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1. Kapitel

 Seite für Seite schlug ich das Fotoalbum gelangweilt um und sah den blonden Jungen vor mir schulterzuckend an. „Ich hab ja kapiert, dass du nichts für Fotografie übrig hast, aber könntest du nicht wenigstens so tun, als würde es dir gefallen?“, seufzte er enttäuscht und ließ seine schmalen Schultern entmutigt hängen.

 

Ich schenkte ihm ein entschuldigendes Lächeln, während ich das schwere Buch auf den Boden vor mir gleiten ließ. Ich verschränkte meine Hände miteinander und spielte nervös mit meinen Fingern, die wegen der drückenden Hitze schon ganz schwitzig geworden waren.

 

Mum hatte mich zu unserer neuen Nachbarin geschleppt und mich deren Sohn Owen aufgedrängt. Sie hatte gemeint, es würde mir gut tun, schon vor der Schule mit jemandem Kontakt zu haben, doch das bezweifelte ich stark.

 

„Hast du vielleicht Lust, Playstation zu zocken?“, fragte er schließlich unentschlossen und zupfte seine übergroße Nerd-Brille zurecht, die sich gerade selbstständig machte. Ich hielt in meiner Bewegung inne und sah ihn verblüfft an. Für mich sah er zwar nicht wie ein typischer Zocker aus, andererseits passte es zu seinem eigenbrötlerischen Auftreten, das er seit unserer Ankunft an den Tag legte. Mit einem kurzen Nicken hievte ich mich vom harten Holzpaket und setzte mich auf das kleine Bett in der Ecke des Zimmers, von dem aus man direkt auf den an der Wand befestigten, großen Flachbildschirm sah.

 

So verquert dieser Typ war, so sah auch sein Zimmer aus. Voller Widersprüche und doch so passend, das man auf den ersten Blick an die Arbeit eines schlechten Innenarchitekten dachte, oder zumindest an die eines Menschen, der zu viel Zeit, aber zu wenig Lust  hatte. Da waren auf der einen Seite die schon abgenutzten, alten Holzmöbel, die einen gewissen Charme versprühten, und auf der anderen Seite die hochmoderne Elektronik, die sich einem regelrecht aufzudrängen versuchte. Ich hatte nicht viel Ahnung von Technik, ab und zu spielte ich mit ein paar Kumpeln Call of Duty Blackops, aber das war auch schon das einzige Spiel, das mich begeistern konnte.

 

Er hielt mir eine durchsichtige Plastikhülle mit der Aufschrift Resident Evil 5 entgegen und ich nickte einmal bestätigend, bevor ich mir einen der Controller nahm und mich nach hinten auf die Bettdecke fallen ließ. Ich hörte, wie der Fernseher mit einem Klick anging, richtete mich jedoch erst wieder auf, als Owen sich seufzend neben mir niederließ. Owen. Ein viel zu männlicher Name, für so einen schmächtigen Kerl wie ihn, überlegte ich.

 

In seinem weißen Muskelshirt sah man, dass er so gut wie keine Muskeln hatte und praktisch wie eine Bohnenstange gebaut war: groß und schlaksig. Ob er wohl so unsportlich war, wie er aussah? Und überhaupt: Owen, was war das für ein Name? Erinnerte mich schmerzhaft an die Mädchen, die sich heut zu Tage mit Namen wie Chantal oder Kimberley rumschlagen mussten. Ich fand, englische Namen wirkten in einem typisch deutschen Kaff wie diesem deplatziert.

 

Ich hätte ihn liebend gern danach gefragt, doch da ich weder Papier, geschweige denn einen Stift entdecken konnte, beließ ich es einfach dabei und wand mich dem Spiel zu. Es war eigentlich ganz aufregend und Owen schien auch viel Spaß daran zu haben, doch ich musste mir eingestehen, dass ich kein Profi darin werden würde. Ich kam weder mit der Steuerung, noch mit der Story zurecht, die Owen mir gerade enthusiastisch zu erklären versuchte.

 

„Also: Chris Redfield wird im Auftrag der Bio-Terrorism Security Assessment Alliance (BSAA) nach Kijuju geschickt, um dort den Waffenhändler Ricardo Irving zu fassen. Irving handelt mit Bio-Organischen Waffen (BOWs) und den aus den Vorgängerspielen bekannten Viren zur biologischen Kriegsführung. In Kijuju trifft Redfield dann auf die afrikanische BSAA-Agentin Sheva Alomar. Ihre Eltern kamen bei einem Zwischenfall in einem Labor der Umbrella Corporation ums Leben, was Sheva letztlich dazu bewog, sich der BSAA anzuschließen....“, und so weiter und so fort...

 

Ich hörte nur noch mit halben Ohr hin und versuchte mich darauf zu konzentrieren, Gold oder Schätze zu finden, die sich hier angeblich irgendwo verstecken sollten. Eigentlich funktioniert das Ganze so wie das Eiersuchen an Ostern, nur mit dem Unterschied, das ich hier jeder Zeit abgeknallt werden konnte. „Hey, hörst du mir überhaupt zu?“, fragte er und schob seine Unterlippe ein klein wenig vor. Fast so, als würde er einen Schmollmund ziehen wollen, sich aber im letzten Moment daran hindern. Ich grinste und bedeutete ihm, weiter zu reden. Als er jedoch immer noch nichts sagte, drehte ich mich doch zu ihm um und sah ihn fragend an.

 

Er musterte mich kritisch und kniff dabei die Augenbrauen angestrengt zusammen, sodass sich eine große Falte auf seiner Stirn bildete. „Du sprichst nicht gerade viel, was?“. Seine Stimme klang belustigt, doch ich konnte einen Hauch ernsthaften Interesses darin wahrnehmen. Ich seufzte tonlos und kramte mürrisch in meiner Hosentasche nach einem Einkaufszettel oder wenigstens einem Schnipsel Papier, doch nichts. Also stand ich auf, ging zum alten Schreibtisch hinüber, und nahm das Erstbeste, was mir in die Hände fiel.

 

Mit großen Augen bemerkte ich, dass auf dem Cover des Magazins, welches ich genommen hatte, eine spärlich bedeckte Frau abgebildet war und hielt es schmunzelnd in die Höhe. Erst sah Owen mich verwirrt an, betrachtete die Zeitschrift dann aber genauer und eine verräterische Röte kroch in seine Wangen, die im Kontrast zu seinen hellen Haaren noch mehr aufzufallen schien.

 

„Ich... ähm, ein Freund von mir... ähm... ha-hat das als Scherz mitgebracht“, stotterte er und senkte verlegen seinen Blick. Was daran witzig sein sollte, konnte ich mir beim besten Willen nicht erklären. Bei jedem andern hätte es außerdem wie eine Ausrede geklungen, doch bei ihm konnte ich es mir durchaus vorstellen.

 

Ich legte es wieder hin und schnappte mir schließlich einen Kuli aus einer der Schubladen und ein DIN-A4 Blatt, auf das ich klein schrieb: Ich bin stumm. Ich kann nicht sprechen.

 

Ich reichte ihm das Blatt und sah ihn dann abwartend an. Jedesmal, wenn ich mich anderen offenbarte, klopfte mir mein Herz bis zum Hals. Er schwieg und knetete nervös seine dürren Hände. Wahrscheinlich wusste er nicht, wie er reagieren sollte, also setzte ich mich auf gut Düng einfach wieder neben ihn und spielte weiter. Im Augenwinkel sah ich jedoch, wie er mich überrumpelt betrachtete, es mir dann aber gleich tat.

 

Auf meiner alten Schule waren viele Behinderte gewesen, manche mit der gleichen Einschränkung wie ich, oder sogar weitreichender. Ich fühlte mich eben wohl unter „meinesgleichen“, wie Mum es immer so schön nannte, dementsprechend schwer fiel es mir, mit Menschen zu kommunizieren, die keine Gebärdensprache beherrschten.

 

So gesehen, hatte ich auch nicht viele Möglichkeiten mich mit anderen auszutauschen, entweder ich schrieb etwas oder ich begnügte mich mit einem Nicken. Es war mir unbegreiflich, wie Mum in eine Kleinstadt ziehen konnte, in der es nur eine normale Schule gab, in die alle Kinder gingen. Egal, welcher Leistungsstand oder Behinderung das Kind auch hatte, es wurde dorthin verfrachtet.

 

Ich brauchte zwar kein Mitleid, aber ich hatte schon gehofft, dass sie wenigsten darauf achten würde, eine passende Bildungseinrichtung für mich zu finden. Mir war schleierhaft, wie ich es im Unterricht schaffen sollte, mal ganz abgesehen davon Freunde zu finden. Wenn man nichts davon wusste, dachten viele, ich wäre einfach schüchtern oder wortkarg, wenn sie es dann aber herausfanden (und das taten sie früher oder später) wurde es ihnen schnell zu anstrengend und sie ließen mich unter zahlreichen Vorwänden hängen. Ich konnte es ihnen nicht verdenken, aber ärgern tat es mich schon.

 

Ein zögerliches Klopfen an der Tür brach die Stille. „Herein“ Owen räusperte sich und sah verstohlen zu mir rüber, wand jedoch schnell den Kopf ab, als er direkt in meine Augen blickte.

 

„Hey, Sasha, wir müssen gehen. Die Umzugs-Kartons werden grade geliefert“, sagte Mum und lächelte uns beide strahlend an. Ihre Augen blitzen kurz erwartungsvoll auf und ich wusste, dass sie hoffte, ich würde mich mit Owen anfreunden. Er war bestimmt auch kein schlechter Kerl, nur wagte ich es zu bezweifeln, dass er nach dem heutigen Tag, jemals wieder freiwillig etwas mit mir unternehmen würde.

 

„Soll ich vielleicht helfen?“ Owens schüchterne Stimme riss mich aus meinen Gedanken und ich sah ihn ehrlich überrascht an. Unruhig rutschte er unter meinem Blick hin- und her, schien sein Angebot aber ernst zu meinen. „Gerne, das wäre nett“, lachte Mum überschwänglich und band ihre wilden blonden Locken zu einem strengen Zopf zusammen, während sie aus der Tür stolzierte und  polternd die Treppe hinunter ging.

 

Ich hob das Blatt vom Boden auf und kritzelte schnell ein Du musst nicht helfen, wenn du nicht willst hinzu, was dieser jedoch mit einem Kopfschütteln quittierte. „Nein, ich möchte helfen. Und zu dritt geht es sicher schneller“.

 

Der Umzugswagen war bereits vorgefahren, als wir zu dritt aus Owens Haus kamen. Einige Männer in Blaumann trugen unser großes Sofa ins Wohnzimmer und eckten dabei immer wieder an den Wänden des engen Flures an. Ich schnappte mir einen großen Karton, der für die Küche gedacht war und bedeutete Owen, sich den mit den Töpfen vor zu nehmen, damit wir den Männern nicht in die Quere kamen. Die beschwerten sich nämlich laut und versuchten verzweifelt, eine passende Stellung zu finden, um das Ding heil ins Haus zu schaffen.

 

Nach zwei Stunden war der Lastwagen vollkommen ausgeladen und alle Anwesenden schweiß gebadet. Die Sonne prallte regelrecht auf den Asphalt und ich wunderte mich, dass er noch nicht geschmolzen war, denn ich war es definitiv. Möbelpacker könnte ich wohl von meiner Jobliste streichen.

 

„Einen schönen Tag noch und vielen Dank“, schrie Mum den Arbeitern hinterher, die so eben in den großes LKW eingestiegen waren. Ich lehnte mich gegen die erhitzte Hauswand und fuhr mit den Händen durch meine schwarzen Haare, die mittlerweile verstrubbelt in alle Richtungen ab standen. Ich wollte gar nicht wissen, wie ich im Moment aussah.

 

„Hast du noch Lust, mit uns zu Abend zu essen? Ich habe Lasagne im Backofen“, bot Mum an und zupfte fröhlich am Saum ihres Sommerkleides, dass locker um ihre Beine fiel. Sie wirkte fast wie ein Kind, mit dem riesen großen Grinsen im Gesicht und ihren unruhigen Händen, die sich wie selbst zu bewegen schienen. Owen lächelte zwar, sah aber etwas unsicher zu mir rüber. Vielleicht erwartete er, dass ich meiner Mutter zustimmen würde?

 

Schweigen stellte sich ein und Mums Miene wurde zusehends mürrischer, je länger ich mich im Hintergrund hielt. Seufzend holte ich mein Handy aus der Jeanstasche und tippte ein Ich würde mich sehr darüber freuen aufs Display, bevor ich mich von den Backsteinen abstieß und ihm das kleine Gerät in die Hand drückte. Sofort hellte sich sein Gesicht ein wenig auf und er folgte meiner Mutter und mir in die schon wohlduftene Küche. Sie war nur spärlich eingerichtet, ein paar Einbauschränke hingen an den Wänden und das Esszimmer hatten wir wegen Platzmangel kurzerhand mit hier untergebringen müssen.

 

Owen setzte sich zaghaft auf einen Stuhl, während ich den Tisch mit Besteck und Tellern deckte, sodass Mum die dampfende Lasagne auftischen konnte. Die Beiden unterhielten sich anscheinend prächtig, doch ehrlich gesagt hörte ich auch nicht genau hin, denn Mum hackte häufiger interessiert nach und sie zog ihr geschäftsmäßiges Gesicht, das sie immer dann aufsetzte, wenn sie sich konzentrierte.

 

Und um einem ernsten Gespräch zu folgen, war ich körperlich viel zu fertig. Ich hörte nur nebenbei zu, versuchte dabei aber, nicht abweisend zu wirken. Dad meinte, ich würde mich nicht mal bemühen, „normale“ Freunde zu finden und damit hatte er Recht. Ich sah nicht ein, wozu es gut sein sollte, schließlich konnten wir uns eh nicht unterhalten. Aber da in diesem Dorf die Chance auf Gleichgesinnte bei null lag, musste ich mir wohl oder übel einen Ruck geben und so freundlich wie möglich sein.

 

Ich kramte jeweils ein altes Glas aus einem der Küchenkartons mit der Aufschrift Geschirr und fand noch eine angebrochene Flasche Cola Light im Kühlschrank, der bis jetzt nur das Nötigste beherbergte. Owen schob für mich einen umherstehenden Stuhl an den Tisch und reichte mir ein Stück der noch dampfenden Lasagne. Ich nickte ihm dankbar zu und bemerkte verwundert, wie seine Wangen die Farbe einer reifen Tomate annahmen.

 

Ist alles okay bei dir? Fragend sah er auf meine zuckenden Hände und blickte hilflos zu Mum, die kurzerhand übersetzte. Er nickte nur und sah stur auf seinen Teller, wo noch die angebrochene Hälfte seiner Portion lag. Ich musterte ihn noch eine Weile, zuckte dann aber endgültig mit den Schultern und schob mir ein Stück saftige Lasagne in den Mund.

 

Auch wenn Mum eigentlich keine besonders talentierte Köchin war, schmeckte sie sehr gut, was vermutlich auch an meinem großen Hunger liegen konnte, und nahm mir deswegen gleich noch ein zweites Stück, während Owen immer noch beim Ersten war. Er war anscheinend kein guter Esser, das hatte ich schon an seiner Figur bemerkt. Wenn ich genaue hinsah, konnte ich sogar die einzelnen Wirbel in seinem Nacken erkennen, die sich unter dem Shirt seinen Bewegungen anpassten.

 

„Wollen wir Morgen zusammen zur Schule gehen? I-ich meine...du k-kennst ja noch nicht den... den Weg“. Owen stockte und sah verlegen eher an mir vorbei, anstatt in mein Gesicht. Ich lachte, was eher wie ein Krächzen klang und ihn erschrocken aufblicken ließ. Verunsichert knetete er seine Hände und seine Wangen leuchteten in einem tiefen rot.

 

„Sasha, jetzt krieg dich mal wieder ein. Du vertreibst den armen Jungen ja noch“, mahnte meine Mutter und gab mir über den Tisch hinweg einen kleinen Klaps auf den Hinterkopf. Ich gehorchte, konnte aber ein kleines Schmunzeln nicht verhindern. Er war wirklich ein komischer Kauz, sehr schüchtern und leicht zu verunsichern, wie es scheint. Aber ich fand ihn nett, auch wenn ich noch nicht wusste, wie ichs anstellen sollte, wollte ich versuchen mit ihm befreundet zu sein. Entschlossen klopfte ich ihm spielerisch auf den Rücken, ließ Essen Essen sein und zog ihm am Handgelenk die Treppe hinauf.

 

„Warte doch mal“, jammerte er und versuchte verzweifelt, seine Brille auf der Nase zu behalten. Ich achtete nicht auf ihn und erklomm auch die letzte Stufe mit einem Satz. Er kam mir schnaufend hinterher und hielt sich verkrampft an meiner Hand fest. Als er realisierte was er tat, ließ er sie schnell los und verschränkte seine Arme vor der Brust. Ich verdrehte die Augen (manche stellten sich aber auch verdammt pingelig an!) und bedeutete ihm, mir in mein Zimmer zu folgen. Wenn man es denn schon so nennen konnte.

 

Ich ließ mich auf dem weißen Ledersofa sinken, das neben der Tür stand. Mein Zimmer war dank Umzugsunternehmen nun voll möbliert, auch wenn diese nicht am richtigen Platz standen. Mein Schreibtisch stand mitten im Raum und versperrte mir den Weg zu meinem Bett, das ich schon vorgestern direkt vor dem Fenster aufgebaut hatte. Die ersten drei Tage hatte ich mit meiner Mutter in einem Bett geschlafen, deshalb war ich froh, als mein neues Bett geliefert worden war.

 

Insgesamt waren wir jetzt seit einer Woche hier in Kaufbeuren, einem kleinen Dorf in Bayern, das den Begriff Stadt einfach nicht verdiente. Ich kam aus Hamburg und da blieb man meistens anonym. Nur selten traf man jemanden auf der Straße, den man kannte- Großstadt eben. Doch hier kannte jeder jeden, da wurde die Supermarktkassiererin beim Namen begrüßt und der neuste Klatsch ausgetauscht. Na gut, so war es jetzt nicht, aber ihr versteht, was ich meine, oder?

 

Owen stand verunsichert im Türrahmen und sah aus, wie bestellt und nicht abgeholt. Er trat von einem Fuß auf den andern und spielte mit dem Saum seines weißen Muskelshirts, der mittlerweile schon ein wenig ausgeleihert war. Ich klopfte auf den freien Platz neben mir und rückte noch etwas nach rechts, um meine Aufforderung zu unterstreichen. Mit langsamen Schritten kam er auf mich zu und setzte sich so weit weg von mir, wie es das Sofa zuließ. Vielleicht war er doch nicht so scharf darauf, mit mir befreundet zu sein, wie ich dachte?

 

„Warum seid ihr eigentlich hier her gezogen?“, fragte er plötzlich in die Stille hinein. Ich verzog meine Augenbrauen und holte erneut mein Handy heraus.

 

Meine Eltern haben sich scheiden lassen und Mum hat hier eine gut bezahlte Stelle als Krankenschwester bekommen. Dad arbeitet als Architekt und hat viel zu tun, also bin ich mit hierher. Außerdem wohnt mein Tante auch hier und Mum dachte wohl, sie könnte sich um mich kümmern, wenn sie nicht da ist.

 

Es dauerte eine Weile bis ich alles eingetippt hatte und ich war mir sicher, dass es ein richtiges Gespräch unmöglich machen würde, doch Owen schien es nicht einmal zu stören. Er wartete geduldig, strich sich durch die blonden Haare und sah sich um, bis ich ihm schließlich mein Smartphone reichte. Er wollte grade schon zurückschreiben, wahrscheinlich aus Reflex, als ihm einfiel, dass ER reden konnte.

 

Er schüttelte kurz belustigt den Kopf, bevor er wieder ernst wurde. Doch ein kleines Lächeln stahl sich auf seine Lippen.

 

„Tut mir leid. Das mit deinen Eltern, mein ich. Muss schwer sein, wenn der Vater so weit weg ist... “, murmelte er und nestelte mit seinen Fingern. Ich nickte beklommen und hatte den Eindruck, dass er es wirklich ernst meinte. Ihm schien es wirklich leid zu tun, was man nicht von Vielen behaupten konnte. Mir selbst machte es nicht viel aus, denn Dad hatte mir immer das Gefühl gegeben, dass meine Behinderung sein Leben mehr oder weniger versaut hatte. Natürlich hatte er mir das nie gesagt, wäre auch reichlich anmaßend, doch man konnte es ihm ansehen. Ich vermisste ihn, aber ich war auch froh, dass wir uns eine Weile nicht sehen würden.

 

Ich seufzte. „Wollen wir denn nun zusammen zur Schule gehen? Morgen? Ich mein...du musst nicht, aber ich würde mich drüber freuen“, zögernd wand er mir den Blick zu und wurde prompt rot. Das entwickelte sich langsam zum Dauerzustand, überlegte ich schmunzelnd.

 

„Sasha?“, hackte er nach und schien sich ziemlich doof vorzukommen, weil ich ihm nicht antwortete. Ich nickte schnell und nahm mein Handy, um ein knappes Danke zu schreiben. „Kein Problem“. Verlegen kratzte er sich am Kopf und fuhr durch seine blonden Haare, die ihm bis übers Ohr reichten und im Licht einen leichten braun-Schimmer bekamen.

