Cover

Der Raum war schwarz. So schwarz, dass es in den Augen brannte, wenn man sie öffnete. So schwarz, dass einem die Seele zersprang, wenn man sich umschaute.
Serafina hatte so etwas schon oft erlebt. Dunkle Räume. Sie hatte in unzähligen Felsspalten festgesessen, hatte sich durch die schwärzesten Gebiete getastet, in denen jemals ein Mensch gewesen war. Einmal, noch am Anfang ihrer Karriere, hatte sie eine Höhle erkunden müssen. Sie konnte sich noch genau daran erinnern. Sie musste sich durch einen engen Spalt zwängen, um in eine Art Hohlraum zu gelangen. Dort hatte sie den Sprengsatz platziert. Doch als sie durch den Spalt zurückwollte, war sie stecken geblieben. Sie hatte nur ganz knapp entkommen können. Auch damals hatte sie Angst gehabt, das Gefühl, als wäre ein denkendes Wesen in ihrem Rücken.
Doch diese Dunkelheit war anders. Sie war nicht normal. Es schien, als würde sie atmen. Ein, aus. Und doch schien sie tot. Kein Leben war in ihr. Es war, als würde eine lauernde Bestie in ihr sitzen. Manchmal stellte sie sich tot, um dann wieder zu atmen. Und diese Bestie ist überall um mich herum, dachte Serafina. Ich bin mittendrin in ihrem Revier. Ich kann nicht entkommen.
Eine kleine Ewigkeit stand sie so da. Spürte, was für ein gewaltiger Druck auf ihr lastete. Und versuchte verzweifelt, etwas, irgendetwas in der Dunkelheit auszumachen. Obwohl sie genau wusste, dass sie nichts sehen würde. Und dass nichts da war. Sie war allein.
Dann, als wäre ihr bewusst geworden, was ihr Auftrag war, zuckte sie zusammen und machte ein schuldbewusstes Gesicht. Sie löste den Knoten, mit dem der Beutel an ihrem Gürtel befestigt war, und hängte ihn sich stattdessen um den Hals. Dann wog sie ihn in der Hand. Er war schwer. So schwer. Sie wusste nicht, was sich in ihm befand, und sie wusste es nicht. Das Ding, das sie in der Hand hatte, hieß Erolin. Aber sie hatte es nicht gesehen. Niemand hatte es gesehen, außer Kim. Kim und Lewis. Aber der war nicht mehr da. Er lebte noch, aber er war auf die andere Seite gewechselt. Das hatte sie von Kim erfahren. Und dass er alles tun würde, um an den Beutel zu kommen.
Lewis wusste allerdings nicht, dass Serafina kommen würde. Ein Kind. Tränen schossen ihr in die Augen. Mit einer ärgerlichen Handbewegung wischte sie sie weg. Sie war sechzehn. Kein Kind mehr. Sie wusste genau, wie die anderen über sie dachten. Sechzehn. Miranda war neunzehn. Sie war die jüngste nach Serafina. Auch Kim respektierte sie nicht als Erwachsene. Sie zeigte es nur nicht. Aber nach diesem Auftrag würde keiner mehr über Serafina sagen können, dass sie ein Kind war. Niemand durfte das dann noch.
Der Beutel fühlte sich warm an. Er strahlte Wärme aus. Irgendwie war das beruhigend. Nur ein Blick� Kim hatte sie gewarnt. Serafina konnte ihre Worte hören, wenn sie die Augen schloss. �Wenn du den Beutel öffnest, weiß Lewis, dass du hier bist. Dann bist du verloren. Wir alle sind dann verloren.� Aber es war so verlockend. Sicher wussten alle anderen, was für ein Gegenstand es war. Was er für Macht hatte. Nur sie nicht. Weil sie ein Kind war.
Warum war Kim so unfair? Warum?
Serafina wusste, dass sie es nicht tun sollte. Aber der Beutel war stärker. Plötzlich leuchtete er. Serafina hielt ihn an ihre Wange. Schön warm. Einen Moment war sie unschlüssig. Doch dann dachte sie an das, was sie geleistet hatte. Nie hatten die anderen sie dafür respektiert. Und ein kleiner Blick konnte ja nicht schaden.
Sie nahm den Beutel in die Hand. Jetzt hing er nicht mehr um ihren Hals. Wenn sie sich jetzt erschrak, wäre alles verloren. Sie öffnete den Beutel.
�Danke, dass du mich gewarnt hast, Serafina.�
Der Beutel fiel auf den Boden. Aus einer Ecke kam Licht. Ein Mann. Er schien zu schweben. Und jetzt schwebte er auf Serafina zu. Den Bruchteil einer Sekunde war sie nur erschrocken. Dann stürzte sie nach vorne und riss das kleine Päckchen an sich.
Lewis lachte. Kalt und grausam. �Du kannst mich nicht aufhalten, Serafina. Ich habe die Kraft. Du hast keine Chance.�
Sie taumelte rückwärts, die Arme verschränkt vor der Brust. Sie durfte nicht aufgeben. Auch sie hatte die Kraft. Wusste Lewis das? Er kannte ja auch ihren Namen. Trotzdem. Nicht aufgeben.
Er lachte immer noch. �Du bist dumm, kleine Serafina. Sehr dumm. Warum hast du nicht deine Kollegen gehen lassen? Wahrscheinlich haben sie jemanden genommen, der nicht viel wert ist. Du bist ja nur ein Kind.�
�Ich bin kein Kind!�
Serafina streckte die Arme aus und ließ den Beutel fallen. Er kullerte über den Steinboden und blieb dann liegen. Ein Schwall Kraft schoss auf Lewis zu. Sie legte all ihre Energie in diese Attacke. Sie wusste, wie sich ein Schlag anfühlte. Wie ein elektrischer Schlag. Sehr schmerzhaft.
Doch Lewis machte eine kleine Handbewegung und der Schlag verpuffte. Serafinas gesammelte Energie. Und dann stieg Serafina plötzlich in die Luft. Höher und höher, bis sie irgendwann in der Luft hängen blieb. Und noch einmal hörte sie Lewis Stimme: �Du bist schwach. Ich weiß, dass du die Kraft hast, kleine Serafina. Aber du bist zu dumm. Zu jung. Du bist chancenlos gegen mich.�
Und dann ließ er sie fallen. Ihr Kopf schlug auf. Das letzte, das sie registrierte, war der heftige Schmerz. Dann wurde es schwarz in ihrem Kopf und Lewis höhnisches Gelächter verstummte.


Laura

1. Kapitel

�Lies weiter!�, forderten die Kinder.
Laura stöhnte. �Die Geschichte ist zu Ende. Da kommt nichts mehr.� Sie stellte das Buch zurück ins Regal. Alle, die dort waren, konnte sie auswendig. Sie hatte schon immer gern gelesen. Immer. Aber viel Gelegenheit dazu hatte sie nicht. Es fehlte ihr an Zeit und Büchern. Vor allem an Büchern. Also las sie den kleineren Kindern aus dem Heim vor. Aber die konnten mit der Zeit recht anstrengend werden. �Es gibt gleich Essen. Ich muss in der Küche helfen.� Das war keine Ausrede. Sie musste mehr im Heim helfen als andere. Auch Kinder, die älter waren als sie, mussten kaum einen Finger rühren. Nur sie. Früher hatte sie sich gefragt, warum. Sie hatte auch die Erzieherinnen gefragt, wenn die auf dem Balkon geraucht hatten. Doch es konnte ihm nie jemand Antwort geben. Die Erzieherinnen sagten, dass es so richtig sei. Und Laura hatte sich daran gewöhnt. Mit der Zeit. Es war nicht schwer gewesen.
Und jetzt hatte sie sich schon längst damit abgefunden. Deshalb ging sie in die Küche. Dort wurde sie schon von Celine erwartet. Sie umarmte die Erzieherin kurz, dann machte sie sich daran, die Karotten zu zerschnippeln und in den Topf zu werfen. Währenddessen hörte sie sich von Celine, die Kartoffeln schälte, einen Witz an. Celine erzählte gerne Witze. Sie lachte viel und war immer optimistisch. Celine hatte kurze braune Haare und lustige grüne Augen. Früher wollte Laura immer so sein wie sie. Jetzt hatte sie andere Vorbilder. Stars. Aber mit Celine befreundet war sie immer noch.
Das Essen verlief wie immer. Sie brachte mit den Erzieherinnen das Essen herein und räumte danach die Teller ab. Aß in der Küche. Wie immer eben.
Wenigstens durfte sie im Schlafsaal schlafen. Und wenigstens durfte sie wie die anderen vor dem Lichtaus noch ein wenig lesen.
�Hey, Laura!�, hörte sie plötzlich. �Zieh dir das rein. Die sieht aus wie du!�
Sie stürzte aus dem Bett. Als sie auf die Zeitschrift schaute, klappte ihr Mund auf.
Auf der Titelseite war eine Frau. Sie hatte schulterlange braune Haare und grüne Augen. Sie sah tatsächlich aus wie Laura. Zumindest auf den ersten Blick. Lauras Gesicht war schmaler und ihre Haare länger. Und die Frau konnte gut und gerne vierzig Jahre älter sein als sie. Und sie wirkte erschöpft. Trotzdem war die Ähnlichkeit verblüffend.
Laura schaute auf das Datum der Zeitschrift. Es war die aktuelle Ausgabe. Und trotzdem sah sie abgegriffen aus, als wäre sie bereits durch hundert Hände gelaufen. Unter dem Bild prangte eine Schlagzeile, die leider unlesbar war, weil ein dicker Fleck sie verdeckte.
Laura schlug die Zeitung auf. Das Inhaltsverzeichnis. Der zugehörige Artikel stand auf Seite sechsundsiebzig. Laura sog jedes Wort in sich hinein, obwohl manche Worte unlesbar waren.

Das Leid von Serafina

Am�- an dieser Stelle war ein Kaffeefleck � machten zwei junge Abenteurer eine außergewöhnliche Entdeckung. In einer Höhle in der Nähe von Gebbra fand das junge Pärchen eine Frau, die wie eine Eremitin in der Grotte lebte. �Sie hat unsere Sprache gesprochen. Aber sie hat von Fischen und Algen gelebt�, berichtet die junge Frau, Melanie K. Die gefundene Frau wurde zuerst in eine Klinik eingewiesen, wies aber keine geistigen Rückstände auf. Mittlerweile lebt Serafina Acrego, genannt Finna, mit einigen alten Freunden in einer Wohngemeinschaft in Gebbra.
Auf die Frage, warum sie jahrelang in der Höhle lebte, antwortete Acrego noch nicht. Genauso gab sie keine Auskunft über ihr Alter, ihre Herkunft und ihre Familie. Lediglich ihren Namen sagte sie der Presse. Trotzdem versuchen Reporter und Psychologen, mehr über Finna herauszufinden.
�Im Moment nehmen wir an, dass sie vor jemandem in die Höhle geflohen ist und sich dort jahrelang vor diesem jemand versteckt hat. Deswegen traute sie sich nicht, in die Stadt zurückzukehren. Aber bisher hat sie unsere Vermutung noch nicht bestätigt�, teilt uns Marko W., Psychologe, mit. Der �Entdecker� von Finna, Tim A., sagte dazu: �Sie hat auf uns keinen verstörten Eindruck gemacht. Sie war sogar sehr kultiviert. Sie hat uns empfangen und uns sogar Fisch angeboten, nachdem sie den ersten Schreck überwunden hatte.� Schließlich war Acrego dem Pärchen zurück nach Gebbra gefolgt.
Nun arbeitet sie als Verkäuferin in einem Lebensmittelgeschäft. Sie sagt: �Ich genieße es, mal wieder etwas anderes, künstliches zu essen. Algen mögen gesund sein, aber wirklich lecker sind sie nicht.�
Wir betreten die Höhle. In der Mitte gibt es eine recht ordentliche Feuerstelle. Daneben stehen Töpfe aus Lehm. In einer Ecke liegen ein paar Decken, die ziemlich selbstgemacht aussehen, und einige große Blätter. Sonst ist die Höhle, abgesehen von einem improvisatorischen Besen aus einem Ast, einer Ranke und Blättern, leer.
Man hofft, dass die Geheimnisse um Finna bald gelüftet werden, damit man den Menschen, der vielleicht an ihrem Leiden und ihrer Einsamkeit Schuld ist, bestrafen kann.

Laura Acrego starrte auf die Zeitschrift. Serafina. War das möglich? Man hatte ihr nur gesagt, dass ihre Mutter verschollen war. Und dass man sie auf der Duabi gefunden hatte, einer großen Brücke, die über den Solon führte. Früher hatte Laura sich immer die Geschichte von Mela, einer Erzieherin, erzählen lassen. Damals hatte sie noch gehofft, dass sie in diesen Geschichten einmal hören würde, wo ihre Mutter war. Aber Mela hatte ihr nichts sagen können.
Laura gab die Zeitschrift wieder dem Mädchen, dessen Namen sie nicht kannte. Sie war noch nicht lange da. Dann legte sie sich wieder in ihr Bett. Sie wusste genau, was zu tun war. Aber dazu musste sie warten, bis alle schliefen. Und selbst nicht einschlafen.


