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Prolog: Supermarkt

 Remember me when you're the one you always dreamed

 

Die Neon Lichter, die hell von der Decke herabstrahlten und den Schmutz in den Ecken des Supermarktes noch ein weniger sichtbarer machten, stachen mir dank dem Kater unangenehm in den Augen.

 

Ich griff nach einer kühlen Dose Erbsen im Regal, drehte sie einmal prüfend in der Hand und stellte sie wieder zurück. Nicht aus regionalem Anbau! Das war der Brotspinne noch wichtiger als das Geld, das sie mir in die Hand gedrückt hatte: 2 Mark. Am liebsten hätte ich ihr entgegen geschrien, dass das weder die richtige Währung, noch genug Geld für 5 Dosen Erbsen war, aber da hatte sie sich schon umgedreht und etwas vor sich hin gemurmelt, was nach: „Wo ist nur meine Puppe, ich hab sie doch hier hin gelegt?“, klang.

 

Ich seufzte und machte ein paar Schritte. Vielleicht könnte ich ja eine Verkäuferin fragen, die müsste doch wissen, wo so etwas hier zu finden ist, oder? Meine Augen glitten über die Regale, die Kasse und die vielen, fein säuberlich neben einander aufgestellten Tiefkühltruhen. Dorthinten sah ich eine ältere Dame, blaue Schürze und schwarze Hose, Arbeitskleidung eben, die gerade dabei war, Frischkäse einzuräumen.

 

 „Markus?“ Überrascht drehte ich mich um und riss erstaunt meine Augen auf. Simon. Der hatte mir gerade noch gefehlt. „Lange nicht gesehen“, erwiderte ich matt und rang mir mühevoll ein Lächeln ab. Er sah wirklich gut aus, seine braunen Haare, die im Licht leicht golden schimmerten und die hellen Augen ... Genauso wie früher.

 

Ich seufzte und kratzte verlegen an meinem Hinterkopf. Eigentlich sollte der doch in Berlin sein, Jura studieren, irgendeine aufgeblasene Blondine vögeln, irgendwas, aber auf jeden Fall nicht hier im Kaff rumgammeln. „Ja, das Studium ist ziemlich anspruchsvoll, komme nur noch in den Semesterferien dazu, mich abzuseilen.“ Grinsend hielt er eine Tüte Chips hoch und nickt auffordernd.

 

„Lust auf einen DVD-Abend? Meine Alten sind bei einem Geschäftsessen und Owen hängt eh den ganzen Tag in seinem Zimmer rum.“ Er zuckt bedeutungsvoll mit den Achseln „Wir sind praktisch allein Zuhaus“. Ich wurde leicht rot und schüttelte hastig den Kopf. „Keine Zeit, ein anderes Mal, okay?“ Er nickte versteift und sein Gesicht bekam einen leicht bettelnden Ausdruck, als er fragte, ob ich nicht am Wochenende zu ihm kommen wolle. "So wie früher", fügte er verlegen hinzu.

 

„Ich glaube nicht, dass das eine so gute Idee ist. Hör mal, die Zeiten haben sich geändert, ich bin nicht mehr der vierzehnjährige Junge, der dir wie ein räudiger Hund am Arsch klebt, ich habe mich verändert, verstehst du?“ Verärgert nagte ich an meiner Unterlippe und sah mich unauffällig um. Ich wollte nicht unbedingt mit ihm gesehen werden, keiner hatte eine Ahnung von dem, was zwischen Simon und mir damals gelaufen war und wenn es nach mir ging, sollte es verdammt noch mal auch so bleiben!

 

Außerdem war er es gewesen, der mich hier allein in diesem Kaff zurück gelassen hatte, einfach abgehauen ist, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Er hatte kein Recht mehr, überhaupt noch daran zu denken, dass ich mit ihm in die Kiste steigen würde! „Verstehe ...“, er senkte den Kopf, sodass seine Haare das Gesicht verdeckten und ich ergriff die Chance und drehe mich einfach um, ließ die Erbsen Erbsen sein und strebte den hell beleuchteten Ausgang an.

 

Ich hatte das Gefühl zu ersticken und erst als ich an die frische Luft trat, konnte ich wieder neuen Atem schnappen. Simon hatte noch immer eine Wirkung auf mich, egal wie sehr er mich verletzt hatte und wie lange wir uns schon nicht mehr getroffen hatten. Er war damals einfach abgehauen, um Jura zu studieren oder irgend so ein Mist, weit weg nach Berlin, raus aus Kaufbeuren, hatte alles hier zurückgelassen - inklusive mir.

 

Dutzende Monate waren vergangen, aber meine Gefühle hatten ihre ganz eigene Zeitrechnung. Es fühlte sich wie gestern an, als wir zusammen in meinem Bett lagen, seine Finger mit meinen verschränkt, unsere Körper in ein und demselben Rhythmus vereint, pulsierende Leidenschaft, die uns antrieb, uns noch mehr zu schmecken, weiter, schneller, tiefer, direkt in die Hölle hinein. „Verbotene Früchte schmecken am Besten“, wiederholte ich leise flüsternd.

Stufenparty

Remember me whenever noses start to bleed

 

 „Siehst gut aus, Robert“, anerkennend nickend nestelte die alte Schrabelle am Kragen des blau-karierten Hemdes, das ich nur sporadisch über mein eigentliches Outfit, ein schlichtes weißes Tanktop gezogen hatte, die, die im Moment so modern waren und deren Ausschnitt an den Achseln bis zu den Hüften reichten und so einen guten Ausblick auf mein Six-Pack lieferten.

 

„Ach, und Berti? Wenn du Rafael siehst, sag ihm, er soll zu mir raufkommen, ich hab ein ernstes Wörtchen mit dem Jungen zu reden!“ Energisch stemmte die rüstige Rentnerin die Hände in die Hüften und klopfte mir ein letztes Mal auf die Schultern, ein Zeichen dafür, dass ich nun gehen dürfte. 'Berti' war zwar eigentlich mein Vater und Rafael dessen älterer Bruder, aber ihr das zu erklären, hatte ich schon seit langer Zeit aufgegeben. Also ließ ich ihr ihre Traumwelt, marschierte leise aus dem Schlafzimmer meiner Oma ins Badezimmer, um das hässliche, viel zu weite Hemd ungesehen loszuwerden.

 

Mit einem bedauernden Lächeln, steckte ich es zu einem Bündel gerollt in den überfüllten Wäschekorb. Ich wusste, dass es eigentlich keine gute Idee war, sie und Spasti-Basti allein Zuhause zu lassen, aber was konnte schon passieren? Oma würde den ganzen Abend auf der Suche nach dieser mysteriösen Puppe sein, von der sie immer sprach, und Basti? Der würde wie immer in seinem Zimmer hocken, rumschmollen und wahrscheinlich den ein oder anderen Zombie killen - natürlich mit nur einem Mausklick. Ich seufzte und atmete langsam ein und aus. Es würde alles gut werden!

 

„Mach dir keine Gedanken“, flüsterte ich mir selbst beruhigend zu und ordnete meine Haare vor dem Spiegel neu. Oma hatte sie total zerstört mit ihrem Gefummel, Gel ist damals wohl nicht so beliebt gewesen, dachte ich ärgerlich.

 

Hastig lief ich auf die kleine Treppe zu, die das Erdgeschoss vom Keller trennte, öffnete mit einem speziell angefertigten Schlüssel, den ich stets an einer kleinen Kette um den Hals trug, das Schloss am Kindergitter, das sowohl meine Großmutter als auch meinen kleinen Bruder daran hinderte sollte, die Treppe hinunter zu purzeln und warf noch kurz einen Blick zurück, um sicher zu gehen, dass ich auch alles beachtet hatte. Egal wie oft ich es auch kontrollierte, ein mulmiges Gefühl in der Magengegend blieb irgendwie immer.

 

Ich steckte den Haustürschlüssel ein, der auf der Flurkommode lag, schaltete das Flurlicht aus und schlüpfte blind in meine Sniker, ebenso wurden die Schnürsenkel gebunden, wahrscheinlich auch eher schlecht als recht. Eine dumme Angewohnheit von mir: Ich dachte erst, nachdem ichs bereits getan hatte. Belustigt schüttelte ich den Kopf über mich selbst.