 

Meine Haare waren dunkelbraun, fast schwarz, zusammen mit meinen dunklen Klamotten machte ich wohl das typische Bild eines Emos und auch meine zwei Lippen-Piercings passten dazu. Ich war diesem Gedanken nicht abgeneigt, aber ich hatte mich nie bewusst dafür entschieden. Insgesamt konnte man also sagen, dass Owen und ich uns in keinster Weise ähnelten. Vielleicht war es ja wirklich so wie man sagte: Gegensätze ziehen sich an.

 

Ich hoffte es, denn ich konnte einen Freund gebrauchen, ich müsste mich nur mehr einbringen müssen, sonst würde er mir davon laufen. Es hörte sich egoistisch an, aber ich hatte Angst, am ersten Schultag alleine da zu stehen und die nächsten Jahre ohne Freunde dem Abschluss entgegen zu schlendern.

 

„Hey alles klar bei dir?“, Owens helle, und wie ich bemerkte, ziemlich unmännliche Stimme, durchbrach meine Gedanken. Ja, alles gut. War nur in Gedanken. Wie ist die Schule so? Abwartend sah ich ihn an, doch er zuckte nur mit den Achseln.

 

„Wie jede andere Schule auch. Die Lehrer sind ganz okay, bei den Schülern musst du halt aufpassen, es dir mit den andern nicht zu vermasseln. Am besten, du sagst einfach nichts und lässt die andern auf dich zu kommen“, sagte er, sichtlich zufrieden mit seiner Antwort. Ein Lächeln breitete sich bei mir aus. Er war so herrlich unbekümmert, ein bisschen naiv und doch total unsicher.

 

Ich empfand seine Worte nicht mal als verletztend, ich hatte mich schon längst mit meiner Behinderung abgefunden, doch andere Menschen mieden sonst solche Ausdrucksweisen vor Angst, etwas falsch zu machen. Er dagegen war sich keinem Fehler bewusst und das war merkwürdig erfrischend. In dem Moment fiel es ihm wohl wie Schuppen von den Augen, denn er schlug sich die Hand vor den Mund und nahm die Farbe einer Tomate an.

 

„Oh Gott t-tut mir l-leid! Ich... Ich wollte nicht...“, stotterte er. Okay, ich nahm alles zurück. Er war genau wie alle andern. Schon okay, ich bin da nicht so empfindlich beschwichtigend legte ich ihm eine Hand auf den Arm, was ihn kurz zusammenzucken ließ. Meine Hand blieb wie ein Magnet an Ort und Stelle, bis er beklommen etwas zur Seite rutschte und sie automatisch auf das Sofa-Polster fiel.  Er schien sich sichtlich unwohl zu fühlen und so seufzte ich resignierend.

 

Okay, am Besten reite ich nicht darauf rum und belasse es dabei, immerhin wollte ich ihn nicht vertreiben. Er zupfte wieder an seinem T-Shirt-Saum und sah verlegen zur Seite. Unten ertönte die Klingel und man konnte hören, wie Mum sich mit einer fremden Frau unterhielt. Die Stimme kam mir trotzdem irgendwie bekannt vor...“Das ist meine Mum. Ich hatte ihr versprochen, noch mit dem Hund raus zu gehen“, sich mehrmals verhaspelnd sprang er hastig vom Sofa auf. Nickend folgte ich ihm die Treppe runter in den Flur, wo unsere Mütter sich angeregt unterhielten.

 

Die Frau, die ich bereits heute Morgen kennengelernt hatte, trug nun ein grässliches pinkes Kleid, an dessen Ausschnitt sich aufgenähte Rosen befanden. Sie hatte eine etwas rundliche Figur und ihre braunen Haare waren zu einer komplizierten Frisur hochgesteckt worden, sodass nur noch eine einzelne, gezielte Strähne herausfiel. „Owen, wie schön. Dad und ich wollen jetzt zu dem Geschäftsessen, kannst du noch eben mit Sam raus gehen?“, fragend hob sie eine perfekt gezupfte Augenbraue und durchbohrte ihn förmlich mit ihren stahlblauen Augen, die er definitiv von ihr geerbt hatte.

 

Er nickte ergeben und schenkte mir ein schiefes Lächeln, bevor er schon mit seiner Mutter aus der Haustür verschwunden war. Verdutzt über den schnellen Abgang sah mich Mum fragend an.

 

„Ist irgendwas passiert?“ Nein. Ahnungloszuckte ich mit den Achseln und ging wieder in mein Zimmer, wo ich überfordert auf die vielen Kisten sah, die sich aufeinandergestapelt in einer Ecke befanden und sogar den Blick auf mein eigenes Bett versperrten.

 

Ich fuhr mir gestresst durch mein Haar und machte mich an die erste Kiste, die für meine vielen Bücher gedacht war. Ich stellte sie auf ein Regal, das ich schon am Tag zuvor eigens dafür angebracht hatte und unter dem großen Gewicht bedenklich knarrte. Aber es hielt, und das war das Wichtigste. Meine Klamotten stopfte ich unordentlich in den Kleiderschrank, den ich vorsorglich paralel zum Sofa auf der anderen Seite der Tür platziert hatte. Die restlichen Sachen verstaute ich auch noch, sodass ich erst nach 1 ½ Stunden außer Atem auf meinem Bett lag und erschöpft die weiße Decke betrachtete.

 

Owens Reaktion auf meine Berührungen ging mir trotz der Beschäftigung nicht mehr aus dem Kopf. Ich war zwar auch nicht sehr kuschel-bedürftig, aber eine harmlose Berührung am Arm konnte ich schon noch ertragen. Owen schien es da anders zu ergehen, so unwohl wie er sich gefühlt hat, würde ich wohl darauf achten müssen, keinen Körperkontakt mit ihm zu haben.

 

Ob das an mir lag? Mochte er mich vielleicht nicht und hatte deswegen so reagiert? Aber dann wäre er doch nicht zum Essen geblieben, überlegte ich kritisch und fragte mich krankhaft, ob ich irgendwas falsch gemacht hatte. Ich schüttelte den Kopf. Mir wollte nichts einfallen, was ihn gestört haben könnte. Ein lautloses Seufzen entfuhr mir und ich fragte mich ernsthaft, ob ich das auf Dauer ertragen konnte.

 

Ich mochte Owen, auch wenn er ein ziemlicher Nerd war, schien er nett zu sein und er ließ sich nicht von meiner Behinderung abschrecken, was ein eindeutiger Pluspunkt war. Andererseits wurde ich fast wahnsinnig bei dem Gedanken, mich die ganze Zeit damit aufhalten zu müssen, Texte auf mein Handy einzutippen. So war ein normales Gespräch einfach nicht möglich, doch was anderes wollte mir auch nicht einfallen. Ich drehte mich auf die Seite und schielte auf meinen Wecker. 17.30 Uhr. Es war viel zu früh, um schlafen zu gehen, doch vielleicht würde mir ein kleines Nickerchen ganz gut tun, dachte ich schmunzelnd.

 

Ich schlüpfte aus meinem schwarzen T-Shirt und schmiss es achtlos auf den Teppichboden, wo es neben einem weißen Zettel landete. Mit gerunzelter Stirn streckte ich mich danach, nahm ich es in die Hand und erkannte überrascht, dass es der von heute Morgen war. Wie war der denn hier hin gekommen? Hatte Owen ihn zur Sicherheit eingesteckt? Zuzutrauen wäre es ihm, scheint jedenfalls an alles zu denken der Junge. Ich legte ihn zusammengefaltet auf mein Nachttisch und schloss die Augen.

 

 Eine kleine Erschütterung auf meinem Bett weckte mich aus meinem Schlaf. Erschrocken setzte ich mich auf und blickte überrascht in stahlblaue Augen.

 

„Hey“, kam es schüchtern von dem blonden Jungen vor mir. Verschlafen blinzelte ich ein paar mal und sah mit einem Blick auf den Wecker, dass es kurz nach halb sieben war. Seufzend ließ ich mich wieder nach hinten fallen und rieb mir den Schlaf aus den Augen, wobei die Bettdecke weiter nach unten rutschte. Sofort spürte ich einen kalten Luftzug auf meiner nackten Haut und bekam eine leichte Gänsehaut.

 

Ein heiseres Räuspern lenkte meine Aufmerksamkeit wieder zu Owen, der sich verlegen am Kopf kratzte und stur auf den Boden sah. Ich kniff die Augenbrauen zusammen. Alles gut? Was machst du... genervt ließ ich meine Hände fallen, als ich in sein verwirrtes Gesicht sah. Wie gesagt, das würde noch zu einem Problem werden.

 

Ich tastete nach dem Zettel auf meinem Nachtschrank und kramte aus einer der Schubladen einen Kugelschreiber hervor. Was machst du hier? Schrieb ich in unordentlicher Schrift auf das zerknitterte Blatt, besser kriegte ich es beim besten Willen nicht hin.

 

„Ich wollte dir eigentlich beim Auspacken helfen, nachdem ich mit Sam wieder da war. Aber mein großer Bruder hat mich aufgehalten und so“, er deutete auf das Zimmer, "bin ich wohl zu spät gekommen“, murmelte er entschuldigend.

 

Ich wusste nicht, dass du einen großen Bruder hast, merkte ich an und sah, dass sich sein Blick verdüsterte. „Ja, er kommt ab und zu zu Besuch. Er wohnt eigentlich in Berlin, aber wegen den Semesterferien hat er viel Zeit und ist heute für ein paar Tage angereist“, brummte er verstimmt und verschränkte übellaunig die Arme vor der Brust.

 

Du magst ihn nicht besonders? ,riet ich schmunzelnd und er nickte bestätigend. Warum? , hackte ich nach. Er schien nicht der Mensch zu sein, der große Probleme mit anderen hatte. Jedenfalls war mir bis jetzt nichts aufgefallen, was den Ärger mit seinem Bruder erklären könnte. Er schien eher der umgängliche Typ zu sein, der wenig Stress machte und nach dem Motto „Schweigen ist Gold“ lebte.

 

„Wir sind ziemlich verschieden... “, antwortete er nur und wich meinem Blick aus. Tut mir leid, ich wollte dich nicht drängen, doch er winkte ab. „Kein Problem. Willst du irgendetwas machen? Ich meine, f-falls du nicht weiter schlafen willst... “, bot er mit roten Wangen an.

 

Ehrlich gesagt, bin ich ziemlich müde, aber du kannst dich ja zu mir legen und wir könnten noch ein bisschen fernsehen?, schlug ich vor. Mit großen Augen sah er mich an und biss sich auf seine schmale Unterlippe, bis er schließlich zögerlich nickte.

 

Ich lächelte ihn an und rutschte ein wenig zur Seite, sodass jeder von uns eine Hälfte des Bettes hatte. Unsicher glitt sein Blick zu mir... oder meiner Brust? Verwirrt folgte ich seinen Augen und sah, dass ich immer noch einen freien Oberkörper hatte. Störte das ihn etwa? Doch da war er schon neben mir unter die Decke gekrochen und lehnte sich gegen die hölzerne Bettlehne.

 

2. Kapitel

 Am Morgen wurde ich von einem nervigen Piepen geweckt und wollte mich schon nach dem Wecker strecken, als es plötzlich abrupt endete. Verwirrt, aber auch dankbar, ließ ich meinen noch getrübten Blick gleiten und entdeckte, wie Owen sich, sichtlich übermüdet, damit abrackerte, den Störenfried ordnungsgemäß auf den Nachttisch zu verfrachten.

 

 Nachdem wir gestern noch zwei Stunden ferngesehen hatten, war er einfach auf meine Schulter gerutscht und hatte tief und fest geschlafen. Ich hatte mich vorsichtig neben ihn gelegt und versuch,t ihn dabei nicht zu wecken. So schliefen wir, eng aneinander, ein. Ich glaube, ich habe noch nie so gut geschlafen, dachte ich schmunzelnd und dementsprechend fit war ich auch. Owen schien jedoch entweder ein totaler Morgenmuffel zu sein, oder aber er hatte die Nacht nicht ganz so gemütlich verbracht wie ich. „Morgen“, murmelte er und sah mit halbgeschlossenen Augen auf mich herab. Ich zwinkerte ihm lächelnd zu und richtete mich streckend auf.

 

„Na, gut geschlafen?“, fragte er wenig enthusiastisch. Ich nickte heftig, was ihn leise lachen ließ. „Die Lust wird dir schon noch vergehen, wenn wir erstmal in der Schule sind“, meinte er trocken und schwang seine schmalen Beine aus meinem Bett. Anscheinend hatte er sich irgendwann in der Nacht seine Klamotten ausgezogen, sodass man nun einen guten Ausblick auf seinen beinah nackten Körper hatte.

 

Wie ich schon geahnt hatte, besaß er nicht viele Muskeln, war ziemlich dürr und schlaksig. Doch verwundert erkannte ich, dass er tatsächlich ausgeprägte Brust-Muskeln hatte und dadurch männlicher wirkte, als ich gedacht hätte. Seine blonden Haare standen verwuschelt in alle Richtungen ab und seine sonst heiteren blauen Augen, wirkten noch verschlafen und müde.

 

 Tastend bewegte er sich auf seine überall verstreuten Klamotten zu. Erst jetzt fiel mir auf, dass er seine Brille nicht trug und so hievte ich mich seufzend ebenfalls hoch, um dem blinden Maulwurf seine Sehhilfe zu reichen. „Danke“, peinlich berührt sah er schnell auf den Boden und zog sich seine Jeans von gestern über. „Ich geh mal rüber und hol mir frische Klamotten und so. Ich komm dann später her und hol dich ab“. Hastig zog er sich auch sein T-Shirt über und flüchtete aus meinem Zimmer. Den Kopf schüttelnd machte ich mich auf den Weg ins Badezimmer und stellte gerade die Dusche an, als ich die Haustür unten zuknallen hörte.

 

 Erschaudernd schloss ich die Augen und ballte meine Hände zu Fäusten, als das eiskalte Wasser über meine Haut floss. Gott, war das kalt! Nach einer eisigen Minute, hatte ich mich an die Temperatur gewöhnt und schaumte meine Haare mit irgendeinem Billig-Shampoo ein, das meine Mum immer vom Discounter mitbrachte und verführerisch nach Früchten roch.

 

Sobald alles ausgewaschen war, nahm ich mir das einzige Duschgel aus der Halterung, das ich finden konnte: Himbeere-Kokosnuss. Angeekelt roch ich an dem süßlichen Duft und träufelte so wenig wie möglich davon in meine Hand, die ich spärlich über meinen muskulösen Körper gleiten ließ.

 

 Obwohl ich kein Sportfanatiker war, so hatte ich jahrelang im Fußballverein gespielt und durch das Training an Muskeln zugelegt. Sonst mied ich sportliche Betätigungen aber. Ich stand einfach nicht drauf, mich beim Turnen zu verbiegen oder mich Saltos-schlagend durch die Lüfte zu schwingen.

 

Mit einem Handtuch um die Hüfte gewickelt ging ich wieder zurück in mein Zimmer und suchte mir aus dem Kleiderschrank eine enganliegende schwarze Jeans und ein gleichfarbiges Hemd heraus. Meine Haare hingen nass herunter und bildeten feuchte Stellen auf meinem Oberteil, die beim Föhnen aber automatisch mit trockneten. Kurz überlegte ich, ob ich meine Augen mit Kajal unterstreichen sollte, entschied mich dann aber doch dagegen. Schließlich wollte ich nicht mehr Aufsehen erregen, als ich durch meine Anwesenheit sowieso schon bekam, dachte ich mürrisch und legte den schwarzen Stift zurück auf seinen Platz, in den Schminkkorb meiner Mutter.

 

Mit knurrendem Magen stieg ich die knarrenden Stufen zur Küche hinunter und setzte mich an den großzügig gedeckten Tisch, auf dem schon zahlreiche Brötchen standen und nur darauf warteten, von mir verspeist zu werden. Guten Morgen, Mum, sagte ich, nahm mir die silberne Thermokanne und schenkte mir damit eine Tasse Kaffee ein. Das noch dampfende Getränk rann brennend meine trockene Kehle hinunter und hinterließ ein warmes Gefühl in meinem Magen. Ich glaube, ohne Kaffee würde ich sterben!

 

„Morgen, na habt ihr beiden gut geschlafen?“, fragte sie und bedachte mich dabei mit einem durchdringenden Blick, den ich nur kannte, wenn ich etwas angestellt hatte. Ich nickte leicht und sah sie unsicher an.

 

„Was habt ihr denn so gemacht... “, fragte sie nachdenklich und fuhr durch ihre wirren Locken. Ich zuckte nichtssagend mit den Schultern. Sie hob eine Augenbraue. „Sasha, ich glaube, du solltest wissen, dass... “. Ein Klingeln unterbrach sie und ich stand erleichtert mit meinem Brötchen in der Hand auf, um die Tür zu öffnen. Ich hatte wirklich keine Lust auf ein ernstes Gespräch so früh am Morgen, und das auch noch auf leerem Magen!

 

Außerdem wusste ich wirklich nicht, worauf sie hinaus wollte. Vielleicht wollte sie mir wieder Verhaltensregeln gegenüber nicht behinderten Menschen einprügeln? Das wäre typisch Mum, dachte ich höhnisch und öffnete, mit einem Bissen des Brötchens im Mund, die weiße Holztür des Einfamilienhauses. Vor mir stand ein völlig anderer und doch gleicher Owen. Im frisch gebügelten weißen Hemd, mit steifem Kragen und einer braunen Stoffhose, die mit einem dicken schwarzen Gürtel an seiner dünnen Hüfte gehalten wurde, stand er schüchtern lächelnd da.

 

Bei seinem Anblick hätte ich mich fast an einem Brötchenkrümel verschluckt. Hustend holte ich Luft und musterte ihn unverhohlen. Er sah ja schon gestern aus wie ein Nerd, aber heute sah er aus wie ein besserwisserischer Schnösel. Naja okay, die Nerdbrille, die von seiner schmalen Nase zu rutschen drohte, erinnerte an den Owen, den ich kennengelernt hatte, aber sonst...

 

„Ähm, bin ich zu früh?“, fragend sah er auf das Brötchen in meiner rechten Hand und ignorierte gekonnt meine Überraschung. Ich schüttelte den Kopf und winkte ihn hastig rein. Wie hatte er sich bitte in höchtens einer viertel Stunde so rausputzen können? Grübelnd ging ich hinter ihm in die Küche, wo Mum mit offenem Mund nicht minder überrascht zu sein schien.

 

„Owen? Na, du hast dich aber hübsch gemacht“, platzte sie heraus und ich musste unwillkürlich lachen. Nette Umschreibung für sein völlig übertriebenes Outfit. Anklagend zog er einen Schmollmund und verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust.

 

“Ich weiß gar nicht, was es da zu lachen gibt! Ich verurteile dich ja auch nicht für deine depressive Ader bei deiner Kleiderwahl“. Schnippisch deutete er auf meine, wie immer, schwarzen Klamotten, die sich eng an meinen Körper schmiegten. Ich hob skeptisch eine Augenbraue. Tat er das nicht gerade? Ach, egal, dachte ich gönnerhaft und strich durch mein dunkles Haar, das mir nun zur Hälfte ins Gesicht fiel und dadurch mein rechtes Auge verdeckte.

 

„Sasha meinte es bestimmt nicht so... “, versuchte es Mum und ließ den Satz unvollendet in der Luft hängen. Ich zuckte resignierend mit den Schultern und schnappte mir meine abgewetzte Converse-Tasche aus dem Flur, die bereits mit dem Nötigsten gefüllt war. Abwartend sah ich den Blonden an, der empört aus der Wäsche guckte, als er verstand, dass ich nicht weiter auf seine Bemerkung eingehen würde. Streitsüchtiger Kerl...

 

Wütend stampfte er lauter auf als nötig und eilte, kaum aus der Tür verschwunden, schnell voran. Nur schwer konnte ich mit ihm Schritt halten, doch so leicht würde er mich nun auch nicht wieder los werden, dachte ich optimistisch und zog ihn an der Hand zurück, sodass er gezwungen war, langsamer zu gehen. Umständlich kramte ich mein Handy aus der hinteren Hosentasche und tippte ein Sry hinein.

 

Am Besten ich erkundige mich im Internet über Abkürzungen, das würde meine Arbeit um Einiges erleichtern, dachte ich noch genervt, bevor ein zustimmendes Gemurmel von meiner rechten Seite zu hören war und meine volle Aufmerksamkeit benötigte. Zufrieden lächelte ich und spielte mit einem meiner Lippen-Piercings, das leicht verrutscht war und nun schmerzhaft in mein Fleisch stach.

 

„Du blutest“, kam es scheinbar gleichgültig von Owen, der meine Aktion immer noch eingeschnappt beobachtete. Ich verdrehte die Augen über diese Offensichtlichkeit und hatte es endlich geschafft mein Dauer-Accessoire wieder zu richten, als er mir ein Taschentuch für den einen Tropfen Blut gab, der dabei aus meiner Lippe gequollen war.

 

 Erst jetzt fiel mir auf, dass ich gar nicht darauf geachtet hatte, wohin wir gingen. Ich sah mich um und entdeckte eine kleine Bushaltestelle, auf die Owen nun zielsicher zusteuerte. Es hatten sich schon einige Schüler dorthin gestellt bzw. gesetzt und sahen neugierig zu mir rüber, während ich bemerkte, dass der Blonde von fast allen offenbar nur widerwillig geduldet wurde. Na nu? Anscheinend ist der Kleine doch nicht so umgänglich, wie ich dachte.