�Gina? Schläfst du?�
Keine Antwort. Also war sogar die hyperaktive Gina eingeschlafen. Leise kroch Laura aus dem Bett. Sie zog sich einen Pullover über ihr Nachthemd und schlüpfte in ihre Hausschuhe. Dann nahm sie noch ihre Taschenlampe und schlich aus dem Zimmer.
In dem Flur war das Licht aus. Laura schaltete ihre Taschenlampe trotzdem nicht an, sondern tastete sch an den Wänden entlang. Sie hatte das schon so oft getan, dass sie kein Licht mehr brauchte. Die hubbelige Wand unter ihren Fingern war aus irgendeinem Grund beruhigend für sie. Sie war etwas Vertrautes, Bekanntes, vor dem man keine Angst haben musste. Und die hatte Laura. Sie klammerte sich an den Gedanken, dass alles gut war, solange ihre Finger über die Wand wanderten.
Wo konnte Mela um ein Uhr nachts sein? Zuerst ging Laura in Richtung Küche. Dort war nur Kassey. Als Laura in die Küche kam, erschrak sie. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Laura, dass ihre Augen rot waren, als hätte sie geweint. Dann senkte Kassey den Blick wieder und murmelte: �Ach du bist es.�
Laura setzte sich auf den Stuhl neben sie. �Was ist, Kassey?�, fragte sie vorsichtig. Kassey schniefte, antwortete aber nicht. Schließlich stand Laura wieder auf und verließ leise die Küche.
Als nächstes ging sie zum Aufenthaltsraum für die Erzieherinnen. Hier war sie schon oft gewesen, am Tag und in der Nacht. Zumindest nachts war er immer voll. Wie auch an diesem Tag. Am Flipper herrschte Gedränge. In den abgewetzten Sesseln lasen einige Frauen. Der Rest saß auf dem Teppich und sah fern. Mela war nicht dabei. Laura schlich aus dem Raum, bevor sie jemand bemerkte.
Mela war auf dem Balkon. Ganz alleine. Ihr weißes Haar leuchtete in der Dunkelheit. Sie wirkte älter, als sie war. Aber auch sehr weise. Plötzlich traute Laura sich nicht, sie zu stören. Mela schaute in die Sterne, als würden diese zu ihr sprechen und ihr die uralten Geheimnisse des Weltraums erklären. Sie trug nicht wie sonst eine Jeans und eine Bluse. Laura runzelte die Stirn. Mela trug einen langen weißen Umhang, der ihr etwas Majestätisches verlieh.
Laura machte einen Schritt zurück. Doch plötzlich hörte sie Melas Stimme.
�Bleib da, Laura. Ich weiß, dass du da bist.�
Mela war seltsam. Aber ihr konnte sie vertrauen. Laura stellte sich neben sie. Die Sterne leuchteten heute besonders hell. Vielleicht würde sie irgendwann dort oben sein, fern von allen Problemen, allein mit sich. Aber die Sterne waren so weit weg. Sie durfte nicht an so etwas denken. Sich keine Hoffnungen machen. Sie war schon so oft enttäuscht worden. Wahrscheinlich würde sie nie bei den Sternen sein, im Weltraum.
�Erzähl mir meine Geschichte, Mela.�
Mela seufzte und schaute Laura in die Augen, als würde sie geradewegs in ihre Gedanken schauen. �Ein andermal, kleiner Käfer. Jetzt ist nicht die richtige Zeit dafür. Und du kennst deine Geschichte doch schon. Ich habe sie dir so oft erzählt.�
�Bitte, Mela. Erzähl sie mir noch einmal.�
Mela antwortete nicht. Laura wusste, dass sie Zeit brauchte. Mela war anders als alle anderen Menschen, die sie jemals kennen gelernt hatte. Sie war klüger.
�Es war an einem kristallklaren Wintertag�, fing Mela schließlich an. �Es war kalt, aber schön. Ich machte einen Spaziergang, wie ich es an jedem kristallklaren Wintertag tue. Es ist schon fast ein Ritual. Ich spazierte durch den Wald und genoss die Ruhe. Als ich wieder aus dem Wald herauskam, sah ich die Duabi. Es war wunderschön. Sie glitzerte im Sonnenlicht. Ich beschloss, meiner Schwester, die auf der anderen Seite des Solon wohnt, einen Überraschungsbesuch abzustatten. Und am höchsten Punkt der Brücke lag ein kleines Bündel. Du, kleiner Käfer. Du warst in ein weißes Tuch gewickelt, aber dein kleines Gesicht lachte mich an. Ich habe dich natürlich aufgehoben. Und als ich dich im Arm hatte, sah ich eine Frau. Sie war blond, mehr konnte ich nicht erkennen. Sie starrte zu mir herüber, immerzu. Und als ich einen Schritt in ihre Richtung machte, drehte sie sich um und rannte weg. Ich war nicht schnell genug, um sie einzuholen. Ich habe auch schon damals im Heim gearbeitet. Ich habe dich mitgenommen und die anderen haben dich Laura genannt. Dein Name stand auf dem Tuch. Laura Acrego. Ich glaube, es war schon einige Zeit nach Lewis Machtübernahme.�
Also doch. Mela hatte ihr etwas verschwiegen. Diese Frau war auf jeden Fall ungewöhnlich, wenn sie die ganze Zeit zu Mela geschaut hatte. Und hatte es etwas mit Lewis zu tun, dass sie von ihrer Mutter ausgesetzt wurde?
Mela schaute sie von der Seite an. �Warum willst du diese Geschichte ausgerechnet jetzt hören, kleiner Käfer?�
Laura wusste, dass sie Mela vertrauen konnte. Sie musste jemandem davon erzählen. �Ich habe in einer Zeitschrift über eine Frau gelesen. Serafina Acrego. Und � und sie sah so aus wie ich! Sie hat sich angeblich jahrelang vor jemandem in einer Höhle versteckt. Und jetzt erzählst du mir, dass eine Frau mich ausgesetzt hat. Die Frau in der Zeitschrift war zwar nicht blond, aber vielleicht hat sich einfach ihre Haarfarbe geändert, als sie in dieser Höhle gelebt hat! Ich möchte einfach nur wissen, wo meine Mutter ist. Ich weiß, dass sie noch lebt. Ich möchte wissen, warum diese Frau mich auf die Brücke gelegt hat und dann weggerannt ist. Warum, Mela?� Sie schluckte. �Oder wollte sie mich einfach nicht?�
Da tat Mela etwas Ungewöhnliches: Sie umarmte Laura. �Bestimmt nicht, kleiner Käfer, bestimmt nicht. Sicher hatte sie einen anderen Grund. Vielleicht war sie auf der Flucht vor jemandem. Sie wollte dich vielleicht nicht gefährden, kleiner Käfer.�
�Meinst du� das Ganze hat etwas mit Lewis zu tun?�, fragte Laura vorsichtig.
Mela nickte. �Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Weißt du, wo deine Mutter jetzt ist?�
�In dem Artikel steht, dass sie mit ein paar alten Freunden in einer Wohngemeinschaft lebt. Vielleicht sollte ich den Verlag anrufen und nach der Adresse fragen.�
�Tu das, mein kleiner Käfer. Tu das.�
�Mela?�
�Ja?�
�Darf ich dich noch etwas fragen?�
�Nur zu, kleiner Käfer. Frag, was du wissen willst.�
�Warum bist du mitten in der Nacht hier auf dem Balkon? Und warum hast du einen Umhang an?�
Mela seufzte. In diesem Moment wirkte sie steinalt. �Ich schaue in die Sterne. Sie erzählen mir Geschichten, wenn sie Lust haben. Dann stehe ich hier unten und fühle mich klein. Weißt du, kleiner Käfer, wir sind doch alle nur kleine Schatten eines großen Lichts. Das Universum birgt viele Geheimnisse. Es wäre mein Traum, einmal zu den Sternen zu fliegen und von dort zu sehen, wie klein unser Planet ist im Vergleich zu den anderen. Aber dieser Wunsch wird sich wohl nie erfüllen. Ich bin zu alt, um noch in den Weltraum zu fliegen. Irgendwann sterbe ich und bin nie auf einem anderen Planeten gewesen. Ich kann nur davon träumen.�
Eine Weile stand sie nur da und ihre langen weißen Haare flatterten sanft im Wind. Ihre Augen waren unglaublich sehnsuchtsvoll. �Ich weiß, dass es viele von uns nach da oben zieht.
Der Entdeckerdrang ist angeboren. Versprichst du mir etwas, kleiner Käfer? Solltest du jemals da oben auf einem Stern sein, denk an mich. Denk an die alte Mela.� Und, als wäre ihr wieder eingefallen, wie spät es war und mit wem sie da redete, wurde ihre Stimme plötzlich energisch. �Und was machst du um diese Uhrzeit eigentlich noch hier? Du solltest längst schlafen.�
�Morgen ist Samstag, Mela. Da ist keine Schule.�
Mela schüttelte den Kopf. �Trotzdem. Willst du dich erkälten? Du hast nur deinen Pullover und das Nachthemd an. Und ich will noch ein Weilchen allein sein.�
Laura nickte. Das konnte sie verstehen. Sie musste jetzt auch erstmal allein sein. �Danke, dass du meine Fragen beantwortet hast�, flüsterte sie. Dann ging sie wieder hinein.
Sie tastete sich zurück in den Schlafsaal. Den Pullover stopfte sie unter das Bett und die Taschenlampe versteckte sie in dem Kissenbezug. Dann kroch sie bibbernd unter die Decke.
�Wo warst du?�
Im Bett neben ihr hatte sich Gina aufgerichtet. Laura stöhnte innerlich. Gina war ja sonst wirklich nett, aber sie war furchtbar neugierig und kam mit wenig Schlaf aus. �Auf�m Klo�, nuschelte sie.
�Du warst schon vor einer halben Stunde weg.�
Erschrocken schaute Laura auf die Uhr. Zwei. Vor einer Stunde war sie losgegangen. Und irgendwann war Gina aufgewacht und wollte sich mal wieder einen Spaß daraus machen, Laura mitten in der Nacht aufzuwecken. Nur Laura war nicht da gewesen. Und weil Gina natürlich furchtbar neugierig war, hatte sie gewartet und gehofft, zu erfahren, wo Laura gewesen war.
�Glaubst du, dass ich dir das abnehme?�
�Mir ist es egal, ob du es mir abnimmst, Gina. Wenn du mich jetzt nicht schlafen lässt, dann kannst du was erleben. Und außerdem kann es dir egal sein, was ich nachts mache.� Und zur Bestärkung ihrer Worte warf sie ihr Kopfkissen in Richtung Gina.
�Hey!� Ginas Kissen schwirrte ganz knapp an Lauras Kopf vorbei. Diese vergrub ihren Kopf darunter und überhörte Ginas Schimpftiraden.


2. Kapitel


Am nächsten Morgen fühlte sich Laura wie gerädert, als sie mit Celine Frühstück machte. Der fiel das natürlich auf.
�Was ist, Laura? Du siehst müde aus.�
Laura schüttelte den Kopf. Einen Moment überlegte sie, ob sie Celine die ganze Geschichte erzählen sollte. �Ich hatte furchtbaren Durchfall. Ich war die ganze Nacht auf den Beinen. Ist aber wieder besser.�
Celine bedachte sie mit einem mitleidigen Blick. �Du Arme. Ist schlimm. Neulich, da��
Laura hörte gar nicht mehr zu. Sie dachte an Mela. An ihre Mutter. Und an die Sterne.
�� und dann hat sich herausgestellt, dass ich nur etwas Verdorbenes gegessen habe! Irre, oder?�
Laura lachte gezwungen. Sie hatte gar nichts mitbekommen von dem, was Celine gesagt hatte. Sie schnitt den Brotlaib so unordentlich, dass Celine sie verwundert anschaute. �Ich glaube, du hast etwas auf dem Herzen, Laura. So zerstreut bist du doch sonst auch nicht.�
Plötzlich hatte sie Bauchschmerzen. �Mir ist schlecht�, stammelte sie. Dann erbrach sie sich vor Celines Füßen.

Celine schickte sie sofort zurück ins Bett. Laura widersprach nicht. Aber sie ging nicht ins Bett. Sie nahm sich ein paar Münzen aus ihrer Tasche und die Zeitschrift von dem Mädchen, dessen Name sie nicht kannte. Im Flur bei dem Büro war ein Münztelefon. Von dort würde sie den Verlag anrufen und dann mit etwas Glück die Adresse der Wohngemeinschaft erfahren.
Aber zuerst schloss sich Laura in einer Toilette ein und schlug die Zeitschrift auf. Sie blätterte sie durch und schaute stichprobenartig nach einer Telefonnummer. Die Seite mit dem Bericht über Serafina Acrego drehte und wendete sie, konnte aber keine Telefonnummer finden. Erst auf der allerletzten Seite gab es einen ganzen Block mit kleinen schwarzen Buchstaben, der Adressen, Geschäftsbedingungen für Gewinnspiele und Telefonnummern enthielt. Auch die Nummer des Verlags. Lauras Herz klopfte. Sie entriegelte die Toilettentür und schlich hinaus in den Gang zum Telefon. Hoffentlich reichte ihr Geld.
Es reichte. Sie warf es in den Schlitz und wählte mit schwitzigen Fingern die Nummer. Als ein Tuten ertönte, atmete sie erleichtert auf.
�Hallo, hier Anett Greppa, �Meralie�, was kann ich für Sie tun?�
Einen Moment wusste Laura nicht, was sie sagen sollte. �Ähm� ich hätte eine Frage. Diese Anzeige im letzten Heft über Serafina Acrego � könnten sie mir die Adresse geben?�
�Hör mal, Kindchen, das geht nicht so einfach. Diese Adresse ist privat. Die kann ich dir nicht so einfach sagen.�
�Wissen Sie sie denn?�
Die Frau, Anett Greppa, stöhnte. �Natürlich weiß ich sie nicht, aber sie ist im Archiv. Ich könnte sie herausfinden. Warum willst du sie überhaupt wissen?�
�Es ist wichtig�, bettelte Laura. �Ich kann es Ihnen nicht sagen, aber ich brauche diese Adresse!�
�Vielleicht kann ich sie für dich herausfinden, wenn du mir sagst, warum du sie unbedingt brauchst.�
�Ich glaube, sie ist meine Mutter.�
�Bist du dir da sicher?�
�Ja!�
Die Frau klang genervt. �Na gut. Ich kann dir nicht helfen, aber ich kann dich mit der Person verbinden, die den Artikel geschrieben hat. Kannst du mir den Namen sagen?�
�Moment�� Laura klemmte das Telefon zwischen Schulter und Kopf und schlug das Heft auf. Seite sechsundsiebzig. �Martha Bolgar. Können sie mich mit der verbinden?�
�Einen Moment.� Es knackte in der Leitung und die Frau rief einen Namen. Schlagartig wurde Laura bewusst, dass sie hier mit einem Münztelefon telefonierte. Konnte die sich nicht beeilen?�
�Hallo?� Diese Stimme hatte Laura noch nicht gehört. Es musste Martha Bolgar sein.
�Äh� Sie haben doch den Artikel über Serafina Acrego geschrieben, oder? Können sie mir ihre Adresse geben? Ich glaube, sie ist meine Mutter.�
�Nicht so schnell, junge Dame. Was��
�Bitte! Ich telefoniere mit einem Münztelefon. Ich habe nicht viel Zeit.�
Die Frau stöhnte. �Dann machen wir es kurz: Ich kann dir die Adresse nicht geben. Die ist privat und außerdem��
�Können sie mir nicht einfach diese verfluchte Adresse geben?�
Die Frau überlegte kurz. �Ich mache dir einen Vorschlag. Unser Verlagsgebäude ist auch in Gebbra. Wenn es wirklich so dringend ist, dann komm vorbei und frag nach mir. Wenn du wirklich ihre Tochter sein könntest, dann gehe ich mit dir zu Serafina Acrego. In Ordnung? Frag einfach nach Martha Bolgar.�
�Ich heiße Laura Acrego und wohne in der Nähe von Luppa. Wie ist Ihre Adresse?�
�Steht hinten im Heft. Auf Wiedersehen.�
Martha Bolgar am anderen Ende der Leitung legte auf.


3. Kapitel

Die Adresse war leicht zu merken. Als Laura beim Schlafsaal war, kannte sie sie auswendig. Während sie ihren Rucksack unter dem Bett hervorzog, sang sie, so erleichtert war sie. Sie hatte fast herausgefunden, wo ihre Mutter war. Jetzt musste sie nur noch nach Gebbra kommen.
Was sollte sie einpacken? Einen Pullover sicher. Nachts konnte es schließlich ganz schön kalt werden. Und ihre Taschenlampe. Und sonst? Die Zeitschrift. Falls sie die Adresse doch noch vergessen sollte. Und damit ihre Mutter immer bei ihr sein konnte. Und Geld. Für den Bus.
Proviant. Den brauchte sie. Am besten etwas, dass mit der Zeit nicht kaputtging. Dazu musste sie in die Küche. Wenn Kassey da war, würde sie etwas bekommen. Kassey war nett, aber sie interessierte sich kaum für die Kinder im Heim. Aber wenn Susi gerade in der Küche war, sah es schlecht aus. Susi war nicht sonderlich kinderfreundlich und bewachte die Küche wie ein Drache seine Schätze.

