Arvinja hörte das Plätschern des Baches, der in der Nähe floss und beschleunigte ihre Schritte. Da knackte es hinter ihr, als wäre jemand auf einen Zweig getreten. Ihre Hand tastete rasch nach dem Dolch, der in der Lederscheide an ihrem Gürtel hing. Arvinja legte die Faust um den Griff und zog die Waffe. Als sie herumwirbelte, sprang auch schon ein Schatten auf sie zu und warf sie mit ungeheurer Wucht zu Boden.
Torek!
„Ich hab geschworen, irgendwann erwisch ich dich, wenn du allein bist, Hexe! Heute ist der Tag gekommen und niemand wird sehen, wie ich mit dir abrechne!“
„Aber sie werden es herausfinden!“, entgegnete Arvinja keuchend. „Alle wissen, wie sehr du mich hasst!“
„Halts Maul!“ Torek packte sie am Hals und begann, sie zu würgen. Arvinja zögerte nicht. Sie hob den Dolch und wollte ihm die Klinge in den Oberarm stoßen, doch er wich aus, so dass sie ihn nur streifte. Torek ließ von ihrer Kehle ab, schrie auf und schlug ihr hart ins Gesicht.
„Du Schlampe, ich bring dich um!“
Als Arvinja ein zweites Mal zustechen wollte, fing er ihren Arm auf. Sein eiserner Griff quetschte ihr Handgelenk so brutal, dass ihr der Dolch aus der Hand glitt. Im nächsten Moment raste seine Faust auf sie nieder und alles wurde schwarz.
Arvinja kam prustend und spuckend zu sich – jemand tauchte sie in eiskaltes Wasser. Sie schnappte nach Luft und versuchte zu schreien, als sie Torek über sich gebeugt erkannte. Er hielt sie grob an den Schultern gepackt und grub seine Fingernägel in ihre Haut. Arvinja lag am Ufer des Baches, mit dem Oberkörper im knietiefen Wasser. Ihr Kopf schmerzte und sie sah verschwommen.
„Mit was besiegt man Feuer, du Hexe?“, zischte Torek mit grotesk verzerrter Miene. Sein Gesichtsausdruck hatte etwas Wahnsinniges, als er sie aus weit aufgerissenen Augen anstarrte. Er ließ ihr gar keine Zeit, um zu antworten, sondern stieß sie zurück ins Wasser, tauchte ihren Kopf unter und hielt sie gnadenlos fest. In ihrer Todesangst begann Arvinja zu zappeln und versuchte, nach Toreks Armen zu greifen, doch sie fühlte sich vom harten Schlag auf den Kopf völlig benommen. Ihre Lunge schmerzte und fühlte sich an, als würde jemand eine Eisenkette darum festzurren. Als sie schon glaubte, ohnmächtig zu werden, zog er sie mit einem Ruck aus dem Wasser und schüttelte sie so heftig, dass ihr Kopf auf und abflog. „Na, hast du noch nicht genug, Drecksstück! Jetzt kannst du mir nichts anhaben, dein Hexenfeuer brennt hier nicht!“, zischte er voller Hass und Zorn. „Warum bin ich nicht viel früher darauf gekommen, dich einfach zu ersäufen wie eine räudige Hündin?“
Arvinja unternahm erneut den aussichtslosen Versuch, Luft zu holen. Ein panischer Laut drang tief aus ihrer Kehle hervor. Torek hatte sie in den letzten drei Jahren immer wieder seinen unbändigen Zorn spüren lassen, doch meist waren es banale Streitigkeiten und Anfeindungen gewesen. Im Schutze des Dorfes hatte er sich nicht getraut, doch hier draußen fühlte er sich scheinbar sicher. Er wollte sie töten. Torek lachte auf, löste kurz eine Hand von ihrer Schulter und schlug ihr hart ins Gesicht. Funken und Sterne explodierten vor ihren Augen, ihr Wangenknochen schmerzte. „Wie lange habe ich darauf gewartet! Lächerlich hast du mich gemacht, vor allen Leuten im Dorf, aber ich wusste genau, was du bist! Du wirst mich nie wieder erniedrigen können, hörst du? Nie wieder!“ Erneut tauchte er sie ins Wasser, diesmal mit solch einer Wucht, dass sie mit dem Hinterkopf auf Grund schlug. Gleichzeitig drückte er ihr die Kehle zu. Ein durchdringender Schmerz fuhr tief in ihre Brust. In ihren Ohren rauschte ein summender Ton, der immer lauter wurde und zu zerbersten drohte. Arvinjas Lider wurden schwer und ihre Sicht verschwamm. Sie dachte an ihren Vater und an ihre Großmutter … an den Schmerz und Kummer, die sie ihnen bereitete, wenn sie jetzt …
Plötzlich ließ Torek von ihr ab, doch Arvinja war es unmöglich, sich aus eigener Kraft hochzuziehen. Ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr, sie war an einem Punkt angekommen, an dem sie keine Schmerzen mehr empfand. Keine Angst. Sie wollte nur, dass es vorüber war. Ihre Sinne schwanden, Arvinja nahm ein gleißendes Licht wahr, das immer heller zu werden schien. Ihr Körper fühlte sich warm an und leicht. Sie wollte tiefer in dieses glückselige Gefühl eintauchen, mehr von dieser Geborgenheit spüren, doch da griffen mit einem Mal kräftige Hände nach ihr und zogen sie zurück in die Kälte. Arvinja wollte das Licht nicht verlassen, doch die Hände waren zu mächtig, zu stark. Etwas legte sich auf ihre Lippen … ein warmer Mund, der Luft zurück in ihre Lungen pumpte. Immer und immer wieder – unermüdlich – bis plötzlich ein Ruck durch ihren Körper ging. Arvinja bäumte sich auf und spuckte das Wasser aus, atmete geräuschvoll Luft in ihre Lungen zurück und hustete und spuckte. Eine angenehme, tiefe Stimme sprach ihr beruhigende Worte zu, doch sie konnte nichts verstehen. Als würde sie unter einem riesigen Berg Watte liegen. Jemand strich ihr übers Haar und dann wurde sie sanft hochgehoben und gegen einen starken, warmen Körper gedrückt. Arvinjas Lider flackerten und für einen winzigen Moment konnte sie blondes Haar erkennen. Es streifte ihre Wangen und sie nahm seinen Duft wahr. Erde, Kräuter, Moos.