 

Wenn Dad wüsste, dass ich mich heimlich aus dem Haus stahl, um mich bei unserer Stufenparty volllaufen zu lassen, dürfte ich mir eine ellenlange Rede anhören. Doch er war noch in der Kanzlei, genauso wie seine Ische. Die Mutter von Basti und die neuerdings Ehefrau von meinem Vater, arbeitete schon seit Jahren ebenfalls dort.

 

Im Grunde war sie ganz nett, ein wenig schüchtern, aber sie bemühte sich, eine gute Mutter zu sein, obwohl wir alle wussten, dass sie klaglos scheitern würde. Zum einen war Bastian schon lange nicht mehr wirklich ansprechbar, jedenfalls nicht seitdem der kleine Spast an einen fahrbaren Untersatz namens Rollstuhl gekettet war, zum anderen hatte ich persönlich wenig Lust auf eine Friede-Freude-Eierkuchen-Familie.

 

 Ich zog die Haustür mit einem lauten Krachen hinter mir zu und schlürfte gelangweilt durch die frühlingshafte Abendluft. Ich fröstelte etwas an den Armen und bereute es schon jetzt, dass ich nicht doch eine Jacke übergezogen hatte. Heute Nacht würden die Temperaturen sicher rapide sinken und wer wusste schon, ob ich nicht ein wenig länger für den Rückweg brauchen würde.

 

Ich versenkte meine Hände in den Hosentaschen der dunklen Jeans und bog um die erste Ecke, die von einigen Straßenlaternen beleuchtet wurde. Es war nicht weit von hier bis zum alten Treffpunkt an der Scheune, auch wenn Kaufbeuren immerhin die viertgrößte Stadt in Schwaben war, lag hier doch alles recht nah bei einnander. Am Ende der Straße konnte ich die Reklametafel für das Puppentheater erkennen, das im Dunkel der Nacht flimmerte und mit einem leisen Klack schließlich ganz ausgeschaltet wurde.

 

Im Sommer, vor allem in den Ferien, rappelte es hier von Touristen, die die Museen und alten Türme abklapperten. Früher hatte ich mich mit Dad immer den Reise-Gesellschaften angeschlossen und mich über die alten Sagen belehren lassen. Jedes Jahr aufs neue. Ich wusste nicht, wann wir damit aufgehört hatten, aber es fehlte mir auf merkwürdige Art und Weise. Ich seufzte und blies eine weiße Wolke kalten Atems aus, die eine Zeit lang in der Luft schwebte und sich dann einfach auflöste.

 

 „Ey, Markus!“ Henries Stimme klang bereits leicht angetrunken, als er von hinten einen Arm um meine Schultern schlang und mir ein unangenehmer Biergeruch entgegenwehte. „Hey“, erwiderte ich lachend und schwankte kurz unter der zusätzlichen Belastung.

 

„Wo hast du denn die andern gelassen?“ Henrie zuckte unbestimmt mit den Schultern und bot mir einen Schluck aus seiner halbvollen Flasche Pils an. Ich griff danach und nippte vorsichtig von dem bitteren, kühlen Gesöff, das zäh meine Kehle runterfloss, ehe ich angeekelt das Gesicht verzog.

 

„Du willst mir doch nicht erzählen, dass du alleine vorgewärmt hast. Was ist denn mit Vladislav?“ Wieder nur ein Achselzucken, diesesmal ein wenig zögerlich. „Keine Ahnung, schätze, sein russisches Blut wird langsam unverträglicher gegenüber Alkohol. Letztes mal hat er sich mit ein paar Bier ziemlich abgeschossen und musste bei Kevin pennen, du weißt schon, der Kerl aus seiner Eishockey-Mannschaft, der Große mit den schwarzen Haaren!?“ Ich nickte, obwohl ich keinen Schimmer hatte, von wem er da überhaupt sprach.

 

Zusammen schwankten wir auf die schwach beleuchtete Scheune zu, aus der laute Musik dröhnte und vor der sich bereits einige Schüler versammelt hatten, um sich zu unterhalten. Als wir nur noch wenige Meter von ihnen entfernt waren, riefen uns einige Begrüßungen zu, die wir mit einem schlichten Kopfnicken quittierten. Die meisten von ihnen sah ich in der Schule nur flüchtig, entweder sie waren in der Parallelklasse, oder (verbotenerweise!) aus der unteren Stufe zu der Party gekommen.

 

Ein wummernder Bass drang aus der Holzhütte, als ich die quietschende Pforte aufzog, Henrie und mich selbst reinbugsierte, bevor die Tür wieder zuschlagen konnte. Ich ließ meinen Blick neugierig durch den großen Raum gleiten. Ganz hinten waren provisorische Boxen angebracht worden, aus denen ein rhythmischer Bass drang, gleich darunter eine 'Bar', die aus leeren Bierkästen bestand auf denen ein langes Holzbrett gelegt worden war und hinter der ein paar Jungs die Gäste mit Alkohol versorgten, der in einem dreckigen Kühlfach gelagert wurde.

 

Aufwendige Verkabelungen hingen unachtsam in der Luft herum, Zigarettenkippen lagen auf dem Boden, auch wenn, oder gerade wegen dem Typen aus der Eishockey-Mannschaft, der besorgt jeden anmaulte, der es auch nur wagte, ein Feuerzeug zu zücken. „Wollt ihr, dass die ganze Bude abfackelt?“, schrie er gerade eine Gruppe von kichernden Mädchen an, die sich daraufhin beleidigt nach draußen verzogen.

 

Ich packte Henrie am Ärmel und schleifte ihn als erstes über die Tanzfläche zur Bar, vor der die anderen Schüler bereits Schlange standen. „Was willst du trinken?“, brüllte ich fragend über die Musik hinweg, die wegen der Boxen hier noch lauter war, als überall anders. Seine Antwort ging zwar im dröhnenden Lärm unter, aber ich konnte an seinen Lippen ablesen, was er wollte und eigentlich hätte ich es mir auch denken können, schließlich trank er nichts anderes als Pils und Fanta-Korn. Am Liebsten natürlich gleichzeitig.

 

Ich drängte mich an zwei Jungs vorbei, die allein an der Wand lehnten und sich sichtlich von der Menge abgrenzten. Wegen des gedämmten Lichts, konnte ich ihre Gesichter nicht erkennen, doch das war auch gar nicht nötig. Keiner konnte so fehl am Platz wirken, wie die blonde Schwuchtel Owen und sein kleiner Lover ...

 

Eigentlich wusste ich nicht einmal, wie er heißt, obwohl wir schon seit Jahren in die selbe Klasse gingen und morgens im selben Bus fuhren, überlegte ich, während meine Augen über die ausliegende Getränkeliste glitten. V+ schien mir im Moment am Erträglichsten zwischen Vodka, für den es noch zu früh war, den herben Biersorten, die bekanntlich gar nichts für meinen Geschmack waren, und Sekt, der wohl extra für die Mädels besorgt worden war.

 

Ein Kerl tippte mich überraschend an und ich sah erschrocken hoch - mit Körperkontakt hatte ich nicht gerechnet. Erleichtert stellte ich fest, dass es nur der Möchte-gern-Barkeeper war, der meine Bestellung aufnahm, mir die Getränke eilig in die Hand drückte, bevor er auch schon zum nächsten gierigen Gast rüberwackelte. Anscheinend hatte er trotz dem Stress, noch genug Zeit gefunden, um sich selbst ordentlich was hinter die Binden zu kippen.

 

 Mit zwei Flaschen in der Hand ging ich auf Henrie zu, der sein kurzes, braunes Haar zurückstrich, das dank des Gels jedoch sofort in die alte Position zurücksprang, und sich angeregt mit dem Eishockey-Typen unterhielt. Anscheinend hatte dieser es aufgegeben, alle Gäste über die Brandverordnung aufzuklären und sich eine hübsche Blondine geschnappt, die sich in seinen muskulösen Armen zum Beat bewegte. Ihre Augen hatte sie geschlossen und den Mund leicht geöffnet, sodass man einen Blick auf ihre gelblichen Zähne erhaschen konnte. Schnell wand ich meine Augen ab und drückte dem Braunhaarigen sein Pils in die Hand.

 

„Markus, das ist Kevin. Kevin, das ist Markus“, stellte er uns brüllend vor, bedachte mich mit dabei mit einer bedeutungsschwangeren Augenbrauenhebung und schlug Kevin gespielt freundschaftlich auf die Schulter. Wenn man ihn gut kannte, konnte man jedoch genau sehen, dass er nicht viel von dem großgewachsenen Hünen hielt. Vielleicht lag es an dessen Auftreten oder daran, dass Vladislav bei ihm gepennt hatte.

