"Hast du Angst?"
Als ich zum ersten Mal die Augen aufschlug, blickte ich geradewegs in das wunderschöne Gesicht eines kleinen Mädchens, das mich mit runden Knopfaugen anstarrte.
Wenn man es genau nahm, war es nicht das erste mal, aber auf eine merkwürdige Art und Weise fühlt es sich nicht so an, als hätte ich es bereits tausende male getan. Es war neu und ungewohnt und meine Lider wiegten schwer, während ich versuchte, mich auf die herzzerreißenden braunen Augen meines Gegenübers zu konzentrieren.
"Wovor?", fragte ich verwirrt.
Meine Stimme war kratzig und rau, wie Schmiergelpapier auf frisch gefälltem Holz. Sie klang dünn und schwach, als wäre ich gerade aus einem langen Schlaf erwacht.
"Vor dem Sterben. Hast du keine Angst, das es weh tut?" Die dunklen Knöpfe verzogen sich zu kritschen Schlitzen und ihr pinker Mund formte sich zu einem großen fragenden O.
Ich schüttelte lachend den Kopf über ihre Albernheit.
"Sterben ..." Ich streckte meine Finger nach ihrer Hand aus und rieb über die weiche Haut, bis sie leicht rosig wurde.
"Sterben existiert nicht in dieser Welt!"
Emma
Der Wind wehte lau als ich mit Matty auf das Dach trat. Die kaputte Antenne lag zerstückelt auf dem Boden und zuckte bei jedem Windhauch, als könnte sie sich nicht entscheiden, ob sie wegrollen wollte oder nicht. Ich packte die Einzelteile gerade rechtzeitig, als auch schon ein neuer Windstoß mir die Tränen in die Augen trieb. Matty kniete neben mir und begutachtete das misshandelte Gerät mit Argusaugen.
"Ich wünschte, die Leute würden verstehen, was für eine Chance das für uns ist, du nicht auch?" Er schloss gequält die Augen und griff schließlich nach dem Inhalt meiner geballten Faust. Der schwarze Stock war in so viele Teile getrennt worden, dass seine komplette Handfläche mit dünnen Streifen bedeckt war. Ich nickte unmerklich und verzog leicht den Mund.
Seit sich die andere Welt offenbart hatte, waren Tore wie Gras aus dem Boden geschossen und zogen nicht nur Begeisterung nach sich. Tausende Menschen machten es sich zur Aufgabe ein Tor nach dem anderen zu zerstören und wir bauten eines nach dem anderen wieder auf. Es war eine zermürbende Arbeit und so oft ich mir auch sagte, dass es das Richtige war, wünschte ich mir ein ums andere mal, es hätte die Offenbarung nie gegeben. Wie viel leichter wäre es, nicht jeden Abend die Disskusion über die Offenbarung in den Nachrichten sehen zu müssen?
Ich wischte mir mit dem Handrücken über die schweißgetränkte Stirn. Der Sommer hatte seinen Höhepunkt erreicht und auch wenn der Wind Kühlung versprach, so schien jede Stunde unter der Sonne mir den Atem zu rauben. "Komm, lass uns das Ding einpacken und Pause machen. Wenn ich noch eine Minute hier oben verbringen muss, verrecke ich noch!" Lachend streckte ich Matty meine Hand entgegen und hievte uns beide in die Höhe.
Von hier oben konnte ich über ganz Manhattan blicken, ein Hochhaus nach dem anderen erstreckte sich in den Straßen New Yorks und machte mir bewusst, dass wir nur ein klitze kleines Sandkorn in dieser Stadt waren. Fast wie eine eigene Welt. Ich trat näher an den steinernden Rand und atmete die Luft ein, die mir entgegen wehte. Auspuffgase und Müll verpesteten den Geruch und ich rümpfte die Nase. Zögernd trat ich wieder neben Matty und lächelte ihn schmallippig an. "Schon komisch oder? Ich fühle mich hier oben immer so alleine."
Er runzelte beleidigt die Stirn und legte mir seine große Hand auf die Schulter. "Ich bitte dich, wer wäre nicht gerne mit mir alleine auf einem einsamen Dach hoch über New York?" Seine Augenbrauen zuckten und ich lachte, doch das eiserne Gefühl blieb und trotz der hohen Temperaturen schlang ich meine Arme um meinen Oberkörper.
"Komm lass uns gehen", lachte Matty und griff nach dem silbernen Griff der Metalltür, die zurück ins Treppenhaus führte. Gerade als ich ihm folgen wollte, hörte ich ein leises Klirren vom hinteren Dachabschnitt. Getrennt durch einen langgezogenen Schornstein blickten mich zwei eisblaue Augen an.
Lou
Meine Fingernägel kratzten unruhig über das Plastik der Tastatur, während ich gedankenverloren aus dem Fenster starrte. Die Wintermonate hatten längst begonnen, doch das Wetter schien das nicht zu stören. Es fiel kaum Schnee, die Temperaturen waren noch immer im unteren Plusbereich und selbst die Handschuhe hatten bis jetzt selten Verwendung gefunden.