In der Küche war weder Kassey noch Susi. Mela. Sie bereitete schon das Mittagessen zu. Als Laura hereinkam, schaute sie noch nicht einmal auf. �Du gehst weg, nicht?�
Laura nickte. �Ich gehe zu dem Verlag. Wenn sie mir da abnehmen, dass sie meine Mutter ist, dann geben sie mir ihre Adresse. Und dann gehe ich zu meiner Mutter.� Laura stellte den Rucksack ab und holte die Zeitschrift heraus. �Das ist sie. Sie suche ich.�
Mela nickte. �Es ist das einzig Richtige, kleiner Käfer. Du musst deine Mutter finden. Du kannst nicht im Heim bleiben, bis du alt und runzlig bist. Du musst über deinen eigenen Tellerrand schauen.�
�Kann ich mir Proviant nehmen? Ich muss vielleicht nach Gebbra laufen.�
�Bedien dich.�
Laura packte alles ein, was sie zu fassen bekam. Äpfel, Birnen, zwei Scheiben Brot, eine Packung Aufschnitt und zwei kleine Wasserflaschen. Der Rucksack war jetzt um einiges schwerer und Laura konnte ihn kaum auf ihren Rücken hieven. Sie würde einige Pausen machen müssen.
�Mela?�
�Ja?� Die alte Frau schaute sie an. Wieder hatte Laura das Gefühl, als könnte Mela Gedanken lesen.
�Danke. Du hast mir wirklich geholfen.�
�Keine Ursache, kleiner Käfer. Und jetzt geh. Geh und such deine Mutter.�

Laura verließ das Heim, ohne jemandem zu begegnen. Als sie die schwere Doppeltür öffnete, wehte der Wind ihr die frische Luft zu. Ein paar Bäum reckten ihre grauen Äste in die Höhe. Alles war irgendwie verdorrt und farblos. Wieder musste Laura an Lewis denken. Sie wurde das Gefühl einfach nicht los, dass er etwas damit zu tun hatte, dass sie in einem Heim aufgewachsen war.
Lewis regierte Mologa. Er hatte vor Jahren die totale Macht über das Land übernommen. Er lebte in einem riesigen Haus in Jalos, der Landeshauptstadt. Angeblich hatte er tausend Angestellte, die für ihn putzten, kochten und Betten machten. Laura wurde wütend, wenn sie daran dachte, in welchem Zustand das Heim war. Mologa litt unter Lewis, das hatte sie schon oft gehört. Kurz nach seiner Machtübernahme und vor Lauras Geburt hatte er Feritas, ein kleines Nachbarland, im Krieg besiegt und es an Mologa angeschlossen. Manche erzählten, dass er dabei eine riesige Armee zur Verfügung hatte. Andere erzählten, dass er Magie benutzt hätte. Aber nur wenige.
Laura wusste, dass sie nach Osten musste, um nach Luppa zu kommen. Das Heim lag in der Nähe von Luppa. Und die nächste Stadt nach Luppa war Gebbra. Gebbra, wo sie hinmusste. Gebbra, wo ihre Mutter wartete. Gebbra, wo sie vielleicht nie ankommen würde.
Laura lief und lief und lief. Unterwegs machte sie einige Pausen, aber schließlich war sie in Luppa. Sie war noch nie in Luppa gewesen. In der Nähe, außerhalb der Stadt, gab es noch eine andere Schule, auf die alle Kinder aus dem Heim gingen.
In Luppa waren viele Leute. Große, kleine, dicke, dünne, alte und junge. Keinem fiel das Mädchen mit dem dicken Rucksack auf. Laura konnte ungestört durch die Straßen laufen. Jetzt würde sie mit dem Bus bis nach Gebbra fahren. Dazu musste ihr Geld reichen.
An der Bushaltestelle stand keiner. Laura setzte sich auf einen Sitz und legte ihren Rucksack neben sich. Dann kramte sie ihr Geld heraus. Es war nicht viel. Notfalls musste sie das letzte Stück bis nach Gebbra laufen.
Nach einer Weile setzte sich eine junge Frau auf den dritten Sitz. Sie beachtete Laura nicht, sondern holte eine Illustrierte hervor und fing an zu lesen.
Als der Bus kam, stieg Laura ein. Er war so gut wie leer. Sie zahlte dem Busfahrer das Geld für die Fahrt und setzte sich in die letzte Reihe. Während der Fahrt schaute sie aus dem Fenster. Sie fuhren an Bäumen und Wiesen vorbei. Nur einmal hielt der Bus an und ein schmächtiger kleiner Junge stieg ein. Er setzte sich nach vorne zum Fahrer.
Es ist seltsam, dachte Laura. Es ist alles so anders seit diesem Artikel in der Zeitschrift. Der hat mein Leben verändert. Hoffentlich verrät mir meine Mutter, warum sie in der Höhle gelebt hat.
Plötzlich beschlich sie ein schrecklicher Gedanke. Was war, wenn Serafina Acrego gar nicht ihre Mutter war? Es wäre ein sehr großer Zufall, aber nicht unmöglich. Oder doch? Der Name, das Aussehen� nein. Diese Frau war zumindest mit ihr verwandt. Ganz sicher.


4.Kapitel


Erst drei Stunden später stieg Laura mit wackligen Knien aus dem Bus. Jetzt musste sie nur noch den Verlag finden. Die Adresse geisterte wie ein Mantra in ihrem Kopf herum. Verlag �Meralie�, Golberg 57, Gebbra. Golberg. Sie musste jemanden fragen. Gebbra war groß, sie hatte keine Chance, den Verlag ohne Hilfe zu finden. Und wenn man ihr die Adresse dort nicht verraten sollte, dann musste sie ihre Mutter ohne Adresse suchen.
Ein junger Mann ging über die Straße. Er sah nicht so aus, als hätte er es eilig. Laura beschloss, ihn zu fragen. �Entschuldigung, könnten sie mir sagen, wo der Golberg ist?�
Der Mann drehte sich um, als hätte er jetzt erst registriert, dass ein Mädchen hinter ihm stand. �Da rein, zweite Abzweigung rechts�, sagte er knapp und ging ohne ein weiteres Wort davon.
Laura rannte. Sie konnte es kaum erwarten. Schließlich stand sie keuchend vor dem riesigen Gebäude.
Über der breiten Doppeltür stand in riesigen roten Buchstaben �MERALIE�. Das Gebäude hatte etwas Bedrohliches an sich, als könnte es sich auftun und alle Menschen verschlingen. Aber das war natürlich Quatsch. Deine Fantasie geht mal wieder mit dir durch, ermahnte Laura sich selbst. Dieses Gebäude ist der Weg zu deiner Mutter. Da musst du rein.
Sie holte tief Luft und drückte dir Tür auf. Sie kam in eine Halle. An der gegenüberliegenden Seite war ein großer Schreibtisch. Laura ging zielstrebig auf ihn zu. �Ich möchte bitte zu Martha Bolgar�, sagte sie mit fester Stimme. �Ich habe am Telefon mit ihr gesprochen. Sie weiß, wer ich bin.�
Die Frau an dem Tresen musterte sie misstrauisch. Auf dem kleinen Schild auf ihrer Bluse stand: Frau Goll, Empfang. �Darf ich dich fragen, was der Grund für deine Bitte ist?�
Laura runzelte die Stirn. �Muss ich Ihnen das sagen?�
Frau Goll nickte. �Ich muss es in meinen Computer eintragen. Vorschrift.�
�Dann schreiben sie: Persönliches Gespräch. Darum geht es.�
Frau Goll tippte etwas auf der Tastatur. �Na gut.�
Da sie sich nicht weiter für Laura zu interessieren schien, blieb diese unschlüssig stehen. Nach etwa zwei Minuten schaute sie wieder vom Bildschirm auf. �Du stehst ja immer noch da!�
�Wo muss ich überhaupt hin?�
Die Frau stöhnte. �Die Kinder von heute. So was von unselbstständig. Zweiter Stock, Raum 237. Nimm den Aufzug. Und jetzt husch.�
Laura bedankte sich höflich und drückte auf den Aufzugknopf. Zweiter Stock. Ihr Herz klopfte und ihre Hände wurden glitschig. Mit einem leisen �Bing!� blieb der Aufzug stehen und die Türen öffneten sich. Direkt gegenüber war Büro 229. Da rechts von ihr die Wand war, ging Laura so weit nach links, bis sie bei Büro 237 war.
Sie klopfte an. Nach dem leisen �Herein!� trat sie ein.
Das Büro war nicht groß. Einen Großteil nahm ein dicker Schreibtisch ein, auf dem sich Ordner und Bilder stapelten. An der Wand hingen Fotos und, wie Laura mit einem Grinsen bemerkte, ein Poster der �Gobblins�. Die junge Frau, die am Schreibtisch saß, hatte kurze blonde Haare und strahlend blaue Augen, die Laura sofort mit einem stechenden Blick fixierten.
Laura war einen Moment verunsichert. Dann sagte sie: �Ich bin Laura Acrego. Wir haben neulich am Telefon miteinander gesprochen. Ich komme wegen der Adresse. Sie wissen schon.�
Martha Bolgar winkte sie heran. �Ja, genau. Wegen der guten Serafina. Mein Gott, Mädchen, du siehst ihr wirklich ähnlich. Du hast mich jetzt schon überzeugt. Wir gehen zu ihr.�
Laura war wie versteinert. �Wirklich? Super!� Sie hatte nicht erwartet, dass es so schnell gehen würde. Während Martha Bolgar sich ihren Mantel anzog, konnte sie nicht stillhalten. �Müssten sie nicht eigentlich arbeiten?�, fragte sie.
Martha Bolgar lachte. �Eigentlich schon, aber ich bringe dich nur zu ihr. Du bist ja nicht von hier, da kann ich es nicht verantworten, dich alleine durch die Straßen zu schicken.� Und schon rauschte sie aus dem Büro.
Die Frau am Tresen schaute sie verwundert an, aber Martha Bolgar lachte nur breit. �Keine Sorge, Debbie, ich muss etwas erledigen. In einer halben Stunde bin ich wieder da, die Zeit kann ich später nacharbeiten.�
Laura beschloss, dass sie diese Frau gut leiden konnte. Immerhin machte sie Überstunden, um sie zu ihrer Mutter zu bringen!
Bolgar eilte durch die Stadt, bis sie vor einem großen Mietshaus stehen blieb. Sie klingelte. �Ich bringe dich noch zu ihr.� Sie drückte die Tür auf und stieg die Treppen hoch, sodass Laura ihr kaum folgen konnte.
Oben, im dritten Stock, stand ein Mann in der Tür. �Fred Harza�, begrüßte er Martha Bolgar. �Sind Sie nicht diese Reporterin? Da muss ich Sie leider enttäuschen. Serafina ist nicht da.�
Bolgar runzelte die Stirn. �Wo ist sie denn? Ich meine mich zu erinnern, dass sie um diese Zeit nicht arbeitet.�
�Ausgeflogen.� Harza schüttelte den Kopf. �Wir waren alle bei der Arbeit, und als ich wieder als Erster nach Hause komme, ist ihr Schrank leer und der Zettel�, er kramte einen gelben Zettel aus seiner Hosentasche, �lag auf ihrem Bett.�
Laura riss ihm die Notiz aus der Hand.


Hey Leute!
Muss verschwinden.
Habe Micks Rucksack genommen
und Essen aus dem Kühlschrank.
Kümmert euch nicht mehr um mich,
ich habe meine Gründe.
Weiß nicht, ob ich noch einmal komme.
Serafina


Plötzlich hatte Laura Tränen in den Augen. Sie war aus dem Heim weggerannt, hatte alles arrangiert, jetzt stand sie da, wo vor wenigen Stunden noch ihre Mutter gewesen war, und alles war umsonst gewesen. Sie fühlte sich traurig, wütend und ganz leer in ihrem Herzen.
Martha Bolgar drückte sie an sich. �Keine Sorge, Kleine. Deine Mama hat das bestimmt nicht absichtlich gemacht. Ich habe mehrmals mit Serafina geredet. Ich glaube, sie hat immense Probleme in ihrem Leben, über die sich nicht reden wollte. Probleme, die nur sie etwas angehen. Vielleicht wird sie immer noch verfolgt.�
Laura nickte. Serafina konnte nichts dafür. Sie hatte ja nicht ahnen können, dass Laura, die sie sicher in einem Kinderheim verstaut glaubte, ihr einen Besuch abstatten wollte. Sie starrte auf den kleinen Zettel in ihrer Hand. Die feine Unterschrift, der krakelige Text. Und die Worte, die Worte, die so klangen, als kämen sie aus dem Mund einer Jugendlichen. War ihre Mutter eine von denen, die ihr Leben lang jung blieben? Die keine Verantwortung übernehmen konnten für ein kleines Kind und es deswegen aussetzten? Wer war sie? Wo war sie? Was war sie? Und wer verfolgte sie?
Der Fred Harza, der die ganze Zeit grimmig im Türrahmen gestanden hatte, bekam jetzt einen etwas weicheren Gesichtsausdruck. �Hey, Kleine. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Serafina war schon immer etwas seltsam. Schon mit zwölf ist sie diesem Geheimbund beigetreten, Nabada. Es gibt ihn nicht mehr, aber früher war das so eine Art Agentenclub. Sie war sehr sportlich. Der passiert schon nichts. Weißt du, Serafina braucht ihre Freiheit. Sie kann nicht lange an einem Ort bleiben. Nur in dieser Höhle hat sie es anscheinend eine ganze Weile ausgehalten.�
Laura nickte, aber sie hatte immer noch einen dicken Kloß im Hals. Er hatte sicher recht, dieser komische Kerl. Aber die Notiz?
�Du bist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten.� Fred � Laura beschloss, ihn so zu nennen - schüttelte ungläubig den Kopf, als hätte er das erst jetzt bemerkt. �Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, de ihr so ähnlich war.�
�Ich glaube, sie ist meine Mutter.�
Fred nickte. �Ja, das kann gut sein.� Und plötzlich geschah etwas Seltsames: Er verzog das Gesicht zu einer angestrengten Grimasse, als würde er etwas ausrechnen.
Es dauerte nicht lange, dann lächelte er wieder. �Kann ich ihnen etwas anbieten? Ein Kaffeechen vielleicht? Tut gut bei der Kälte.�
Martha Bolgar schüttelte den Kopf und musterte ihn abschätzend. �Nein danke. Wir müssen weiter.� Und während sie schon die Treppe herunterstieg, drehte Laura sich noch einmal um. Und da sah sie etwas, dass ihr bisher noch nicht aufgefallen war. Irgendetwas in Freds Gesicht erinnerte sie an einen Menschen, den sie kannte. Sie wusste aber nicht, an wen. Sie wusste noch nicht einmal, was es genau war. Aber es fühlte sich so an, als hätte sie dieses Detail schon jahrelang täglich gesehen.
Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, dann stolperte sie hinter Martha Bolgar die Treppe hinunter.


5. Kapitel


�Es tut mir wirklich leid für dich, Laura.�
Sie standen vor dem �MERALIE�-Gebäude und schauten nach oben. Ein paar Vögel saßen auf dem O und unterhielten sich lautstark. Aber Laura hatte nicht wie sonst den Wunsch, mitreden zu können. Sie fühlte sich schwach, klein und allein gelassen.
�Das ist sicher hart für dich. Immerhin bist du extra aus Luppa hergekommen, um deine Mutter zu sehen, und jetzt ist niemand da.�
Was sollte jetzt geschehen? Sie hatte fast ihr ganzes Geld für die Fahrt nach Gebbra ausgegeben, zurück konnte sie nicht mehr. Was sollte sie tun? Zeitungen verkaufen und nachts auf der Straße schlafen?
�Ich wünschte, ich könnte dir helfen, Serafina zu finden. Wirklich. Ich hatte gehofft, dir zu deiner Mutter helfen zu können. Aber ich bin auch nur ein Mensch.�
Laura mochte diese Frau. Nur dass sie so viel redete. Sie will mir doch nur helfen, dachte sie. Ich sollte nicht so über sie denken.
�Danke, dass Sie sich so Sorgen um mich machen, Frau Bolgar.�
�Nenn mich Martha, Laura. Was willst du jetzt tun?�
Laura verschränkte sie Arme. �Ich muss irgendwie zu Geld kommen. Dann fahre ich zurück und lebe wieder im Heim. Was anderes bleibt mir ja wohl nicht übrig. Ich habe mein ganzes Geld für die Hinfahrt ausgegeben.�
Martha seufzte. �Du kannst natürlich bei mir wohnen. Ein Kind lasse ich nicht einfach auf der Straße sitzen. Aber meine Wohnung ist klein. Und ich würde dir auch das Geld für die Rückfahrt geben, wenn ich es hätte. Habe ich aber nicht.�
�Wenig Platz macht mir nichts aus. Ich hatte nie sonderlich viel. Und Geld für die Rückfahrt kann ich mir auch selbst verdienen. Mir wird schon was einfallen.�
�Und solange kannst du gerne bei mir wohnen und essen. Das bekomme ich schon hin.� Und Martha Bolgar lächelte tapfer.
Laura lächelte zurück. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Es war so viel passiert in den letzten Tagen. Trotzdem kam sie nicht darüber hinweg, dass ihre Mutter nicht da gewesen war. Und auch Fred hatte sie nicht vergessen. Ihn und sein komisches Gesicht.