 

Mich interessierte das genauso wenig wie alles andere im Moment, also beschloss ich, mich für unbestimmte Zeit auf die Toilette zu verdrücken und zu warten, bis die Party soweit im Gange war, dass keiner mehr versuchte, irgendwelche irrsinnige Gespräche zu führen.

 

Auf dem Weg dorthin, kam ich wieder an den zwei einsamen Gestalten vorbei, die zwar nun an einem Bier nippten, sich aber sonst nicht viel bewegt hatten. Hinter mehreren Leuten versteckt, konnte ich nicht anderes als Owen mit seinem wesentlich älteren Bruder zu vergleichen. Simon und er sahen sich nicht wirklich ähnlich, aber die blauen, hinter Gläsern versteckten Augen, die selbst bei dem dämmrigen Licht in der Scheune zu strahlen schienen, waren identisch mit denen des Studenten.

 

Mein verzweifeltes Seufzen ging im Lärm unter, als ich mich an Armen und schwitzigen Körpern vorbei drängte und die Plastiktür zur Toilette aufzog, aus der sogleich ein ekeliger Geruch nach Exkrementen drang. Die Nase kraussziehend ließ ich die Tür hinter mir in den Rahmen fallen. Das Badezimmer war eigentlich eine umgebaute Futterkammer. An den Wänden waren noch immer Hacken eingeschlagen, an denen früher wohl Säcke voller Korn gehangen hatten. Zwei Kabinen verbargen Billig-Toiletten aus beigefarbenen Keramik und rosane Fliesen waren sowohl an den Wänden, als auch am Boden angebracht worden. Ein Waschbecken gab es nicht, doch in der Ecke stand ein Eimer und darüber ein schäbig angebrachter Wasserhahn aus dem man Wasser schöpfen konnte.

 

Ich ließ mir ein wenig der kühlen Flüssigkeit über die erhitzten Arme laufen, solange, bis der blaue Eimer halb voll war und ich daran denken musste, dass ich keine Ahnung hatte, wo ich ihn später entleeren sollte. Mit feuchten Fingern drehte ich den metallernen Griff zu, die großen Tropfen versiegten, doch ein stetiges Platsch der undichten Leitung blieb zurück. Ich blickte in den zersprungenen Spiegel vor mir. Blaue Schatten umrangen meine grauen Augen, die in der Dunkelheit noch heller wirkten als sonst.

 

Kopf schüttelnd ließ ich mich mit der Stirn gegen die kalten Fliesen sinken, während draußen weiterhin der Beat wummerte. Ich hatte keine Lust zu feiern, oder eigentlich schon. Wenn ich es mir recht überlegte, würde ich mich nur zu gern richtig zukippen, bis zum Anschlag, damit ich diesen verdammten Tag einfach vergaß. Aber bei meinem Glück, würde mir ein Filmriss wohl erspart bleiben.

 

Plötzlich schwang hinter mir die Tür auf und ich konnte aus dem Augenwinkel erkennen, wie Owen und der Typ mit dem wilden Lockenkopf ins Badezimmer kamen. Die Brillenschlange blieb verunsichert im Türrahmen stehen, doch der andere ging ungerührt in die erste Kabine und verschwendete nicht mal einen Blick an mich. „Ich ... Ich warte vor der Tür, Nicky!“ Die heisere Stimme von Owen wurde beinah übertönt, als er erneut die Tür zur lärmenden Scheune öffnete und dahinter verschwand.

 

Nicky hieß er also. Wieder was dazu gelernt, dachte ich höhnisch und lauschte auf die Regungen, die der Kleine hinter der Kabine vollführte. Viel war nicht zu hören und als ich mich fragte, ob ich mir das alles vielleicht einfach nur eingebildet hätte, schwang die Kabinentür auf und Nicky trat heraus. „Kannst du nicht pinkeln, wenn jemand zuhört? Ich kann das Wasser anschalten, wenn du willst.“ Meine Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln, während ich mich umdrehte, sodass mein Rücken an der Wand lehnte und ich ihn offen mustern konnte.

 

Er trug ein schlichtes, dunkles T-Shirt mit der Aufschrift „Ich wars“ (offensichtlich eine Hommage an die Star Wars-Filme), das sich über seinen molligen Bauch zog und in einer dunklen Hose steckte. An den Füßen prankten ausgelatschte Converse.

 

„Du könntest auch einfach dein Bier nehmen, die Klinke dort drüben betätigen und dich dann still und leise verdrücken.“ Seine Gesicht zeigte keine einzige Regung und es war, als würde er gar nicht mit mir reden, sondern mit der Wand. Aber seine Stimme klang hart und duldete zugleich keinen Widerspruch. „Ich wusste gar nicht, dass du sprechen kannst“, bemerkte ich überrascht und suchte in meinem Gehirn nach einem Grund, warum ich ihm nicht wie üblich Beleidigungen um die Ohren schlug, als mir auch schon auffiel, dass ich niemals ihn, sondern nur Owen beleidigt hatte. Dabei hingen die beiden doch zusammen wie Pech und Schwefel!

 

„Normalerweise verschwende ich meine Zeit auch nicht mit Menschen wie dir“, murmelte er und griff nach dem Metall-Rädchen, um das Wasser anzustellen. Aus dieser geringen Entfernung konnte ich sein penetrantes After-Shave riechen, das männlich und leicht bitter wie eine Blutorange an ihm klebte. „Was soll das heißen?“, fragte ich scharf und fühlte mich augenblicklich wie ein in die enge getriebenes Tier.

 

Er sah mich nur stumm aus seinen dunkelbraunen Augen an und wischte die feuchten Hände an der Hose ab, bevor das Rauschen des Wasser immer mehr abebbte, je länger er das quietschende Rädchen drehte. Schleunigst drehte er sich um und wollte schon aus der weißen Tür verschwinden, als ich ihn am Kragen festhielt und zurückzerrte.

 

„Ich will eine Antwort!“, knurrte ich aufgebracht und umfasste die Flasche in meiner Rechten automatisch fester. Dieser Penner sollte bloß nicht so tun, als wäre er etwas Besseres. Im Gegenteil, er und sein blonder Freund waren die Opfer der gesamten Schule, während ich zu den Beliebtesten zählte. Das sah man doch schon vom Weitem!

 

Er riss sich aus meinem Griff und zog die Stirn vor Wut in unschöne Falten. „Pech gehabt!“ Damit öffnete er die Tür und ließ mich allein im Badezimmer zurück. Hatte der kleine Giftzwerg mir gerade etwa wirklich Paroli geboten? Verblüfft und verärgert zugleich, verformte ich meine Augen zu Schlitzen und nippte am V+, das schon leicht angewärmt war und nun zäh meine trockene Kehle herunterfloss.

 

Wurde Zeit, dass ich mir etwas Härteres holte, sonst würde ich den Rest des Abends nicht überleben, dachte ich mir und marschierte von der Toilette direkt hinüber zur Bar, um mir die erste Runde Vodka ausschenken zu lassen.

 

 Einige Runden später hatte sich eine Reihe von kleinen Gläsern auf der Theke neben mir aufgetürmt. Eigentlich hatte ich vorgehabt, mich mit Henrie zu besaufen, wahlweise auch mit diesem Kevin, doch keiner von beiden war zu sehen und ich hatte keine Lust, nach ihnen zu suchen.

 

Also war ich allein auf den Pineken sitzen geblieben und ärgerte mich über den dunklen Lockenkopf. Jedenfalls redete ich mir das ein. Viel mehr lauste es mich nämlich, dass Simon wieder in der Stadt war und mit seiner bloßen Anwesenheit Erinnerungen hervorrief, die ich doch für immer in die Versenkung geschickt hatte.

 

Jetzt tauchte das Bild des Studenten minütlich vor meinem geistigen Auge auf und ließ sich nur mit einem weiteren Schluck des bitteren Getränks vertreiben. Ich erinnerte mich an unsere wilden Küsse, die voller Sehnsucht waren, ob nach einander oder nach Sex, war mir erst nach seinem Weggang klargeworden.