Die Sonne versteckte sich hinter den dichten Wolken, aber es war für mich noch immer warm genug, um Abends im Pullover auf der Veranda zu sitzen und eine Tasse Kaffee zu trinken. Einen Moment lang hielt meine Hand inne - der Zeigefinger schwebte gespannt über einer Taste, bereit den Gedanken zügig in Worte zu fassen - erschlaffte dann jedoch wieder und verfiel in den alten Rhythmus.
Es war zum Verrücktwerden. Kaum hatte ich den letzten Satz des Kapitels beendet, war mein Kopf vollkommen leergefegt und eine ohrenbetäubende resignierende Stille trat ein. Kein Laut war zu hören, kein Wind der um die Häuser zog oder das Geschrei der streitenden Nachbarn. Und so war auch nichts da, das man hätte beschreiben können. Seufzend lehnte ich mich zurück und ballte mein blondes Haar in einen wüsten Knoten, zog ein Haargummi darüber und befestigte es streng auf der Rückseite meines Kopfes.
Ich hatte gehofft, heute mehr Zustande zu kriegen als ein paar mikrige Seiten für das dritte Kapitel. Hatte gehofft, heute schon viel weiter zu sein; einen Plan zu haben. Genervt ließ ich mich nach hinten fallen. Die Rückenlehne des Stuhles bohrte sich unangenehm in meinen Rücken, doch ich hatte keine Kraft, um mich zu bewegen. Stattdessen blickte ich weiter aus dem Fenster und beobachtete, wie die letzten Blätter zu Boden segelten und sich zu den anderen gesellten.
Es war meine liebste Jahreszeit - wenn der goldene Herbst sich zuende neigte und der Winter kam, um allem ein Ende zu setzten. Der Moment, die wenigen Tage zwischen diesem Wandel - das war die Zeit, in der ich mich wahrhaftig geborgen fühlte. Seufzend griff ich nach dem rosanen Bademantel an der Garderobe, schlang den weichen Stoff um meinen Körper und schleppte mich in die Küche, um einen Instant-Kaffee aufzubrühen. Das heiße Wasser füllte ich in eine alte Diddl-Maus-Tasse , dessen Henkel schon seit Jahren einen Sprung aufwies. Kaum hatte ich meine Hände darum geschlossen trat ich hinaus ins Freie und setzte mich auf den Schaukelstuhl meiner verstorbenen Großmutter.
Das Windlicht, das ich als einzige Dekoration auf die Veranda gestellt hatte, schwummerte im kalten Oktoberwind. Noch drei Tage, dann würde der frostige November beginnen. Und dann der Dezember. Und dann, nach zahlreichen verschneiten Tagen, würde das Jahr von neuem beginnen. Die Blumen auf meinem Balkon, die ihre Köpfe unter der millimeterhohen Schneedecke verbargen, würden bald wieder erblühen und ihre gelben Blätter der Sonne entgegenstrecken. Hungrig nach der Wärme, die sie im Winter verloren hatten.
Meine Finger umklammerten die zersprungene Diddl-Tasse, in der der erkühlende Kaffee schwappte. Hin und her – im Takt meiner zitternden Muskeln. Ich war es müde, aufzustehen und mich in eine wärmende Decke zu hüllen. Ich wollte hier sitzen bleiben, auf die tote Welt starren und warten, bis sie sich aus ihrer Eisschale kämpfte. Vielleicht würde auch ich dann meinen schützenden Kokon verlassen. Mutig sein, stark und vor neu gewonnener Kraft strotzend.
Ich schloss meine Augen, öffnete meinen strengen Zopf und ließ den Wind durch meine Haare fahren. Spürte jedes Haar, das in mein Gesicht schlug und kannte jede Haarspitze, die es nicht tat. Ich kannte mich schon so lange, dass ich mir jeden Zentimeter meiner Haut vor Augen rufen konnte – jede Narbe, jeden Makel, jede Einzelheit, die meine blassen Wangen erröten ließ. Vielleicht war ich nach all den Jahren meines eigenen Körpers müde. Vielleicht fühlte ich mich deshalb so leer und kalt.
In meinen Träumen streckte auch ich mich der Sonne entgegen, hob meine abgenutzten Fingerspitzen dem Himmel empor und saugte die Wärme in mich auf, verschloss sie und ließ jede Zelle sich mit der Essenz des Lebens füllen. Die Sonnenstrahlen begehrten meinen Körper, ließen die stumpfe Haut wieder glänzen und jede Wunde wie ein Kunstwerk erstrahlen. Wie ein Neugeborenes – unschuldig und weich – wog ich mich in den Armen meines Schöpfers; fühlte mich wohlig und willkommen.
Der Kaffee ergoss sich über meinen Händen, benässte meine Haut. Ich regte mich nicht.
Wenn ich nur lange genug hier sitzen blieb, nahm mich der Schnee mit sich.
Doch keine einzige Flocke berührte den Teer der Straßen. Das Leben war unfair.
Tag der Veröffentlichung: 10.01.2016
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich widme das Buch wie immer meinen Lesern, es freut mich wirklich sehr, wenn es dir gefällt und du dran bleibst, bis es zu Ende gestellt wurde! ♥
Ganz liebe Grüße und auch weitehrin viel Spaß beim Lesen,
das Häschen :3