva, ihre roten Haare zu einem Dutt hochgesteckt und in der Hand eine ihrer Nelkenzigaretten.

»Deine Mutter raucht?«, fragte Henriette.

»Das ist meine Tante«, sagte Elli schnell. Musste Tante Eva unbedingt vor ihren Freundinnen rauchen?

»Mein Vater raucht auch manchmal«, sagte Henriette. »Aber nur abends.«

Na ja, dachte Elli. Immerhin auch nicht perfekt.

»Hallo, ich bin Eva!« Ellis Tante streckte Henriette die Hand entgegen. Dann sah sie Lou in der Tasche. »Und du bist der Patient. Dann kommt mal rein.«

Evas Praxishälfte war auf der rechten Seite des Flurs. Vor ihrer Tür hing ein Perlenvorhang, der leise klimperte, als sie hindurchgingen. In den Räumen war es ziemlich dunkel, in den Ecken standen Kerzen, und von der Decke hing eine große Lampe, deren Licht rötlich schien.

Henriette sah sich irritiert um.

»Bei eurem Tierarzt sieht es anders aus, oder?«, fragte Eva.

Henriette nickte.

»Vielleicht kann ich ihm ja trotzdem helfen.« Eva zwinkerte Henriette zu. »Darf ich Lou aus der Tasche holen?«

Henriette nickte wieder. Tante Eva und die Praxis schienen ihr die Sprache verschlagen zu haben.

Eva hob Lou aus der Tasche und setzte sich mit ihm in ihren großen Ohrensessel. Einen Moment saßen sie einfach nur so da, dann hob Lou den Kopf, sah Tante Eva an und legte seine Vorderpfoten auf ihren Schoß. Er hatte aufgehört zu winseln. Eva strich ihm über den Kopf und betrachtete ihn aufmerksam.

»Das rechte Ohr, oder?«, fragte sie Henriette.

Henriette nickte schon wieder. Dann räusperte sie sich und schien endlich auch wieder sprechen zu können.

»Der Tierarzt konnte nichts feststellen«, sagte sie.

»Na, wir schauen mal«, tröstete Eva sie.

»Darf ich?«, fragte sie Lou. Dann hob sie sein rechtes Ohr vorsichtig an und leuchtete mit einer kleinen Lampe hinein.

»Alles klar«, sagte sie einen Moment später. »Bring mir doch mal die erste Schublade unten rechts. Zieh sie einfach raus.«

Elli zog die Schublade aus der Kommode, auf die Eva gezeigt hatte. In der Schublade lagen viele Tuben mit Salben. Eva kramte einen Moment, zog nacheinander zwei Tuben raus, schüttelte den Kopf und fand schließlich eine große Tube, die die richtige zu sein schien. Sie schaute Lou an, und der nickte mit dem Kopf, dass seine langen Beagle-Ohren schlackerten. Eva schmierte ihm Salbe ins Ohr, wartete einen Augenblick, und schließlich nickte auch sie. Lou sprang von ihrem Schoß und rollte sich zu ihren Füßen zusammen.

»Ist er jetzt wieder gesund?«, fragte Henriette erwartungsvoll.

»So schnell geht es nicht«, sagte Tante Eva lächelnd. »Er hat eine Entzündung im Ohr. Kann sein, dass man die noch nicht sehen konnte, als ihr letzte Woche beim Arzt wart. Die Salbe

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Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Verlag Monika Fuchs
Bildmaterialien: Verlag Monika Fuchs
Cover: Verlag Monika Fuchs
Tag der Veröffentlichung: 01.11.2019
ISBN: 978-3-7487-1943-4

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