 

Ich schluckte verzweifelt gegen den dicken Kloß in meinem Hals an, doch es half nichts. Das beengende Gefühl, das ich bei dem Gedanken an Simon bekam, hatte sich bereits in meiner Brust breitgemacht und dachte gar nicht daran, wieder zu veschwinden. Stattdessen blieb es dort, tat alles, um mich am Leben zu erhalten, aber richtig lebendig fühlte ich mich trotzdem nicht.

 

 „Markus?“ Ich sah hoch und musste blinzeln um bei den schlechten Lichtverhältnissen die verschwommene Gestalt vor mir erkennen zu können. Ein dunkelblonder, fast brauner Haarschopf lugte mir entgegen, darunter hell-blaue Augen, die mich besorgt und eingeschüchtert musterten. Simon.

 

Ich wollte mich vom Barhocker aufraffen, entweder, um ihm meine Meinung zu geigen, oder um mich in der nächsten Ecke zu verkrümeln, aber ich strauchelte und wäre beinah in eine Gruppe von tanzenden Mädchen gefallen, hätte mich Simon nicht am Ärmel festgehalten und in eine rettende Umarmung gezogen.

 

Ich spürte, wie mein Herz einen Moment lang aussetzte und dann im rasenden Tempo weiterschlug. Lasch stieß ich ihn von mir und musste einen Ausfallschritt nach hinten machen, um nicht zu fallen.

 

 „Ich schaff' das allein.“ Mit aller Kraft versuchte ich, die Worte trotz meiner lahmen Zunge laut und deutlich auszusprechen. Verunsichert sah er sich um, vielleicht um sich sicher zu sein, dass keiner herübersah, ehe er nahe an mich trat und seine vom Nachtwind kalten Finger um mein linkes Handgelenk schlang.

 

„Ich glaube, du hast genug, Markus. Komm, ich bring dich nach Hause, wir müssen eh in die gleiche Richtung“, sagte er direkt neben meinem Ohr, um die laute Musik zu übertönen, sodass sein warmer Atem gegen meinen Nacken schlug und ich merkte, wie sich die kleinen Härchen auf meinem Rücken entzückt aufstellten.

 

Ich roch sein scharfes Aftershave in meiner Nase und zuckte automatisch vor seiner vertrauten Berührung zurück. Es war zu nah, zu intim, zu sehr das, was ich wollte. Simon drehte sich um, seine Finger noch immer um mein Handgelenk geschlossen und bahnte sich mit mir einen Weg durch die tanzende Menge.

 

„Was machst du hier?“ Er sah mich über die Schulter hinweg mit gerunzelter Stirn an und zerrte mich weg von der Bar, an den leerstehenden Rand, an dem die Musik eher ein dumpfes Wummern war, als wirkliche Musik.

 

„Ich muss Owen und diesen kleinen Zwerg abholen, weißt schon, rennt immer mit ner Konsole rum, Locken, gefühlte 1 Meter 20 !?“ Simon sah sich offenbar nach ihnen um, ließ seine Finger dabei vorsichtig von meiner Haut gleiten und übrig blieb ein taubes Gefühl, dort, wo er mich angefasst hatte.

 

Schulterzuckend winkte er mich an sich ran und stellte sich neben die Wand, wo man ihn von allen Ecken gut erkennen konnte. „Du meinst Nicky? Und nein, das meine ich nicht ...“

 

Seine Augen verdüsterten sich für einen kurzen Augenblick und das selbstsichere Lächeln, das er eigentlich immer aufgesetzt hatte, wackelte. Ich verschränkte meine Arme vor der Brust, um die Kälte, die sich plötzlich in mir ausbreitete, zu vertreiben, doch sie blieb. Genauso wie der Kloß und die Angst und eigentlich alle Gefühle, die ich nicht haben sollte, aber die trotzdem da waren und nicht verschwanden.

 

Simon seufzte und ließ seinen Kopf schwer gegen das dunkle Holz fallen, von dem sich sein Haar besonders intensiv abhob.

 

„Das hier ist mein Zuhause, Markus. Wo soll ich sonst hin?“

 

Er wirkte merkwürdig müde, als er das sagte und ich sah die blauen Adern unter seinen Augen hervorscheinen, wie Mahnmale, die sich in seine gebräunte Haut gefressen hatten. Ich schluckte, nein, ich versuchte zu schlucken, aber es ging nicht, es ging einfach nicht.

 

„Warum bleibst du nicht in Berlin? Oder machst Urlaub auf Malle?“, entgegnete ich wütend, was ihn zum Lachen brachte. „Du hast mich auf Facebook gesucht?“, stellte er die Gegenfrage und spielte damit auf die Urlaubsfotos an, die ich tatsächlich ausreichend begutachtet hatte, doch ich schüttelte aufgebracht den Kopf.

 

„Das ist doch völlig unwichtig! Verdammt, Simon, du hast mich einfach allein gelassen, bist abgehauen, nicht mal ne SMS hast du mir geschrieben und jetzt tauchst du auf, bringst alles durcheinander und ...“

 

Ich schüttelte schweigend den Kopf. Ich sah, wie sein Adamsapfel aufgeregt auf- und ab hüpfte, ab und auf und dann erneut hinab. Sah, wie sich seine weiche Haut über die Knochen spannte, über seine Rippen und das Schlüsselbein, das man unter dem grauen Hemd nicht sehen konnte, aber ich wusste, es war da.

 

Es war da, es hatte sich nicht verändert. Simon war da. Wie lange hatte ich in meinem Zimmer gesessen und darauf gewartet? Gehofft, dass er eines Tages einfach wieder vor mir stehen würde und nichts sich verändert hätte.

 

Aber das war nur jugendlicher Schwachsinn, der Gedanke eines liebeskranken Jungen, der glaubte, sich in jemanden verliebt zu haben. Denn das war keine Liebe, das war nur Sex, nur Haut auf Haut, nur der Rausch von Nähe, der irgendwann nach Berlin verschwand und sich nicht mehr blicken ließ.

 

„Stören wir?“

 

"Nein ..." Meine Antwort war nur geflüstert, doch ich sah, wie Simon sich unwohl hinter seinen Armen versteckte und betreten auf den Boden sah.

 

"Ich denke, w-wir stören wirklich, Nicky. Komm, wir, ähm, gehen wieder ... ", stammelte Owen und klammerte sich mit seiner rechten Hand an den Unterarm seines Begleiters.

 

"Ich habe gesagt, ihr stört nicht, Schwuchtel! Und hör auf zu stottern, das geht mir auf die Nerven!"

 

Mein Kiefer knackte. Ein unangenehmes Geräusch, das alle Anwesenden zusammenfahren ließ, alle außer Nicky.

 

Er starrte mich nur an, unbeteiligt, vielleicht ein wenig wütend, weil ich seinen blonden Freund beleidigt hatte. Doch dieser Blick fuhr mir mit so einer Kraft unter die Haut, dass ich meine Augen abwenden musste und augenblicklich zu frösteln begann.

Heimweh

Remember me through flash photography and screams

 

Simon hob stur seinen Blick und nickte Owen abgehackt zu. "Wir sollten gehen, Mum wartet schon." Er löste seine verschränkten Arme und ließ sie locker an den Seiten baumeln. Die Sonne hatte seine Haut gleichmäßig braun gebrannt und selbst im dämmrigen Licht der Scheune war zu erkennen, wie schön er war. Seine blauen Augen passten zu dem hellen Haarschopf, die schmalen Lippen ließen erahnen, wie verzückend sein Lächeln sein musste, auch wenn sie jetzt hart aufeinander gepresst waren und die schlanken Finger riefen Erinnerungen wach, die mein Herz schneller schlagen ließen.

 

Dieser Mund hatte mich so oft geküsst, dass ich meinte jede Zelle einzeln zu kennen und sie aus tausend anderen heraus zu schmecken. Er hatte mich zum Stöhnen, Seufzen und Lachen gebracht und mir Laute entlockt, die ich seitdem nie wieder verlauten ließ. Es war zum Verrückt werden wie eine einzelne Geste von ihm das Brennen in meiner Brust entfachen oder mildern konnte. Sein Blick durchdrang mich und schien vergeblich nach etwas zu suchen, das ich nicht bereit war zu geben.

 

Er biss sich auf die Unterlippe und strich sich durch das Haar als wäre es das Einzige was ihn noch halten könnte. "Vielleicht solltest du mit uns kommen, ich glaube nicht, dass irgendeiner von denen heute Nacht noch in der Lage wäre, dich nach Hause zu bringen." Ich warf einen kurzen Blick zu meinen Freunden, bei denen die Party noch voll im Gange war. Von irgendwo hatte Kevin eine Bierrutsche besorgt und war nun kurz davor, den offiziellen Rekord zu brechen. Sie hatten nicht einmal bemerkt, dass ich nicht bei ihnen war.