Der Fernseher lief. Das grelle Licht stach in Lauras Augen und brannte in ihrem Kopf. Sie fühle sich krank, aber sie wollte es sich nicht eingestehen. Sie durfte jetzt nicht krank werden, sie wollte Martha nicht noch mehr Probleme aufladen.
Sie lag auf einer kleinen grünen Couch und starrte auf den Bildschirm, der einige Meter vor ihr stand und bunte Bilder ausspie, denen sie schon lange nicht mehr folgen konnte. Sie schaltete ihn dennoch nicht aus, denn sie hatte Angst vor der Stille, die dann eintreten würde.
Martha war mit ihr zu ihrer Wohnung gegangen und hatte sie hereingebracht. Sie hatte Laura gesagt, sie dürfe sich alles anschauen, und hatte ihr die winzige Speisekammer und die kleine Küche gezeigt. Dann war sie zurück in zu ihrer Arbeit gegangen.
Die Wohnung war sehr klein, aber hübsch. An den Wänden hingen Bilder. Das Wohnzimmer, das in die Küche überging, war mit einem Fernseher und einem Sofa möbliert. Direkt auf der Grenze zwischen Wohnzimmer und Küche stand ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen. Das Schlafzimmer hatte Laura noch nicht gesehen, aber sie konnte es sich gut vorstellen.
Sie wusste nicht, wie lange sie jetzt schon so war, diese Trance, diese Mischung aus Schlaf und Langeweile. Sie nahm mit Augen und Ohren wahr, was um sie herum geschah, aber sie nahm nicht Anteil daran.
Irgendwann hörte sie ein Geräusch. Jemand schloss die Tür auf. Reglos blieb Laura liegen. Martha kam herein. �Hallo, Laura.�
Laura nuschelte etwas und drehte sich. Martha ging zu ihr und setzte sich neben sie. �Du hast doch bestimmt Hunger. Ich mache uns etwas zu Essen.� Und dann wuschelte sie Laura durchs Haar und stand ächzend auf. Sie schaltete den Fernseher aus, bevor sie in die Küche ging. �Du siehst nicht so aus, als würde das dir gut tun.�
Als ihr der Duft von Nudeln in die Nase stieg, wurde Laura wieder etwas munterer. Jetzt erst merkte sie, dass ihr Magen knurrte. Wann hatte sie zuletzt etwas gegessen? Während der Busfahrt hatte sie nicht herunterbekommen. Es musste gestern beim Abendessen gewesen sein. Sie hatte vierundzwanzig Stunden nichts gegessen! Kein Wunder, dass sie sich krank fühlte.
�Laura! Komm her, es gibt Essen.�
Lauras Beine taten weh von dem vielen Liegen. Sie wankte zu dem Tisch und setzte sich auf einen der beiden Stühle. Martha stellte einen großen Teller Nudeln vor sie. �Iss nur, ich bin sicher, du hast Hunger. Du hast nichts gegessen, seit du hier bei mir bist.�
Das Abendessen verlief schweigsam. Laura gab sich Mühe, nicht zu schlingen, doch sie war viel zu hungrig, um alles richtig zu kauen. Martha war eine gute Köchin, aber sie machte einen bekümmerten Eindruck. Sie starrte die ganze Zeit die Wand an, als würde sie etwas sehen, dass für alle anderen unsichtbar war. Laura wollte sie nicht fragen, weil sie Angst hatte, damit in Marthas Privatsphäre einzudringen, doch es machte sie nervös, die junge Frau so in Gedanken versunken zu sehen. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie unerwünscht in dieser Wohnung. Deshalb sagte sie nichts und machte sich schweigend über ihre Nudeln her.
Plötzlich seufzte Martha. �Ich merke, dass du etwas auf dem Herzen hast, Laura. Du bist so still. Ich gehe zwar nicht mit gutem Beispiel voran, aber trotzdem denke ich, dass du mit mir darüber reden kannst.�
Laura schaufelte sich etwas in den Mund. Sie wollte nicht darüber reden, was sie beunruhigte. Martha tat es ja auch nicht. Und mit vollem Mund konnte sie ja sowieso nicht sprechen.
Martha schaute sie schief an, sagte aber nichts.
Nach dem Essen spülte sie das Geschirr. Als Laura helfen wollte, wurde sie mit einer kurzen Handbewegung weggeschickt. Martha sah nicht so aus, als würde sie ihr Verhalten erklären wollen. Laura fühlte sich komisch. War sie beleidigt? Wenn ja, dann sah es schlecht aus für Laura. Immerhin war sie hier in einer völlig fremden Stadt, ohne Geld oder Unterkunft. Sie beschloss, Martha in Ruhe zu lassen und weitere Reaktionen von ihr abzuwarten.
Nichtsdestotrotz hatte sie keine Beschäftigung, und so blieb sie unschlüssig neben Martha stehen. �Was soll ich tun? Kann ich irgendwie helfen?�
Martha lächelte. Etwas säuerlich, aber sie lächelte. �Im Moment nichts, Kleine. Du kannst fernsehen, wenn du Lust hast.�
Eigentlich wollte Laura nicht. Aber trotzdem setzte sie sich vor den Fernseher und schaltete sich durch die Programme. In Gedanken allerdings war sie bei ihrer Mutter.
Wo war sie? An diesem Tag war so viel passiert. An diesem Morgen noch hatte Laura den Verlag angerufen. Dann war sie nach Gebbra gefahren und hatte Fred und Martha, bei der sie jetzt wohnte, kennengelernt. Es war wirklich viel passiert.


6. Kapitel


Mitten in der Nacht wurde Laura plötzlich wach. Sie hatte einen schlimmen Traum gehabt. Sie hatte ihre Mutter gefunden und lebte mit ihr zusammen, aber sie wurden von einem gesichtslosen Unbekannten terrorisiert, bis Serafina spurlos verschwand und der Unbekannte lachte, lachte, lachte�
Und dann war Laura schweißgebadet aufgewacht. Sie hatte sich zuerst in ihrer Decke verkrochen, bis sie gemerkt hatte, dass sie nicht mehr träumte. Aber sie konnte nicht mehr schlafen. Also blieb sie einfach auf der grünen Couch, die ihr als Schlafplatz diente, liegen, und hoffte, dass der Morgen bald kommen würde und das das strahlende Sonnenlicht, welches durch den Vorhang schien, sie dann weckte. Wie jeden Morgen, seit sie bei Martha wohnte. Es war jetzt schon ein paar Tage her, seit sie zu ihr gekommen war.
Laura drehte sich und bemühte sich, wenigstens in eine Art Halbschlaf zu sinken. Eigentlich war sie ja müde. Aber immer, wenn sie die Augen schloss, sah sie den Unbekannten vor sich, der in einen dicken schwarzen Umhang gehüllt war.
Plötzlich hatte sie eine Idee. Sie hatte ja schon oft von Leuten gehört, die Lösungen im Schlaf fanden. Vielleicht, ganz vielleicht, konnte sie wieder einschlafen und der Unbekannte würde sein Gesicht offenbaren, sobald sie träumte. Vielleicht war es ja die Person, die für Serafinas Verschwinden verantwortlich war. Es wäre sogar noch wahrscheinlicher, wenn sie den Menschen noch nie gesehen hatte. Aber wie sollte sie einschlafen, wenn sie genau wusste, dass sie den furchtbaren Traum vielleicht weiterträumen würde?
Einen Moment dachte Laura an Schlafmittel. Nur eine ganz kleine Dosis, so etwas aus Baldrian. Aber wenn man Schlafmittel nahm, fiel man sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Wenn sie sich eine Lösung erträumen wollte, dann durfte das nicht passieren.
Diese Möglichkeit schied also aus. Die einzige andere, die Laura einfiel, war, spätnachts noch durch die fremde Stadt zu laufen, bis sie vor Müdigkeit fast umfiel. Aber das war einfach nur lächerlich. Abgesehen von den vielen Risiken würde sie auch auf diese Weise in tiefen Schlaf fallen.
Wahrscheinlich war es sowieso unmöglich, sich eine Lösung zu erträumen. Stuss. We hatte sie nur an so etwas denken können? Träume sind Schäume. Wahrscheinlich steckte unter dem Umhang einfach nur eine furchtbare Grimasse oder sogar ihre Mutter selbst. Dem menschlichen Unterbewusstsein war wirklich alles zuzutrauen, egal, wie verrückt es erschien. In Träumen war alles erlaubt. Einmal, als sie noch sehr klein gewesen war hatte Laura sich in einen Jungen aus dem Heim verguckt. Sie hatte von ihm geträumt, Nacht für Nacht. Irgendwann war er adoptiert worden, und man hatte ihn vergessen. Auch Laura. Aber in ihren Träumen war er immer noch erschienen, auch wenn er für sie nicht mehr existierte.
WUMM!
Ein lauter Knall riss Laura aus ihren Überlegungen. Und er war wirklich laut, als hätte � Laura schluckte � eine Bombe eingeschlagen. Aber das Geräusch kam, soweit Laura sich in Marthas Wohnung auskannte, aus der Richtung der Haustür. Einbrecher!, war Lauras erster Gedanke. Einbrecher!
Aber was wollten die hier? Laura war erst einen Tag hier, und doch wusste sie bereits: Bei Martha gab es nichts zu holen. Und wenn es Meuchelmörder waren? Aber was konnten die hier wollen?
Plötzlich wusste Laura intuitiv, dass es etwas mit ihr zu tun haben musste. Blitzschnell folgerte sie: Serafina war geflohen. Jemand hatte herausgefunden, dass Laura hier war. Jemand wollte Serafina finden. Jemand hatte herausgefunden, dass Laura Serafinas Tochter war. Serafina war vor jemandem geflohen. Laura war Serafinas Tochter. Und jetzt tauchte hier plötzlich jemand bei Laura auf, in der Heimatstadt ihrer Mutter.
Gedämpfte Stimmen drangen an Lauras Ohr. Sie kamen aus Richtung der Haustür. Laura verstand kein Wort, und sie wollte es auch nicht. Sie presste ihre Brust an das Sofa, weil sie Angst hatte, dass jemand ihren Herzschlag hören konnte. Jedes Pochen erschien ihr wie ein Trommelschlag, jeder Atemzug wie ein Orkan. Sie konnte nicht aufstehen. Was, wenn jemand sie hörte?
WUMM!
Der zweite Knall ließ Laura fast vom Sofa fallen.
WUMM!
Der dritte Knall erschütterte eine Stehlampe so sehr, dass sie umfiel und zersplitterte.
WUMM!
Der vierte Knall gab den Ausschlag. Laura konnte kaum noch Atmen vor Angst und ihr war gleichzeitig heiß und kalt, als sie aufstand. Nur ein Gedanke sickerte durch ihr Bewusstsein: Wo war Martha? Sie musste doch etwas gemerkt haben. Warum hatte sie nichts getan? Warum war sie nicht gekommen?
Laura stand vor der Schlafzimmertür. Sie legte die Hand auf die Klinke. Zögerte.
WUMM!
Laura drückte die Klinke herunter und zog die Tür auf. Alles war schwarz. Lauras Hände tasteten über die Wand. Wo war der Lichtschalter?

Ein kleines Mädchen hockte auf dem Boden, in der Hand ein Stück Brot. Über sie hatte sich eine große dicke dunkelhäutige Frau gebeugt, die ihr jetzt durchs Haar strich und dabei laut lachte. Ihre tiefe Stimme dröhnte durch den Schlafsaal. Der seltsame Akzent ließ ihre Worte komisch klingen. �Gutes Nacht, kleine Laura, du brauchst einen Mütze Schlaf.�
Das Mädchen gähnte. Die Frau hob sie in ein Bettchen und machte das Licht aus. �Gutes Nacht, kleine Kinder! Gutes Nacht!�
Doch das kleine Mädchen wollte nicht schlafen. Sie tobte und weinte, bis die Frau zurückkam und sie mit einem lauten Seufzer auf den Arm nahm. �Kannste mal wieder nicht schlafen, kleine Laura, wie? Na komm, wir gehen in den Küche und essen noch etwas, kleine Laura.�
Und die dicke Frau trug das Mädchen durch die Flure, bis zur Küche, wo sie sie auf den Boden setzte. Essen, kleine Laura. Essen eine Brot.� Und die Frau gab dem Mädchen ein Brot, dick mit Marmelade beschmiert. �Gutes Appetit.�
Das kleine Mädchen hatte keinen großen Hunger, und so stolperte und krabbelte sie bald aus der Küche. Die dicke Frau, die die Küche putzte, sah es nicht.
Das Mädchen kroch durch viele Gänge. Sie hatte nicht warten wollen, bis die dicke Frau sie zurücktrug. Aber nun fand sie ihren Schlafsaal nicht mehr. Sie hatte sich verirrt in dem großen Gebäude.
Das kleine Mädchen fing an, zu weinen. Doch niemand kam, um sie zu trösten. Dann entdeckte das sie, dass neben ihr eine offene Tür war. Erleichtert krabbelte sie durch den Türbogen. Doch in dem Zimmer war es dunkel. Man konnte nichts sehen.
Zuerst war das Mädchen ratlos. Dann fiel ihr ein, dass sie vor kurzem gelernt hatte, wie man einen Lichtschalter betätigte. Was hatte die dicke Frau damals gesagt?
�Bing � und an�, flüsterte das Mädchen und lachte ganz leise. Sie hatte gelernt, dass man nicht laut lachen durfte, wenn andere Leute schlafen wollten. Das war gemein und die armen Leute, die schlafen wollten, waren dann ganz traurig. Also lachte das Mädchen nicht laut. Aber es freute sich, weil es sich noch erinnern konnte.
Nur wo war der Lichtschalter? Das kleine Mädchen wusste, dass es immer einen Lichtschalter gab, also musste auch in diesem Raum einer sein. �Bing � und an. Bing � und an.� Die Dunkelheit machte dem Mädchen Angst. Sie stand auf, indem sie sich an der Wand hochzog, tapste durchs Zimmer und tastete sich an der Wand entlang. �Bing � und an.�
Plötzlich hörte das Mädchen ein Geräusch. Da war noch jemand in dem Zimmer! Vielleicht konnte der dem kleinen Mädchen ja helfen. �Hallo? Laua Hilfe!� Als niemand antwortete, wimmerte sie. Und dann, ganz plötzlich, fing sie an zu schreien.