 

Mit seinem Bruder kam er ja auch nicht gut klar und dann noch diese bösartigen Blicke, die ihm vor allem die Jungen zuwarfen...Wenigstens einer schien unsere Ankunft gebührend zu feiern, nämlich ein stämmiger Kerl, der mit braunen Locken auf dem Kopf in unsere Richtung rannte und sich in die Arme des Blonden warf, der diesen lachend ebenfalls umarmte. „Die fressen dich schon wieder mit Haut und Haaren“, scherzte der Pummelige und haute ihm kumpelhaft auf die Schulter, an die er nur schwer rankam.

 

 Er reichte mir ungefähr bis zur unteren Brust und selbst bei Owen sah das nicht viel anders aus. „Ich bin Nicky“, stellte er sich vor und wollte mir seine Hand reichen, in der er allerdings noch die neue Ps4 hielt. „Oh... Moment“. Er verstaute die Konsole in seiner braunen Ledertasche, die ihm um den Körper hing und schüttelte mit schwitzigen Fingern meine Hand.

 

Ich lächelte gutmütig und schlenderte neben den Beiden her zu den anderen Menschen, von denen wir uns aber merkwürdigerweise bis auf einige Meter fernhielten. Der Blonde und Zwergnase unterhielten sich angeregt über die neusten Spiele, während ich aufmerksam versuchte ihnen zu folgen. Vielleicht könnte ich Owen ja später darauf ansprechen?

 

„Ich hab mir letztens Far cry 3 reingezogen, war echt das Geld wert. Das beste Spiel seit langem“, bemerkte Nicky und nickte anerkennend, Owen hingegen schmunzelte nur spöttisch. „Ich bitte dich: Far cry 3? Okami ist und bleibt eindeutig am Besten“, warf er ein. „Okami? Da kannst du gleich Zelda einwerfen“, antwortete Zwergnase und schien nun richtig in Fahrt zu kommen.

 

„Ich meine: Pinselstriche? Echt jetzt? Wie sollen die denn Monster abschlachten? Ne, da bleib ich doch bei meinen Waffen". Mit glitzernden Augen strich er über die Tasche, wo sein Baby steckte und immer noch irgendwelche Geräusche von sich gab. Seufzend schüttelte Owen den Kopf und ergab sich.

 

Genau rechtzeitig, denn ein kleiner, mit Werbung übersääter Bus fuhr in die Haltestelle und wurde sofort von allen umringt. Zum Glück handelte es sich hier nur um circa 10 Menschen und nicht um 30, wie jeden Morgen auf dem Schulweg in Hamburg. Ein Pluspunkt für das kleine bayrische Kaff, das vor Minuspunkten trotzdem nur noch so strotzte. Ich zwängte mich mit Nicky und Owen als letzter in das Gefährt und setzte mich mit ihnen in die vordersten Reihen, in die Nähe des Busfahrers.

3. Kapitel

 Dieser war schon gute sechzig und trug eine Cape mit der Aufschrift „Die flotten 40ziger“ , welche schon abgenutzt und dreckig aussah, aber trotzdem ein Lächeln auf meine Lippen zauberte. Es war einfach die Ironie der Worte, im Zusammenhang mit der unverkennbaren Tatsache, dass der Busfahrer die „flotten 40ziger“ schon längst überschritten hatte, die mich zum Lachen brachte. Immer noch grinsend setzte ich mich an das Fenster, sodass Owen und Nicky über den Gang hinweg miteinander reden konnten. Ich wollte den Beiden nicht im Weg sein, außerdem konnte ich ja eh nicht mitmischen.

 

 Je länger die Fahrt dauerte, desto nervöser wurde ich, denn damit kamen wir der Schule unweigerlich näher. Ich kaute auf meiner Unterlippe und wünschte einen Moment lang, ich wäre einfach bei Dad in Hamburg geblieben. Ich würde mit meinen wenigen Bekannten auf dem Schulhof stehen und mich vielleicht sogar ab und zu mit in die Unterhaltungen einbringen, falls ich denn überhaupt etwas dazu beitragen konnte.

 

Ich würde wie immer still, alleine in der hintersten Ecke auf das Ende des Schultages warten, die Predigten der Lehrer über mich ergehen lassen, die mich dazu ermuntern wollten, mich mehr einzubringen und würde Zuhause lesend in meinem Zimmer sitzen und auf den nächsten Besuch von Mum warten. Dad würde wie immer höflich und distanziert mit mir umgehen.

 

Manchmal würde er sogar versuchen, die Wand zwischen uns einzureißen und wie immer würde er daran scheitern, weil er irgendwann merkt, dass ich nicht wie die Söhne seiner Kollegen bin, die am Wochenende mit Freunden einen drauf machen und sich Nachts mit einem Mädchen in ihre Zimmer schleichen, in der Hoffnung, nicht erwischt zu werden.

 

So schnell wie der Gedanke gekommen war, so verschwand er auch wieder. Ich schüttelte den Kopf und vertrieb meine Grübelei. Stattdessen schielte ich zu Owen rüber und zum ersten mal war ich wirklich froh darüber, dass ich nicht alleine da saß. Ich war zwar eigentlich ein überzeugter Einzelgänger, aber es tat irgendwie gut zu wissen, dass ich jemanden hatte, an dem ich mich orientieren konnte.

 

Er hatte meinen eindringlichen Blick wohl gespürt und drehte sich mit gerötetem Gesicht zu mir, das sogar noch dunkler wurde, als ich ihn zögerlich anlächelte. Ich hörte, wie Zwergnase anfing zu kichern und konnte sehen, dass er verstohlen seine Ps4 aus der Tasche zog, im Augenwinkel aber immer noch zu uns sah. „Wir s-sind gleich da.“, stotterte Owen und räusperte sich, als seine Stimme in der Mitte plötzlich wegbrach. Anscheinend ist er noch im Stimmbruch, dachte ich mit gerunzelter Stirn, ist mir noch gar nicht aufgefallen. Schulterzuckend sah ich aus dem Fenster und betrachtete die vorüberziehenden Häuser, die allesamt eine große Ähnlichkeit mit unserem hatten.

 

Mit klopfendem Herzen betrachtete ich das Schild, welches den Fahrer anwies, für die örtliche Schule rechts ab zu biegen. Und tatsächlich konnte ich bereits um die Ecke ein langes steinernes Gebäude erkennen, das von einem glänzenden Metallzaun umgeben war.

 

„Na dann: Auf, auf!“, seufzte Nicky und hievte sich als Erster von uns Dreien vom Platz. Owen folgte ihm, blieb aber kurz vor der Tür stehen, als er merkte, dass ich nicht mit ihm kam. „Kommst du?“, fragte er und richtete seine verrutschte Schultasche, dessen Gurt sich falsch herum um seine Brust schnürte und so sein blütenweißes Hemd zerzauste. Ich strich nachdenklich durch mein Haar.

 

„Junge, wenn du nicht aussteigst, fahre ich weiter“, drohte der Fahrer und sah zu mir nach hinten. Ich nickte zögerlich und erhob mich. „Das wird schon“, munterte mich Owen auf und schenkte mir ein bezauberndes Lächeln, das ich nur mit Mühe erwidern konnte. Vom Bürgersteig liefen wir geradeaus zum Schulhof, der neben dem Gebäude angelegt worden war und hauptsächlich aus braunem Rasen bestand.

 

 Wir setzten uns auf eine kleine Holzbank, die Abseits von dem ganzen Trubel stand und die uns vor der, schon jetzt brüten heißen, Sonne bewahrte. Auf Owens Oberteil hatten sich bereits die ersten Schweißflecken gebildet und auch meinem schwarzen Hemd blieben diese nicht erspart.

 

Nicky dagegen schien gegen die sengende Hitze immun zu sein, oder sein Gehirn war einfach zu sehr mit der Konsole in seinen Händen beschäftigt, als dass es daran dachte, den Körper zu kühlen. Der Unterricht würde erst in zehn Minuten beginnen und die Luft in den Räumen war wohl nicht besonders dolle, denn die meisten Schüler hatten sich wie wir auf den großen Hof gepflanzt.

 

Muss ich mich eigentlich beim Sekretariat anmelden? Immer wieder vertippte ich mich bei meiner Frage und so geschah es, dass ich mein Handy irgendwann genervt auf den Boden knallte und mich gegen die Lehne der Bank fallen ließ. Ich würde diesen Tag doch nie überleben! Keiner konnte mich verstehen und dank meiner unüberlegten Handlung, würde ich wohl die ganze Zeit mit Block und Stift umher irren müssen! Innerlich verfluchte ich meine Mum, diese Stadt und meinen scheiß Körper, der einfach nicht dazu in der Lage war, irgendwas außer einem animalisches Krächzen über meine Lippen zu bringen.

 

„Hey, was machste denn da?“, fragte Zwergnase schockiert von meiner rechten Seite und hob das geschundene Smartphone vom Boden auf. Verzweifelt sah er auf das gesprungene Display und fuhr mit sachten Fingern über die Risse. „Oh Gott, das arme Teil hat doch bestimmt ne menge Kohle gekostet...“, jammerte er vor sich hin und tat gerade so, als wäre es SEIN Handy, das kaputt in seinen Händen lag.

 

„Verdammt, kannst du mir mal sagen, was das soll?“ Aufgebracht starrte er abwechselnd zu mir und dem Handy. Tja, Zwergnase, leider kann ich dir nicht sagen, was das soll! Am liebsten hätte ich ihm das entgegen geschrien, doch so saß ich hilflos da und ballte meine schwitzigen Hände zu Fäusten. „Nicky!“, mahnend blickte Owen ihn an und reichte mir einen Schokoriegel aus seiner Tasche. „Hier, das hilft mir immer, wenn ich nicht so gut drauf bin“, sagte er erstaunlich ruhig und entfernte sogar das Papier für mich. Wütend sah ich ihn an und er steckte den Riegel hastig wieder weg.

 

 Ich würde hier definitiv nicht zurechtkommen, ich konnte ja nicht mal mit jemandem reden! Mal abgesehen davon, dass die Leute nicht mal wussten, dass ich stumm war. Tonlos seufzend nahm ich Nicky das Teil ab und stopfte es achtlos in meine Hosentasche, wo es dank meiner engen Jeans, nur schwer hineinpasste.

 

Es klingelte und ich nahm widerwillig meine Tasche vom entgegen, die der Blonde mir schüchtern aushändigte. Ich brachte es nicht mal fertig, ihm dankbar zuzunicken, stattdessen folgte ich dem Pummel, der immer noch frustriert vor sich hin murmelte, in den ersten Stock. Ich merkte, wie die Blicke der Leute auf mir klebten und konnte mir gerade noch so verkneifen, einfach aus der Schule zu rennen und die Beiden stehen zu lassen. Ich würde das hier durch ziehen und dann würde ich mir etwas einfallen lassen müssen, beschloss ich und strich fahrig durch meine Haare, die meine Sicht versperrten.

 

„Wird schon nichts schief gehen“, munterte mich der Blonde auf und auch Zwergnase nickte bestätigend. „Und wenn doch, halte dich bitte von meinem Handy fern“, fügte dieser noch hinzu und betrachtete mich argwöhnisch, bevor er sich wieder seiner Konsole zuwandt. Bei mutwillig zerstörter Elektronik verstand er wohl keinen Spaß...

 

Ein großer, grauer Schopf drängte sich durch den überfüllten Flur und schloss die Tür auf, vor der wir warteten, sodass wir endlich eintreten konnten. Stickige Luft schlug mir entgegen und gedanklich seufzte ich laut auf. Die grauhaarige Lehrerin winkte mich lächelnd zu sich rüber und ich erwiderte es kläglich.

 

„Du bist sicher Sasha. Ich bin Frau Berger. Deine Mutter hat mir bereits von deiner ...“, sie suchte nach dem richtigen Wort. „Behinderung erzählt und ich hab mich ein bisschen schlau gemacht“, sagte sie und reichte mir ein kleines, schwarzes Tablet. „Der Vorstand hat sich bereit erklärt, ein neues Computersystem in diesen Klassenraum zu integrieren, sodass du deine Antworten einfach hier eintippen und an das Active-Board hier vorne schicken kannst“, erklärte sie.

 

Ich sah verwundert zu der weißen Leinwand, die funktions- bereit neben der Tafel hing. Etwas unbeholfen blickte ich den flachen Bildschirm in meinen Händen an und bemerkte, das Getuschel in den vordersten Reihen. Verstohlen sah ich dorthin und sofort herrschte Stille. Ja, ich würde es hier sicher mit einer total toleranten Klasse zu tun haben!

 

Kaum begab ich mich zu Owen und Nicky, kam auch schon der erste Kommentar. “Hey, warum kriegt die Emo-Schwuchtel so ein Ding und wir nicht?“, rief ein sportlicher Kerl aus der letzten Reihe. „Halten Sie sich zurück, Markus! Sasha kann nicht reden und wird über das Tablet mit uns kommunizieren.“ Abwartend sah sie in die Runde, doch niemand sagte etwas.

 

'Kommunizieren' hörte sich so an, als würde ich von einer anderen Welt stammen und so fühlte ich mich in mitten all der Blicke auch. Wie ein Außerirdischer, dachte ich sarkastisch und ließ mich auf den Holzstuhl neben Owen nieder, der Markus mit wütenden Blicken taxierte.

 

„So, wenn das jetzt geklärt ist, holen Sie bitte Ihre Bücher raus und schlagen die Seite 215 auf.“ Ihre Stimme strahlte die typische Autorität einer Lehrerin aus und alle folgten ihrer Anweisung, wobei ich mir ein Mathebuch mit Owen teilen musste.

 

 Die Stunde verging schleppend. Immer wieder hackte das System meines Tablets oder stürzte sogar ganz ab, sodass ich gezwungen war, konzentriert zuzuhören und zu hoffen, dass sich das Problem mit der Zeit von selbst beheben würde. Auch die anderen Schüler machten mir zunehmend schlechte Laune.

 

Besonders Markus, der es anscheinend auf den Blonden neben mir abgesehen hatte, ließ mich eine genervte Grimasse ziehen. Er hatte sich während der ersten 40 Minuten ein Magazin voller Papierkugel gebastelt und hatte nun große Freude daran, sie an uns auszuprobieren, sodass meine schwarzen Haare voller weißer Tupfer waren, die unangenehm an meiner Kopfhaut kratzten. Owen hatte es noch schlimmer getroffen: Sein komplettes Hemd war am Rücken von Kugeln übersät, die am Stoff hingen blieben.

 

„Markus, Sie werden nach der Stunde bitte hier bleiben und das Klassenzimmer wieder aufräumen, nachdem Sie es mit Ihren Spielereien vermüllt haben“, erklang die strenge Stimme Frau Bergers, die mit in den Hüften gestemmten Armen auf den Sportler hinabsah. Dieser nickte mürrisch und warf eine letzte Kugel zu uns herüber, die mich am Kopf traf, als sie sich wieder zur Tafel wandte.

 

Dass sie seine Aktion überhaupt bemerkt hatte, fand ich erstaunlich und so entschloss ich mich gönnerhaft, dem Unterricht interessierter zu folgen als zuvor. In der Tat war Mathe gar nicht mal langweilig...wenn man es verstand. Leider war ich nicht so wie Owen, der sich begeistert und mit voller Elan über die Übungsaufgaben her machte. Nicky schien auch keine besonders große Begabung für dieses Fach zu haben oder aber, er konnte sich nicht von seiner PS4 losreißen, die er heimlich unter dem Tisch versteckte. Ich tippte auf Letzteres! Gelangweilt fuhr ich durch meine schwarzen Zotteln, die schützend über meine Augen fielen und mich vor den stechenden Blicken der anderen abschirmten, die immer noch auf mir brannten.

 

 Ich wusste nicht, ob es nur an der Tatsache lag, dass ich neu war oder an meinen schwarzen Klamotten. Sie schienen generell einen Narren an mir gefressen zu haben... im negativen Sinne.

 

 Es klingelte zur Pause und ich sah dabei zu, wie alle mit einem erleichterten Lächeln ihre Sachen einpackten und aus dem Raum zischten. Owen und Zwergnase blieben sitzen, allerdings getrennt voneinander. Der Lockenkopf, weil er in sein Spielchen vertieft war und Owen, weil er immer noch an den Aufgaben rumprobierte.

 

Ich fletzte mich gemütlicher auf den Stuhl und verschränkte meine Arme vor der Brust, um bessere Aussicht auf das Gesicht des Blonden zu haben, das sich angestrengt runzelte. Kaum zu glauben, dass er sich das wirklich freiwillig antat...

 

 Seine Augenbrauen wanderten nach oben und seine Augen kniffen sich konzentriert zusammen, es wäre fast zum Lachen gewesen, so versteift wie er da saß. Ich stupste ihn an. Er starrte mit seinen blauen großen Augen fragend hoch, doch ich zuckte nur fordernd mit den Schultern. Anscheinend hatte er den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden, jedenfalls schob er verlegen das Buch zur Seite und drehte sich in meine Richtung, sodass wir uns ansehen konnten.

 

„Tut mir leid... i-ich“, unbeholfen kaute er auf seiner Unterlippe und Röte stieg ihm unaufhaltsam in die Wangen. „Ich wollte nicht unfreundlich sein“, beendete er seinen Satz und holte tief Luft. „Also: Wie fandest du deine erste Stunde in deiner neuen Schule?“, fragte er und lächelte schüchtern, sodass seine weißen Zähne zum Vorschein kamen. Ich schnappte mir das Tablet vom Tisch und tippte grüblerisch darauf herum. Ehrlich gesagt wusste ich gar nicht, was ich dazu sagen sollte.

 

Ganz okay war schließlich meine schlichte Erwiderung. „Du hast ziemlich lange überlegt für so eine Antwort“, kommentierte er neugierig und musterte mich nachdenklich. Ich zuckte wieder nur mit den Schultern. „Mach dir keine Gedanken über Markus, er... er ist einfach ein Idiot“, sagte er zögernd und klopfte mir aufmunternd auf die Schulter, nahm sie aber so schnell wieder weg, als hätte er sich an mir verbrannt.

 

Schnell wandte er sich wieder seinem Mathebuch zu, doch trotzdem konnte ich einen roten Schimmer auf seinen Wangen erkennen. Plötzlich hörte ich ersticktes Lachen, das von einem Husten getarnt wurde. Auch wenn Nicky so tat, als würde er nichts anderes außer seinem Videospiel mitbekomme, schien er über irgendwas amüsiert. Vielleicht fand er Owen's Schüchternheit witzig? Ziemlich fies, der Kleine konnte ja schließlich nichts dafür, dass er so zurückhaltend war, überlegte ich und runzelte ärgerlich die Stirn.

 

Andererseits war Nicky das sicher schon gewohnt und würde über so eine Unbedeutenheit wahrscheinlich nicht lachen. Außerdem war es überhaupt erstaunlich, dass er irgendwas außerhalb der Konsole wahrnahm, so fixiert wie seine grauen Augen auf den kleinen Bildschirm gerichtet waren. Ich seufzte tonlos und strich über das leicht schimmernde Display meines Tablets, das nun weiß aufleuchtete.

 

Ich war wirklich erleichtert, dass Frau Berger eine so gute Lösung gefunden hatet, auch wenn sie trotz allem immer noch umständlicher war als Gebärdensprache. Aber gut, ich würde mich wohl damit zurecht finden müssen, dachte ich grimmig. Polternde Schritte waren auf dem Flur zu hören und lautes Gelächter wehte zu uns herüber. Anscheinend kamen meine neuen Mitschüler gerade von ihrer Pause zurück. Was ein Glück...

 

Ich konnte sie jetzt schon nicht leiden. Na gut, vielleicht verallgemeinerte ich das Verhalten Markus', aber das Angestarre war nun wirklich unnötig. Meine Stummheit konnte man mir schließlich schlecht ansehen und außer meinem Emo-Style, war wenig Außergewöhnliches an mir. War es einfach der Umstand, dass ich neu war? In so einem Kaff natürlich ein Highlight, nachdenklich schürzte ich die Lippen.

 

Der braune Lockenkopf hinter uns räusperte sich lautstark und schien Owen damit irgendetwas mitteilen zu wollen, denn seine Augen wechselten zwischen mir und ihm hin und her. „Ähm, s-s-soll ich... vielleicht?“, zögerlich deutete Owen plötzlich auf meine Haare. An die hatte ich schon gar nicht mehr gedacht. Etwas unbeholfen entfernte er die gröbsten Kugeln, zerrte das eine oder andere Haar mit raus, wobei ich mich aber nicht beschwerte, und klopfte sich selbst einige davon vom Rücken. Um die Mitte zu erreichen, musste er sich ziemlich verrenken und so gab er schließlich auf.

 

Ich lehnte mich zu ihm rüber, zupfte das zusammengerollte Papier von seinem Hemd und fuhr danach noch einmal über seinen Rücken, um sicher zu gehen, dass ich keinen übersehen hatte. Owen zuckte leicht vor meiner Berührung zurück, hielt dann jedoch still. Ein besonders hartnäckiges Kügelchen hatte sich an Owens Nacken festgeklebt, sodass ich mit meinem Fingernagel vorsichtig versuchte, es von seiner Haut zu ziehen. Musste dieser Idiot, die Geschosse auch noch mit Flüssigkleber versehen? Typisch Sportler, kein Gehirn und dafür umso mehr Muskeln!