 

Ich zuckte unschlüssig mit den Schultern. Er hatte Recht und ich wusste das. Aber es war schwer hinzunehmen, dass er sich um mich kümmern wollte. Wo war er die Monate gewesen, in denen ich ihn wirklich gebraucht hätte? Ich schwieg eisern und übernahm stattdessen die Führung. Mit einem ruppigen Stoß schubste ich Owen aus dem Weg und öffnete die Scheunentür, ohne auch nur einen Blick zurück zu werfen.

 

Draußen war es kalt und die schneidende Abendluft fuhr unter den dünnen Stoff meines Tops, wo sich die Härrchen streubend aufstellten. Hinter mir hörte ich die dumpfen Schritte der anderen auf dem Asphalt und das leise Flüstern von Owen, der Nicky verzweifelt anbettelte, er möge heute Abend bei ihm schlafen. Ich vergrub meine Hände in den Hosentaschen und hoffte dasselbe. Der Zwerg wohnte nicht weit weg von mir und nachdem Owen und Simon eine Straße vorher abbiegen mussten, würden wir die einzig Verbliebenden sein. Konnte der Tag noch schlimmer enden? Ich kickte einen Kieselstein vor mir her und bereute meine Entscheidung, heute Morgen überhaupt aufgestanden zu sein.

 

Neben mir machte sich jemand mit einem Räuspern bemerkbar. Mit der Erwartung, Simon zu sehen, hob ich langsam das Gesicht und versuchte, die Rauchschwaden des Alkohols aus meinem Kopf zu verbannen. Doch statt Simon stand nun Nicky neben mir, dessen Locken bei jedem Schritt wippten und seine Augen zur Hälfte verdeckten. Die Lippen zu einem dünnen Strich verzogen sah er mich aus dem Augennwinkel an.

 

"Was willst du?" Meine Stimme klang heiser und hohler als sonst, doch nur jemandem der mich kannte, wäre diese Veränderung aufgefallen. Er deutete mit einem Nicken auf die Brüder hinter uns und auch ich schaute kurz zu ihnen herüber. Simon seufzte genervt und gestikulierte wild, während Owen sich ängstlich versuchte aufzubäumen. Von hier vorne sah es wie ein surreales Schauspiel aus, doch ich wusste, dass es der alltägliche Machtkampf zwischen Geschwistern darstellte, die so verschieden waren wie Tag und Nacht. Ihre Stimmen verhallten im zugigen Sommerwind und nur Wortfetzen kamen bei uns an, doch es war genug, um zu verstehen, worum es ging. "Du musst nicht bei der Schwuchtel pennen, nur um mir aus dem Weg zu gehen. Ich habe besseres zu tun, als mich mit einem Schwächeren zu prügeln", lachte ich bitter und steckte meine Finger noch etwas tiefer in die Taschen.

 

"Ich weiß." Seine Stimme ließ keinen Zweifel zu und so gingen wir schweigend nebeneinander her, während Owen und Simon immer weiter zurück fielen. Als ich nach ein paar Minuten wieder nach ihnen sah, waren sie schon um die Straßenecke gebogen. Außer unseren Schritten und den hektischen Flügelschlägen der Nachtschwärmer war nun nichts mehr zu hören.

 

"Bist du es auch?", fragte ich in die Stille hinein. Nicky sah kaum auf, doch ich konnte erkennen, dass er genau wusste, was ich meinte. "Ich wüsste nicht, was dich das angeht, Markus." Er spie meinen Namen förmlich und seine Augen blitzten vor plötzlichem Zorn, als er mir direkt in die Augen sah. Seine Wut ließ mich zusammen zucken und ein leichter Schauer fuhr über meinen Rücken.

 

Ich rümpfte die Nase und blickte in den Sternenhimmel hinauf. Tausend kleine Sprühfunken funkelten um die Wette und ich konnte den kleinen Wagen erkennen, den Dad mir früher durch sein Teleskop gezeigt hatte, wenn es das Wetter zuließ. Keine Ahnung, wann wir aufgehört hatten, das zu tun. Ich konnte mich nicht daran erinnern, ab welchem Zeitpunkt er mich für zu Erwachsen hielt, um mir Sternenbilder zu zeigen. Wann hatte er aufgehört, mich als Kind zu sehen und angefangen in meiner Gegenwart zu fluchen, mich selbst mein Essen schneiden und meine Gute Nacht Geschichten lesen lassen?

 

"Sorry", nuschelte ich schuldbewusst und rügte mich innerlich für meine Entschuldigung. Konnte mir doch egal sein, was der Zwerg fühlte. Hatte doch eh nur seine PSP im Sinn der Kerl ... Wäre ich nicht betrunken, hätte es mich einen Dreck gescherrt, doch jetzt hatte ich keine Energie mehr, um gemein zu sein. Ich wollte Nachhause in mein Bett und gleichzeitig wollte ich nichts lieber als ewig hier draußen zu bleiben und die kalte Luft auf meiner Haut zu spüren, die durch meine Härrchen fuhr und den Kloß in meiner Brust zu betäuben schien. Ich wollte, dass die Kälte mich aufsog und jede Zelle meines Körpers einfror. Einschließlich meines Herzens.

 

"Warum fragst du überhaupt?" Nickys Stimme hallte durch meinen Körper wie eine sanfte Vibration, die jede meiner Zellen wieder zum Leben erweckte. Und plötzlich war da dieses Gefühl, dieser Instinkt, den ich im Nachhinein nur auf den Alkohol schieben konnte. Es nahm mich komplett gefangen und zwang mich dazu stehen zu bleiben. Nicky sah mich fragend an. Sein dunkles Haar wehte sanft im Wind, die fülligen Wangen strahlten im kalten Licht der Straßenlaternen und seine Hände schienen so sanft und geschickte, dass ich nichts lieber wollte, als sie auf mir zu spüren. Süß und zäh und leidenschaftlich, zwei Herzen in einem Takt. Er war nur eine Armlänge entfernt und wenn ich die Augen geschlossen hätte, hätte ich seinen Atem spüren können, der mir entgegen schlug. Stattdessen hob ich meine Hand und legte sie an seine Wange, kalt auf warm, hart auf weich.

 

Nicky kniff verwirrt die braunen Augen zusammen und wollte gerade ansetzen, etwas zu sagen, doch da hatte ich schon meine Lippen auf seine gelegt und meine Finger in seinen Nacken gleiten lassen. Der Kuss war zart, bitter, unerwiedert und ließ mich einsamer zurück als ich vorher gewesen war. Als ich mich von ihm löste, hatte er die Lider geschlossen und atmete so flach, das man das Heben seiner Brust kaum wahrnahm. Ich ließ meine Hand aus seinem Nacken gleiten, sodass sie wieder nutzlos an meiner Seite hing.

 

"Deswegen", flüsterte ich in die kalte Luft. Kaum hatte ich es ausgesprochen, lagen seine vollen Lippen auf meinen. Warm und drängend erforschten sie diesmal das Neue. Sein Duft umhing meine Sinne und seine Hände waren plötzlich überall, auf meinen Hüften, auf meiner Brust, meinen Armen, meinem Gesicht. Es gab keine Stelle, die in mir kein Kribbeln aulöste und keinen Moment, in dem ich den Kuss nicht genauso drängend erwiedert hätte wie er.

 

Ich umfasste seine weiche Hüfte, drückte mich an ihn und zupfte sein T-Shirt aus der Hose, um seine blanke Haut auf meiner zu spüren. Er keuchte, als ich mit den Fingerspitzen über seine Hüfte fuhr und ich tat es ihm nach, als er den Griff um meinen Nacken schlagartig verstärkte.

 

"Stopp." Seine Stimme war schwach und unser beschleunigter Atem hätte ihn beinah übertönt, wäre er mir nicht so nah gewesen.

 

Ich legte meine Stirn atemlos gegen seine und nickte leicht.

 

Zweisamkeit

 Just 19 and dream obscene.