Plötzlich schossen Laura eine Reihe Bilder durch den Kopf. Ach, an diese Nacht konnte sie sich sehr gut erinnern. Sie hatte nicht schlafen wollen, also hatte Nellie, eine Erzieherin, die sich am liebsten um kleine Kinder kümmerte, hatte sie in die Küche getragen und ihr etwas zu essen gegeben. Dann hatte Laura nicht zurückgefunden und war in einem alten Waschraum gelandet. Ein tropfender Wasserhahn hatte ihr so Angst gemacht, dass sie durch das ganze Heim geschrien hatte, bis alle um sie herum aufgetaucht waren.
Laura schlug förmlich auf den Lichtschalter ein, den sie ertastet hatte. Martha lag ruhig auf dem Bett und schlief wie ein Baby. Oder war sie etwa � Laura stürzte ans Bett. Und atmete erleichtert auf. In Marthas Ohren steckten Stöpsel. Anscheinend schlief sie immer so. Deswegen hatte sie auch die vielen Schläge nicht gehört. Jetzt musste sie aber aufstehen.
�Martha!� Laura rüttelte an ihren Schultern und zog die Stöpsel raus. �Du musst aufstehen! Wir müssen weg!� Als Martha die Augen öffnete, spiegelten diese zuerst eines wieder: Erstaunen. �Was ist los, Laura? Wie spät ist es?�
WUMM!
Perfektes Timing, schoss Laura durch den Kopf. �Können wir durchs Fenster raus?�
Wortlos nickte Martha und stieg aus dem Bett. Ihr schlanker Körper zitterte. Schnell öffnete sie das Fenster.
WUMM!
Die Wohnungstür sprang auf.
Laura hörte es. Auf den letzten Schlag hatte ein Splittern gefolgt. Martha schubste sie aus dem Fenster. �Haus wird umgebaut�, murmelte sie, als Laura geschmeidig wie eine Katze auf dem Gerüst aus Holz und Eisen landete. Dann sprang Martha hinterher und zog das Fenster zu, so gut es ging.
Laura wollte sich unter das Fenster hocken, aber Martha schüttelte hektisch den Kopf und zog sie zu einer Leiter, die ein Stockwerk tiefer führte. �Hier runter.� Laura widersprach nicht und kletterte die Leiter herunter. So ging es von Plattform zu Plattform. Manchmal konnten sie nicht direkt herunter, dann mussten sie nach links oder rechts springen, was im Dunkeln natürlich sehr gefährlich war.
Sie waren fast unten, als das Fenster aufflog. Martha presste Laura neben sich an die kalte Hauswand. Nur noch ein paar Meter trennten sie von der vergleichsweise sicheren Straße. Aber wahrscheinlich war es jetzt unmöglich, ganz nach unten zu kommen, wenn der Verfolger oben lauschte und gierig jedes noch leise Geräusch einsog. Sie mussten warten und konnten nur hoffen, dass die Einbrecher hier unten keine Verstärkung postiert hatten.
Plötzlich schrie eine laute, ungehaltene Männerstimme: �Scheiße, sie sind durchs Fenster abgehauen! Verdammte Kacke!�
Und eine andere, höhere Stimme antwortete: �Reg dich nicht auf. Weit können sie noch nicht gekommen sein. Das Haus wird umgebaut, das macht es leicht für sie, zu fliehen. Denken sie zumindest. Aber wir sind schneller als sie.�
Während die Person � Laura war sich nicht sicher, ob es ein Mann oder eine Frau war � redete, gab Martha ihr ein Zeichen. Die beiden krochen über die Plattform und dann stieg Laura ganz vorsichtig die letzte Leiter hinunter. Martha landete direkt nach ihr leichtfüßig auf der Straße. Dann nahm sie Lauras Hand und zog sie unter das Holzbrett.
Laura kauerte sich an die Wand und hielt Marthas Hand. Von oben hörten sie immer noch die Verfolger diskutieren.
Man hörte, dass die hohe Stimme sich aufregte. �Du hast doch einen Schuss, Mikek! Wenn wir hier nicht so lange rumgelabert hätten, dann hätten wir sie vielleicht noch einholen können. Aber jetzt � nie im Leben! Wir müssen uns was überlegen!�
Auch Mikek schien genervt zu sein. �Verdammt, Pet, wir müssen da runter! Wie willst du die denn sonst erwischen? Wahrscheinlich haben sie sich in irgendeine Ecke gehockt und zittern vor Schiss! Außerdem, was sollten wir denn tun? Hm?�
Na also. Die hohe Stimme war definitiv eine Frau und hieß Pet. Und im Moment wusste Laura nicht, ob sie sich mehr vor Mikeks oder vor Pets Methode fürchten sollte. Es stand aber fest, dass sie so oder so in der Klemme saßen. Die Straße, die vorhin auf dem wackligen Gerüst durchaus sicher gewirkt hatte, war jetzt viel gefährlicher. Ja, eigentlich war es schlichtweg unmöglich, sie zu überqueren, ohne dabei gesehen zu werden. Die üppig aufgestellten Laternen taten ihr Übriges. Aber sie konnten nicht ewig hier unten sitzen bleiben, bis Mikek und Pet sie finden würden.
Auf einmal hatte sie ein komisches Gefühl. Als wäre irgendwo eine Bedrohung, die sie nicht sehen konnte, aber durchaus vorhanden war. Früher hatten die Erzieherinnen manchmal gesagt, dass Laura einen sechsten Sinn hatte. Und jetzt hatte sie dieses Gefühl wieder. Als schwebe sie in Lebensgefahr und wüsste es nicht. Was war das? Diese Unbehaglichkeit? Diese Angst?

Wieder saß das Laura auf dem Fußboden. Aber sie war deutlich gewachsen. Ihre ehemals so lockigen Haare hatten sich geglättet und ihre Augen waren noch grüner geworden. Natürlich hatte sie sich auch im Geist verändert. Sie war rebellischer geworden, misstrauischer. Aber sie war immer noch klein und leichtgläubig.
Die großen Jungen hänselten sie oft. Sie erzählten Dinge, die gar nicht wahr waren. Die sie erfunden hatten. Meistens wusste Laura, was Wirklichkeit war, aber hin und wieder fiel sie auch auf die Tricks der Jungen herein. So wie an jenem Tag.
Wie gesagt, sie saß auf dem Fußboden. Sie trug eine Dreiviertelhose und ein Shirt. Was man kleinen Kindern eben so anzog. Misstrauisch ließ sie ihren Blick über die Jungen schweifen, die in einer Reihe vor ihr saßen. Damals konnte sie schon zählen, aber es war recht anstrengend für sie. Also sah sie nur, dass es ziemlich viele waren.
Einer der Jungen, der nur Rex genannt wurde, stand auf. Er nahm eine dünne Plastiktüte in die Hand und schwenkte sie vor Lauras Nase hin und her. �Na, Kleine, weißte, was das ist?�
Laura nickte. �Eine Plastiktüte.�
Rex lachte und die anderen Jungen stimmten ein. �Ja, so sieht es aus, was? Aber in Wirklichkeit ist das eine Bombe.�
�Du machst Witze. Das ist aber nicht lustig. Bomben sind nicht gut. Die können wehtun. Das weiß ich von den anderen.�
Rex lachte wieder. �Ja. Das haben die anderen Recht. Und mir ist es gelungen, so eine Bombe hier zu finden. Ist das nicht toll?�
Laura schüttelte energisch den Kopf, sodass ihre braunen Haare hin und her flogen. �Das dürft ihr nicht. Ihr dürft niemandem wehtun.�
�Natürlich dürfen wir das. Und jetzt haben wir eine Bombe und damit können wir das ganze Heim sprengen. Und dich gleich mit.�
Laura fing an zu weinen. �Das stimmt nicht! Das dürft ihr nicht, ich verbiete es!�
Rex blies Luft in die Plastiktüte und hielt sie dann mit der Hand zu. �So, und jetzt lasse ich die Bombe platzen.� Und dann schlug er fest auf die Tüte.

Plötzlich ging Laura ein Licht auf. �Martha, wir müssen hier weg! Schnell!�
Martha wollte sie festhalten. �Laura, was fällt dir ein? Wenn wir hier rauskommen, dann sehen sie uns!�
�Egal! Sie haben eine Bombe abgeworfen!�
Martha fragte nicht weiter. Sie hockten sich dicht an den Rand des Brettes. �Auf drei rennen wir los�, flüsterte sie Laura zu. �Eins � zwei � DREI!�
Gleichzeitig rannten sie los, über die hell beleuchtete Straße. Von Mikke und Pet kam ein triumphierender Aufschrei. Laura konnte nicht verstehen, was sie sagten. Wenn sie überhaupt etwas sagten und nicht einfach nur schrien.
Die Lücke zwischen den beiden gegenüberliegenden Häusern war ganz nah. Nur noch ein paar Schritte, dann würden sie im Schutz des Dunkels verschwinden. Aber gerade, als Laura sich schon sicher fühlte, kam ihnen jemand entgegen. Zwei Personen. Ein Mann und eine Frau, nicht maskiert und nicht verkleidet. Aber das hauchdünne Lächeln, das sich auf den Lippen der Frau abzeichnete, verriet ihre schlechten Absichten.
Hinter ihnen explodierte ein Knallfrosch.

7. Kapitel


Der Mann war genau das, was sich Laura immer unter �stark� vorgestellt hatte. Das war sogar noch untertrieben. Der Mann strotzte förmlich vor Kraft. Die dicken Muskelpakete an seinen Armen verliehen ihm den Eindruck, als würde er Eisenstangen zu Schleifen verbiegen. Unter seinem grünen Hemd war sicher ein richtiges Sixpack. An der Schläfe hatte er ein Tattoo, dass sich bis zu seinen Augenbrauen hinzog. Ein Schriftzeichen. Laura konnte es keiner Sprache zuordnen.
Die Frau an seiner Seite war genau das Gegenteil. Sie war so zart, dass Laura sich sicher war, dass sie bei einer Berührung mit dem Mann zerbrechen würde. Aber auch an ihren Armen zeichneten sich eindeutig Muskeln ab. Auf den ersten Blick wirkte sie wunderschön, aber wenn an genauer hinsah, kam sie einem künstlich vor. Äußerlich perfekt, wie eine Puppe. So wollte Laura nie werden, auch wenn sie dafür eine Hakennase und zerzauste graue Haare hinnehmen musste.
Die Frau lächelte immer noch. Sie schien nicht erregt oder wütend. Nur in ihren hellblauen Augen loderte Hass. Sie streckte Laura die zierliche Hand hin. �Erlaube mir, dass ich mich vorstelle. Mein Name ist Petuna, aber alle nennen mich nur Pet. Und das,� sie deutete auf den Mann, �das ist Mikek. Wir wollten euch eigentlich besuchen, aber ihr wart ja leider nicht da. Deswegen mussten wir zu euch kommen. Es ist schön, dass ihr euch dann doch noch herausgewagt habt. So ein Knallfrosch ist doch ein kleines Wunder der Technik, nicht wahr? Es freut mich übrigens, dich endlich kennen zu lernen, Martha. Ich habe ja schon so viel von dir gehört. Und die kleine Laura. Zu dir kann ich nur das gleiche sagen. Es ist toll, dass wir euch beide zusammen finden. Das erspart jede Menge Arbeit. Ich denke, du verstehst, was ich meine, nicht, Martha?�
Martha kniff die Lippen zusammen und sagte nichts. Laura jedoch war verwirrt. Was hatten Pet und Mikek mit Martha zu tun? Sie waren doch wegen Laura hier, oder nicht? Sie waren hier, weil Laura Serafinas Tochter war.
Da ging Laura ein Licht auf. Natürlich. Diese Leute wollten Serafina finden. Und deswegen dachten sie, dass Martha wusste, wo diese war, weil sie den Artikel über Serafina geschrieben hatte. Aber sie wusste es nicht. Und Laura konnte nicht zulassen, dass Pet und Mikek, die Einbrecher, Martha etwas antaten, weil sie keine Ahnung hatten, dass Martha genauso ratlos war wie sie.
Deshalb tat sie etwas sehr Mutiges. Sie trat einen Schritt vor, um Martha zu verteidigen. �Lasst sie bitte in Ruhe. Sie weiß nicht, was mit Serafina geschehen ist. Wir haben auch schon nach ihr gesucht.�
Laura spürte eine Hand an ihrem Arm. Martha wollte sie zurückziehen. Aber Pet, die athletische Frau, lächelte süffisant und machte eine Handbewegung, als wolle sie etwas aus der Luft pflücken. �Lass sie weiterreden, Martha. Uns interessiert es, was die Kleine zu sagen hat.�
Das verunsicherte Laura, und so beendete sie ihre glorreiche Verteidigungsrede für Martha mit einem lahmen �Schon gut�. Sie kam sich ein wenig dämlich vor, aber sie wusste nicht, was sie noch sagen sollte.
Jetzt machte Pet einen Schritt nach vorne. Ihr boshaftes Gesicht war Laura so nahe, dass diese jede einzelne Wimper erkennen konnte. Sie kicherte wie eine Irre. �Laura, Laura. Ich finde, es kann dir ziemlich egal sein, was wir von Martha wollen. Du sollst dich jetzt natürlich nicht vernachlässigt fühlen, aber zu dir kommen wir später. Mik, kümmere dich um sie.�
Der bärenstarke Mikek nahm Lauras Arm und zog sie an seine Seite. Er war wohl vor allem für das Ausführen von Pets Befehlen zuständig. Fast tat er Laura leid, aber nur für einen Moment. Dann gewann der Schmerz die Oberhand, als er ihr den Arm verdrehte.
Laura schrie auf und Mikek hielt ihr den Mund zu. Er roch nach Schweiß und Alkohol. Davon wurde Laura fast schlecht. Sie konnte nichts tun. Mikek presste seine dicken Wurstfinger so fest auf Lauras Gesicht, dass sie noch nicht einmal zubeißen konnte. Und selbst wenn sie sich frei bewegen und ihn treten könnte, so würde es ihm nicht so sehr wehtun, dass dieser große Mann von ihr ablassen würde. Trotzdem zappelte sie wie verrückt. Mikek schien es gar nicht zu bemerken. Er regte sich nicht. Seine ganze Aufmerksamkeit galt Pet, die sich jetzt Martha zuwandte.
Martha war kreidebleich. �Bitte, Pet, sorg dafür, dass er Laura nicht verletzt, bitte��, bettelte sie. Das wiederum kam Laura trotz ihrer misslichen Lage seltsam vor. Warum sorgte Martha sich so um sie? Sie hatten sich doch gerade erst kennen gelernt? Plötzlich hatte Laura das Gefühl, dass Martha ihr etwas verschwieg. Und dass sie mehr miteinander zu tun hatten, als Laura wusste.
Pet tat so, als würde sie überlegen. �Ach, Martha, du weißt sicher, warum wir hier sind. Es geht um dich und die Kleine hier. Aber in erster Linie um dich. Deine Kraft ist zwar nicht stärker als die von Laura.� Wovon redete die? �Trotzdem können wir gut und gerne Laura loswerden, wenn wir dich dazu bringen können, uns zu helfen. Es liegt bei dir. Du weißt, wovon ich rede. Aber ich bin stärker als du. Du kannst dich vielleicht bis zu einem gewissen Zeitpunkt noch gut verteidigen. Aber angreifen kannst du mich nicht. Und Laura noch weniger. Sie ist nicht trainiert. Sie ahnt gar nichts davon.� Wovon ahnte Laura nichts? Sie hatte das Gefühl, das etwas hier nicht stimmte. Nein. Alles stimmte. Sie übersah nur etwas. �Sie weiß es nicht, stimmt�s? Sie hat keine Ahnung. Weiß sie über ihre Mutter Bescheid?� Was sollte sie wissen? Was gab es zu wissen? Was musste sie wissen, um dieses Rätsel zu lösen? �Ich habe dich etwas gefragt! Was � weiß � sie � über � ihre � Mutter? Ich bin sicher, Mikek kann dich dazu bringen, alles auszuspucken.�
Martha wimmerte wie ein kleines Hündchen. �Bitte nicht! Sie weiß nichts, zumindest nichts wichtiges. Aussehen, die alte Adresse und die Geschichte mit der Höhle, aber mehr nicht! Ich habe ihr nichts gesagt!�
Auf einmal brannte etwas in Laura durch. Mit aller Kraft biss sie in Mikeks Hand. Der zog sie mit einem Aufschrei zurück. Doch Laura beachtete ihn gar nicht. �Was weißt du über meine Mutter?�, schrie sie, außer sich. �Weißt du, wo sie ist?�
Die junge Frau sah plötzlich erbarmungswürdig aus. Mittlerweile kauerte sie auf dem Boden. Ihre blonden Haare hingen strähnig über ihre Schultern. Ihr ganzer Körper zitterte und das hübsche blaue Nachthemd war zerrissen und schmutzig. �Laura, ich konnte dir nichts sagen! Ich hätte dich nur in Gefahr gebracht! Du wärst eine Bedrohung für sie gewesen, wenn du mehr gewusst hättest. Sie hätten dich vielleicht schon längst umgebracht! Und ich wollte dich doch nicht verlieren. Jetzt, wo ich dich gefunden habe! Weißt du, Laura, ich bin deine��
Mit einer schnellen Bewegung hielt Pet ihr den Mund zu. �Das ist jetzt aber genug, liebe Martha. Wir wollen der kleinen Laura doch keine Angst machen. Wir müssen jetzt aber leider gehen. Martha, du kommst mit uns.�
Mikek ließ Laura, die er die ganze Zeit mit dem linken Arm festgehalten hatte, los und stellte sich neben Pet. �Was machen wir mit der Kleinen?�, fragte er. �Soll ich sie beseitigen?�
Pet schüttelte den Kopf. �Nein, lass mal. Sie weiß nichts von ihren Kräften und auch nicht, wie sie sie aktivieren kann. Sie kann uns nicht gefährlich werden. Am besten lassen wir sie einfach hier. In Gebbra wird sie entweder von einem Kinderschänder ermordet oder sie verreckt auf der Straße.�
�NEIN!�, schrie Martha und wand sich in Pets Griff. �Nein, bitte, lasst mich bei ihr, ich will mich nicht von ihr trennen, bitte, sie braucht mich doch! NEIN! Laura, hör mir zu, ich bin deine��
Und da verschwanden alle drei.
Und Laura stand vor der Gasse und wunderte sich, weil Martha zweimal versucht hatte, ihr etwas zu sagen, und sie beide Male an genau der falschen Stelle unterbrochen worden war.