 

 Als sowohl Owen, als auch ich gereinigt waren, sah ich mich zum ersten mal wieder im Klassenraum um. Viele Schüler saßen bereits wieder auf ihren Tischen oder Stühlen, ihren Blick teils belustigt, teils angeekelt auf mich und meinen Tischnachbarn gerichtet. Hatte ich was im Gesicht hängen?

 

 „Hast du dir etwa einen neuen Freund geangelt, Schwuchtel? Gute Wahl, wenigstens kann er sich nicht beschweren, wenn du dein Ding in ihm versenkst!“. Markus lehnte an seinem Tisch, ein spöttisches Lächeln auf den Lippen, die Arme verschränkt und bedeutungsvoll mit den Augenbrauen wackelnd. Ein Raunen ging durch den Raum. Ich warf einen Blick auf Owen, der sich mit zittrigen Händen still durch die Haare fuhr, die Kommentare der anderen einfach ignorierend.

 

Ich konnte das beim besten Willen nicht verstehen. Warum sagte er denn nichts? Ich runzelte wütend die Stirn und warf dem Möchtegern-Klitschko einen eindeutigen Blick zu. Er sollte sich einfach verpissen und uns in Ruhe lassen! Und überhaupt, seine Bemerkungen waren ja wohl total daneben. Erstens war Owen nicht schwul und Zweitens war es echt unter der Gürtellinie, über meine Einschränkung her zu ziehen.

 

„Oh, willst du mir vielleicht etwas sagen? Na los, raus damit! Ich warte!" Mit langsamen Schritten kam er näher, beugte sich zu uns runter und je länger es still blieb, desto größer wurde sein Grinsen. Ich funkelte ihn böse an, erhob mich von meinem Stuhl und stütze mich mit meinen Händen auf die Tischplatte, sodass wir beide auf gleicher Höhe waren.

 

„Was willst du jetzt machen, he? Mir eine reinhauen? Wahrscheinlich würdest du dir selbst dabei mehr wehtun als mir und...“ Das Letzte ging in einem Stöhnen unter. Ich hatte mich während seiner Rede gerade hingestellt und schließlich, als es mir zu viel wurde und die Wut mir die Luft abschnürrte, mit der Faust ausgeholt. Meine Knöchel pochten schmerzhaft und ich konnte das Blut unter der Haut pulsieren spüren, doch Markus war eindeutig schlechter dran als ich. Aus seiner unteren Lippe tropfte Blut, das eine dünne Spur bis zu seinem Kinn zog. Überrascht tastete er mit seinen Fingerspitzen über sein Gesicht und zog dann scharf die Luft ein.

 

„Was... ? Du Bastard!“, schrie er wütend und wollte schon auf mich zustürzen, doch einige der Jungs, die hinter ihm standen, hielten ihn eisern an seinen Schultern fest. „Halt dich zurück, Ärger kannst du nicht gebrauchen“, zischte ihm ein braunhaariger Kerl von der Seite zu, musterte mich dabei aber mit verhärteter Miene. Markus rümpfte angewidert die Nase und riss sich von seinen Freunden los. „An der Schwuchtel werde ich mir nicht die Finger schmutzig machen“, antwortete er mit zusammengebissenen Zähnen. Es war ihm anzusehen, dass er sich zusammenreißen musste, um mir nicht eine zu verpassen. Und auch ich musste an mich halten, um nicht wieder auf ihn loszugehen. Dieses hochnäsige Arschloch könnte ich noch Stunden lang verprügeln, doch leider musste ich mich wohl mit diesem einen Schlag begnügen.

 

 Dass die Situation so ausgeartet war, würde mir sicherlich Probleme bereiten. Hatte ich mir nicht vorgenommen, nett zu allen zu sein, damit ich nicht vollkommen alleine bin? Tja, ich würde sagen: Chance vertan! Ich hatte dem beliebtesten Typen hier eine reingehauen, doch bereuen tat ich es nicht. Der Typ war einfach ein intoleranter Idiot, der wahrscheinlich nicht mal gut genug für die 3. Klasse wäre. Es verschaffte mir Genugtuung, wie er mit einem Taschentuch über die Lippe tupfte, bei dem Versuch, die Blutung zu stillen. Ich warf einen Blick zu Owen, der geschockt auf meine gerötete Hand sah und und immer noch zitterte. Vor Wut oder Angst, konnte ich schlecht beurteilen, aber es sah eher nach Ersterem aus, denn seine Stirn war stark gerunzelt und seine Wangen, wie häufig, gerötet.

 

Ich streckte leicht meine Finger und zuckte zusammen, als ein unangenehmes Knacken ertönte und der Schmerz sofort schlimmer wurde. Das würde wohl blaue Flecken geben. Wie ich die meiner Mutter erklären sollte, war mir noch ein Rätsel, aber das würde wohl das kleinere Übel werden, denn Markus war kein Typ fürs Aufgeben. Und so wie ich ihn einschätzte, war es weder das erste mal, dass er Owen beleidigt hatte, noch das letzte mal.. Für eine körperliche Auseinandersetzung war der Blonde eindeutig zu schwach und wenn ich mal nicht zur Stelle wäre... Ich schüttelte mich gedanklich. Daran wollte ich nicht denken. Hoffentlich hatte ich es damit nicht schlimmer gemacht, dachte ich besorgt.

 

 Nicky räusperte sich und ich wand mich ihm nachdenklich zu. “Brauchst du ein Kühlakku? Deine Hand sieht nich' so gut aus.“ Seine grauen Augen waren jedoch stur auf Owen gerichtet und nicht auf mich. Ich schüttelte den Kopf, es würde auch so gehen.

 

 „Sicher? D-Du... hast doch bestimmt Schmerzen“, kam es nun auch von dem Brillelträger, der sich auf die Unterlippe biss. Ich zuckte unbestimmt mit den Schultern, was er als nein deutete.

 

 Auf dem Flur erklangen klackernde Schritte, die wohl von einer Frau stammen mussten. Diese kam stürmisch herein, pflanzte sich auf den Stuhl und ließ ihre Tasche neben sich und dem Pult fallen. Ein fröhliches Seufzen entfuhr ihrem breiten Mund, der merklich zu einem angespannten Dauerlächeln verzogen war.

 

Alles an ihr wirkte steif, selbst ihre Augenbrauen waren zu einer steinernen, geschwungenen Linie gezupft worden. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich sie auf Anhieb sympathisch finden oder doch eher als Plastikpuppe abstempeln sollte. Komisch, dass solche Leute einen Lerhberuf ergriffen. Sie könnte gut Kosmetikerin sein oder aber auch Psychologin. Ein Beruf, der eine intuitive Freundlichkeit erforderte. Sie zückte einen Bleistift, notierte scheinbar etwas in einem kleinen Ringblock, radierte wieder etwas weg, und sah schließlich in die Runde, wobei sie an meinem Gesicht etwas länger hängen blieb, bevor  sie weiterglitt.

 

„Wie ich sehe, sind alle anwesend, manche mehr und manche weniger heil“, sie warf Markus einen abwägenden Blick zu, der jedoch nur entnervt schnaubte. Sie mochten sich anscheinend nicht sonderlich. Na gut, keine besonders erstaunliche Feststellung. Schüler wie er, waren generell unbeliebt bei Lehrern, denn sie bedeuteten nur Ärger und unnötig Arbeit.

 

 „Wir haben letzte Stunde den Film 'die Welle' angefangen und werden ihn heute beenden. Sina, wenn Sie bitte die DVD einlegen könnten?“. Eine zierliche Brünette stand auf und nahm die silber glänzende CD entgegen, um sie in den alten Rekorder zu schieben. Der Fernseher an der Wand blinkte auf, schwarz/weiße Punkte erschienen, das Menü wurde aufgerufen und der Film vorgespult.

 

Die Schüler setzten sich sichtlich entspannter hin und auch ich rutschte in eine bequemere Haltung, aus dem Augenwinkel Markus beobachtend, der mir immer wieder böse Blicke zu warf. Meine Miene verhärtete sich, als er einen bedeutungsschwangeren Blick auf Owen warf. Er würde doch wohl nicht... ?

 

Doch würde er, ein breites Grinsen legte sich auf Markus Lippen. Dieser Arsch! Und ich bin auch noch daran schuld, dachte ich zähneknirschend. „Alles gut?“, flüsternd beugte sich Owen zu mir rüber. Ich nickte angespannt. Wenn ich nicht aufpasste, dürfte der Kleine meinen Fehler ausbaden und das war nun wirklich nicht meine Absicht. Sollte ich ihn warnen? Wahrscheinlich wusste er selbst nur zu gut, dass Markus nicht ohne war.

 

Laute Musik dröhnte aus den Lautsprechern und ich wand mich dem Film zu, dessen Anfang ich nicht kannte. „Hey, Schwuchtel, ist das nicht genau dein Ding?“, kam es grölend von Markus, als einige Kerle in knappen Badehosen aus dem Wasser stiegen. Der Blonde wurde rot, schüttelte aber entschieden den Kopf.

 

„Ach, nein? Stimmt, du stehst ja eher auf Emos, die ihren Mund nicht aufkriegen“, fügte der Braunharrige hinzu, der Markus vorhin davon abgehalten hatte, mich anzuspringen. Dieser Kommentar hatte die Aufmerksamkeit der Lehrerin geweckt und der Film wurde sofort gestoppt.

 

„Okay, Markus, Henrie, gehen Sie bitte zur Direktorin. Für heute haben Sie bereits genug Ärger angestiftet. Und vergessen Sie nicht, die Papierkugeln aufzuheben, und zwar nach der Schulzeit“ Die strenge Stimme der mir unbekannten Frau führte zu einem genervten Gebrummel, der beiden Jungs, die sich jedoch schlussendlich erhoben und Richtung Direx abschwirrten. Jedoch nicht, ohne mir provozierende Blicke zuzuwerfen. Ich schluckte hart. Das würde noch öfter Reibereien geben.

 

 Der Film lief wieder an, doch ich hörte nur mit halbem Ohr zu. Ich war zu beschäftigt damit, darüber nachzudenken, wie ich Owen aus der ganzen Sache rausziehen konnte, denn der Kleine würde in mitten der Möchtegern-Klitschkos jämmerlich untergehen und sich wahrscheinlich noch ernsthaft verletzen.

 

Das Schlimme war nur, dass ich dann daran schuld war und ich wusste jetzt schon, dass ich noch in zwanzig Jahren mit Schuldgefühlen rumrennen würde, sollte ihm etwas passieren. Ich hatte wenig Einfluss, schließlich war das heute mein erster Tag, der ehrlich gesagt auch eher mäßig lief. Ich sah zu dem Blonden rüber. Letztendlich musste er er es selber schaffen.

4. Kapitel

Der Nachmittag lief ganz gut. Nach der Schule waren wir mit dem Bus wieder heim gefahren und es stellte sich heraus, dass Nicky nur zwei Straßen weiter wohnte und die beiden normalerweise immer zu Zweit zum Bus liefen, heute morgen allerdings darauf verzichtet hatten. Warum, wusste ich nicht, aber aus irgendeinem Grund zog eine leichte Röte auf Owens Wangen, als ich ihn per Zettel danach gefragt hatte.

 

Zwergnase verabschiedete sich nach den ersten 100 Metern, da er in die andere Richtung musste, versprach aber, am nächsten Tag mich zusammen mit Owen abzuholen. Dieser schwieg die restliche Zeit über, bis wir schließlich Zuhause angekommen waren und uns gegenüber standen. Es war etwas unangenehm, so still dazustehen.

 

Owen räusperte sich. „Hast du Lust, morgen mit mir und Nicky in den Skatepark zu gehen?“ Ich hob überrascht und verwundert die Augenbrauen. Er und Skaten? Nicky und skaten? ICH und skaten? „A-also wir skaten natürlich nicht, wir hängen da nur ein bisschen ab“, warf er eilig ein, als er meinen Blick sah und stutzte seine Brille zurecht. 'Abhängen' passte so gar nicht in den Sprachgebrauch des Blonden, bemerkte ich schmunzelnd und nickte schnell, damit er nicht dachte, dass ich nicht daran interessiert wäre.Würde sicher lustig werden und eine angenehme Abwechslung nach der Schule. Ich könnte jetzt schon kotzen, wenn ich daran dachte, dass ich die nächsten zwei Jahre mit diesen Muskelprotzen verbringen würde.

 

„Okay, dann bis morgen, schätze ich“, murmelte er und fuhr sich nervös durchs Haar. Ich nickte langsam und griff in meine Hosentasche, wo sich ein einzelner, loser Schlüssel befand und schon die ganze Zeit über unangenehm an meinen Oberschenkel drückte. Ich hob noch einmal grüßend die Hand und drehte mich zur Haustür, um in mein neues Zuhause zu kommen.

 

Drinnen schlug mir stickige und abgestandene Luft entgegen. Meine Mutter hatte wohl vergessen, die Fenster aufzumachen und über Mittag die Rollläden runterzulassen, dachte ich augenverdrehend. Schnell schlüpfte ich aus meinen Schuhen, ließ die Tasche auf die Fliesen gleiten und eilte ins Wohnzimmer, wo sich eigentlich meine wertvollste Waffe befinden sollte: mein Ventilator. In Zeiten wie diesen, unverzichtbar, umso schlimmer, dass in keinem Winkel auch nur eine Spur des schwarzen Monstrums war!

Das Teil war wirklich ein Goldstück, ziemlich teuer, aber dafür auf fünf Stufen verstellbar und sehr effektiv. In unserer Wohnung in Hamburg gab es dank des Phänomens Altbau leider keine Klimaanlage und Rollos wurden als überflüssig erachtet. So kam es dazu, dass ich einen ganzen Monat lang sparte, um mir einen Ventilator zu kaufen, der einigermaßen stabil war.

 

Und nun stand mir der Schweiß auf der Stirn, im doppeldeutigen Sinne.

Wo war dieses Ding nur? Ich war mir ziemlich sicher, dass ich es zu den Kartons ins Wohnzimmer gestellt hatte, doch wie ich nur allzu deutlich erkennen konnte, war es nicht da! Grübelnd kaute ich auf meiner Unterlippe und strich unentwegt über mein Hemd. Hatte Mum sich vielleicht daran vergriffen? Zuzutrauen wärs ihr, aber daran würde ich lieber nicht denken wollen. Mum hatte nämlich kein Glück bei solchen Geräten. Egal was sie in die Hand nahm, spätestens nach einer Stunde war es reif für den Schrottplatz.

 

 Vorsorglich ging ich zur Terassentür, hinter der sich neben einem kleinen Garten, auch diverse Müllentsorgungsmöglichkeiten befanden. Auf Socken tappste ich die roten Steine bis hin zu unserer Mülltonne und spähte vorsichtig hinein. Außer Apfelsafttüten und bunten Verpackungen, nichts zu sehen. Ziemlich erleichtert atmete ich aus. Wenigstens das konnte ich also ausschließen. Die Frage war nur, ob sie es im Falle eines Total-Schadens überhaupt in die Tonne schmeißen würde. Vielleicht lag es, in tausend Einzelstücke zerteilt, in irgendeiner Ecke und gammelte vor sich hin.

 

 Eiligen Schrittes ging ich zurück ins Haus und besah mir das Chaos dort genauer. Rund zehn unausgepackte oder halbleere Kartons stapelten sich übereinander und ließen gerade so noch Platz für Gänge, die ich einem nach dem anderen abging, auf der Suche nach schwarzem Metall. Vergeblich. Ich wusste nicht genau, ob das ein gutes, oder ein schlechtes Zeichen war.

 Ich schluckte hart. Na gut, dann müsste es halt ohne gehen. Bis ich das Teil, heil oder defekt, gefunden hätte, würden womöglich noch Stunden vergehen, also ging ich in die Küche und schenkte mir erstmal ein Glas kühles Wasser ein.

 

 Auf dem Herd stand ein großer, blauer Topf, der üblicherweise für Essen genutzt wurde, das mehr als einen Tag überstehen sollte. Eine unausgesprochene Regel, die ich zu meinem Bedauern schon oft genug gebrochen hatte. Ich verzog das Gesicht. Ja, das Theater war groß gewesen. Ich erinnerte mich noch gut daran, wie ich einmal einen ganzen Topf Chilli-Concane aufgegessen hatte und auch an die Standpauke, die Mum, mit entfernten Verwandten im Nacken, mir daraufhin gehalten hatte.

 

 Ich hob den Deckel an und leckte mir hungrig über den Mund. Käse-Lauch-Suppe, lecker. Ich holte einen tiefen Teller aus dem Schrank und füllte eine große Portion hinein. Wir waren schließlich nur zu zweit und es war unwahrscheinlich, dass auch diesesmal Verwandten zu Besuch kamen.

Tja, zu früh gefreut. Gerade als ich mein Mittagessen in die Mikrowelle stellen wollte, hörte ich laute Schritte auf der Treppe und zuckte erschrocken zusammen. Ein Einbrecher? Oder war Mum heute noch Zuhause geblieben? Ich ließ den Teller sinken und schlich leise rüber zur Tür, die mich vom Flur trennte.

 „Sasha, Schatz, bist du das?“, kam es plötzlich kehlig und ich ließ meine Schultern erleichtert hängen. Kein Einbrecher, nur Tante Rosi. Keine wirkliche Verbesserung, aber wenigstens bestand keine Lebensgefahr.

 Ich seufzte und stellte mich dem Unausweichlichem.

 

„Ach, Gott, Sasha! Du bist wirklich groß geworden. Und die Klamotten...“, sie zog eine missmutige Schnute,“ sind auch anders. Komm her, wir haben uns schon so lange nicht mehr gesehen“. Lächelnd stieg sie auch die letzten Stufen hinunter und breitete freudig die Arme um mich aus. Zaghaft erwiderte ich die Umarmung und trennte mich, so schnell es die Höflichkeit erlaubte, von ihrem molligen Körper. Tante Rosi war die acht Jahre ältere Schwester von Mum, die, zugegeben, echt okay war. Sie hatte einen ziemlichen Putz-Tick und nach jeder Berührung mit anderen Menschen schrubbte sie sich die Haut wund, aber sonst war sie wirklich ziemlich nett.

 

Sie tätschelte einmal mein schwarzes Haar und machte sich dann auf den Weg in die Küche, wo sich das nächste Waschbecken befand. Während sie das Wasser mit der Seife vermischte, musterte sie mich genauer. „Seit wann hast du denn die Piercings? Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass Ela sowas Unhygienisches erlaubt haben soll...“

 

'Ela' war die Kurzform von 'Michaela' und gemeint war damit meine Mutter, die erstaunlicherweise überhaupt nichts gegen meinen Schmuck gehabt hatte. Im Gegensatz zu meinem Vater, der mich eine Woche lang dafür ignoriert hat. Keine besonders große Abwechslung, wenn man bedenkt, dass er sonst auch nie ein Wort mit mir wechselt.

 

 Seit letztem Sommer, gab ich ihr zu verstehen, auf ihre Bedenken ging ich jedoch nicht ein. Tante Rosi war eine der wenigen Menschen in meiner Familie, die sich meiner Behinderung angepasst und die Gebärdensprache erlernt hatten. Obwohl wir uns eigentlich so gut wie nie sahen, übernahm sie bei unseren Begegnungen automatisch die Mutterrolle, die ihr ausgesprochen gut stand. Sie tadelte mich für mein fehlendes Benehmen beim Essen, quetschte mich über meinen ersten Schultag aus und wollte wissen, ob ich denn schon Freunde gefunden hätte. Die typischen Fragen eben.

 

 „Und? Wie sieht es mit den Mädels aus? Hat dir eine schon gefallen?“.Sie zwinkerte gespielt verschwörerisch, doch ich sah auch den wachsamen Blick in ihren Augen. Ich schüttelte mit großen Augen den Kopf. Nein, keins von den Mädchen würde mir je den Kopf verdrehen, das stand fest! Zu den Muskelprotzen waren auch die passenden Mädchen anwesend gewesen, das hatte ich bemerkt, doch interessiert hatte es mich nicht.

 

 „Mmh. Ist vielleicht auch besser so“, murmelte Rosi und rührte nachdenklich in ihrer Suppe rum, wobei ihr kurzes, braunes, schon grau meliertes Haar hin und her schwenkte. „Deine Mutter hat mir übrigens einen Zettel geschrieben. Wie es aussieht wird sie erst gegen Abend wiederkommen und das Chaos dort drüben halte ich keine Sekunde länger aus. Für die nächsten fünf Stunden wirst du mich also wohl nicht wieder sehen“, lachte sie und stand abrupt von ihrem Stuhl auf, um den Teller in die Spülmaschiene zu stellen. Meinen nahm sie auch gleich mit.

 Ich nickte und lächelte sie wissend an, bevor ich mich aus der Küche verdrückte und samt Schultasche die Treppe hochmaschierte, mitten rein in die Brütenhitze. Schnaufend zuppelte ich an den Knöpfen meines Hemdes und zog es über meine Schultern, die Hose wechselte ich schnell gegen bequeme Boxershorts, die ich mir auch nur überzog, falls Rosi auf die Idee kam, in meinem Zimmer den Staubwedel zu schwingen. Alles schon erlebt...

 

Vor die Fenster zog ich die Vorhänge, damit die Sonne nicht direkt in den Raum schien, die Rollläden waren (natürlich!) defekt. Mum würde ich davon wohl nicht erzählen, einen Anruf beim Techniker konnten wir uns nach dem teuren Umzug sicher nicht leisten und von selber würde sie hoffentlich auch nicht darauf kommen. Mit einem tonlosen Seufzen ließ ich mich auf mein Bett sinken. Ich schnappte mir den Zettel vom Nachttisch, der schon seit gestern Abend dort lag und mit meiner unsauberen Schrift vollgekritzelt war. Ich wusste nicht wieso, aber ein stilles Lächeln legte sich auf meine Lippen. Owen schien mir ein guter Kerl zu sein und die Aussicht auf einen richtigen Freund schien mir gute Laune zu bereiten.