 

Der Morgen kam schnell und unerwartet. Meine Lider öffneten sich bereits, nachdem sich die ersten Sonnenstrahlen in mein Zimmer gestohlen hatten. Während ich bewegungslos auf meinen Wecker starrte und darauf wartete, dass die Zeit verging, dachte ich über den vergangenen Abend nach und musste unweigerlich aufstoßen.

 

Simon. Blond. Schön. Finger. Hitze. Augen.

 

Sein Bild spukte durch meinen Kopf wie eine Geisterbahn. Ich stellte mir vor, wie er neben mir lag. Nackt, schutzlos, perfekt. Wie die morgendlichen Sonnenstrahlen seine Haut küssen und sie strahlen lassen, als würde er gerade erst geboren. Seine hellen Haare fast durchsichtig vom Licht und die rosa Lippen geschwollen von unseren Küssen. Ich stellte mir vor, wie meine Fingerkuppen über seine Muskelstränge fahren und seinen Bauchnabel umkreisen, als wäre es eine unendliche Reise. Ich konnte auf meiner Zunge den salzigen Geschmack seines Körpers spüren und den Sex verhangenen Geruch im Zimmer riechen. Und während mein Herz nur an Simon dachte, dachte mein Körper nur an eins: Nochmal.

 

Nochmal die Nähe von einem Menschen spüren. Markus, tu es nochmal. Nochmal küssen. Nochmal spüren, wie der erregte Schweiß von deiner Haut tropft. Nochmal, nur noch ein mal. Mit Simon? Oder mit irgendjemandem? Nochmal, Markus, nochmal. Meine Hand gleitet an mir auf und ab und ich versuche mir vorzustellen, es wäre nicht meine eigene. Ich versuche es zu hart zu machen oder zu sanft, zu anders, damit ich mir einreden kann, dass ich es nicht mit mir selber tue. Denn ich will nicht wissen, dass ich gerade alleine bin. Ich will nur spüren. Nochmal und Nochmal. Bis sich die Galaxie auflöst und mit ihr meine Probleme. Bis ich nur noch bin und nichts mehr spüre. Bis ich komme. Und komme. Und gehe.

Realität

 Six months off for bad behaviour.

 

 "Markus?", ein zögerliches Klopfen an der Tür riss mich aus meiner Starre. Ich bedeckte zügig meinen Körper mit der Bettdecke und stütze mich auf meinen Ellenbogen. "Herein." Die Tür öffnete sich nur langsam, während Spasti-Basti sie aufstieß, selbst jedoch außerhalb meines Zimmers blieb. Er passte mit dem Rollstuhl nicht durch die Türöffnung. Sein Blick war verhangen und die Wangen rosig, als wäre er gerade erst aufgewacht.

 

Meine Hände krallten sich in die Decke und ich gab mir Mühe, ihn nicht sofort wieder rauszuwerfen. "Weißt du, wie früh es noch ist? Was willst du ?", frage ich schnippisch und ließ meinen Kopf genervt wieder ins Kissen sinken. "Es... Es könnte sein, dass ich etwas gemacht habe." Seine Worte ließen mich augenblicklich aufhorchen. "Ich schwöre dir, wenn du Dad irgendwas über die Party gestern gesagt hast, bist ...!" "Nein, das ist es nicht", unterbrach er mich und wurde noch rosiger im Gesicht. Er wirkte verlegen und senkte seinen Blick etwas. Ich entspannte mich wieder ein bisschen. "Rück schon raus mit der Sprache. Was hast du gemacht?" Meine Stimme war nun etwas versöhnlicher und er traute sich wieder mich anzusehen.

 

"Ich... Vielleicht ist es besser, wenn du mitkommst", stotterte er mit einem Blick auf den Flur gerichtet. Ich verdrehte die Augen. Das war mit Abstand der schlimmste Morgen seit Monaten und ich war nicht für Späße aufgelegt.

 

"Basti, sag es mir jetzt oder gar nicht. Ich habe keine Lust auf deine Geheimniskrämerein."

 

"Glaub mir, wenn ich dir sage, dass ich dir einen großen Gefallen getan habe." Er holte sein Handy aus der Hosentasche und hielt es mir entgegen. Es dauerte einen Moment bis mein Blick sich geklärt hatte und noch einen, um zu realisieren, was ich da gerade ansah. "Was zum Teufel!?" Ich sprang auf und riss ihm das Handy aus der Hand. "Woher hast du das, Basti? Hast du bei mir rumgeschnüffelt?"

Meine Worte hingen wie Rasiermesser in der Luft und auch wenn ich splitterfasernackt dastand musste ich eine beeindruckende Figur machen, denn Basti zuckte erschrocken zusammen und hielt verteidigend die Hände erhoben.

 

"Ich hab damit nichts zutun, Markus, Indianerehrenwort! Irgendjemand hat das ins Netz gestellt. Es war auf Facebook, auf deine Pinnwand gepostet von irgendeinem anonymen Account. Ich habe es runternehmen lassen, aber ich habe keine Ahnung, ob es nicht schon irgendjemand gesehen hat."

 

Meine Finger verkrampften sich und meine Knöchel traten weiß hervor, während ich meine Hand um das Handy schlang.

 

Während Basti den Rückzug angetreten hatte, hatte ich mich auf die Bettkante gesetzt, meinen Kopf in meine Hände vergraben. Konstant formten meine Lippen wüste Beschimpfungen, aber mein Körper war so damit beschäftigt, die Neuigkeit zu verarbeiten, dass es meinen Stimmbändern nicht gelang, auch nur einen Ton herauszubringen. „Fuck ...“, flüsterte ich heiser und wünschte, das Haus könnte mich unter sich begraben. Ein Stechen machte sich in meiner Brust breit, mein Herz hatte sich vor Schreck zusammengezogen und war jetzt so klein wie ein Maiskorn. Mein kleines Maiskorn zuckte wie wild und versuchte diesen riesigen Körper am Leben zu halten. Es zuckte und bebte und kämpfte, und ich wünschte, ich wäre auch so tapfer. Stattdessen ließ ich mich schwach nach hinten fallen und starrte an die Decke, als wäre es das Einzigste, das mich noch hielt.

 

Einfach Atmen, Markus, einfach atmen! Du schaffst das. Und noch ein Atemzug. Und noch einen. Und irgendwann raubt es dir nicht mehr die Luft, wenn du an Montagmorgen denkst. Und an die Blicke, die dich so fixieren werden, wie deine Augen die weiße Maserung der Deckenverkleidung. Einfach Atmen, Markus!

 

Es schien als wären Stunden vergangen, aber als ich meinen Blick zum ersten mal wieder hob, hatte die Uhr gerade erst zehn geschlagen. Mein Herz war wieder auf seine übliche Größe angeschwollen und schlug nichtssagend in meiner Brust. Kontinuierlich, als wäre nie etwas gewesen. Doch in meinem Kopf hatte ich nur dieses Foto vor Augen.

 

Simon und ich. Lachend lagen wir uns in den Armen. Auf meinem Gesicht war ein dümmliches Grinsen zu erkennen, und seine Hände lagen ganz und gar unfreundschaftlich auf meinem nackten Oberkörper, seine Lippen verschwörerisch an mein Ohr gelegt, als würde er mir gerade schmutzige Worte zuraunen. Ich sah so verdammt verliebt aus. Und Simon so verdammt notgeil. In seiner Boxershorts konnte man die Abzeichnung einer Erektion erkennen und seine Augen waren auf meinen Schritt gerichtet. Ich hatte diesen Moment unbedingt mit einem Foto einfangen wollen. Ich war wirklich, wahrhaftig glücklich gewesen. Zu wissen, dass nicht nur ich, sondern auch der Rest der Welt für einen kurzen Augenblick an diesem Moment teilhaben konnten, ließ mich schlucken.

 

Es war so intim, so nah gewesen. Das war kein Moment, den man mit anderen teilte. Es hätte nur in Simons und meinem Kopf existieren sollen, als Erinnerung. An etwas, das wenigstens für mich Bedeutung gehabt hatte. Und jetzt?, fragte ich mich still. Wer wusste schon, wie viele das Foto gesehen hatten. Vielleicht nur zwei, vielleicht aber auch zwanzig oder gar zweihundert Leute. Ein Kribbeln schoss meinen Arm hoch. Ich hatte zulange auf der Seite gelegen. Ich setzte mich auf, streckte mich zu allen Seiten aus und animierte mich dazu, mir etwas überzuziehen. Das Größte meiner Geheimnisse war aufgedeckt worden, sichtbar für die ganze Welt. Und ich hatte auch schon eine Ahnung, wer dafür verantwortlich war …

 

Ungeduscht und nur in Jogginghose und T-Shirt hatte ich den Weg zu Simons Haus eingeschlagen. Vorbei an der Skating-Bahn und den Spielplätzen, vorbei an der Stelle, an der ich nur einen Abend zuvor Nicky geküsst hatte. Ich hielt kurz inne. In dem ganzen Durcheinander hatte ich nicht mal Zeit gehabt auch nur einen Gedanken an den Kleinen zu verschwenden. Ich schüttelte beklemmt den Kopf. Ich wünschte, das wäre das größte Problem geblieben.