8. Kapitel

Als erstes ging Laura zurück in die Wohnung. Das Fenster war noch offen. Sie war einfach nur müde. Um Martha würde sie sich später kümmern, wenn sie etwas geschlafen hatte. Also legte sie sich in deren Bett und deckte sich zu.
Ein paar Stunden später war die Müdigkeit verschwunden. Die quälenden Fragen allerdings nicht. Laura konnte kaum aufstehen. Ihr ganzer Körper tat weh, abgesehen von den schlimmen Kopfschmerzen. Trotzdem musste sie sich die Wohnungstür anschauen.
Das erste Wort, dass Laura durch den Kopf schoss, war: Autsch. Der kleine Eingangsraum war mit Splittern gefüllt. Die Tür selbst hatte in der Mitte ein großes Loch, als wäre jemand mit einem Rammbock gekommen, der vorne scharfe Kanten hatte. Außerdem hing sie schief in den Angeln. Alles in allem ein sehr unschönes Bild.
Der Rest der Wohnung war in Ordnung. Die beiden Einbrecher hatten sich wohl darin ausgekannt. Sie waren direkt von der Tür zu Marthas Schlafzimmer gegangen, das erkannte man an der deutlichen Dreckspur, die einer der beiden hinterlassen hatte. Laura tippte auf Mikek.
Sie wusste nicht weiter. Sie hatte keine Ahnung, wo ihre Mutter war, und es war genau so unwahrscheinlich, dass sie Martha finden würde. Aber sie wusste, dass sie es versuchen musste. Ganz allein war sie aufgeschmissen. Außerdem hatte sie ja nichts zu verlieren.
Aber wo sollte sie suchen? Martha hatte ja bewiesen, dass sie eine ganze Menge mehr wusste, als sie gesagt hatte. Vielleicht hatte sie ja etwas in der Wohnung, dass Laura helfen konnte. Ein Notizzettelchen, ein Brief oder ein Foto. Irgendetwas.
Die einzigen Stellen, an denen sie sich Hinweise vorstellen konnte, waren der Schrank und die Kommode in Marthas Schlafzimmer. Sonst war alles absolut praktisch. Laura beschloss, zuerst den Kleiderschrank zu durchsuchen. Das war ja ein beliebtes Versteck, soweit sie wusste. Im Kleiderschrank die geheimen Sachen und in der Kommode die Erinnerungsstücke. So war es sicher auch bei Martha.
Der Kleiderschrank war nicht gerade voll, aber voll genug, um Fotos und Schnipsel darin zu verstecken. In den Jackentaschen war nichts, in den Hosentaschen auch nicht. Zwischen den T-Shirts, die fein säuberlich in einer Box gestapelt waren, fand Laura einen kleinen Zettel.
Ich liebe dich über alles, meine kleine Bonbondose. Dein Gummibärchen Roque
Diese Worte versetzten Laura einen Stich in der Brust. Hatte Martha einen Freund gehabt? Aber sie hatte doch tagelang bei ihr gelebt. Nie hatte sie jemanden erwähnt. Und es war auch niemand vorbeigekommen. Vielleicht hatten sie sich schon vor Jahren getrennt.
Die Unterwäsche durchsuchte Laura nur flüchtig. Nichts. Sie langte auch in die Schuhe, die in einer Reihe da standen, as würden sie nur darauf warten, endlich mal wieder getragen zu werden.
Erst bei den Socken wurde sie wieder fündig. Ganz unten, in einer Ecke am Boden der Box, war eine Kiste. Sie war nur etwa halb so groß wie ein Schuhkarton, aus Pappe und schwarz. �Da sind bestimmt nur Strumpfhosen drin oder so�, sagte sie zu sich selbst, konnte aber nicht verhindern, dass ihre Finger zitterten, als sie sich auf das Bett setzte und die Kiste öffnete.
Sie war randvoll mit Drohbriefen.


9. Kapitel

Alle Buchstaben waren aus Zeitungen ausgeschnitten. Der Schreiber war sehr gründlich vorgegangen. Laura dachte an Pet und Mikek. Waren die Briefe von ihnen?
Sie konnte nicht alle lesen, also nahm sie stichprobenartig Briefe heraus und entzifferte die manchmal schwer lesbaren Buchstaben.

Komm am 15. um 13:00 an die Golgonbrücke. Wir erwarten dich dort.

Wenn du nicht willst, dass wir in deine Wohnung kommen, geh am 28. zur Bellingstr. 8. um 21:30. Wir erwarten dich dort.

Du weißt, was wir von dir wollen. Weigere dich nicht, unseren Ruf zu befolgen. Bellingstr. 8 am 4. um 12:15

Wir haben deinen Freund. Bellingstr. 8 am 31. um 15:30

Bellingstr. 8 am 17. um 18:45 oder er STIRBT!

Wir haben deinen Freund. Oder er stirbt. Wir haben deinen Freund. Oder er stirbt. Wir�
Wo war Laura da reingeraten? Was war hier los?
Sie legte alle Briefe wieder in die Kiste und stellte diese auf die Kommode. Dort wollte sie weitersuchen.
War Marthas Freund tot? Hatten sie ihre Drohung wahr gemacht?
Laura beschloss, nicht mehr daran zu denken. Die Kommode war auch noch da.
Die erste Schublade war voll mit Büchern. Laura stöhnte. In jedem Buch konnte ein Foto, ein Zettel stecken. Also beschloss sie, diese Schublade zum Schluss zu durchsuchen.
In der zweiten war nur � Mela hätte es Krimskrams genannt. Alle möglichen Dinge, von Jojos bis zu Notizblöcken. Auf den ersten Blick erweckte der Inhalt dieser Schublade den Anschein, als gäbe es hier jede Menge Hinweise auf Martha. Bedachte man alles aber mit einem zweiten Blick, war es nur mehr oder weniger, aber für Laura auf jeden Fall nutzloser � Krimskrams.
Die dritte Schublade also.
Diesmal war es ein Volltreffer.
In der dritten Schublade waren Fotoalben.
Laura hätte nicht gedacht, dass Martha so viele Fotoalben besaß. Alles war vollgestopft. Sie musste wohl alle durchsehen, um einen Hinweis zu finden.

Nach zwei Stunden hatte Laura alle durch. Es war nicht langweilig, wie sie gedacht hatte. Sie fand mit jedem Foto etwas über Martha heraus. Sie verfolgte mit, wie aus einem kleinen, blonden und blauäugigen Mädchen eine erwachsene Frau wurde, die bei einer Zeitung anfing und sich eine eigene Wohnung mietete.
Auf vielen Bildern war der Junge. Er hatte strubblige schwarze Haare und trug eine blaue Jacke. Seine dunklen Augen sprühten vor Lebenslust. Oft legte er seinen Arm um Martha. Beide veränderten sich auf den Fotos. Martha und der Junge, von dem Laura glaubte, dass es Roque war, wurden älter. Das war überraschend. Sie waren anscheinend eine ganze Weile zusammen gewesen. Wieder spürte Laura dieses schwachen Stich in der Brust.
Aber sonst waren die Fotos nicht sehr aufschlussreich.
Seufzend räumte Laura das letzte Album zurück in die Schublade, als ihr etwas auffiel. Ganz am Rand der Schublade klemmte ein weißer Briefumschlag zwischen einer Kiste, in der nur Fotos waren (Laura hatte den Deckel angehoben und hereingeschaut) und der hölzernen Innenwand der Schublade. Konnte dieser Briefumschlag eine Hilfe für sie sein?
Vorne war keine Adresse. Nur ein paar Worte, in einer schnörkeligen Schrift.
Für meine geliebte kleine Bonbondose Martha
Ich liebe dich immer noch!
Das war auf jeden Fall von diesem mysteriösen Roque. Die Schrift war eindeutig dieselbe wie auf den Zettel bei den Oberteilen. Und das mit der kleinen Bonbondose konnte ja kein Zufall sein.
Laura machte den Umschlag auf und zog den Inhalt heraus. Es waren Fotos. Aber sie waren nicht fein säuberlich in Alben geklebt, damit sie die Zeit überdauerten. Diese Bilder waren abgegriffen und an manchen Stellen sogar eingerissen, als wären sie schon durch viele, viele Hände gewandert. Es waren auch nicht viele. Insgesamt fünf.
Das erste zeigte Martha, wie sie mit ihren Eltern unter einer großen Trauerweide stand. Da war sie noch ein Kind, höchstens fünf Jahre alt. Marthas Mutter war eine hübsche Frau, mit langen blonden Haaren. Obwohl Laura sie schon auf vielen Fotos gesehen hatte, konnte man dort am besten die Ähnlichkeit zu Martha erkennen. Ihr Vater hatte braune Haare und lauter Lachfältchen um die Augen.
Auf dem nächsten Foto war Martha etwa 12 Jahre alt. Etwa so alt wie Laura. Neben ihr war ein Mädchen. Die beiden standen Arm in Arm da und lächelten breit. Im Hintergrund waren Häuserreihen und ein einzelner Baum, der drohend seine Äste über die Freundinnen hielt.
Das dritte Foto zeigte wieder Martha, wie sie als kleines Kind mit einem großen schwarzen Hund in einem Garten herumtollte. Der Hund leckte sie freundschaftlich ab, und Martha lächelte über das ganze Gesicht.
Das vierte Foto. Martha und ein Junge. Derselbe Junge, der auch auf vielen anderen Fotos gewesen war. Aber auf diesem hier waren sie anders. Als hätten sie für das Bild nicht Modell gestanden, sondern wären von der Kamera überrascht worden. Seine Lippen berührten ihre Wange und Martha grinste breit.
Das fünfte Foto war zuerst total unscheinbar. Viele Menschen waren zu sehen. Alle hatten es eilig und machten ein grimmiges Gesicht. Eine dicke Frau schleppte zwei schwer aussehende Einkaufstüten, ein junger Mann hatte ein quengelndes Kind an der Hand. Über alle ragte eine große Statue. Sie zeigte einen Mann, der so vollkommen war, dass es unnatürlich wirkte. Seine Gesichtszüge waren perfekt in den Stein gemeißelt. Er hielt einen Strick in der Hand, und ein sich aufbäumendes Pferd sah so aus, als würde es ihn jeden Moment niedertrampeln.
Wenn man das Bild ansah, fielen einem kaum die beiden Mädchen auf, die auf dem Sockel der Statue saßen. Die eine war wieder Martha. Das andere Mädchen war noch auf keinem Foto gewesen. Trotzdem kannte Laura sie. Es war, als würde sie in einen Spiegel schauen. Lockige, braune Haare umrahmten das schmale Gesicht des Mädchens. Es wirkte ein wenig eingefallen, aber die leuchtend grünen Augen strahlten wie kleine Scheinwerfer. Das Mädchen hatte schützend den Arm um Martha gelegt, die um einiges jünger war als sie. Beide lachten. Worüber, das war ein Rätsel. Aber klar war: Das musste Serafina Acrego sein. Lauras Mutter. Und Marthas � Freundin? Schwester? Cousine? Konnte alles sein. Trotz dem sichtlichen Altersunterschied.
Deswegen war Martha also so betroffen gewesen, als Mikek sie festgehalten hatte. Sie war die Tochter ihrer Freundin. Vielleicht waren sie auch verwandt. Und deswegen hatte Martha sich auch darum gekümmert, dass sie Serafina sah. Plötzlich erklärten sich viele Dinge, über die sie sich bei Laura gewundert hatte. Wenn auch nicht mal ein Bruchteil all ihrer Fragen, die sie noch zu ihrer Mutter hatte.
Laura setzte sich auf das Bett und vergrub das Gesicht in den Händen. Wo war Martha? Wo war Serafina? Gab es denn niemanden, der sie noch nicht verlassen hatte? Auf den sie sich verlassen konnte? Natürlich konnte Martha nichts dafür, dass Laura jetzt allein war. Und Serafina hatte nicht gewusst, dass ihre Tochter sie besuchen wollte. Aber irgendjemandem musste sie ja sie Schuld geben.
Plötzlich schoss Laura hoch. Sie hatte die ganze Zeit nach ihrer Mutter gesucht. Aber was war mit ihrem Vater? Sie musste einen haben. Jeder hatte einen Vater. Sie hatte zwar keine Anhaltspunkte, aber das war ihre einzige Möglichkeit. Der Vater. Wer war er eigentlich?
Auf einmal hatte sie das Gefühl, als hätte sie etwas übersehen. Etwas sehr Wichtiges. Sie fühlte sich, als ob eine Reihe Lösungen vor ihr lagen. Eigentlich wusste sie die Richtige, aber sie war sich nicht sicher genug. Und deswegen weigerte sich ihr Unterbewusstsein, zuzugreifen, aus Angst, die falsche Lösung zu wählen.
Diese Vorstellung war so absurd, dass Laura kichern musste. Als einen Moment später das Telefon klingelte, blieb ihr jedoch das Lachen im Hals stecken. Sie starrte auf den Apparat auf der Kommode, als wäre es eine Bombe. Laura merkte, wie ihre Knie weich und ihr Hals trocken wurde. �Beruhig dich�, krächzte sie. �Mach dich nicht verrückt. Ist bestimmt nur eine Kollegin. Keine Angst.�
Das Telefon klingelte weiter. Der schrille Ton tat Laura in den Ohren weh. Sie glaubte nicht, dass es eine Mitarbeiterin von Martha war. Sie glaubte auch nicht, dass es eine Freundin war. Aber sie musste abheben. Vielleicht konnte sie nur so Martha helfen. Also nahm sie einen tiefen Atemzug, machte einen Schritt auf die Kommode zu und presste das Telefon ans Ohr.
�Bei Bolgar?�
Laura wusste, wer am anderen Ende der Leitung war, bevor Pet etwas sagte. Sie hörte es an der Art, wie sie atmete. Leise und leicht schleppend. Das war ihr aufgefallen, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Das passte so gar nicht zu der jungen Frau. Aber oft sah man Menschen nicht gleich an, wie sie atmeten.
Pet lachte leise. �Hallo, Laura�, sagte sie mit einer Stimme, die so bedrohlich war, dass sich Laura die Nackenhaare aufstellten. �Hast du uns schon vermisst?�
�Was habt ihr mit Martha gemacht?� Ärgerlich stellte sie fest, dass ihre Stimme zitterte. Das durfte nicht sein. Pet sollte nicht sehen, was für Angst sie hatte.
�Mach dir keine Sorgen um sie�, kam es aus dem Hörer. �Es geht ihr gut. Noch. Ich kann mir vorstellen, wie es ist, die eigene � oh, verzeih mir. Wir möchten das Ratespiel noch ein wenig fortführen. Jedenfalls, Martha vermisst dich. Sehr sogar. Und soll ich dir etwas sagen? Das können wir ändern. Wir brauchen dich hier bei uns, Schätzchen.� Pet wechselte die Tonlage und ihre Stimme wurde so honigsüß, dass ihr Telefon sicher schon ganz klebrig war. �Es tut mir leid, dass wir dich mit dieser Bitte so überraschen müssen. Aber Martha will uns nicht das geben, was wir wollen. Wenn wir sie nicht dazu bringen können, müssen wir sie leider loswerden. Aber da habe ich mir gedacht, dass du ihr vielleicht etwas auf die Sprünge helfen kannst.�
Laura schluckte. �Und was, wenn ich mich weigere?�
�Dann stirbt sie, Laura. Und das willst du doch nicht.� Pet hielt kurz den Mund, als wollte sie Laura die Gelegenheit geben, �Natürlich will ich das!� zu schreien. Als keine Antwort kam, sondern nur betretenes Schweigen, fuhr sie zufrieden fort. �Na also. Wir werden uns doch einig, Laura. Also, du findest uns � ja, damit hast du nicht gerechnet � in der Wohnung unter dir.� Als Laura überrascht japste, lachte Pet. �Komm am besten gleich, wenn es dir keine Umstände macht. Den Schlüssel für Marthas Wohnung musst du ja nicht mitnehmen.� Böses Kichern. �Geh einfach durch die Tür.� Dann legte sie auf.
In der Wohnung unter ihr. Direkt unter ihren Füßen saß vielleicht Martha, an einen Stuhl gefesselt, und schrie um Hilfe. Aber leise, weil sie einen Knebel im Mund hatte. Oder Pet lief vor einem Tisch auf und ab, an dem Mikek saß und eine Zigarette nach der anderen rauchte. Oder die schmiedeten Pläne. Laura konnte förmlich hören, wie Pet mit ihrer eiskalten Stimme sagte: �Und dann, wenn sie hier unten ist, fliegt sie aus dem Fenster und basta.�
Nein. An so etwas durfte sie nicht denken. Sie musste Martha helfen, woher auch immer sie Serafina kannte. Und wenn sie sich selbst solche Schauermärchen erzählte, würde sie nie den Entschluss fassen können, nach unten zu gehen.
Aber nicht einfach so. Vielleicht wurden Pet und Mikek misstrauisch, wenn sie sich zu lange Zeit ließ, aber sie mussten jetzt erst mal warten. Laura musste sich ausrüsten.
Sie zog sich zuerst an. Aber sie nahm die bequemsten Sachen, die Martha ihr besorgt hatte. Ein weites T-Shirt und eine Jogginghose. Ihre gelockten braunen Haare band sie zusammen. Dann nahm sie den einzigen Gürtel aus Marthas Kleiderschrank und legte ihn unter dem Oberteil an. In der Küche nahm sie ein Messer und wickelte es in ein Tuch. Dann steckte sie das Ganze in ihren Gürtel. Man musste immer für alles gewappnet sein. So hatte sie wenigstens eine Möglichkeit zur Verteidigung und auch wenn das Messer eigentlich nicht für diese Zwecke gedacht war, so würde es im Notfall doch eine ordentliche Waffe abgeben.
Laura hatte einen dicken Kloß im Hals. �Hast du jemals daran gedacht, dass du dich einmal so verhalten wirst?�, sagte sie traurig zu sich selbst, als sie vor der Wohnungstür stand. �Dass du dir Gedanken machst, was eine brauchbare Waffe abgeben würde und was nicht?� Nein, das hatte sie nicht.
Laura schluckte noch ein letztes Mal. Und kletterte durch das Loch in der Tür.