 

Bis zum Abend blieb ich in meinem stickigen Kämmerchen und kam auch erst wieder runter, als Mum die Tür öffnete und Tante Rosi damit endgültig aus dem Haus verschwand, sogar ohne große Abschiedsszene. Die blonden Wuschellocken meiner Mutter standen zerzaust in alle Richtungen ab, während sie sich aus ihrer jacke schälte, die dank des Wetters wie eine zweite Haut saß. Warum sie sich überhaupt erst darein gezwängt hatte, war mir ein Rätsel.

 

 „Hey, mein Großer! Na, wie war die Schule?“, fragte sie und reichte mir zwei Tassen Tee, die ich kurzerhand auf dem Tisch platzierte.

 

 Okay , schulterzuckend nippte ich an dem heißen Getränk und versuchte keine Miene zu verziehen, während sie mich genaustens musterte. Als ich ihrem stechenden Blick schließlich auswich, konnte ich beinah die Erkenntnis in ihren Augen aufblitzen sehen. „Na gut, wie wars wirklich?“, hackte sie mit ernster Stimme nach.

 

 Ich hab mein Handy kaputt gemacht , gestand ich, auch wenn das nicht das war, was sie wissen wollte. „Du hast was? Sasha... ich... das!“, sie schnaubte, „Lass uns das später besprechen. Also, was war jetzt? Hattest du Ärger mit Owen?“ Ihre Augen bekamen genau den gleichen Ausdruck wie heute Morgen und ihre Stimme klang genauso tadelnd.

 

Nein, alles gut. Da ist nur so ein Typ in der Schule, der es auf den Bl... Owen abgesehen hat. Ich wurde rot, als ich ihr beinah meinen Spitznamen für Owen gezeigt hätte, fing mich aber schnell wieder. „Warum hat er es auf ihn abgesehen?“ Aufgeregt zwirbelte sie eine Strähne um ihren Finger, ließ sie los, nur um sie dann wieder einzufangen.

 

Ich zuckte mit den Schultern und nahm einen großen Schluck aus der Tasse und verzog leicht das Gesicht. Kaffee wäre mir lieber gewesen, ich war nun mal kein Tee-Trinker. Mum hob skeptisch eine Augenbraue, doch ich winkte ab. Es würde nichts bringen die Situation mit ihr zu diskutieren.

 

Seufzend ließ sie einen Löffel Zucker in die Tasse wandern. „Na, wenn du meinst. Ich gehe gleich ins Bett, der Tag war anstrengend. Für so ein kleines Krankenhaus ist es eine menge Arbeit“, schmunzelnd erhob sie sich samt Tee vom Stuhl, gab mir einen Kuss auf die Stirn und ging in Richtung Schlafzimmer, sodass ich ganz alleine in der Küche saß.

5.Kapitel

 Ich lehnte mich auf meine Ellenbogen zurück, schloss genüsslich die Augen und ließ mir die Sonne auf den Pelz scheinen, während knatternde Räder um mich herum düsten und an meinen Nerven zerrten. Wir hatten uns auf der kleinsten Rampe im Skaterpark niedergelassen, dort, wo wir niemandem im Weg waren.

 

Das Vibrieren der Boards spürte man leider auch noch durch das Metall hindurch. Aber gut, damit konnte ich leben. Wir waren direkt nach der Schule hierhergelaufen, es war nicht weit von Zuhause entfernt, vielleicht fünf Minuten. Markus und sein komischer Freund waren nicht im Unterricht erschienen, angeblich waren sie für heute beurlaubt worden. Hatten schon vorher viel auf dem Kerbholz gehabt, jedenfalls laut Nicky, der bereitwillig über ihn ausgeplaudert hatte.

 

 Dieser hatte sich nach den ersten zehn Minuten von uns verabschiedet, seine Mutter hatte offenbar den geheimen Vorrat unter seinem Bett entdeckt, der aus FSK 18 Spielen bestand. Es war also Not am Mann gewesen. Nun saßen Owen und ich alleine hier, genossen das Wetter, das ausnahmsweise nicht ganz so drückend und damit angenehm war und beobachteten die Skater, die in Wellenbewegungen durch den Park fuhren.

 

Merkwürdig entspannend hier, dachte ich schmunzelnd und reckte meinen Kopf dem wolkenlosen Himmel entgegen. Obwohl, so wolkenlos war er gar nicht, stellte ich stirnrunzelnd fest. Vereinzelt hatten sich größere graue Wolken gebildet und durchbrachen das strahlenden Hellblau. Der Wetterbericht hatte für heute Nacht ein Sommergewitter vorhergesagt, aber ich wollte dem keinen Glauben schenken, zu schön war das prickelnde Gefühl auf meiner Haut und solange ich währenddessen in meinem Bett schlummern konnte, dürfte von mir aus auch die Welt untergehen.

 

Ich betete meinen Kopf auf meine verschränkten Unterarme und spürte das kalte unnachgiebige Metall in meinem Rücken, als ich schläfrig die Augen zusammenkniff. Mein Atem wurde ruhiger, der Herzschlag langsamer. Ich überlegte gerade ein wenig zu schlummern, als ich zarte Finger flüchtig auf meinem Gesicht spürte, die zögerlich meine Konturen nachfuhren. Meine Wangenknochen entlang, hin zu meinem Kinn, wieder hoch zur Nasenspitze, die Stirn, die Augenbrauen.

 

Ich spürte die Hitze, die durch die Haut des anderen auf meine drang und den Fingernagel, der ab und zu leicht meine Oberlippe streifte. Eine Gänsehaut überflog meine Unterarme und mein Herz hämmerte in der Brust. Ich blinzelte verblüfft durch meine schweren Lider in die erschrockene Miene von Owen, der augenblicklich in seiner Bewegung verharrte. Still sah ich in seine blauen Augen, regte mich nicht, bis er sich schließlich zurücklehnte und aus meinem spärlichen Blickfeld verschwand.

 

 Es schien als würden die Stellen an denen er mich berührte brennen und ich war mir ziemlich sicher, dass meine Gesicht schiller rot glänzte. Genauso wie seins, bemerkte ich, als ich mich hastig aufrichtete und mich zu dem Blonden umdrehte. „Ich... “, er stockte und sah auf den Boden, sodass die hellen Haare sein Gesicht verdeckten, „t-tut mir leid“.

 

Nervös knetete er seine Hände und ballte sie schließlich zu Fäusten. Ratlos musterte ich ihn, sollte ich ihm etwas schreiben? Meine Hand wanderte zu dem Kugelschreiber, den ich vorsorglich in der Hosentasche verstaut hatte, und zog ihn heraus. Der Stift wog schwer in meiner Hand. Ich wusste nicht was ich ihm sagen wollte.

 

 „Lass mal, ich geh besser“, hauchte Owen mit einem Blick auf den Kulli und stieß sich von der Rampe ab, sodass er mit einem Schwung auf dem Boden landete. Tränen glitzerten in seinem Augenwinkel und ich streckte schon die Hand nach ihm aus, ließ sie dann jedoch wieder sinken.

 

Ich sah ihm bedröppelt nach wie er hinter der Ecke verschwand und fragte mich am laufenden Band, was gerade geschehen war. Meine Beine baumelten in der Luft und ich sah hinüber zu den Skatern, die weiterhin ihre Runden drehten.

 

 War Owen vielleicht... ? Gab es überhaupt eine andere Erklärung für sein Verhalten, der Abend in meinem Zimmer kam mir in den Sinn, wie er auf meine Brust gestarrt hatte und auf meine Berührungen reagierte. Die Rufe und Blicke der anderen Schüler. Wut kam in mir hoch, gemischt mit bitterer Verzweiflung. Warum hatte er mir denn nicht gesagt, dass er schwul ist?

 

Allerdings hatte ich bis auf das eben Erlebte keine Beweise dafür, vielleicht wollte er ja nur was ausprobieren, oder es gab irgendeine andere logische Erklärung dafür? Träge schüttelte ich den Kopf und fasste sachte an mein Gesicht, um die Linien seiner Berührungen nach zufahren, während ich mein Blut in den Ohren rauschen hörte. Ich hatte mich eindeutig zu wenig gewährt, kam mir schleichend in den Sinn.

 

 Ein Skater drehte mehrere Runden um meine Rampe und ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu, sah er denn nicht, dass ich nachdachte? Knurrend sprang ich auf den Boden und schlenderte in einem gemächlichen Tempo zurück nach Hause. Meine Gedanken rasten und ich brauchte Ruhe, um mir Klarheit zu verschaffen und die ein oder andere Theorie aufzustellen, was mit dem Kleinen los war. Es war gerade mal drei, als ich die Haustür aufschloss, einen flüchtigen Blick nach nebenan werfend, und sie mit einem lauten Knall in den Rahmen knallen ließ.

 

 Hektisches Treiben in der Küche oder eher das daraus resultierende Geklapper klang durch den Flur und ich sah kurz durch den Türspalt, um sicher zu gehen, dass Tante Rosi noch lebte. Quietsch lebendig wie es schien, rannte sie durch das Zimmer, und versuchte zu retten was zu retten war. Ein verbrannter Geruch stieg mir in die Nase und ich schlüpfte mit einem Seufzen in die Küche.

 

 Das Hähnchen, das was davon übrig geblieben war, schmiss ich mit einem angeekelten Gesichtsausdruck in den Mülleimer und stellte die Pfanne ins Waschbecken, aus dem nun Dampfschwaden stiegen. „Danke, ich glaube wir holen uns am besten einen Salat, was meinst du?“, schnaufend stemmte sie eine Hand in die Hüfte und sah verträumt auf das Werk ihres Schaffens.

 

 Als würdest du die nächsten Stunden diesen Raum überhaupt verlassen können, mit einem 'platsch' lief kaltes Wasser auf das heiße Metall und ich kramte einen Schwamm aus dem Hängeschrank hervor, bevor ich heißes nachlaufen ließ. „Lass, ich mach das schon“, murmelte sie leise, strich ihr Haar zurück und nahm mir den gelben Schaumstoff aus den Händen. Das Schweigen hing zäh und klebrig in allen Ecken. Das Gesagte nagte offenbar an ihr und ich leckte erschöpft über meine trockenen Lippen. Der Tag hatte eine schlechte Wendung genommen und lag mir nun merklich schwer im Magen.

 

Ich ließ Rosi allein zurück und schmiss meine Jacke grob über einen Hacke im Flur, bevor ich in mein Zimmer eilte. Mit Tränen in den Augen. Ich wusste nicht wo sie auf einmal herkamen, sie waren einfach da. Salziges Wasser, das Tropfen für Tropfen über meine Wangen lief und schmierige Spuren hinterließ. Meine Lippen bebten und ich krallte mich an der Türklinke fest, um nicht einfach zu Boden zu sinken.

 

Was ein scheiß Tag, was ein scheiß Leben! Warum musste mir auch immer so ein Mist passieren? Das mit Owen, oder viel mehr, das was es ausgelöst hatte, wurde mir mehr und mehr bewusst. Mein Gesicht kribbelte immer noch wie verrückt, ich sollte so nicht fühlen, verdammt! Ich hatte mir vorher doch auch nicht solche Gedanken gemacht, ärgerlich schlug ich mit den Knöcheln gegen die Wand und ließ sie langsam daran herunter gleiten.

 

 Ich setzte mich auf die hölzerne Kante meines Bettes und vergrub mein Gesicht stöhnend im Kissen, während meine Füße ihren Weg unter die kuschelige Decke suchten. Es war eigentlich zu warm dafür, aber ich genoss das Gefühl komplett in Stoff gehüllt zu sein. Irgendwie heimelig. Owen war mein Freund, neben Nicky mein Einziger, und ich wollte ihn nicht verlieren, das stand fest.

 

Wenn er schwul wäre, würde ich damit klarkommen, und wenn nicht, dann musste er mir eben Rede und Antwort stehen, was das Gefummel sollte. So oder so, würde er mir Rede und Antwort stehen müssen. Selbst wenn er schwul war, hatte er mich nicht so anzugrabbeln! Was dachte sich dieser Typ denn bitte? Ne Frechheit war das! Und dann lässt der mich auch noch einfach da stehen, was, zugegeben, mich mehr verletzte als alles andere.

 

 Seufzend rollte ich mich auf den Rücken und sah aus dem Fenster hinaus in den Himmel. Der Regen würde nicht mehr bis heute Abend warten, jeden Moment würde die erste Wolke brechen und Wasser auf die Erde tröpfeln lassen. Das wars dann wohl mit dem schönen Wetter.

 

Adieu Sonne, willkommen Dunkelheit!

                                                                                                                                                     

Owen:

 

Das Licht des Mondes strahlte auf meine blasse Haut, ließ sie leuchten und ich strich vorsichtig darüber. Die funkelnden Sterne spiegelten sich im Fensterglas und ich bettete meinen Kopf auf meinen Unterarm, betrachtete diese wunderschöne Nacht. Unten auf der Straße flackerte die alte Straßenlampe, ein rostiges Ding, schwaches Licht, würde bald ausgetauscht werden müssen. Meine Finger glitten über meinen Bauch, umkreisten fasziniert die kleine Kuhle und erkundeten die kleinen Härchen, die in meinen Pants verschwanden.

 

 Ich lag schon seit Stunden auf dem Rücken, sah wie hypnotisiert nach draußen und dachte nach. Mittlerweile war mein Kopf wie leergefegt, nur ein einziger Gedanken blieb. Wie schön wäre die Nacht, noch schöner als jetzt, wenn der Schwarzhaarige neben mir läge, seine Hände mit meinen verschränkt und die grünen Augen nur auf mich gerichtet.

 

 Lächelnd strich ich durch mein Haar, es war fast schon albern wie sehr ich mich in diesen Jungen verliebt hatte. In seine kleinen Grübchen, in die langen schmalen Finger, die allesamt einen merkwürdigen Knick in der Mitte hatten, in seinen Mund, dessen samtweiche Lippen dank des kalten Metalls in der Sonne glitzerten.

 

Ob sie wohl so schmeckten, wie ich es mir ausmalte? Nach Erdbeere oder doch eher nach Minze. Ich kniff meine Augenlider zusammen, biss sehnsüchtig auf meine Unterlippe, während ich daran dachte, wie meine schwitzigen Fingerkuppen sein Gesicht erkundet hatten. Wie es sich angefühlt hatte, seine Haut auf meiner.

 

Gefangen in einer Blase der Stille, keine Regung, sein Duft der mir zu Kopf stieg, warmer Atem gegen mein Gesicht, ein lebendiges Herz so nah bei meinem. Wie das Blut überall hingeflossen war, nur ausnahmsweise mal nicht in mein Gesicht und seine Oberlippe, die ich nur flüchtig berührt hatte, aber mir trotzdem den Atem raubte.

 

 Und wie es sich anfühlte, als diese Blase zerplatzte, das Rattern der Räder wieder zu mir durchdrang und Sashas grüne Augen plötzlich in meine blickten. So erschrocken, verblüfft. Und der Schock, als ich realisierte, was ich getan hatte. Salziges Wasser trat unter meinen Wimpern hervor und ich schlucktevergeblich den Klos hinunter, der sich gebildet hatte. Ich würde ihn nicht mehr ansehen können, so peinlich war mir das, was passiert war. Bitte, Gott, lass mich sterben, hatte ich nur gedacht.

 

 Mein Kiefer knackte, als ich meine Zähne gewaltsam aufeinander biss.

 Und als er dann nach seinem Stift griff, war der Schalter endgültig umgekippt.

 

 Schluchzend drehte ich mich auf die Seite, starrte an die leere weiße Wand, die vom Mondlicht beleuchtet wurde und rang nach Luft. Tränen liefen auf das Kissen, hinterließen schmierige Spuren auf meinen Wangen. Warum hatte ich meine Hände nicht bei mir behalten können? Warum musste ich mich ausgerechnet in den Menschen verlieben, der wirklich mit mir befreundet sein wollte? Warum, warum, warum, verdammt!

 

Dutzende Nächte hatte ich in diesen grässlichen Clubs verbracht, in denen schwitzenden, männliche Körper sich aneinander rieben und sich zu der Musik bewegten, als hätten sie nie etwas anderes gemacht. Ich hatte mich dort nie wohl gefühlt, saß immer alleine an der Bar, trank mein Bier, und hoffte, dass irgendein tollkühner Kerl auf der Suche nach einem kleinen, blonden Jungen war, der null Erfahrung hatte. Ich hätte den hässlichsten Kerl genommen, hauptsache überhaupt jemand. Aber Fakt war, niemand wollte eine eingeschüchterte, zu klein geratene Bohnenstange.

 

 Hätte ich mich doch nur in einen dieser schmierigen Typen im Club verknallt, dann hätte ich es versuchen können, wäre abgeblitzt und müsste den Arsch nie wieder sehen. Traurig schüttelte ich meinen Kopf und raufte die Haare. Was war ich doch für ein Schwachkopf!

 

 Hätte mich nie outen dürfen. Vielleicht könnte ich dann jetzt mit Marie, dem übergewichtigen Betonklotz aus der Parallelklasse, zusammen sein. Bitter, aber besser als eine Zukunft allein. Und seien wir mal ehrlich, woanders als in der Schule würde ich niemanden finden!

 

Wenn ich also mein Abi in der Tasche hatte und noch immer niemand an meiner Seite war, durfte ich mich vom Traum einer Beziehung endgültig verabschieden. Würde den Rest meines Lebens selber Hand anlegen und einer dieser Menschen sein, die sich in Cafes setzten, um Menschen zu beobachten.

 

 Ich lachte hart auf. Was für eine Aussicht! Unwillig sah ich auf den Wecker, nur noch zwei Stunden und ich würde mich der Wahrheit stellen müssen. Ich sah ihn in meinem Kopf schon an der Bushaltestelle stehen, sein böser Blick auf mich gerichtet, der sich stechend in meine Brust bohrt und Hände, die sich lieber um meinen Hals legen würden, als noch einen Moment mit mir, der Schwuchtel, zu verschwenden.

 

 Minute um Minute verging, schneller als mir lieb war und die Sonne erwachte aus ihrem tiefen Schlaf. Lautes Gerumpel aus dem Nachbarzimmer, dann Geschepper von Geschirr und anschließend das Rauschen von Wasser. Ich hörte wie meine Eltern redeten, lachten und mit Simon scherzten. Spuckende Wut kam in mir hoch und mein Gesicht verzog sich zu einer verärgerten Fratze. Simon.

 

 Ich schwenkte meine schweren Beine über die Bettkante und angelte nach meiner Brille auf dem Nachttisch. Meinem Bruder zu begegnen war das I-Tüpfelchen, die Spitze des Eisberges sozusagen. Seufzend stellte ich mich vor den kleinen Spiegel, der an der Tür befestigt war und musterte mich. Blaue Augen, gerötet und geschwollen, sahen mir entgegen, rutschten nach unten auf die entblößte Hühnerbrust und wanderten wieder zu meinem Gesicht. Ich sah scheiße aus, selbst für meine Verhältnisse. Die blonden Zotteln hingen mir trostlos vom Kopf, was vielleicht gar nicht so schlecht war, denn vom ganzen Stress waren mir Pickel gewachsen. Große runde Punkte zierten meine Stirn.

 

Ich versuchte mich in einem schüchternen Lächeln, fuhr mir quer durch die Visage, um den tränenverschwommenen Ausdruck loszuwerden. Vergeblich. Träge ging ich zum Kleiderschrank, nahm ein ordentlich gebügeltes Hemd vom Bügel und zog es mir über. Dazu noch eine enge blaue Jeans und ich sah aus, wie einem Katalog für teure Herrenmode entsprungen. Viel zu elegant für die Schule.

 

 Wie oft bekam ich wegen meiner Aufmachung Sprüche gedrückt? Aber das gute war, niemand traute sich mehr, mich zu verprügeln, weil das Geld für die zerissene Kleidung, das sie mir dann zahlen müssten, ihre Möglichkeiten überschritt.

 

 Erbärmlich. Nicht mal wehren konnte ich mich.

 

 Ich zupfte an dem braunen Stoffsaum und atmete einmal tief durch, doch es fühlte sich nicht befreiend an. Die Last wog noch immer schwer auf meinen Schultern und schnürte mir die Luft ab. Jeder meiner Schritte auf der Treppe kostete mich Überwindung, doch schließlich landete ich mit beiden Füßen auf dem harten Holzboden und fand den Weg ins Wohnzimmer. An der Tür angekommen, hielt ich kurz inne und hätte nur zu gern den Moment mit meiner Kamera eingefangen.

 

 Das perfekte Bild einer Familie: Mann und Frau, stolz lächelnd, merklich kultiviert, blicken interessiert zu ihrem Sohn, der offensichtliche Sonnenschein des Gespanns, der einen Becher entkoffeinierten Kaffee in der Hand hält und eine Fair Trade Banane auf seinen Teller legt. So klischeehaft.

 

 Und auch wenn man näher trat, so wie ich, sah man keine Risse, kein anderes Bild oder ein schreckliches Geheimnis, das an solchen Stellen immer kommt. Das hat auch einen Grund, denn der einzige Fehler in dieser einfachen Rechnung war ich. Mit meinen blonden Haaren stach ich schon optisch heraus, dann noch die Brille und das schlaksige, dünne Gerippe, was sich meinen Körper schallt.