„Keine Sorge, du bist in Sicherheit. Ich bringe dich nach Hause“, hörte sie die Stimme flüstern, bevor sie endgültig das Bewusstsein verlor.
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Arvinja erwachte mit pochenden Kopfschmerzen. Eine riesige Klaue griff nach ihrer Kehle und drückte sie zusammen, als die Erinnerung sie einholte. Torek … der Bach … ihre Todesangst. Sie setzte sich im Bett auf und legte die Hand gegen ihr heftig schlagendes Herz. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn, beim Atmen schmerzten ihre Lungen. Was war nur geschehen, wie war sie in ihr Bett gekommen? Sie keuchte auf und hob die Bettdecke an. Jemand hatte ihr das Kleid ausgezogen – sie trug nur noch ihr Unterkleid. Arvinja schlug sich die Hand vor den Mund und erstickte einen Laut der Fassungslosigkeit. Ihr Blick fiel auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch. Dort lag ihr Gürtel und daran befestigt ihr Dolch in seiner ledernen Scheide. Sie hatte ihn doch verloren! Wie um Himmels Willen war sie Torek entkommen und wo war er jetzt?
Arvinjas Kleid hing über der Stuhllehne – sie konnte vom Bett aus erkennen, dass es noch nass war. Sie versuchte sich fieberhaft daran zu erinnern, was genau geschehen war und wer sie gerettet hatte.
Blondes, langes Haar. Eine tiefe, männliche Stimme. Erde, Kräuter, Moos. Ihr geheimnisvoller Retter hatte Torek offensichtlich in die Flucht geschlagen und sie nach Hause gebracht. Arvinja tastete ihr Gesicht ab und stutzte. Sie sollte Verletzungen haben, doch sie fühlte nichts. Ihr Blick fiel zum Fenster, der Morgen schimmerte bereits in goldenem Orange. Sie zog die Schublade ihres Nachtkästchens auf und nahm ihren Handspiegel heraus. Ein leises Keuchen entrang sich ihrer Kehle, als sie sah, dass ihr Gesicht tatsächlich heil war. Dennoch waren Blutspuren zu sehen. Als wären die Wunden über Nacht von selbst geheilt. Sie hatte dunkle Ränder unter den Augen und war kreidebleich.
Arvinja zuckte zusammen, als sie Schritte auf der Treppe hörte und fiel rasch in ihr Kissen zurück. Sie zog die Decke bis zum Kinn und hoffte inständig, ihr Vater würde nichts bemerken. Es klopfte an der Tür, sie öffnete sich knarrend einen kleinen Spalt.
„Arvinja, aufstehen.“ Ihr Vater räusperte sich. „Frühstück ist fertig, wir müssen bald in die Schmiede.“
Arvinja regte sich, schlug die Augen auf und blickte gespielt verschlafen zur Tür.
„Guten Morgen, Vater. Ich komme gleich runter.“
Ein Stein fiel ihr vom Herzen, als sich die Tür wieder schloss. Als sie sich wieder aufsetzte und die Füße auf den Boden stellte, bemerkte sie erst, wie schlecht es ihr ging. Ihr Nacken und ihre Schultern schmerzten, sie fror so sehr, dass sie am liebsten sofort wieder unter die Decke gekrochen wäre.
Sie ging ins Badezimmer, streifte das feuchte Unterkleid ab und zog sich um. Dann wusch sie sich das Gesicht mit kaltem Wasser und ordnete ihr zerzaustes Haar. Noch immer etwas wackelig auf den Beinen ging sie die Treppen hinunter in die Küche.
Vater saß am Tisch und trank seinen Kaffee. Als Arvinja den Raum betrat, sah er auf und lächelte.
„Guten Morgen, Liebes. Tut mir Leid, dass es gestern so spät geworden ist.“ Er stand auf, goss Arvinja Kaffee ein und schob ihr die Tasse über den Tisch hinweg zu. „Ich habe noch nach dir gesehen, aber du hast so fest geschlafen, ich wollte dich nicht wecken.“
Arvinja setzte sich und hätte beinahe aufgestöhnt. Ihr Rücken fühlte sich an, als wäre er gerade gespalten worden.
„Alles in Ordnung mit dir? Du siehst blass aus.“ Ihr Vater musterte sie besorgt.
Arvinja zuckte die Schultern. „Ich hab heute Nacht nur nicht so gut geschlafen, das ist alles.“
„Na gut, dann frühstückst du erstmal ordentlich, ja?“ Ihr Vater musterte sie skeptisch.
Arvinja brachte ein Lächeln zustande, aber je mehr sie über den gestrigen Abend nachdachte, umso bewusster wurde ihr, in welcher Lebensgefahr sie geschwebt hatte.
Texte: Verena Rank
Bildmaterialien: © Konstantin Yuganov – Fotolia.com
Tag der Veröffentlichung: 20.01.2013
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