10. Kapitel


Laura stand vor der Tür und kämpfte mit sich. Da drin war Martha. Und Laura musste sie retten. Aber sie befand sich sprichwörtlich in der Höhle des Löwen. Oder besser gesagt, davor. Oder noch besser gesagt, vor der Höhle der Löwen. So war es richtig.
Ach, ach, ach. Sie wusste einfach nicht, was sie tun sollte. Natürlich konnte sie fliehen. Aber sie durfte Martha nicht im Stich lassen, das durfte sie einfach nicht. Aber was war, wenn die Einbrecher ihr eine Falle gestellt hatten? Vielleicht war Martha längst geflohen oder � Laura wollte nicht daran denken, aber sie musste die Möglichkeit in Anbetracht ziehen.
Sie versuchte zu grinsen, was allerdings reichlich erbärmlich ausfiel. �Ach komm, was kann denn Schlimmes passieren?�, machte sie sich Mut. �Ich habe mein Messer. Ich bin bewaffnet. Und ich bin vielleicht nicht sonderlich stark, aber ich habe eine ganze Menge Willenskraft.�
Aber trotz dieser Willenskraft brachte sie es nicht fertig, die Klingel zu drücken. Laura fühlte sich, als würde in ihr ein Sturm toben. Sie schwitzte und fror, ihr war heiß und kalt und sie hatte ein sehr flaues Gefühl im Magen. Als hätte sie viele kleine Tiere im Bauch, die herumtrippelten und gegen die Magenwand klopften. Ihr Hals war wie zugeschnürt und ihre Hände sonderten ununterbrochen Schweiß ab.
Aber bevor sie sich entscheiden konnte, ob sie die Wohnung betreten sollte, ging die Tür auf und eine große, klobige Hand zog sie herein, während ihr der Geruch von Alkohol entgegenschlug.

Als Laura den Raum sah, stockte ihr der Atem. Sie hatte ein kleines fensterloses Kämmerchen erwartet, in dessen Ecken Spinnenweben hingen. Stattdessen war der Raum groß und luftig. Durch ein riesiges Fenster kam Licht in das Zimmer. Die Wände waren in einem schönen Pfirsichton gestrichen, der Boden war von einem flauschigen Teppich bedeckt. An den Wänden hingen Bilder, auch wenn es nur Drucke waren. Manche hatte sogar Laura schon gesehenen, andere waren weder gut gemalt noch bekannt, sondern einfach nur schrill. Gleich neben der Tür stand ein rotes Zweiersofa. In der Ecke war eine kleine Küche. Es gab noch drei andere Türen. Ein Plastiktisch mit zwei Klappstühlen stand schräg vor der Couch.
Pet starrte auf die Mattscheibe. Auf ihrem Schoß hatte sie eine Schale Kartoffelchips, die sie sich in den Mund schob. Als Mikek mit Laura hereinkam, würdigte sie sie keines Blickes, sondern zeigte empört auf den Fernseher. �Das gibt�s doch nicht! Also, das ist echt das Letzte! Er verlässt sie, nur weil sie ihm gesagt hat, dass sie schwanger ist! Der Kerl gehört hinter Gitter.�
Mikek schloss die Wohnungstür zweimal ab und zerrte Laura zu einem Stuhl, der an der Wand stand. Dann nahm er die Fernbedienung, die auf der Sofalehne lag, und schaltete den Fernseher aus. �Du guckst zu viel in die Glotze. Diese Soaps sind echt nicht gut für dich, Pet.�
Pet starrte weiterhin wie hypnotisiert auf den Bildschirm. �Ist die Kleine da?�, fragte sie abwesend, als wäre diese Frage Routine für sie. Mikek beantwortete ihre Frage nicht. �Weißt du, langsam mache ich mir Sorgen um dich. Den ganzen Tag hängst du schon vor dem Teil, abgesehen davon, dass du vorhin das Mädchen angerufen hast. Und außerdem-�
Pet fuhr herum und fauchte wie eine Raubkatze. �Halt einfach dein Maul, Mik! Ich habe dich gefragt, ob die Kleine da ist. Und wenn ich fernsehen will, weil ich wochenlang auf Achse war, dann ist das meine Sache.�
Mikek sagte nichts mehr dazu. Er ruckte nur mit dem Kopf in Lauras Richtung. �Da sitzt sie.�
Pet nickte nur kurz und dann schaltete sie den Fernseher wieder an und schaute weiter. Dabei machte sie eine Handbewegung in Richtung des Stuhls. �Bring sie ins Verlies. Und dann schau mal mit, damit du erkennen kannst, wie spannend das ist.�
Aha. Laura war hier herzitiert worden, um gleich wieder ins Verlies zu gehen, weil ihren Entführern eine Fernsehserie wichtiger war. Abgesehen davon konnte Laura sich hier in dieser hübschen Wohnung gar kein Verlies vorstellen. Aber vielleicht war dort ja auch Martha. Und wegen der war sie hier. Eventuell war dieser Aufenthalt im �Verlies� ja eine Hilfe für sie.
Als Mikek die Tür aufschloss, hätte Laura fast laut losgekichert. Das Verlies war das Schlafzimmer. Insgesamt drei Betten ließen sich herunterklappen, und alle sahen recht unbequem aus. Auf einem saß Martha, wie Laura schon fast gedacht hatte.
Mikek stieß sie auf das Bett gegenüber ihr. �Ihr habt es noch gut, ihr zwei. Ich muss mir jetzt Pets Lieblingssoap anschauen. Und das ist wirklich kein Zuckerschlecken.� Er stöhnte, wischte sich mit der riesigen Pranke über die Stirn und schloss den Raum ab.
Lange Zeit sagte Martha nichts. Stumm saßen sie sich gegenüber und vermieden es, sich anzusehen. Laura fühlte sich komisch. Dieses Schweigen bedrückte sie. In dem Schlafzimmer war es kalt, und jetzt verstand Laura, warum Pet und Mikek es als Verlies gewählt hatten. Es wirkte zwar auf den ersten Blick nicht so, aber wenn man lange hier saß, dann spürte man die Kälte und die Trauer. Es war seltsam, dass ein normaler Raum diese Wirkung haben konnte.
�Hast du es herausgefunden?� Martha schaute Laura direkt in die grünen Augen. Sie brauchte einen Moment, bis sie verstand, was die Frau meinte.
�Teilweise. Ich weiß nicht, was du für mich bist, aber du hast oder hattest einen Freund namens Roque � und du hattest irgendeine Beziehung zu Serafina.�
Gespannt wartete Laura auf Marthas Reaktion. Aber diese tat nichts. Sie schaute nur die Wand an. Und da wusste Laura, an was sie die Situation erinnerte. �Neulich. Als ich zu dir gekommen bin. Da hast du auch die Wand angeschaut, Martha. Ich weiß es. Ich � ich hab mich gefragt, woran du denkst.�
Martha seufzte. �Ich habe an Serafina gedacht. Ich habe mich gefragt, wo sie ist. Weißt du, Laura, sie ist meine Schwester.�
Warum überraschte diese Neuigkeit Laura nicht? Sie konnte sich die Frage eigentlich selbst beantworten. Sie hatte gespürt, dass Martha und sie zusammengehörten. Sie waren sich ähnlich, das hatte Laura während den Tagen bemerkt, die sie bei Martha gewohnt hatte. Martha war zwar schon erwachsen, aber sie hatten eine Menge Gemeinsamkeiten. Sie aßen beide gerne Nudeln, waren sehr eifrig und sahen im Allgemeinen nicht viel fern. Sie waren verwandt. Martha war Lauras Tante. �Darf ich dich jetzt Tante Martha nennen?�, fragte sie grinsend.
Martha starrte sie an, als hätte Laura sie nach der Farbe ihrer Unterwäsche gefragt. Einen Moment lag totale Verwirrung auf ihrem hübschen Gesicht, dann hellte es sich auf und sie lachte. �Aber nein, Laura, ich-�
Weiter kam sie nicht. Mit einem lauten Knall wurde die Tür aufgerissen und Pet marschierte in den Raum. Mittlerweile war sie Laura vertrauter als so manch anderer Mensch. War sie der jungen Frau wirklich erst gestern zum ersten Mal begegnet? Diese Vorstellung war seltsam für Laura, aber es musste so sein. Es sei denn sie hatte drei Tage lang geschlafen. Und das war mehr als unwahrscheinlich. Pet war vielleicht nicht ihre beste Freundin, aber sie war etwas bekanntes, das keine neue Verwirrung hervorrief. Verwirrung hatte Laura im Moment genug mit Martha und ihrer verzwickten Beziehung zueinander.
Pet redete ausnahmsweise einmal nicht. Sie packte Martha ohne ein Wort am Arm und wollte sie aus dem Zimmer zerren. Diese war von der plötzlichen Attacke so überrascht, dass sie kein Wort sagte und sich nur mitziehen ließ. Das ließ Laura sich aber nicht gefallen. Sie griff nach Marthas anderem Arm und stemmte, so gut es ging, die Füße in den Türrahmen, sodass sie halbwegs fest verankert war. �Bitte, Pet, ich will noch kurz mit ihr reden!�
Pet hatte kein Ohr für ihre Worte. Sie zerrte an Martha, bis deren Nachthemd, das sie immer noch trug, am Arm riss. �Mein Nachthemd!�, jammerte sie. �Mein Nachthemd! Bitte, jetzt lass mich los, Laura, ich will nicht, dass ich am Ende nichts mehr zum Anziehen habe.� Und mit einem Ruck zog Pet die widerstandslose Martha aus dem Raum und verriegelte die Tür hinter ihnen.

11. Kapitel

Laura ließ sich wieder auf das Bett sinken. Es war weder bequem noch sonderlich groß. Sie passte noch nicht einmal vollständig darauf. Bei der Vorstellung, wie sich der große Mikek in der vergangenen Nacht daraufgelegt hatte, musste sie trotz ihrer misslichen Lage grinsen.
Ach, und wie misslich die war! Nun stand fest, was Laura so lange vermutet hatte. Martha war ihre Tante, Serafinas Schwester. Und kaum hatte Laura sie als solche wahrgenommen, wurde sie auch schon von Pet aus dem Verlies gezerrt. Was hatte sei vorher gesagt?
�Aber nein, Laura, ich�, murmelte Laura vor sich hin. Sie hatte den Satz nicht zu Ende gesprochen, weil Pet gekommen war. Wahrscheinlich hatte sie nur sagen wollen: �Aber nein, Laura, ich werde am liebsten einfach Martha genannt.� Oder: �Aber nein, Laura, ich will mich nicht so alt fühlen.� Oder aber: �Aber nein, Laura, ich habe mich schon so daran gewöhnt.�
Sie seufzte. Ach, warum weinte sie nicht? Warum warf sie sich nicht heulend auf dem Bett hin und her? Bedeutete ihr Martha so wenig? Was war mit ihr los? Laura hatte seit Jahren nicht mehr geweint. Als kleines Kind, ja. Aber als sie älter geworden war, da hatte sie sich immer geschämt. Also hatte sie Tränen irgendwann ganz abgelegt.
Das wäre jetzt eine gute Stelle für eine von meinen Visionen, dachte Laura. Manchmal erlebte sie Dinge, die lange zurücklagen, noch einmal in ihrem Kopf. Lebensecht. Aber das kam nur selten vor. Alles in allem so selten, dass es keine besondere Eigenschaft war, für die alle Leute Laura kannten. Und sie hatte auch noch niemandem davon erzählt. Das war ihr Geheimnis, das sie mit keinem teilen wollte, noch nicht einmal mit Martha.
Laura dachte an ihre Mutter Serafina. Wo war sie jetzt? Wie fühlte sie sich? War sie einsam oder mit anderen Flüchtlingen unterwegs? Sie stellte sich die Frau, die sie bisher nur aus der �Meralie� kannte, vor, wie sie in einer Höhlenecke hockte und sich an den kalten Stein kauerte.

