Gedankenverloren sitzt Sina auf der Terrasse und starrt in die samtschwarze Nacht. Die Luft ist warm, Grillen zirpen irgendwo, ein Frosch quakt, und der warme Wind lässt die Blätter eines Baumes leise rauschen. Mit einer Hand tastet sie nach den Zigaretten, schüttelt eine davon aus der Packung heraus und lässt das Feuerzeug aufflammen. Ja, sie weiß, eigentlich sollte sie nicht rauchen, aber in diesem Moment muss es einfach sein. Sie bläst kleine Kringel aus Rauch in den lauen Sommerabend und ihre Gedanken wandern zurück. Zu einer Nacht wie dieser, vor fast genau drei Jahren.
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Sina und ihr Partner Thomas standen mit erhitzten Gesichtern auf der Tanzfläche. Gerade eben hatten sie einen Jive fehlerfrei auf das Parkett gezaubert und warteten nun gespannt auf das Urteil der Wertungsrichter. Fünf Tänze galt es zu absolvieren, immer das Beste zu geben und jedes Mal auf eine möglichst hohe Punktzahl zu hoffen. Die ersten beiden Tänze hatten sie bereits gewonnen, die nächsten als Zweite beendet. Dieser Jive würde also die Entscheidung bringen. Sollte es ihnen gelingen, auch diesen letzten Tanz zu ihren Gunsten zu entscheiden, dann hätten sie das Ticket für den Landesentscheid in der Tasche.
Sina und Thomas waren das Vorzeigetanzpaar ihres Sportclubs, fast jeden Wettbewerb, an dem sie sich beteiligten, gewannen sie. So hatten sie sich mit viel Ehrgeiz die Teilnahme an diesem Turnier erkämpft und hofften jetzt darauf, dass ihr Traum Wirklichkeit werden konnte, dass sie ihren Club beim Landesfinale vertreten durften. Sollte ihnen das gelingen und sie unter die besten drei Paare kommen, hätten sie sich für den Bundesentscheid qualifiziert.
Auf dieses Ziel hatten sie bereits zwei Jahre hingearbeitet. So lange tanzten sie nun bereits zusammen und waren mittlerweile gute Freunde geworden. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Thomas legte Sina seinen Arm um die Schultern und gab ihr damit den Halt, den sie in diesem Moment so dringend brauchte. Unsicher lagen ihrer beider Blicke auf den Kampfrichtern, die teilweise heftig miteinander diskutierten.
Irgendwann stand das Urteil fest. Dreimal der zweite Platz und zweimal der erste. Das bedeutete, dass sie diesen Tanz leider nicht gewonnen und somit ihre schärfsten Konkurrenten das erträumte Ticket gelöst hatten.
Mühsam gegen die Tränen kämpfend und mit dem stereotypen Lächeln, das Tänzern im Laufe der Zeit in Fleisch und Blut übergeht, verneigten sich Sina und Thomas, gratulierten den Gewinnern, nahmen ihren obligatorischen Blumenstrauß in Empfang und sehnten das Ende der Veranstaltung herbei. Für beide war an diesem Abend ein wunderbarer Traum wie eine Seifenblase zerplatzt.
Endlich war es vorbei und sie zogen ihre teure Tanzkleidung aus, warfen sich in bequeme Sachen und stiegen ins Auto, um nach Hause zu fahren. Gut fünfhundert Kilometer Autobahn lagen vor ihnen, doch sie wollten so schnell wie möglich hier weg. Zu tief saß die Enttäuschung. Stumm saßen sie nebeneinander im Auto, jeder hing seinen Gedanken nach. Eine einzelne Träne stahl sich aus Sinas Auge und rann über ihre Wange, dabei eine schwarze Spur aus verlaufener Wimperntusche hinterlassend.
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Eine Weile schon steht Thomas in der offenen Terrassentür und beobachtet Sina. Das Stimmengewirr und die leise Hintergrundmusik scheint Sina nicht wahrzunehmen, sie wirkt ganz weit weg. Dabei hätte sie allen Grund, sich gerade heute zu freuen, jedoch kennt Thomas sie mittlerweile gut genug, um zu wissen, warum sie ausgerechnet jetzt einfach eine Weile allein sein muss. Er schüttelt missbilligend den Kopf, als er sieht, wie Sina sich eine weitere Zigarette aus der Packung angelt. Es ist schon die zweite, das heißt, Sina ist ganz weit zurück in der Vergangenheit mit ihren Gedanken, denn nur dann raucht sie.