 

Mit zügigen Schritten ging ich die Einfahrt des Einfamilienhauses hinauf und klingelte Sturm. Ich gab mir keine Mühe, meine Wut zu verbergen, als die Tür sich öffnete und ein noch verschlafender Owen durch die Öffnung lugte. Er blinzelte benommen, rieb sich die Augen und sah mich dösig an. „Markus? Was machst du denn hier?“, lallte er schlaftrunken. Er schien meine Miene nicht zu bemerken und machte sich stattdessen daran, seinen Hund Sam daran zu hindern, aus dem Haus zu laufen. Schwanzwedeln drängte der Golden Retriever darauf, mich zu begrüßen. Ich kraulte beschwichtigend seine braunen Ohren und ignorierte gekonnt den Sabber, der dabei auf meine Hose tropfte. „Ich will zu Simon. Ist er da?“

 

„Simon?“ Owen wirkte verdutzt. Er hatte sich mittlerweile wieder gefangen und seine Wangen röteten sich leicht. Ich stöhnte missmutig und schob den Hungerhaken einfach zur Seite, um an ihm vorbei die Treppe hinauf zu stürmen. Der Flur war noch genau so wie in meiner Erinnerung, und ich brauchte nur zwei große Schritte bis zur Tür von Simons altem Jugendzimmer. Ich atmete einmal tief durch, hob die Hand um anzuklopfen, entschied mich dann jedoch dagegen und drückte die Klinke runter.

Simons Zimmer war kahl. Alternativ zu den alten Bildern aus Schultagen, verdeckten Bücherregale die leeren Stellen an den Wänden. Auch die bunten Poster waren gewichen, mit ihnen seine Zockerecke und das schmale Jugendbett. Dafür stand nun eine graue Schlafcouch unter dem Fensterbrett und wirkte so merkwürdig uneinladend, dass ich Schwierigkeiten hatte, mir vorzustellen, dass sich überhaupt irgendein Mensch hier wohlfühlen konnte.

 

Ich ließ meinen Blick durch das leere Zimmer schweifen und blieb an dem Laptop hängen, der neben dem Sofa auf dem Boden stand. Der Bildschirm war noch an. Wie eine Maschine steuerte ich darauf zu und machte mich daran, nach Beweisen zu suchen. Ich brauchte nur wenige Sekunden um das zu finden, wonach ich Ausschau gehalten hatte. Er hatte den Tab zu seinen Fotos nicht mal geschlossen. Das Bild, das ich damals von uns geschossen hatte, war das erste, das aufblitzte. Die Fotos danach kannte ich nicht. Ich schluckte, als ich mich selbst darauf erkannte.

 

Ich beim Schlafen. Ich, wie ich konzentriert den Controller in der Hand hielt. Ich, wie ich Bier trank. Ich, wie ich lachend die Hand vor die Linse hielt, als ich merkte, dass er mich fotografieren wollte. Und dann: Wir. Wir, wie wir uns küssten. Wie wir uns umarmten. Wie wir Händchen haltend am Ufer des Sees ein paar Städte weiter saßen.

 

Vollkommen eingenommen, merkte ich erst einige Zeit später, wie Simon das Zimmer betrat und verdutzt auf der Türschwelle stehen blieb. Seine Haare waren noch feucht von der Dusche und um seine Hüfte war nur ein weißes Handtuch gebunden. Wassertropfen perlten an seiner Haut ab und suchten ihren Weg nach Unten. Ich merkte, wie er rot wurde. „Markus ...“, er stockte. Es war offensichtlich, dass er mich nicht hier erwartet hatte. Er sah mir direkt in die Augen und ich konnte meinen Blick nicht abwenden. Schweigend starrten wir uns an, bis er auf den metallischen Gegenstand auf meinen Schoß blickte. „Was …?“

 

Er verzog verärgert das Gesicht und kam eilig auf mich zu. „Das ist privat!“, schoss er plötzlich und riss mir den Laptop aus der Hand, um ihn eilig auf den Schreibtisch zu stellen. Seine Lippen zogen einen harten Strich und seine Stirn schlug so harte Wellen, dass ihm seine Missgunst wortwörtlich aus dem Gesicht abzulesen war. Er verschränkte die Arme vor der nackten Brust und ich hatte Mühe, mich zusammen zu reißen. Die Wut kochte mit einem mal wieder brütend heiß hoch. Meine Hände ballten sich zu Fäusten.

 

„Privat? Wirklich witzig in Anbetracht der Tatsache, dass du es für jeden sichtbar ins Internet gestellt hast!“ Meine Stimme zitterte aufgebracht, während ich ihn starr fixierte. Seine Augen weiteten sich. „Was meinst du damit?“ Er klang unsicher. Ich stieß mich vom Sofa ab und näherte mich ihm. Als uns nur noch ein Lufthauch voneinander trennte, beugte ich mich über ihn und ergriff den Laptop der hinter ihm stand. „Willst du etwa behaupten, dass das hier“, ich zeigte auf unser Foto, dass noch immer auf dem Bildschirm prankte, „nicht von dir hochgeladen wurde?“ Er sah auf den Bildschirm des Laptops und seine Wangen färbten sich in einem zarten Rosa, als er unsere umschlungenden Körper betrachtete. Seine Hände hingen nun lasch an den Seiten und er hatte Mühe meinem brennenden Blick standzuhalten.

 

„Ich habe gar nichts hochgeladen, Markus. Ich weiß nicht mal, wovon du sprichst?“ Seine blauen Augen wirkten dabei so ehrlich, dass ich gar nicht anders konnte als ihm zu glauben. Er raufte sich die nassen Haare und versuchte einen Schritt nach links zu machen, drängte sich dabei jedoch nur näher an meine Schulter. „Markus, du ... Du musst mir einfach glauben, egal, was passiert ist, ich habe absolut keinen Plan davon!“ Er zuckte nun hilflos mit den Achseln und ich schnaufte zweifelnd. „Simon, du bist der Einzige, der außer mir noch im Besitz dieses Fotos ist. Außer uns weiß niemand von der Sache mit … naja, du weißt schon was ich meine ...“, deutete ich wage an und warf einen schamhaften Blick zur Seite und er nickte verstehend. „ Ja... ja ich weiß, was du meinst.“

 

Er hob zögernd eine Hand und strich über meine zusammengekniffenen Augenbrauen, ich fröstelte. „Markus ...“, er hauchte meinen Namen und ich spürte die Wärme seiner Fingerspitzen auf meinem Gesicht. Ich schluckte. „Nicht ...“, flüsterte ich vage zurück. Ich konnte seine sanften Berührungen jetzt nicht ertragen. Er verzog seinen Mund traurig und ließ die Hand wieder sinken. Die Stelle fühlte sich merkwürdig kalt an. „Willst du mir nicht erzählen, was passiert ist?“ Ich drehte mich seufzend um und ließ mich auf dem Sofa nieder, neben mir noch genug Platz für den Blonden, der sich mit einem Rums darauf fallen ließ. „Das Foto von uns, es wurde auf meine Facebook Chronik gepostet - von einem anonymen Account. Und ich habe absolut keine Ahnung, wie viele Leute es gesehen haben, bevor Basti es rausnehmen konnte.“ Ich schluckte und sah ihn zögerlich an. „Sisi … Ich hab echt Angst.“ Bei der Erwähnung seines alten Spitznamens zuckte er merklich zusammen und sein Gesicht bekam sofort weichere Züge. Eine Hand legte sich sanft auf meine und drückte sie. „Ich verspreche dir, ich war das nicht. Aber sei doch mal ehrlich zu dir selbst, wie lange hättest du es denn noch verbergen wollen? Ist es so nicht viel leichter?“

 