 

 Stirnrunzelnd betrachtete mich Simon, ließ seine Augen über mein Outfit und mein Gesicht wandern, bevor er spöttisch die Augenbrauen hob. „Wo willst du denn hin?“ Ich zuckte mit den Schultern und nahm mir ein Brötchen aus dem Korb, nachdem ich mich neben meiner Mutter fallen ließ. Sie lächelte mir aufmunternd zu und ich hatte das ungute Gefühl, dass sie genau wusste, was gestern passiert war. „Wie lange wirst du bleiben?“ Ich bemühte mich ausdruckslos zu klingen, doch er wusste so oder so, dass ich ihn am liebsten aus dem Haus schmeißen würde. „So schnell wirst du mich nicht los. Wahrscheinlich zwei, drei Wochen“ Ein amüsiertes Lächeln zierte sein Gesicht.

 

 Simon studierte Jura in einer angesehenen Universität in Berlin, kam aber, zu meinem Leidwesen, in den Semesterferien zu Besuch und bekam nicht selten die Aufgabe, mir unter die Arme zu greifen, was das Schulische betraf. Nicht, dass ich das nötig gehabt hätte, aber meine Eltern waren der Meinung, dass ich einmal genauso erfolgreich wie mein Bruder werden sollte und dafür brauchte ich eben einen herausragenden Schnitt.

 

 Ich biss von meinem Brötchen ab und schluckte hart. „Wirst du Sasha heute wieder abholen?“ Ich schüttelte hastig den Kopf, in der Hoffnung das Thema so möglichst schnell abzuhacken. „Sasha, he? Dein Lover?“ Es rauschte in meinen Ohren, wie gerne hätte ich meinem Bruder nur einmal die Fresse poliert?

 

Seine blauen Augen, die noch einen ticken heller waren als meine, einen schönen Rahmen verpasst oder seine gerade, perfekte Nase gebrochen. „Simon“, ermahnend fixierte meine Mutter den Braunhaarigen und tätschelte unter dem Tisch meine Hand, die ich auf mein Knie gelegt hatte. Sollte mich das beruhigen?

 

 Mein Vater schwieg, hatte den Blick auf die Tischplatte gesenkt und sein Kiefer bewegte sich mahlend hin und her. Man merkte seine Anspannung und es traf mich jedesmal wie ein Schlag, wenn ich sah, wie sehr sich unsere Beziehung geändert hatte, seitdem ich nun offiziell das war, was ich nun mal war. Schwul. Ein Schwanzlutscher, jemand der freiwillig den Arsch hinhält und sich ficken lässt. Unmännlich. All das hatte er zu mir gesagt. Jetzt redeten wir überhaupt nicht mehr miteinander.

 

6. Kapitel

 

Sasha:

 

 Ich knetete nervös meine zittrigen Hände, die vor Angst schon ganz taub waren. Aus meinen Kopfhörern dröhnte 'Fear' von OneRepublik und es war beinah ironisch, wie gut das Lied jetzt passte. Ich wusste doch genau was Angst bedeutete, sonst würde ich nicht schon seit zehn Minuten stocksteif an der Bushaltestelle stehen, meine Augen auf die Ecke gerichtet, um die jeden Augenblick ein Blonder Haarschopf biegen musste.

 

Ich schluckte hart und nestelte an dem Gurt meiner Schultasche, der sich plötzlich viel zu eng um meine Brust schnürte. Er nahm mir alle Luft und ich glaubte fast zu ersticken, kämpfte damit, nicht die paar Meter wieder nach Hause zu laufen und mich krank zu melden, tippte auf dem kaputten Handy herum, versuchte mich abzulenken von etwas, das sich nicht vermeiden ließ.

 

 Gerade als ich anlief, um mich tatsächlich in meinem Zimmer zu verbarrikadieren, entdeckte ich Owen, der seinen roten Kopf gesenkt hielt und nur langsam über die Straße lief. Hatte er die Hoffnung, der Bus würde ihn mitnehmen und unsere Begegnung damit aus der Welt schaffen?

 

 „Ey, Owen, du hast grade deinen Stolz fallen lassen“, rief jemand hinter mir, und trotz dieses schlechten Witzes grölten alle und der Blonde war plötzlich der Mittelpunkt aller Gespräche. Ich sah wie seine Wangen sich noch dunkler färbten und er Mühe hatte, Tränen zu unterdrücken. Ich gab mir einen Ruck und watschelte unsicher zu ihm rüber. Er verzog missmutig seinen Mund und straffte die Schultern, als würde er den letzten Mut zusammenkratzen müssen.

 

 „Was?“, fuhr er mich trotzig an und biss sich auf die Unterlippe, die bereits gefährlich bebte. Meine rechte Hand fuhr automatisch durch mein Haar und ich zuckte nur mit den Schultern. Ich hatte mich nach langem Überlegen dazu entschlossen den gestrigen Tag zu ignorieren. Wenn man nicht drüber redet, dann würde einfach alles beim alten bleiben, dachte ich leicht lächelnd und zerrte Owen am Hemdärmel die letzten Meter auf den Bürgersteig hinauf. Wollte ja nicht, dass er wirklich noch überfahren wird.

 

 Durch den dünnen Stoff spürte ich seine samtweiche Haut unter der ein wilder Puls pocherte. Ich löste mich schnell von ihm und verschränkte die Unterarme vor meiner Brust. Zu nah. Die Stille war drückend, man sollte meinen, ich wäre daran gewöhnt, schließlich lebte ich damit schon seit Jahren, doch es war immer noch das Gleiche. Der Blonde beobachtete mich aus dem Augenwinkel und sein Gesichtsausdruck wechselte zwischen erleichtert, empört und blieb schließlich bei ersterem hängen. Worüber er wohl nachdachte?

 

 „Gut geschlafen?“, ein gut gelaunter Nicky kam auf uns zu und schlug mir auf die Schulter, nachdem er den Blonden in seine Arme gezogen und seinen Gameboy in der Tasche verstaut hatte. Synchrones Nicken unsererseits war die Antwort und der Lockenkopf schüttelte spöttisch den Kopf. „Übrigens wars echt nicht nett von euch mich warten zu lassen! Wenigstens ne SmS hätteste mir schicken können“, seine Augen verdusterten sich kurz und musterten seinen besten Freund argwöhnisch, der schuldbewusst die Schultern einzieht. „Sorry“, nuschelt er und stupst sich ehrlich bekümmert die Brille zurecht.

 

 Zwergnase winkte ab und fixierte starr etwas hinter mir.

 Markus. Samt seiner tollkühnen Crew.

 Super.

 

 Gut gelaunt, breit grinsend und eine Hand fest zur Faust geballt, sah er zu uns rüber und klopfte einem tollpatschigen Kerl auf den Rücken, um ihn für einen besonders guten Witz auf unsere Kosten zu loben. Der schwankt ein wenig, freut sich jedoch über die überraschende Berührung.

 

War er also wieder in der Schule.

 

Heute gingen mir seine Worte mehr unter die Haut als sonst und die Sprüche stießen jedesmal ein Messer in mein Herz. Immer wieder, immer fester. Ich wollte mir nicht vorstellen was für eine Tortur es für Owen war, das jeden Tag zu ertragen.

 

 Jetzt wo ich mir nicht mehr sicher war, ob Markus' Anschuldigungen überhaupt welche waren, oder ob es die Wahrheit war, schien es qualvoller ihm nicht irgendein Körperteil zu brechen. „Na, Schwuchtel“, grinsend schwang sich Markus vor uns in den heranfahrenden Bus und hob grüßend die Hand. Verächtlich schnaufend krallte ich meine Finger in den Unterarm.

 Einen Streit konnte ich nicht gebrauchen.

 

 Der Busfahrer wirkte verspannt, verbraucht, alt. Genauso wie ich ihn kennengelernt hatte. Unglaublich, dass das ganze gerade mal drei Tage her war. Es kam mir so vor, als würde ich schon Monate hier leben, denn schon jetzt hing mir alles aus dem Hals raus.

 Das war doch nicht normal!

 

 Ich setzte mich an den Fensterplatz in der ersten Reihe und bekam nur nebenbei mit, wie Owen sich zögernd neben mich setzte. Meine Stirn lehnte an der kühlenden Glasscheibe und meine Augenlider fielen fast automatisch zu, während der Motor startete und wir ruckelnd über die Straßen fuhren, hinein in einen weiteren, zähen Schultag.

 

 Ich umklammerte meine Schultasche, die ich auf meinem Schoß gebettet hatte und konnte die schweren Bücherkanten sogar noch durch den Stoff hindurch ertasten, was mir seltsam metaphorisch vorkam.

 Als ich nach meinem Handy griff, dessen Display meinen Wutangriff zwar nicht heil überstanden hatte, dennoch die Grundfunktionen noch beherrschte, warf ich gleichzeitig einen Blick auf den blass aussehenden blonden Jungen an meiner linken Seite. Hatte er geweint?

 

 Seine rot gerenderten Augen sprachen für meinen Verdacht. Generell sah er schlecht aus, nicht direkt schlecht, seine Pupillen hatten noch immer dieses beeindruckende blau, aber ausgelaugt wirkte er.

 Ich tat so, als hätte ich nichts davon bemerkt und rückte wieder in meine richtige Stellung, meine Finger jedoch standen nicht still. Erst wanderten sie von dem Taschenboden auf das Leder des Sitzes, bis sie auf warme Haut trafen und an den Außenseiten der gegnerischen Gliedmaßen entlang strichen, sich sogar leicht mit ihnen verschränkten.

 

 Owen sah verblüfft zu mir rüber und errötete wie eine reife Tomate, während ich unbeteiligt aus dem Fenster sah und weiter mein Spiel trieb.

 

 Vielleicht sollte ich das nicht tun, immerhin wusste ich nicht, was das, was auch immer es war, für ein jeden von uns bedeutete, aber es fühlte sich richtig an. Und ging es nicht darum? Einfach für den Moment leben, sagte ich mir im Gedanken und fuhr mit meinem Daumen über seinen Handrücken. Er verstärkte den Druck ein wenig und mir wurde warm in der Brust, das Gefühl, das er meine Berührung wirklich wollte, das er mich wollte, war irgendwie...überwältigend.

 

 Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich seine Lippen zu einem Lächeln verzogen und sogar seine unnatürlich weißen Zähne herauslugten, ehe sie schließlich gänzlich zu sehen waren. Schön, war meine erste Eingebung und mein Herz schlug bei dieser wuchtigen Erkenntnis schneller.

 

Schweißt trat auf meine Stirn und auch meine Hände wurden zunehmend feucht bei dem Gedanken daran, wie es wohl für mich laufe würde, wenn ich Owens Interesse erwiderte. Markus Albereien, die unter normalen Umständen, einfach an mir abprallen würden, wären nicht mehr so leicht zu verkraften. Ich strich noch einmal über die babyweiche Haut, bevor ich meine Finger zurücknahm und in meine Hosentasche versenkte.

 

 Mal nicht den Teufel an die Wand, munterte ich mich selbst auf, wer sagt denn, dass es gleich ernst wird? Warum nicht einfach eine Freundschaft mit gewissen Vorzügen? Und selbst dahin war es noch ein langer Weg!

 

Der Bus hielt und die Schüler strömten von ihren Plätzen hinaus auf den steinernen Bürgersteig. Auch Owen erhob sich und ich folgte ihm schleppend, immer ein Auge auf den Kleinen habend. Sollte mir schließlich nicht zusammenklappen der Junge, eine ständig wechselnde Gesichtfarbe war ungesund. Schmunzelnd hängte ich mir die Tasche um und verschnellerte meinen Schritt, bis ich Owen eingeholt hatte.

 

 Was für ein Chaos, dachte ich und steuerte die dunklen Eingangspforten des Gebäudes an.

 

7. Kapitel

 Der Tag schien schneller vorbei zu gehen als sonst und konzentrieren konnte ich mich auch nicht. Seitdem ich tatsächlich in Betracht gezogen hatte, dass zwischen mir und dem Blonden was laufen könnte, konnte ich keine ruhige Minute mehr finden. Immer wieder glitten meine Augen zu meinem Nebenmann, der sich unter meinen Blicken sichtlich unwohl fühlte und so stark errötete, dass ich beinah Angst um seine Gesundheit haben musste. Was machte dieser Streber nur mit mir?

 

Ich schielte hoch in den Himmel und zwinkerte gegen die Sonne an, die um die Mittagszeit ihren Höhepunkt erreicht hatte. „Bis Morgen“, kam es von Nicky, der noch einmal grüßend die Hand hob, bevor er in eine mir unbekannte Straße einbog. Meine Hände schwangen leicht im Takt meiner Schritte und waren schweißnass, während ich dem Lockenkopf viel zu spät zu nickte.

 

 Owen biss sich auf die zu einem Lächeln verzogenen Lippen, während wir schweigend neben einander hergingen und dem anderen verstohlen Seitenblicke zuwarfen. Jetzt wo wir alleine waren sank mir mein Herz ungefähr in die Schuhsohlen, nichts von meinem in-Betracht-ziehen-Ding ist mehr übrig geblieben. Erst als wir vor seinem Haus standen, hatte ich insgeheim einen kleinen Entschluss gefasst. Da von dem Blonden sicher nichts kommen würde, riss ich mich zusammen und griff vorsichtig nach seinem Arm, um ihn näher an mich heran zu ziehen.

 

 Unsicher sahen wir uns in die Augen und ich spürte wie mir das Blut ins Gesicht schoss, war das nicht Owens Part?

 

 Dieser lugte jedoch nur auf meine vor Aufregung leicht geöffneten Lippen und ich schluckte hart, bevor ich mich zu ihm runterbeugte und seinen Mund sanft mit meinem verschloss. Seine Hände verkrallten sich in meinem Oberteil und zogen mich noch näher an ihn heran, sodass wir aneinandergepresst verharrten und ich nur langsam wagte meine Lippen zu bewegen.

 

 Es war anders als die anderen Küsse in meinem Leben, schöner, und unendlich süßer. Ungeübt fuhr seine Zunge in meine Mundhöhle und entzündete ein kleines Spiel, das niemand von uns gewinnen konnte. Meine Finger glitten von seinem Arm hoch an seinen schmalen Hals und ich löste mich etwas von ihm, sodass unsere Stirnen aneinander lehnten. Ich japste nach Atem und schielte vorsichtig durch meine Lider, doch der Anblick von Owens Gesicht ließ sie mich schnell wieder schließen.

 

Ich berührte mit meiner Unterlippe noch einmal seine, bevor ich mich gänzlich zurückzog und mit einem Klaps auf seinen Rücken zu meinem eigenen Haus lief. Etwas unromantisch, ich weiß, aber wenn ich nicht umgekehrt wäre, hätte ich den Kleinen womöglich noch angefallen, denn zu meinem Unmut hatte sich das Blut in den unteren Gefilden gesammelt und früher oder später, hätte das sicher auch Owen gemerkt.

 

So zerrte ich den kleinen Schlüssel aus meiner Hosentasche und fummelte mit zittrigen Händen am Schloss herum, bis es schließlich leicht klackte und die Haustür aufschwang. Einen Blick zurück zuwerfen, traute ich mich nicht. Im Flur roch es bereits nach Essen und ich verzog mich so schnell es ging nach oben in mein Zimmer, damit das Druckgebiet dort unten unbemerkt abflauen konnte.

 

Ich wollte nicht unbedingt, dass Tante Rosi davon Wind bekam, solche peinlichen Situationen waren wirklich unnötig! Und doch konnte ich ein kleines Schmunzeln nicht verhindern, denn das 'Warum' versetzte mich in Hochstimmung, weswegen ich mich kurzerhand entschied, den Tag noch besser werden zu lassen.

 

 Als ich die Treppe erklommen und mein Zimmer erreicht hatte, verharrte ich kurz und besah mir mein chaotisches Zimmer genauer. Die Möbel waren allen an ihrem Platz und meine Bücher und Klamotten wohlwollend verstaut, aber überall standen Gläser, Schulbedarf und sogar mein Eyeliner, auf den ich die letzte Zeit verzichtet hatte, war irgendwie hier her gelangt. Ich ließ die Tasche trotz allem neben mein kleines Sofa sinken und eilte rasch ins Badezimmer, wo ich die Tür ordentlich verriegelte und mich im Spiegel besah.

 

 Mein Wangen waren gerötet, die Snakebites ein klein wenig verschoben und meine Lippen glänzten noch immer von Owens sanften Küssen. Normalerweise kam ich mir dabei schäbig vor, selbst Hand an zu legen, was an zwei Gründen lag. An dem offensichtlicheren, nämlich das damit einhergehende Geständnis, das ich niemanden besaß, der sich sonst darum kümmerte, und zum anderen, das ich furchtbare Angst davor hatte, jemand könnte etwas davon mitkriegen. Deswegen kontrollierte ich gleich mehrmals ob der Schlüssel wirklich fest im Schloss saß und die Tür auch bei mehrfachen Ruckeln nicht aus den Angeln segelte. Als alles hielt und ich mich beruhigt meiner 'Sache' hingeben konnte, kam mir etwas neuartiges in den Sinn.

 

 Wie war es wohl mit einem Kerl zu schlafen? Ich hatte generell wenig Erfahrungen, von wenigen Küssen mit Mädchen mal abgesehen, war auch sonst bei mir tote Hose. Und selbst da war gehörig viel Alkohol im Spiel gewesen, und Glück, und, wie der Zufall nun mal will, eine leere Flasche, die wie verrückt auf mich gezeigt hatte. Für mich war es damals schon ein Wunder, überhaupt auf eine Party eingeladen zu werden und dann auch noch hinzugehen...

 

 Ich seufzte lautlos und schüttelte meinen hochroten Kopf. Auch wenn ich und Owen noch längst nicht soweit waren, aber der Gedanke daran beängstigte mich. Würde ich den Hintern herhalten müssen? Das ganze kam mir ziemlich unhygienisch vor und selbst wenn ich voll in Fahrt wäre, würde ich doch sicherlich Schmerzen haben?

 

 Meine Zunge schnalzte gegen den Gaumen und verursachte ein leises 'Klack', das in der Stille des Bades schrecklich unnatürlich wirkte und von den Fliesen widerhallte.

 

 Vorsichtig schob ich meine enge Jeans von den Beinen, bis sie mir in den Kniekehlen hing und ich anfange musste, sie mir von der Haut zu zerren. Ich wusste nicht mal warum ich diese Röhrenjeans so liebte, aber diese schrecklich weiten Schlabberhosen verursachten bei mir eine Gänsehaut, und zwar ausnahmsweise vor Ekel. Doch jetzt verfluchte ich diese Dinger, denn für mein Vorhaben brauchte ich Beinfreiheit.

 

 Ich ließ mich auf die kalten Fliesen sinken, legte das nervige Stück Stoff neben mich und hielt einen kurzen Moment inne, bevor auch die Boxershorts ihren Weg auf den Boden fand. Ich fühlte mich etwas unwohl, doch beschwingt von unserem Kuss, knöpfte ich das Hemd auf und ließ dabei meinen Zeigefinger über meine Brust fahren, wo sich sofort die kleinen Härchen aufstellten.

 

 Immer weiter, bis das schwarze Hemd schließlich wie von selbst von meinen Schultern glitt und hinter meinem Rücken landete. Komplett nackt saß ich nun da, die Beine angewinkelt, bereit für das Experiment, meine Hand auf dem Oberschenkel, wo sie, noch unsicher, kleine Kreise zog.

 

 Ich sprach mir Mut zu und während die Finger meiner rechten Hand zum Schafft wanderten, gingen die linken auf Reise in ein unergründetes Gebiet. Der Rhythmus meiner Massage war hart und schnell, mit der Hoffnung, das ich von dem unteren Geschehen wenig mitkriegen würde, doch bereits für das Erspüren, was vielleicht erregend war, brauchte ich Feinfühligkeit und Konzentration. Nach einigen Minuten, die für meinen Rücken wegen der verbohrten Sitzhaltung eine Qual gewesen waren, beschloss ich die Sache anders anzugehen.

 

 Ich atmete einmal tief ein.

 

 Ich streichelte meine glatte Haut, verwöhnte meine Brustwarzen, die sich unter den Berührungen verhärteten, ließ meine Fingerspitzen über den Bauch wandern oder auch über meine Leiste. Sanft, vorsichtig, hob ich meine Oberschenkel an, sodass die Waden in der Luft baumelten und ich mein Hinterteil im bodenlangen Spiegel hätte bewundern können, wenn ich denn gewollt hätte.

 

 Ich schloss meine Augen, genoss einfach das Gefühl, wie meine Haut auf sich selbst trifft und leicht die Rosette umspielt. Es war gewöhnungsbedürftig, nicht schlecht, erregend, aber eben anders. Ich hob meinen Daumen, führte ihn zur Zunge, wo ich ihn vorsichtshalber mit viel Speichel benetzte, bevor ich ihn wieder zurückwandern ließ und ansetzte.

 

 Zunächst war viel Druck von Nöten und ich verzog leicht mein Gesicht, während ich versuchte es angenehmer zu gestalten. Mit der Zeit ging es überraschend gut, ich fand schnell heraus, welchen Winkel ich brauchte, um es nicht nur erträglich, sondern auch schön zu gestalten und schaffte es, meinen Penis ihm Rhythmus zu massieren, sodass es mir fast den Atem raubte, als ich mich dem Höhepunkt näherte und mich endlich die süße Erlösung erreichte. Krampfhaft schloss sich meine Hand um den Schafft und ich kniff die Augen zusammen, um nicht zu stöhnen und damit Aufmerksamkeit zu erregen.