�Gut, ich zählen bis hundert und ihr verstecken euch.�
Lachende Kinder tollten um Nellie herum und spielten ein wildes Spiel, dass keiner verstand, der nicht eingeweiht war wie alle aus dem Heim. Niemand wusste, wer es erfunden hatte, aber jedes Kind liebte es. Keiner durfte die Regeln einem Außenstehenden erklären. Das war Hochverrat.
Auch Laura beteiligte sich an dem Treiben, bis Nellies tiefe, schöne Stimme sie aufschrecken ließ und sie sich ihr zu Füßen setzte. Zufrieden ließ Nellie den Blick über die Kinder schweifen, die erwartungsvoll auf die große dicke Frau schauten.
�Ich sagte, ich zählen bis hundert und ihr verstecken euch. Alles klar?� Ohne eine Antwort abzuwarten, schloss sie die Augen und fing an. �Eins, zwei, drei��
Rasch zerstreute sich die Kinderschar aus Sechs-, Sieben- und Achtjährigen. Laura zählte zu letzteren und war sehr stolz darauf. Sie beschloss, sich ein besonders gutes Versteck zu suchen. Zuerst wollte sie auf einen Baum klettern. Aber auf allen nicht allzu hohen Bäumen saß schon jemand. Deswegen beeilte Laura sich, von Nellie wegzukommen, da diese bestimmt schon mit dem Zählen fast durch war.
Das ideale Versteck fand sie dann am Meer. Nachdem sie eine ganze Weile gerannt war und alle besetzten Bäume hinter sich gelassen hatte, ließ sie sich etwas mehr Zeit und schlenderte geradezu am Strand entlang. Aber natürlich diente das nur dem Finden des perfekten Unterschlupfes. Schließlich entdeckte sie eine wunderschöne Höhle. Der Eingang war von einem großen Felsen getarnt. Direkt dahinter war eine Spalte, und wenn man sich ganz flach hinlegte, dann kam man durch den schmalen Schlitz, den Eingang. Laura hätte die Höhle wahrscheinlich selbst nicht entdeckt, wenn sie nicht der roten Krabbe über den Felsen gefolgt und dann in den Spalt geplumpst wäre.
In der Höhle sah man kaum etwas. Laura tastete sich über den Boden, setzte sich in eine Ecke und presste den Rücken an den kalten Stein. Natürlich konnte niemand sie hier hören, aber sie gab sich trotzdem Mühe, leise zu atmen und möglichst keine Geräusche zu machen. Hier würde die beleibte Nellie sie niemals finden.
Eine halbe Stunde später wartete Laura immer noch auf sie. Niemand kam und obwohl Laura sich freute, dass ihr Versteck derart gut war, wurde ihr langsam mulmig. Und die Zeit kroch weiter. Laura wollte nicht aufgeben, aber wann würde Nellie endlich kommen? Laura beschloss, ganz leise nach ihr zu rufen. Aber nicht so, dass alle sie hören konnten. Nur, damit Nellie sie leichter finden würde. �Nellie! Ich bin hier!� Niemand kam. In der Höhle war es so dunkel und leer wie vorher. Nur ein schabendes Geräusch kam von der anderen Seite der kleinen Höhle.
Laura tastete nach dem Spalt, durch den sie hier herein gekommen war. Sie fand ihn nicht mehr. Die Höhle war so groß, draußen war es mittlerweile dunkel und der große Felsen raubte das letzte bisschen Sonnenlicht. Laura setzte sich auf den Hintern und steckte ihre Finger in den Mund. Sie lutschte eigentlich nicht mehr an ihnen, aber die Angst war zu mächtig. Plötzlich hatte Laura Angst, dass niemand kommen würde. Sie würde für immer und ewig hier sitzen.
Laura fing an zu schreien.

�Hey, Kleine! Kleine, wach auf!�
Nein, er sollte loslassen! Laura wollte schlafen. Sie hatte schließlich einen anstrengenden Tag hinter sich. Wo war sie überhaupt? Warum hörte sie nicht das Stimmengewirr der anderen aus dem Heim? War sie zu spät?
Mit einem Ruck schoss sie hoch. �Hab ich verschlafen? Gibt�s schon Frühstück?� Aber sie war nicht mehr in dem Heim. Sie war im Verlies, hatte an Serafina, genauer gesagt an ihre Höhle, gedacht, hatte einen sehr lebensechten Traum gehabt und jetzt beugte sich ein großer Mann über sie, der wie bei ihren letzten Begegnungen nach Alkohol roch.
Mikek lächelte. Seine Zähne waren erstaunlich weiß. Laura hatte ihn noch nie lächeln sehen. Aber er sah auch nicht so aus, als hätte er viel Gelegenheit dazu. Er brummte etwas Undeutliches. Laura konnte nur die Worte �Frühstück� und �mitkommen� verstehen. Daraus schloss sie, dass sie nicht länger hungern musste. Sie hatte seit eineinhalb Tagen nichts gegessen. Hoffentlich gab es genug.
Es gab. Der Tisch war schön gedeckt. Das hätte Laura Pet gar nicht zugetraut, aber offensichtlich hatte sie ein gutes Händchen für Frühstückstische. Es war für drei Personen gedeckt. Für den dritten Stuhl hatte Pet noch einen Klappstuhl herausgeholt. Auf dem Tisch standen ein Brotkorb mit vielen schönen kleinen Brötchen, drei verschiedene Sorten Marmelade, Käse, Wurst, Obst, Butter, Joghurt, neben jedem Gedeck ein weiches Ei und Saftflaschen. Der Tisch war so voll, dass Laura Angst hatte, dass er jeden Moment zusammenbrechen könnte.
Mikek platzierte Laura förmlich auf den zusätzlichen Stuhl. In dem Moment kam Pet aus dem dritten Zimmer. Sie hatte nur ein Nachthemd an. Ihre blonde Haarpracht war zerzaust und sie sah nicht so aus, als hätte sie gerade Frühstück gemacht. Sie ging auf Mikek zu, gab ihm ein Küsschen auf die Wange und ließ sich auf den Stuhl gegenüber Laura fallen. �Das hast du echt mal wieder schön gemacht, Mik�, schmatzte sie, während sie sich ein Brötchen schmierte.
Misstrauisch beäugte Laura den gedeckten Tisch. Wollten die Entführer, die ihr ihre Tante genommen hatten, sich jetzt auch noch bei ihr einschmeicheln? Das konnte ja nur ein Witz sein. Keinen Bissen würde sie von diesem liebevoll hergerichteten Buffet essen.
Mikek setzte sich auf den letzten freien Stuhl und nahm, nachdem er Laura mit einem auffordernden Blick bedacht hatte, ein dunkle Brötchen. Doch sie wollte nichts nehmen. Sie verachtete diese Leute. Und sie hatte außerdem keinen Hunger. Das bedeutete, eigentlich war ihr Hals wie zugeschnürt. Sicher waren alle Sachen vergiftet. Aber Mikek bediente sich doch auch?
Pet lachte sie an. Aber Laura meinte, die bösen Absichten dahinter zu erkennen. �Na, auch schon wach?�, bemerkte sie mit einem boshaften Grinsen. Das sagt genau die richtige!, hätte Laura jetzt antworten sollen. Dann hätte Pet bemerkt, dass auch sie ein bisschen schlagfertig sein konnte. Aber stattdessen kniff sie die Lippen zusammen und schaute auf die Tischplatte. In ihre Augen schossen ganz plötzlich Tränen. Wieso ließ sie sich von dieser Frau so einschüchtern? Pet war weder groß noch breit. Sie war klein und zierlich und hatte außerdem in diesem Moment zerzauste Haare, die in alle Richtungen abstanden. Trotzdem war sie � Laura senkte den Blick noch weiter. Warum saß sie eigentlich hier, mit den beiden Entführern, und benahm sich, als wäre sie furchtbar schüchtern? Das war sie nicht. Auch Laura konnte sich wehren. Aber wollte sie das überhaupt? Es war viel einfacher, alles über sich ergehen zu lassen. Sie konnte nichts gegen ihre Feinde ausrichten.
�Wo ist Martha?�, fragte sie plötzlich. Pet schaute sie überrascht an. �Ich will mit ihr reden. Ich-� Ihre Stimme versagte. �Bitte�, konnte sie nur noch krächzen. Sie wusste nicht, was sie hatte sagen wollen. In ihrem Kopf war Leere. Wie im Weltall. �Das Universum birgt viele Geheimnisse.� Wann hatte sie diese Worte gehört? Vor zwei Jahren? Wochen? Tagen? Laura wusste es nicht mehr. Ihr Leben hatte sich verändert, seit sie diese Zeitung gelesen hatte, mit der Reportage über Serafina. Und sie wusste noch nicht einmal, wie das Mädchen hieß, dass ihr das Magazin in die Hand gedrückt hatte.
Pets Lächeln war klebrig und süß, als sie Laura antwortete. �Du musst dir keine Sorgen machen, Schätzchen. Es geht ihr gut. Möchtest du dir nicht ein Brötchen nehmen?�
�Ich will wissen, wo sie ist!� Laura wollte endlich Klarheit. �Sag mir, wo sie ist!� Als keiner reagierte, schmiss Laura eine offene Saftflasche um. �Wo ist Martha?� Das Marmeladenglas landete auf dem Boden. �Ich will zu ihr!� Ein Ei kullerte über den Teppich. �Wo-�
�Genug!� Pet sprang auf, war mit zwei großen Schritten bei Laura und hielt sie am Arm fest, bevor diese fliehen konnte. Pet verdrehte ihr den Arm, sodass sie laut aufschrie und versuchte, sich zu befreien. �Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Wir sind nicht freiwillig hier! Wir haben versucht, es dir angenehm zu machen. Weißt du, wie andere dich behandeln würden? Sie würden dir ganz sicher kein schönes Frühstück zubereiten. Oh, nein. Sie würden oben in die Wohnung eindringen und dich mitnehmen.�
�Das hattet ihr doch vor! Oder warum habt ihr dann die Tür eingeschlagen?� Der Schmerz in Lauras Arm war höllisch. Sie wand sich in Pets Griff, war aber nicht stark genug, sich loszureißen.
�Wir haben Martha vorher gefragt!�, fauchte Pet. �Wir haben ihr gesagt, dass sie dich uns aushändigen muss, und wenn sie sich weigert, dann kommen wir sie in ihrer Wohnung besuchen! Wir haben sie vorher gewarnt!�
�Denkt ihr etwa, dass Martha mich einfach so ausliefert? Sie ist meine Tante! Und sie hat es gewusst, die ganze Zeit! Sie hat es sofort gewusst, wollte es mir aber nicht sagen, weil das gefährlich für mich gewesen wäre!� Laura wollte eigentlich noch einige andere Dinge loswerden, aber Pet ließ das nicht zu. Plötzlich sah sie verunsichert aus, als wüsste Laura etwas, das eigentlich geheim sein sollte.
�Du verstehst gar nichts, gar nichts! Du bist nur ein dummes kleines Kind, das sich einbildet, alles zu wissen!� Pet war so wütend, wie Laura sie noch nie gesehen hatte. Auf ihrer sonst so glatten Stirn zeichnete sich ganz deutlich eine tiefe Zornesfalte ab. Ihre Augen glühten wie kleine blaue Feuerchen. �Misch dich nicht in Sachen ein, die dich nichts angehen! Du kapierst gar nichts!�
�Ach ja? Und, wenn ich fragen darf, warum habt ihr dann Martha mitgenommen und nicht gleich mit? Wen wollt ihr überhaupt? Ihr wollt doch unbedingt Martha haben! Warum lasst ihr mich dann nicht gehen? Auch wenn es feige ist, Martha würde auch am liebsten wollen, dass ich fliehe und nicht sie rette. Ich kenne sie!� Laura hatte genau ausgesprochen, was sie dachte. Natürlich war es eigentlich ihre Pflicht, Martha zu helfen. Aber ihre Tante hätte doch sicher gewollt, dass Laura sich selbst in Sicherheit brachte. Erwachsene waren einfach so.
Pet lachte höhnisch. �Du glaubst, dass wir Martha wollen? Glaubst du das wirklich, Kleine? Nein. Glaubst du, wir hätten Martha mitgenommen, wenn wir dich einfacher hätten haben können? Du hast die stärkere Kraft. Unsere einzige Möglichkeit, dich zu uns zu locken, bestand darin, deine geliebte�, Pet schmunzelte, �Tante Martha zu holen. Glaubst du, sie hat wirklich mit uns gekämpft? Glaubst du, sie wollte wirklich bei dir bleiben? Muss ganz schön enttäuschend für dich gewesen sein, als sie sich von mir abschleppen hat lassen, weil sie Angst hatte, dass ihr Nachthemd zerreißt, oder? Sie war in all den Tagen, in denen ihr zusammen wart, nicht bei der Arbeit. Sie war bei uns, Schätzchen. Sie war bei uns. Und weißt du was? Ihr Freund ist ihr wichtiger als du. Sie hat dich aufgegeben, damit er sich wieder an sie erinnert. Ist das nicht romantisch? Sie hat alles mit uns abgesprochen. Eigentlich sollte es geplant sein, dass wir in die Wohnung eindringen und dich mitnehmen. Sie wollte es nicht hören, deswegen hat sie sich die Ohrenstöpsel eingestöpselt. Eigentlich sollte auch die Tür offen sein. Hat es sich wohl anders überlegt.� Pet lachte. �Und als ihr dann da unten wart, da haben wir einen kleinen Knallfrosch abgeworfen. Eigentlich wollten wir nur, dass ihr euch erschreckt und dann aus eurem Versteck rast. Habt ihr ja auch dann getan. Und als Martha dann plötzlich vor uns stand, hat sie sich überlegt, doch lieber gegen dich und für ihren Freund zu arbeiten. Sie ist freiwillig mitgekommen. Bis auf die Tatsache, dass sie dir zum Schluss noch ein kleines Detail mitteilen wollte.�
Laura fühlte sich, als hätte ihr jemand einen Schlag in die Magengrube verpasst. Alles, der Schmerz in ihrem Arm, die Angst um Martha und der mittlerweile grausame Hunger, trat in den Hintergrund. Martha hatte geschrien, gebettelt, geweint � und alles war nur Show gewesen. Wegen ihrem Freund, und da kam nur einer in Frage. Der mysteriöse Roque, den Laura von so vielen Fotos kannte. �Nein�� Eine Träne quoll ihr aus den Augenwinkeln. Sie wollte Pet nicht zeigen, wie sehr diese sie verletzt hatte, also drückte sie ihr Gesicht in das T-Shirt. Das Messer, das in das rot-weiß gestreifte Tuch gewickelt war, stach Laura in den Bauch, aber sie konnte es nicht greifen. Sie konnte gar nichts.
Plötzlich meldete sich Mikek zu Wort. Er nuschelte wie gewöhnlich etwas. �Mensch Pet, brech ihr nicht den Arm. Wir brauchen sie noch.�
Wie durch ein Wunder lockerte sich Pets Griff. Endlich konnte Laura sich losreißen. Sie wirbelte herum. Mit einem Ruck zog sie das Küchenmesser aus ihrem Gürtel, schmiss das Küchentuch auf den Boden und richtete das Messer drohend auf Pet. Ihre Hand zitterte etwas. �Wo ist meine Tante? Wo ist Martha?�


12. Kapitel

Pet wechselte einen Blick mit Mikek. Sie schien nicht gerade eingeschüchtert, was Lauras Zuversicht dafür erheblich sinken ließ. Ihr Atem war so schleppend wie eh und je. Ihre Augen funkelten. �Du weißt nicht, wovon du redest, Kind. Es geht dich nichts an. Es kann dir egal sein.� Sie lachte. �Aber trotzdem. Ihr geht es gut. Sie ist unterwegs. Ihr wird nichts passieren, man braucht sie noch.�
Vor Wut wurde Laura ganz heiß. �Wo kommt sie hin?�
�Nach Jalos.� Mikek schaute auf den Boden. Als er nicht weiterredete, ergriff Pet das Wort. �Unser heiß geliebter Regent Lewis will sie sehen.�
Lewis? Was hatte Martha mit Lewis zu tun? Und wie sollte Laura nach Jalos kommen?

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 10.09.2008

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch allen, die mich kennen, lieben oder auch verehren.

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