Ich schnaubte eingeschnappt und entzog ihm ruckartig meine Hand. „Glaubst du wirklich, es ist leichter für meine Eltern, durch irgendein zufälliges Foto zu erfahren, dass ich schwul bin? Du hast leicht reden, du und dein beschissenes neues Zuhause. In Berlin ist es vielleicht kein großes Ding mehr, wenn sich zwei Schwuchteln ablecken, aber hier!? Glaubst du irgendeiner von meinen Freunden wird noch was mit mir zu tun haben wollen, wenn er das Foto sieht? Sieh dir doch deinen Bruder an. Er ist Beweis genug, dass das Leben nun mal nicht fair ist.“

 

Simon verdrehte seine blauen Augen bis zum Anschlag. Wenn er das machte, wirkte er so abgehoben, dass es absurd wirkte, dass ich mit diesem Menschen etwas so Intimes geteilt haben soll. „Ist dir schon mal aufgefallen, dass Owen keine Probleme hätte, wenn du nicht wärst? Keiner von den anderen würde auch nur ein Wort darüber verlieren, wenn du nicht ständig darauf herumreiten würdest. Ist nicht böse gemeint, aber … vielleicht wäre alles ein bisschen einfacher, wenn du nicht so verdammt ehrgeizig versuchen würdest, alle glauben zu machen, dass du nicht auf diese wundervollen Muskeln stehst.“ Er zwinkerte mir nun schelmisch zu und wirkte für meinen Geschmack viel zu gelöst. Seine nackte Brust hob und senkte sich in einem gemächlichen Tempo und sein Mund verzog sich zu einem anzüglichen Grinsen. Es machte mich wütend, dass er so entspannt war. Vor allem deswegen, weil ich nicht war. Nicht sein konnte. Nie sein würde. Er hatte leicht reden, schon bald würde er wieder nach Berlin gehen. Frei sein. Aber ich würde immer noch in Kaufbeuren hängen!

 

„Wie wäre es, wenn du das alles erstmal vergisst ...“, er zupfte an seinem Handtuch, das locker um seine Hüfte fiel „und dich mit etwas anderem beschäftigst?“ Er senkte seinen Blick auf seine Mitte und ich erstarrte. Unter dem weichen Stoff zeichnete sich eine deutliche Erhebung ab und ich konnte nicht anders, als angeekelt aufzustoßen. „Ist das dein verfickter Ernst? Als würde ich bei dem ganzen Stress auch nur eine Sekunde damit verschwenden, mich um deine Latte zu kümmern!“, angewidert sprang ich auf und verließ das Zimmer, noch ehe er etwas darauf erwidern konnte. Die Tür knallte hinter mir donnernd in den Rahmen. Mein Atem ging stoßweise und mir war ganz übel. Der Stress und die Angst stiegen mir zu Kopf, im Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher als eine Toilette, in die ich meinen Mageninhalt entleeren konnte. Simons Stimme hallte in meinen Ohren. Für mich ging rasend und unaufhaltsam die Welt zugrunde und Simon hatte keine zehn Minuten gebraucht, um auch daraus wieder eine sexuelle Situation zu machen. Scheiß Simon. Scheiß schwanzgesteuerter Idiot! Scheiß Herz, dass mich an seine sanften Finger auf meinem Gesicht erinnerte anstatt an seine Worte.

 

Ich schniefte und wischte mit dem Handrücken über meine laufende Nase. Ich wusste nicht, wann ich mich zuletzt so einsam gefühlt hatte. Ich raffte meine letzte Kraft zusammen, straffte mich und nahm die Treppenstufen nach unten. Ein schwanzwedelndes Etwas kam mir entgegen und rieb erwartungsvoll die Schnauze an meinem Bein. „Tut mir leid Kleiner, aber ich muss los“, entschuldigend fuhr ich über das weiche Fell und griff nach der Klinke der Haustür.

 

Draußen schlug es mir brütend warm entgegen, es war stickig und Feuchtigkeit schien in der Luft zu schweben. Der frische Morgen war der harten Mittagssonne gewichen und ich spürte bereits die ersten Schweißtropfen meinen Nacken runterrollen als ich auf den Asphalt trat. Meine Füße trugen mich noch bis zur kleinen Böschung nahe der Skaterbahn, wo ich mich geräuschvoll übergab. Ich stütze mich mit meinen Händen auf die Knie und atmete. Ein und aus, bis ich nicht mehr das Gefühl hatte auf der Stelle umzukippen.

 

„Brauchst du Hilfe?“ Ich hörte wie Schuhe über Gras liefen und wenige Meter hinter mir stehen blieben. Zögerlich blickte ich nach hinten. Von der Sonne geblendet konnte ich das Gesicht nicht erkennen, aber dafür die wuscheligen Haare, die es umrahmten und die kleine Statur des Jungen.

 

„Geh weg, Zwerg. Mir geht’s gut.“ Er zuckte nichtssagend mit den Achseln und ließ sich auf der Parkbank nur einen Meter von mir entfernt nieder. „Ich habe gesagt, es geht mir gut. Geh!“, ich spuckte peinlich berührt auf den Wegesrand und setzte mich auf die Kante der Bank. Ich wollte nicht, dass mich jemand so sah. Vor allem nicht Nicky. Mein Magen rumorte lautstark und mein Kopf fühlte sich merkwürdig leicht an, als ich ihn in den Nacken legte.

 

„Das ist ein freies Land. Ich kann mich hinsetzen, wo ich möchte“, lachte er unbefangen und betrachtete mich mit einem Stirnrunzeln. „Ist dir die Hitze zu Kopf gestiegen oder hast du gestern zu viel getrunken?“, fragte Nicky und legte seinen Kopf ebenfalls in den Nacken, um die Wolken zu betrachten, die vorbei zogen. Ich zuckte gleichermaßen mit den Schultern und versuchte, mich auf meinen Atem zu konzentrieren. Ich konnte sein Aftershave riechen und rümpfte die Nase. Der scharfe Geruch rief in mir die Übelkeit wieder wach. Wir saßen einige Minuten lang still da und starrten in den viel zu blauen Himmel. Es würde noch die ganze nächste Woche so warm bleiben. Eigentlich liebte ich den Sommer. Ich mochte es bei 30 Grad im Garten zu liegen und die Sonnenstrahlen auf meiner Haut zu spüren. Doch jetzt war mir eher danach, mich in meinem Zimmer zu verstecken und mich zu verkriechen. Schwer atmend richtete ich mich auf.

 

Nicky hatte die Augen geschlossen und sah ganz friedlich aus, wie er so da saß. Seine bläulichen Lider zuckten und seine rosa Lippen standen einen spaltbreit offen. Ich musste schlucken. Ich hatte fast vergessen, dass ich noch vor wenigen Stunden nicht genug davon kriegen konnte, diese Lippen auf meinen zu spüren. Doch seit dem war so viel passiert. Ich schaute seufzend zur Seite. Der Kopf des Zwergs schnellte auf. „ Musst du dich wieder übergeben?“ Er wirkte ernsthaft besorgt. Ich schüttelte nur langsam den Kopf.

 

„Nein, alles gut. Mach dir keine Sorgen, das ist nur die Hitze gewesen. Die habe ich noch nie besonders gut vertragen“, log ich hohl. Meine Stimme klang ruhiger als ich mich fühlte. Aber ich wollte nicht, dass er sich Gedanken um mich machte. Er legte eine Hand auf meinen Rücken und strich leicht darüber. Der Stoff meines T-Shirts krauste sich unter seiner Berührung. Ich erschauderte.

 

Viel zu viel für einen Tag, dachte ich still und ließ ihn einfach machen. Wäre es ein anderer Tag gewesen, ein normaler Tag wie sonst, hätte ich seine Hand weg geschlagen. Ich wäre aufgesprungen, hätte ihn beleidigt, hätte ihn vor den Kopf gestoßen. Aber heute … Heute nahm ich seine Berührung dankend an.

 

 

 

Impressum

Texte: Alle Recht für den Inhalt und die Charaktere liegen allein beir mir
Bildmaterialien: Ich habe keine Rechte an den Bildmaterialien
Tag der Veröffentlichung: 20.04.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch allen Lesern, Bookrix-Freunden, meiner Chaos-Familie und den Leuten, die mir helfen, am Ball zu bleiben :) Also, ganz fettes, mega Danke an Alle und wuschlige Knuffel-Duffel noch dazu! ♥ Häschen :3

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