 

 Erschöpft und mit einem viel zu hohen Herzschlag breitete ich mich der Länge nach auf dem kühlen Boden aus und wagte es zum ersten Mal die Augen wieder zu öffnen. Beschämt horchte ich, ob irgendetwas Unten zu hören war, ein kleiner Tick von mir, der herzlich wenig bringt, denn was sollte Tante Rosi schon verlauten lassen. Ich griff nach dem Toilettenpapier und säuberte mich gründlich, doch ich entschied, besser gleich eine Dusche zu nehmen, dabei fühlte ich mich einfach wohler.

 

 Das warme Wasser prasselte auf mich hinab und ich konnte nicht wirklich fassen, dass ich das wirklich getan hatte. Es war ohne Frage gut gewesen, sehr gut, aber könnte ich mir das von einer anderen Person gefallen lassen?

 

 Ich seifte mich ordentlich ein, sodass der herbe Duft meines Duschgels in der Luft lag und einen anderen herben Geruch überdeckte, bevor ich mich abwusch und, in einem schwarzen Handtuch gehüllt, das Bad wieder verließ. Natürlich mit meinen Klamotten in der Hand.

 

8.Kapitel

 Nach der Orgie, wie ich das Erlebnis im Badezimmer kurzerhand nannte, war ich ziemlich nachdenklich, noch mehr als sonst. Unten hatte ich mich nicht mehr blicken lassen und da, Gott sei dank, das Wochenende begonnen hatte, musste ich auch die Volltrottel von Markus nicht mehr sehen. Die Nacht war jedenfalls mehr schlecht als recht gewesen, gut schlafen, heißt was anderes, aber ich wollte mich ja nicht beschweren, genug Zeit, um sich über einiges klar zu werden, hatte ich damit ja wohl gehabt.

 

Klar, die Gefühle für den Kleinen konnte ich nicht leugnen, aber die Folgen der ganzen Sache würden verheerend werden. Und wollte ich die nächsten Schuljahre die Hölle auf Erden erleben, für eine möglicherweise ganz nette Beziehung, die irgendwann sowieso scheitern würde? Mein Kopf wiegte sich unsicher auf meinen Schultern, was ich starr im Spiegel verfolgte.

 

Ich hatte sonst noch nie Interesse an einem Jungen gezeigt, und ich glaubte auch nicht daran, dass das nervöse Flattern meines Herzens auch bei anderen Männern als Owen entstehen würde.

 

 Doch was tun? Ich steckte schon zu tief drin, als das ich den Blonden noch von mir schieben könnte, oder wollte. Diese hellblauen Augen verfolgten mich nun schon den ganzen Tag und das Gefühl während des Kusses war unbeschreiblich schön gewesen, das musste ich gestehen.

 

Meine Finger verhederten sich in meinen Haaren, die ich seit einer geschlagenen Stunde mit einem Kamm bearbeitete, damit sie letztendlich genauso flach herunterhingen wie sonst. Owen, der Junge dem ich das Schlamassel zu verdanken hatte, würde in wenigen Minuten kommen und mir mit dem Stoff helfen. Das hatte er mir angeboten, per SMS, gestern Nacht. Seit dem raste mein Herz und das war definitiv nicht gesund!

 

Ob sein Angebot zweideutig war? Ich glaubte kaum, dass ich mich auf irgendetwas konzentrieren könnte, wenn Owen neben mir saß und sich seine viel zu große Brille auf die Nase schob. Aber gut, ich seufzte und zuckte verzweifelt mit den Schulter, während ich mein mehr oder weniger gelungenes Werk begutachtete.

 

 Eigentlich war es albern, aber ich hatte ein enges Muskelshirt angezogen, natürlich in schwarz, sodass mein kleines Six-Pack zu erahnen war. Ich wusste nicht genau, was ich erwartete, aber ich wollte auf alles gewappnet sein. Besser ein wenig zu viel Haut, als zu wenig, war meine Devise, deswegen hatte ich die enge Röhrenjeans von gestern auch gegen eine meiner wenigen kurzen Capri-shorts getauscht. Scheußlich die Dinger, aber Mum bezeugte, dass ich darin 'hot' aussah.

 

 Ob ich mich auf den Geschmack einer mitte vierzigerin verlassen konnte, war allerdings eine andere Frage.

 Etwas panisch trug ich noch etwas des teuren Aftershaves auf, das Dad mir zum Geburtstag geschenkt hatte und eilte in mein Zimmer, um mich möglichst lässig auf das Bett zu fletzen, damit er nicht den Eindruck bekam, dass ich mich auf seinen Besuch freute. Natürlich tat ich das, aber er musste er ja nicht wissen.

 

 So lehnte ich mich auf meine Ellenbogen zurück und stierte die Wand an, bis endlich das ersehnte schrille Surren erklang und meine Mutter mit einem viel zu leisen „Ich komme ja schon“, an die Tür eilt, was Owen sowieso nicht hören konnte.

 

 Meine Hände fühlten sich schwitzig an und ich wischte sie schnell peinlich berührt an der Tagesdecke ab, die viel zu knitterig dalag, als das man es als ordentlich bezeichnen konnte.

 „Sasha ist oben, geh ruhig hoch!“

 

 Nervös knabberte ich an meiner Unterlippe und lauschte den Schritten auf der Treppe, die sich langsam meinem Zimmer näherten und vor der Tür innehielten. Angespannt atmete ich einmal tief ein, bevor ich mich etwas aufrichtete und gespielt cool darauf wartete, dass die Klinke runtergedrückt wurde.

 

 Als es dann endlich so weit war, sprang mir in der nächsten Sekunde schon ein lachender Owen entgegen, der seine Lippen zielsicher auf meine drückte. Erschrocken fing ich uns beide ab und verhinderte so, dass wir gemeinsam vom Bett purzelten oder uns gegenseitig die Zähne ausschlugen. Möglich wäre es, bei der Intensität, die der Blonde mir zu teil werden ließ, dachte ich belustigt und konnte nicht anders, als eine Hand in seinen Nacken zu legen und den Kuss zu erwidern.

 

 Er löste sich von mir und grinste wie ein kleiner Schuljunge, während ich versuchte, es mir unter seinem dürren Körper wenigstens halbwegs bequem zu machen. Vergeblich, denn er saß direkt auf meiner Mitte, die Hände auf meiner Brust abgestützt und verhinderte so, jegliche Regung meinerseits.

 

 Was war nur mit ihm los? Keine Schüchternheit, sein Gesicht strahlte zwar in einem zarten rot, aber längst nicht so stark wie ich es erwarten würde.

 

 Dafür meins um so mehr, was vor allem daran liegen könnte, dass die Finger seiner rechten Hand unentwegt meine Wange streiften oder meinen Hals bemalten. Beides führte zu einem angenehmen Schauer, der meinen Körper runterrieselte und zum Aufstellen meiner Armhärchen.

 

 Er strich sanft darüber und grinste noch ein wenig mehr, wenn das überhaupt möglich war. Ich rang mir selbst ein Lächeln ab, denn sein Verhalten verunsicherte mich. So hatte ich mir dieses Treffen wirklich nicht vorgestellt, innerlich war ich darauf vorbereitet, dass ich der Aktive von uns beiden sein würde, doch das war ja wohl ein Griff ins Klo!

 

 Trotz allem stellte sich bei mir ein Hochgefühl ein, sodass ich unsere Hände miteinander verband und sein Gesicht näher betrachtete. Plötzlich sah er aus dem Fenster und runzelte seine Stirn.

 

 Hatte ich etwas falsch gemacht?

 

 „Du bist abgehauen“, stellte er sachlich fest und ich verzog verwirrt meine Augenbrauen. Meinte er gestern, das vor seinem Haus?

 

 „Nach dem Kuss“, bestätigte er meine Vermutung und seine blauen Augen sahen mich anklagend an. Ich zuckte mit den Schultern und hoffte, er würde das als Antwort gelten lassen. Doch er nahm den Zettel vom Nachttisch und einen Kulli, um ihn mir hinzuhalten. Ich seufzte schwer.

 

 Unsere Hände hatte er dabei voneinander gelöst. Unverschämtheit.

 

 Zaghaft richtete ich mich auf und benutzte meine Handinnenfläche als Schreibauflage, damit man meine Buchstaben noch halbwegs entziffern konnte und sich die Sache schnell erledigen ließ. Denn darüber zu reden, warum ich gestern nicht da geblieben bin, war mir zu unangenehm. Außerdem lag mir unsere Begrüßung noch schwer im Magen.

 

 Ich hatte vergessen, dass meine Tante hier war. Sie braucht Hilfe beim Kochen, das war nicht einmal gelogen, dachte ich mir stolz, doch Owen verzog skeptisch den Mund, was ich mit einem Augenrollen abtat. Der Junge war zu schlau für diese Welt, aber ich würde ihm sicher nicht die Wahrheit auftischen.

 

 „Sag mal, was ist das hier eigentlich für dich?“, nuschelte er und sein Blick senkte sich verlegen, während die Röte wieder in seine Wangen fand.

 

 Ja, was war das hier für mich? Eine Freundschaft mit dem ein oder anderen Vorteil vielleicht oder eine flüchtige Affäre, die sich irgendwann wieder geben würde, obwohl der Blonde mir dafür viel zu schade war. Ich zog nachdenklich mit meinem Zeigefinger Kreise auf seiner Hüfte und traute mich nicht, ihm ins Gesicht zu sehen.

 

 Owen war das Warten leid, das merkte man, denn er biss die Zähne hart aufeinander, sodass ein leises Knirschen entstand. Ich brauchte eine Antwort, schnell! Doch ich konnte mich nicht dazu bewegen.

 

 Warum musste man denn alles immer definieren, verdammt?

 

 Ich weiß es nicht.

 

 Er drehte den Zettel um, damit er meine vier hingekritzelten Wörter lesen konnte. Immer wieder ließ er seine blauen, wunderschönen Augen darüber wandern, als würde er nur langsam verstehen, was sie bedeuten.

 

 Er schwieg eine Weile und ich sah, dass es ihm schwer fiel, die Tränen im Augenwinkel zurück zu halten. Verzweifelt schloss ich die Augen und nahm sein Gesicht vorsichtig in meine Hände, sodass ich meine Stirn an seine lehnen konnte. Ich spürte seinen rasselnden Atem auf meiner Haut und die Wärme, die sein Körper abstrahlte.

 

 Das hier war schön, einzigartig, und ich wollte nicht, dass er ging, aber war es auch etwas Ernstes?

 „Magst du mich?“ Seine Worte waren nur gehaucht, aber ich hatte sie sehr wohl verstanden. Ich runzelte wütend meine Stirn und biss auf meine angeschlagene Unterlippe, die dem Druck nicht standhielt und wieder aufriss. Ich stieß ihn von mir, etwas zu hart als ich es beabsichtigt hatte und setzt mich auf die Bettkante, meine Hände in den Haaren vergraben.

 

 Dieser Kerl machte mich wahnsinnig. Wir hatten uns ein paar mal geküsst und ich konnte nicht bestreiten, dass es sich gut und richtig angefühlt hatte, doch das war noch lange kein Grund, auf diese Gefühlsmasche abzudriften! Vor allem, da ich keinen Plan hatte, was ich für ihn empfand. Das machte doch alles keinen Sinn.

 

 Selbst wenn ich mich in ihn verlieben würde, was er ja allem Anschein nach schon getan hatte, würde ich mich nicht auf eine Beziehung einlassen. Den Stress konnte ich mir getrost ersparen. Meinet wegen kann er so schwul sein wie er will, aber er sollte sich definitiv jemand anderes für diese Beziehungsnummer suchen!

 

 Ich konnte damit leben, dass ich nie beliebt sein würde, aber ich gebe hier bestimmt nicht freiwillig das dämliche Opfer, auf dem alle herumhacken konnten. Das hatte anscheinend auch Owen an meiner Reaktion abgelesen.

 

 „Und warum hast du das dann alles gemacht, kannst du mir das mal verraten? Du hättest wenigstens von Anfang an sagen können, dass du nichts von mir willst, das hätte ich akzeptiert! Aber du bist doch bei mir angekommen, hast mich geküsst und all das, was meinst du denn, was ich mir dabei denke? Weißt du, wie ich mir vorkomme? Ziemlich verarscht! Ach, vergiss es einfach!“, schniefte er und rannte aus meinem Zimmer. Ich hörte wenige Sekunden später die Haustür zuklappen und stieß einen gequälten Laut aus.

 Warum war das alles nur so verdammt kompliziert?

 

9.Kapitel

 

Es waren ein paar Tage vergangen und das Resume war bedrückend. Konnte man etwas vermissen, von dem man gerade mal ein Hauch gekostet hatte? Keine Ahnung, aber es fühlte sich so an!

 

Murrend drehte ich mich in meinem Bett und starrte den Zettel an, der vollgekritzelt und total zerknittert auf meinem Nachtschränkchen lag. Daneben ein blau metallender Kugelschreiber. Zögerlich nahm ich es in die Hand und ging Satz für Satz durch, meine Antworten, die ich versuchte kurz und einfach zu halten, damit es wenigstens ansatzweise zu einer Konversation kommen konnte. Ich steckte ihn heimlich und gut gehütet unter ein kleines Notizheft in meine Schublade.

 

Ich vermisste es, zu sehen, wie sein schmales Gesicht sich vor Verlegenheit rot färbte und er nervös an dem Saum seines Hemdes nestelte, das viel zu akkurat an ihm wirkte und mindestens eine Nummer zu groß war.

 

Wenn nun Blut in seine Wangen schoss, dann wegen der Wut, die er gegenüber mir an den Tag legte. Ich konnte es ihm nicht verübeln, schließlich hatte ich ihm Hoffnungen gemacht, die ich nicht erfüllen konnte. Oder?

Owen wollte eine Beziehung, da war ich mir sicher, er war eben kein Typ für etwas Unverfängliches. Und ich? Was wollte ich? Gute Frage.

 

Ich wollte ihn, aber eben nicht so! Es ging alles viel zu schnell.

 

Ich schien seine heiße Haut unter meinen tollkühnen Fingern noch zu spüren, totaler Schwachsinn, aber es führte trotzdem dazu, dass sich ein Gefühl der Erregung in meiner Brust breit machte. Ich runzelte angestrengt die Stirn bei dem Versuch, an etwas anderes zu denken. Fehlanzeige.

 

Vielleicht sollte ich einfach mal raus gehen, ein bisschen frische Luft schnappen und mich anderen Dingen widmen, als über diesen Zwist nachzudenken. Ich warf einen Blick durch das verschmutzte Fensterglas nach draußen und beobachtete eine Weile, wie die Sonne auf das triste Grün der Kleinstadt strahlte und unter ihrer Hitze alles zu versenken schien.

 

Die Luft vibrierte und man konnte die Temperatur praktisch mit den Augen erfassen. Meine Zunge benetzte die trockenen Lippen meines Mundes und ich wackelte mit meinem nackten großen Zeh, während ich überlegte, ob ich das angenehm kühle Haus wirklich verlassen wollte, als ich plötzlich einen blonden Schopf auf der Straße sah, der mit einem anderen Jungen das Nachbarhaus verließ. Ich hob skeptisch meine Augenbraue und rückt näher an das Fenster, bis meine Nasenspitze beinahe das Glas berührte.

 

Das war eindeutig nicht die unförmige Figur von Zwergnase neben Owen. Dieser Junge sah gut aus, sehr gut sogar und schlang nun spielerisch einen Arm um den Zierlichen, der diese Berührung eher unwillig über sich ergehen ließ. Ein Stich bohrte sich in mein Herz und ich konnte ein wütendes Schnauben nicht vermeiden. So war das also, hatte er sich etwa gleich einen anderen geschnappt? Warum war nie ein Wort von diesem Kerl gefallen?

 

Ich schüttelte den Kopf und klärte meine Gedanken. Ich hatte diesen Typen noch nie in der Schule gesehen, also war er auch nicht mit Owen befreundet. Kam er aus einem Nachbardorf? Meine Zähne bohrten sich leicht in die Wange. Hatte ich nicht genau das gewollt? Dass er sich jemanden anderen für diese Beziehungskiste sucht? Wenigstens schien der Blonde abgeneigt zu sein und minderte damit das Brennen in der Brust geringfügig.

 

Ich sah zu, wie sie im gemächlichen Tempo in Richtung des Supermarktes die Straße hinunter gingen und schließlich aus meinem Blickfeld verschwanden, doch ihr Bild hatte sich bereits in mein Netzhaut gebrannt. Meine Finger der linken Hand tippten unrhythmisch auf dem weiß lackierten Holzrahmen des Fensters und die Rechte ballte sich automatisch zu einer Faust. Die Fingernägel bohrten sich sogar leicht in meine Haut und ich war mir sicher, dass sich dort Einkerbungen befinden würden, wenn ich sie öffnete.

 

Wie sagte man so schön: Man weiß erst, was man hatte, wenn man es verliert.

 

So wollte ich es aber nicht sehen, es bestand immer noch die Möglichkeit unsere Beziehung als Affäre einzustufen, ein Zwischending eben. Das reichte vollkommen. Mein Körper bekam, was er verlangte, und ich musste nicht zusehen, wie er mit einem anderen rumlief, denn auch wenn ich es ungern zu gab, gefiel mir das gar nicht. Ich teile eben nicht gerne, sagte ich mir und stieß mich vom Bettkasten ab, bevor ich auf eine andere Begründung kommen konnte.

 

Meine Schuhe ließen sich leichter als sonst über die Füße stülpen und die Haustür fand zum ersten Mal in ihrem Dasein mit lautem Knallen gegen die weiße Wand des Flurs, vielleicht hinterließ sie dort Spuren, doch ich sah mich nicht noch einmal um. Im Hintergrund hörte ich wie sie wieder zurückschwang, in den Rahmen krachte und das Glas der Fenster wegen der Vibration zum scheppern brachte. Ich wusste noch nicht genau, was ich ihm sagen wollte, wusste nur, dass ich diese Wut wegwischen wollte, die sich in seinem Gesicht widerspiegelte, wenn wir uns sahen.

 

Selbst Nicky war das aufgefallen, hatte mich sogar darauf angesprochen, als wir nach der Stunde einen Moment alleine waren. Owen ignorierte mich in den Pausen, doch verscheuchen tat er mich nicht, sodass Zwergnase die eisige Kälte zwischen uns deutlich spürte, auch über seine PSP hinweg. Ich hatte nur mit den Achseln gezuckt und er war der Sache nicht länger nachgegangen, doch ich war mich sicher, im Unterricht seinen Blick im Rücken zu spüren und hatte die böse Ahnung, dass er mehr mitbekam als gut war.

 

Nervös trat ich von einem Fuß auf den andern und lehnte mich an die dunkle Mauer des Nachbarhauses, wo Sternensänger ihr Gekritzel hinterlassen hatten, jedes Jahr ein neuer Stein.

 

Es war albern hier zu stehen und darauf zu warten, dass die beiden vom Supermarkt wiederkamen, es könnte Stunden dauern, doch meine Gefühle gingen kreuz und quer, sodass mich nichts mehr in meinem Zimmer halten konnte. Da war Wut, Eifersucht und Angst. Angst etwas zu verlieren, was ich definitiv nicht haben wollen sollte. Aber was konnte ich schon tun, außer zu versuchen einen Kompromiss zu finden? Blieb nur noch die Frage, ob sich der Blonde darauf einlassen würde...

 

Mit einer kurzen geübten Bewegung, die diesmal nicht ganz so glatt lief, richtete ich mein Lippenpiercing, Geschick war dabei sehr wichtig, schließlich konnte schnell etwas aufreißen, rieb meine zittrigen Hände und sah stur geradeaus, wartete darauf, die hellen Haare am Horizont der Straße zu sehen.

 

Owen:

 

„Muss das sein?“, fragte ich zum bestimmt tausendsten mal und ließ meine Augen abschätzig über meinen Gegenüber wandern, der verschmitzt die Lippen verzog.

 

„Stell dich nicht so an, Bruderherz! Ist doch schön, mal wieder etwas Zeit gemeinsam zu verbringen. Außer du bevorzugst es, den Einkauf alleine zu tragen?“ Seine Stimme triefte vor falscher Bescheidenheit und ich nahm wütend einer der Einkaufstaschen vom Tisch, die ich unordentlich zusammenfaltete und in die Größere der Hosentaschen steckte, damit ich sie nicht mit mir herumtragen musste. Als ich mit meinen Fingern noch nach den zwei Geldscheinen langen wollte, schob sich hastig eine Hand dazwischen und legte sie lässig in ein schwarzes Lederportmonaie, das mit einem provozierenden Augenzwinkern in der Hintertasche seines Besitzers verschwand.

 

„Und denkt an das Wasser, die letzte Flasche habe ich gerade getrunken“, rief Mama aus dem Wohnzimmer, als ich bereits in den Flur geeilt war und meine Schuhe überzog, vorzugsweise die mit Klettverschluss, da diese die Einzigen waren, über deren Schnürsenkel ich nicht stolpern konnte.