Thomas ahnt, wohin ihre Erinnerungen sie eben getragen haben. Mit einem liebevollen Blick umfasst er ihre Gestalt. Ihre langen, blonden Haare sind heute zu einem Knoten festgesteckt. Im Licht der Fackeln, die die Terrasse erhellen, schimmern ihre Haare fast wie pures Gold, kleine Irrlichter scheinen darin zu funkeln. Seine Augen gleiten abwärts und bleiben an ihrem schmalen Rücken hängen. Diesem Rücken, der sich als wahnsinnig stark erwiesen hat, als es darauf ankam. Aufrecht und gerade sitzt seine Sina in ihrem Rollstuhl, die Schultern hat sie zurückgenommen und den Kopf stolz erhoben. So, wie es eine Tänzerin eben macht. Jetzt wandern Thomas´ Gedanken zurück, auch er erinnert sich nur zu gut an die Vergangenheit.
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Sie waren bereits mehrere Stunden unterwegs gewesen, doch es waren immer noch gut einhundertfünfzig Kilometer bis nach Hause. Sowohl Sina als auch Thomas waren in Gedanken bei der gerade verpassten Chance. Sie hatten sich so viel erhofft. Zu viel vielleicht. Sina hielt ihre Augen geschlossen und bekam daher kaum mit, was anschließend passierte. Kreischende Bremsen, splitterndes Glas, Airbags, die sich aufbliesen, Sekunden später eine fast gespenstische Stille.
Ein Auto war ohne Licht von einem kleinen Rastplatz gekommen und hatte sich ohne Rücksicht auf Verluste einfach auf die Fahrbahn gedrängelt. Thomas hatte alles versucht, doch er hatte den Aufprall nicht mehr verhindern können. Ihr Auto stieß mit dem anderen Wagen zusammen, schleuderte gegen die linke Leitplanke, schoss über die Fahrbahn und krachte schließlich mit voller Wucht gegen einen Baum.
Es traf genau die Beifahrerseite, Sina wurde dabei völlig eingequetscht und verlor gnädigerweise das Bewusstsein.
Als sie irgendwann zu sich kam, lag sie im Krankenhaus. Thomas saß an ihrem Bett und hielt ihre Hand. Immer wieder glitt sie in die Bewusstlosigkeit zurück, doch jedes Mal, wenn sie erwachte, sah sie in seine liebevollen Augen.
Erst nach Tagen war sie über den Berg und die Ärzte teilten ihr so schonend wie möglich mit, dass ihre Rückenwirbel irreparabel geschädigt worden waren. Sie war ab sofort von der Hüfte abwärts gelähmt. Eine Welt brach für Sina zusammen. Aus der Traum vom Tanzen, von Ehe und Familie. Wer wollte denn einen Krüppel zur Frau? Dabei war sie erst dreiundzwanzig.
Thomas wich nicht von ihrer Seite, er hatte bei dem Unfall Glück im Unglück gehabt und war mit ein paar Prellungen und blauen Flecken davongekommen. Der Unfallverursacher konnte mit ein paar Knochenbrüchen schon bald das Krankenhaus verlassen. Es bewahrheitete sich wieder einmal, dass nicht nur Kinder, sondern ebenso Betrunkene einen Schutzengel haben mussten. Der Mann war sternhagelvoll gewesen und würde sich dafür natürlich verantworten müssen. Das jedoch machte das alles nicht ungeschehen.
Es begannen harte Wochen für
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Textrechte bei der Autorin
Bildmaterialien: Coverfoto von www.pixabay.de - bearbeitet durch Valerie le Fiery
Tag der Veröffentlichung: 05.10.2014
ISBN: 978-3-7368-4525-1
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Widmung:
Sämtliche Personen und Handlungen in diesem Buch sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind somit rein zufällig und nicht beabsichtigt.