 

„Geht klar!“ Im Kanon antworteten Simon und ich, Alt und Sopran, bevor mein Mund sich zu einem harten Strich verzog und ich zur Haustür eilte, in der Hoffnung, wir könnten so einen gewissen Abstand wahren. „Nicht so hastig, Blondie!“Mit einem Ruck zog er mich am Kragen meines grauen T-Shirts zurück, eins der Wenigen, die sowohl lässig als auch schlicht waren, und holte mich so zurück auf sein Schritttempo, während er mit der Linken die Tür hinter uns schloss.

 

Die Sonne prallte heiß auf uns hinab und ich verfluchte mich einen kurzen Moment lang dafür, dass ich mich heute Morgen nicht doch für das weiße Muskelshirt entschieden hatte, doch darin sah man meine hagere Figur noch deutlicher als sonst, und es hätte garantiert wieder herablassende Sprüche von meinem werten Herr Bruder geregnet.

 

Ein schwerer Arm legte sich um meine Schultern und drückte mich noch näher an den warmen Körper Simons, der nun schallend lachte. „Gibs zu, eigentlich gefällt es dir doch, dass dein heißer, gutaussehender Bruder mit diesem hamma Körper“, er deutete mit dem linken Zeigefinger auf seinen, durch den hellen Stoff verdeckten, durchtrainierten Oberkörper, „endlich wieder zu Hause ist, nicht war? Hast du nachts feuchte Träume, wegen mir?“ Sein Grinsen wurde noch größer und ich versuchte mich rot geworden aus der Umarmung zu winden.

 

„Halts Maul!“, fauchte ich genervt und verschränkte meine Arme vor der Brust, die sich unregelmäßig zum Atmen hob. „Uh, hab ich da jemanden auf dem falschen Fuß erwischt?“, witzelte Simon weiter, fuhr sich durch das dunkel braune Haar und zupfte eine imaginäre Strähne aus dem Gesicht, die aus der perfekt gestylten Frisur entwichen war.

 

„Ich stehe auf Männer, nicht auf Inzest“ Mein unverständliches Gebrummel brachte ihn nur noch mehr zum Lachen, sodass ich beschloss, den Rest des Weges einfach zu schweigen und den Arsch neben mir zu ignorieren.

 

Seitdem ich mich geoutet hatte, war unsere Beziehung zueinander noch schwieriger geworden als zuvor, hinter jeder Berührung wurde ein vermeintlicher Anmach-Versuch gesehen und manchmal sogar extra welche provoziert, um mich als notgeilen Typen darzustellen, und das, obwohl sich beim Anblick des Braunhaarigen bei mir mal eben so gar nichts regte.

 

Deshalb gingen mir seine Aktionen hauptsächlich auf die eh schon strapazierten Nerven, und trafen mich nicht so hart wie sonst. Aus dem Augenwinkel betrachtete ich meinen älteren Verwandten und ballte meine Hand zur Faust.

 

Auch wenn Simon lächelte, hatte er diesen speziellen arroganten Ausdruck dabei, der mein Herz jedes mal vor unterdrückter Wut verkrampfen ließ. Vielleicht, überlegte ich, fühlte es sich heute nur so extrem an, weil mir Sashas Verhalten ziemlich zugesetzte und Simon bei mir nur das bereits vorhandene Feuer schürte. Jedenfalls musste ich mich zurückhalten, um nicht einfach davon zu stampfen und die beleidigte Leberwurst zu spielen, oder, noch besser, den geschlagenen Hund, der aus Frust zurückschlägt. Ich seufzte. Seit wann, hatte ich solch gewalttätige Vorstellungen?

 

„Hast du die Tasche?“ Ich nickte schlicht und ging die letzten Meter auf den spärlichen Supermarkt zu, ein Discounter, der selbst bei der üppigsten Hitze mit der halben Stadt gefüllt zu sein schien. Ich zerrte einen Einkaufswagen aus den anderen, indem ich einen Chip in den dafür vorgesehenen Schlitz steckte, schob ihn durch die automatisch geöffnete Tür und fing an, die krackelig aufgeschriebene Liste abzuarbeiten. Dass Simon sich dabei im Hintergrund hielt, verwunderte mich nicht und konnte mir nur Recht sein, sein Geplapper brauchte ich nicht, vorallem nicht, wenn wir uns in der Öffentlichkeit befanden. Dann waren mir seine Kommentare besonders unangenehm.

 

Ich packte gerade ein paar der bestellten Flaschen Wasser in den Wagen, als ich hörte wie Simon sich mit jemanden unterhielt. Vorsichtig, um bloß nicht entdeckt zu werden, schielte ich rüber in den benachbarten Gang und erkannte zu meinem Schock Markus. Mein Herz setzte einen Schlag aus, nur um dann doppelt so schnell weiterzurasen. Was hatte er denn hier verloren? Klar, die halbe Bevölkerung lümmelte am Wochenende hier herum, zum Wocheneinkauf oder einfach zum Zeitvertreib, aber ihn hatte ich nun wirklich nicht erwartet. Hatte der nix besseres zu tun, ein paar Mädchen aus dem Nachbarstädchen abschleppen oder so?

 

Ich schüttelte meinen kurzgeschorenen Kopf und lenkte meine Aufmerksamkeit hastig wieder auf die beiden Jungs, die sich angeregt im Flüsterton unterhielten. Ich spitzte meine Ohren und konnte einige Bruchstücke des Gesprächs erhaschen: „Hast du Zeit? Heute Abend...sturmfreie Bude...haben uns lange nicht mehr....“ Für mich ergaben sie wenig Sinn, doch der Typ, der mich schon seit Jahren auf dem Kiecker hatte, verstand natürlich jedes einzelne Wort.

 

Markus schien nervös zu sein, rieb sich die Handflächen an der Jeans ab und rang sich ein Kopfschütteln ab. Simon warf verärgert die Hände in die Luft, sah sich kurz um und trat näher an seinen Gegenüber heran, bis sich deren Fingerspitzen flüchtig berührten. „Komm schon...“, versuchte er es erneut, doch Markus verneinte erneut, diesmal sicherer. „Keine Zeit, sry“, sagte er laut und ging stumpf weiter, ohne auf das heisere Fluchen des Braunhaarigen zu achten.

 

Ich duckte mich schnell, als mein Bruder in meine Richtung zu gucken drohte und packte eilig die letzten Kekse des Regals in den Eisenkorb auf Rädern, sodass ich alles auf der Liste gedanklich abhacken konnte und zur Kasse schritt.

 

Die Waren waren schnell auf Band gestellt und die Schlange war glücklicherweise überschaulich, die meisten hier waren dann doch nur zum Zeitvertreib hergekommen, doch als der Kassierer mir den Bon entgegen hielt und freundlich lächelnd die Summe nannte, bemerkte ich, dass in meiner Tasche wortwörtlich tote Hose herrschte. Meine Augen weiteten sich und mein Gesicht brannte vor Scham und Wut.

 

Ich blickte mich hastig um, stammelte irgendeine Entschuldigung und ließ den Einkauf, samt Kassierer und verärgerter Kunden, die hinter mir standen, zurück, um Simon mit erhobenen Händen zu mir zu winken. Laut schrie ich seinen Namen durch den kompletten Laden, manche drehten sie neugierig zu mir um, nur der Angesprochene reagierte nicht im geringsten. Das machte er doch mit purer Absicht, wollte er, dass ich mir hier blamiere?

 

Verärgert schritt ich auf meinen Bruder zu, packte seine Schulter und drehte ihn energisch zu mir um. „Was denkst du dir eigentlich dabei? Her mit dem Geld, ich wusste, dass du sowas geplant hast!“, zischte ich aufgebracht und biss meine Zähne lautstark zusammen. Er zuckte gleichgültig mit den Achseln und ein unschuldiges Lächeln legte sich auf seine Lippen.

 

„Ich weiß nicht, was du meinst, Kleiner“

„Du hast das Geld doch Zuhause eingesteckt, jetzt gib es mir auch, verdammt!“

 

Händeringend versuchte ich an seine hintere Hosentasche, und damit an das lederne Portmonaie, zu kommen, doch er wehrte meine lächerlichen Versuche mühelos ab und kicherte dabei. „Ich lass mich doch nicht von einer Schwuchtel wie dir anfassen. Igitt“ Er verzog gespielt angeekelt die Miene und hielt mich mit ausgestreckten Armen auf Abstand.

 

„Ich bring dich noch um, du Dreckskerl!“, schrie ich wutentbrannt und plötzlich wurde alles leise. Ich hörte auf mich zu wehren, stieß meinen angehaltenen Atem aus und sah mich mit Tränen in den Augen um. Alle Kunden sahen mich an, manche kannte ich sogar und für sie, sah es vermutlich so aus, als wäre ich der Schlimme von uns Brüdern, der Aggressive.

 

Ich musste beinahe lachen bei diesem Gedanken, ich und aggressiv? Doch nach Lachen war mir im Moment nicht zu Mute, stattdessen floss salziges Wasser aus meinen Augenwinkeln und ich ballte meine Hände zu Fäusten, während ich joggend aus dem Supermarkt floh, ohne Einkauf, ohne Simon, und doch mit viel mehr Last als vorher auf dem Herzen.

 

 

Heulend und mit geballten Fäusten lief ich im schnellen Schritt die Straße entlang, die vom Supermarkt nach Hause führte und Gott sei dank, nicht allzu lang war, sodass ich in wenigen Minuten mein geliebtes Zimmer wieder haben würde und mich verbarrikadieren konnte. Die ewige Sommerhitze trocknete die salzigen Tropfen auf meinen Wangen, doch nicht schnell genug, denn es kamen immer neue.

 

Es war eine Sache, von einem Typen beleidigt zu werden, der mich nicht kannte, den ich nicht kannte, der nur ein dummer Schüler war, Markus war eben Markus, aber Simon war mein Bruder. Ich wusste, dass er und Dad die gleiche Einstellung zu meiner Homosexualität hatten, deswegen schmerzte es viel mehr von ihm, in aller Öffentlichkeit, unter den Augen meiner Nachbarn, als „Schwuchtel“ beleidigt zu werden.

 

Ich war schwach, mein Selbstbewusstsein am Boden, mal wieder, und das alles nur, weil Simon nicht in seinen verdammten Schädel bekam, dass seine Worte weh taten.

 

Ich knurrte wütend auf und meine Fingernägel schnitten in meine Haut. „Dieses Arschloch“, schrie ich sauer. Ich wollte schreien, noch lauter, bis ich nicht mehr konnte, um mich schlagen, doch ich kontrollierte mich selbst, wie immer, hielt meine Gefühle so gut es ging unter Verschluss, nur die verdammten Tränen wollten mir einfach nicht gehorchen, sie fielen stetig weiter. „Verräter“, flüsterte ich kaum hörbar und strich sie energisch weg.

 

Ich näherte mich dem kleinen Einfamilienhaus und blieb schockiert stehen. Ich vergaß für einen Moment meine Wut und schnappte nach Luft. Dort, an der Backsteinwand lehnend, stand Sasha, die Hände in der Hose vergraben und die dunklen Haare sexy zerwühlt. Auch wenn ich eigentlich unglaublich wütend auf ihn war, erschlug mich sein Aussehen und ich konnte nur schwer meine Augen von ihm abwenden.

 

Ich knurrte. Der hatte mir gerade noch gefehlt.

 

Ich machte zögernd und mit einem mulmigen Gefühl im Magen die zwanzig noch nötigen Schritte auf ihn zu und fragte mich unentwegt, was er wohl sagen würde. Gar nichts, fiel es mir wieder ein und ein beklemmendes Gefühl in der Brust kam noch dazu. Je mehr Zeit ich mit ihm verbrachte, desto öfter entfiel mir, dass er stumm wie ein Fisch war und eine Art Schuldgefühl überkam mich dann immer. Wie konnte ich etwas so Wichtiges nur vergessen?

 

Mein Mund verformte sich zu einem harten Strich, als ich an ihm vorbeiging und ich steckte ohne auf ihn zu achten den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn um, falsche Richtung, drehte ihn wieder, es knackte, ich drückte feste und die Tür schwang auf. Mein dramatischer Tür-zuknaller-Plan wurde ebenfalls vereitelt, als er stumpf einen Fuß in die Öffnung schob.

 

„Hau ab, ich hab dir nichts mehr zu sagen, Idiot“, maulte ich, das letzte Wort war etwas zu leise, als wirklich als Beleidigung zu gelten.

 

Er drückte die Tür ohne große Mühe wieder gänzlich auf, ich konnte gerade noch weit genug zurück weichen,ehe er mich ungewollt erschlug, und verschränkte die Arme protestierend vor der Brust.

 

Er deutete wortlos auf meine Augen, die sich ziemlich trocken und geschwollen anfühlten, wahrscheinlich waren sie auch knallig rot, keine Ahnung, ich wollte gar nicht wissen wie scheiße ich im Moment aussah.

 

„Verschwinde. Bitte!“, seufzte ich stattdessen und schloss erschöpft die Augenlider. Ich wollte nur alleine sein, mich beruhigen und Sasha war einer der letzten Menschen, die mir dabei helfen könnten. Im Gegenteil, er verschlechterte meine Situation noch einmal, denn mein Herz pumpte bei seinem Anblick automatisch doppelt so viel Blut wie normal und brachte meine Gefühle damit total durcheinander.

 

Zugegeben war mir mein Verhalten, das ich damals, beziehungsweise vor einer Woche, an den Tag gelegt hatte, ziemlich unangenehm.

Ich schätze, ich hatte wohl ein wenig zu viel erwartet und wollte meine nächtlichen Träume ausleben. Gerade zu angefallen hatte ich ihn! Trotzdem war sein Verhalten scheiße gewesen, mir Hoffnungen zu machen, obwohl er keine Beziehung wollte.

 

Seitdem schwirrten tausende von Fragen in meinem Kopf herum. Warum hat er mich dann auch geküsst? Was empfindet er für mich? Wollte er sich nur austesten oder wusste er bereits, dass er auf Jungs stand? Stand er überhaupt auf Jungs? Ich schüttelte kurz meinen Kopf, vertrieb meine Gedanken und starrte Sasha skeptisch an.

 

Warum war er nur hier?

 

Er schob sich an mir vorbei in den Flur, ging ein Stück hinein und sah sich um, während ich innerlich zwischen rausschmeißen und abwarten schwankte. Kurzentschlossen ließ ich die Haustür in den Rahmen fallen und wartete still darauf, dass er etwas machte. Stattdessen stand er einfach mit dem Rücken zu mir und strich über einen hölzernen Bilderrahmen, in dem ein Kindheitsfoto von mir klebte.

 

Ich, mit einem großen Softeis in der Hand, das sich langsam verflüssigte und nicht nur meinen grinsenden Mund beschmutzte, sondern auch meinen komplett nackten Körper. Es entstand im Sommerurlaub vor acht Jahren, als wir an die argentinische Küste gefahren waren und ich praktisch den halben Strand mit meiner Nacktheit beglückt hatte. Meine Eltern hatten vergeblich versucht mich wenigstens in eine Badehose zu kriegen, sie waren der Meinung, dass alle Kinder über 6 nicht mehr ohne Bekleidung rumtoben sollten, doch ich hatte mich geweigert, schließlich durfte ich die Jahre davor auch ohne Kleidung schwimmen gehen.

 

Meine Wangen brannten, ich kann bis heute nicht verstehen, warum ausgerechnet das Bild in den Flur gehängt werden musste, ich glaube fest daran, dass Simon seine Hände mit im Spiel hatte, schließlich ließen meine Eltern nicht mal zu, dass ich mich in Gegenwart von völlig Fremden auszog von Bekannten mal ganz zu schweigen.

„Sasha, du solltest wirklich gehen“, versuchte ich es noch einmal nachdrücklicher und deutete zusätzlich noch auf die weiße Haustür. Anscheinend fruchtete es diesmal, denn der Schwarzhaarige drehte tatsächlich um. Doch anstatt auf die Tür zuzugehen, kam er mir, oder eher meinem Gesicht, immer näher, so nah, dass sich unsere Nasenspitzen beinah berührten und wir die selbe Luft atmeten.

 

Mein Herz schlug unregelmäßig und mein Kopf glühte vor Scham und Verunsicherung. „Was..?“, brachte ich stotternd hervor, aber da hatte er sich bereits wieder von mir entfernt, den Kopf leicht abgewendet, aber die Hand ausgestreckt, sodass ein kleiner weißer Zettel zwischen den Fingern hervorlugte.

 

Wie erstarrt sah ich auf den karierten Zettel.

 

Als ich mich nicht regte, verdrehte er die Augen, faltete das Papier selbst auseinander und klatschte es in voller Größe auf meine Brust, sodass seine Wärme, langsam auf mich über ging. Nur langsam konnte ich meine Hand heben und zog den Zettel zögerlich unter seinen Fingern hervor, die sich trotzdem nicht von mir lösten.

 

Ich schluckte hart und sah ihm direkt in die dunkel grünen Augen, die mich an die endlosen Wälder rings um Kaufbeuren erinnerten, in denen ich früher immer gespielt hatte, nur das seine je von einem schwarzen Ring durchbrochen wurden. Die Iris, die sich unnachgiebig in meine bohrte und einen Schauer auslöste, der meinen ganzen Rücken bedeckte.

 

Seine Fingerkuppen brannten sich durchs T-Shirt in meine Haut, hinterließen eine Gänsehaut, ich spürte sie genau, und er auch. Sein Adamsapfel hüpfte aufgeregt in seiner schmalen Kehle und er befeuchtete mit der Zunge seine perfekten Lippen. Mein Körper sehnte sich nach seinem Kuss, würde er es wagen, sich jetzt ein wenig vorzubeugen? Wollte ich das überhaupt. Gott, ja! Ich wollte, alles in mir bettelte danach, aber es war falsch. Ich sollte ihn nicht so an mich heran lassen, nicht nachdem ich wusste, dass er keine Beziehung wollte. Dabei schien er sich doch auch zu mir hingezogen zu fühlen, oder bildete ich mir das nur ein?

 

Ich räusperte mich und schuf Abstand zwischen uns, versteckte meine zittrigen Hände samt Papier hinterm Rücken, damit er mir meine Nervosität nicht ansah. Seine Augen weiteten sich einen Moment, doch dann fuhr er sich mit beiden Händen durch das Haar, leicht nickend, als verstände er meine Reaktion. Schon komisch, wie gut man sich auch ohne Worte verstehen konnte.

 

Abrupt drehte er sich um, lief in Richtung Haustür, dorthin wo ich ihn vor wenigen Minuten noch hingedrängt hatte, und legte seine Hand auf die silberne Klinke, wo er innehielt. Ich folgte ihm, unsicher was ich nun tun oder sagen sollte, starrte ihn nur wie ein verängstigtes Häschen an.

 

Plötzlich beugte sich der Größere vor, sein herber Duft wehte mir entgegen und ich spürte einen kurzen Moment lang seine sanften Lippen auf meiner Stirn, bevor er auf die Einfahrt trat, mir ein letztes mal zuwinkte und rüber in sein Haus ging, während seine schwarzen Haare in der Sonne glänzten.

10.Kapitel

 

Ich schluckte schwer, und ich hatte mit den Tränen zu kämpfen, als ich den Brief ein zweites mal durchlas. Um ehrlich zu sein, hatte ich mir Hoffnungen gemacht, er hätte nun eingesehen, dass wir ein perfektes Paar abgeben würden, ja, ich hatte uns sogar kurz im Gedanken auf Einhörnern, Händchen haltend in den Sonnenuntergang reiten sehen! Ich hatte noch verträumt aufgeseufzt, bevor ich brutal in die Realität gezerrt wurde. Hart und unerbittlich löcherten sich nun seine Worte durch mein Herz, ließen es hektisch zusammenzucken und ausbluten. Im Grunde genommen bot er mir ein Geschäft an, ein dreckiges Geschäft, bei dem ich mir noch wertloser vorkam als eh schon. Meine Fingerspitzen spielten mit den abgefledderten Ecken, falteten hässliche Eselsohren hinein und wieder hinaus, nur um das Spiel gleich darauf zu wiederholen.

 

Das Schlimme daran war, dass ich mich tatsächlich fragte, ob ich nicht darauf eingehen sollte. Meine Mundwinkel sanken drei Etagen nach unten und erneut trat salziges Wasser aus meinen Augenwinkeln hervor. Aber wenn ich dann eine klitzekleine Chance hatte, dass er seine Meinung ändern würde?, dachte ich hoffnungsvoll. Vielleicht könnte ich ihn überzeugen, vielleicht...! Mein Herz schlug höher, ich sollte es versuchen, ohne Risiko, kein Gewinn!

 

Ich bin nicht bereit für eine Beziehung, las ich still.

 

Erneut seufzte ich. Was machte ich mir eigentlich vor, ich hatte keinerlei Chancen, ihn umzustimmen, ich würde mir selbst nur etwas vormachen, wenn ich daran glauben würde, dass er irgendwann die gleichen, unermesslichen Gefühle hätte wie ich. So stark, dass er sich überwand und mit mir endlich in den Sonnenuntergang ritt, mein Gott, ich konnte ja auch auf die Einhörner verzichten, meinetwegen auch auf das Händchen halten, solange er mich nur nicht andauernd zurückwies! Ich schüttelte über meine eigenen albernen Gedanken den Kopf, langsam aber sicher entwickelt ich mich zu einer dieser extremen Tucken, die sich in enge, rosa Jeans zwängten und sich Glitzerkettchen umbanden. Alles nur seine Schuld, sagte ich mir.

 

Oh, Sasha! Dieser Junge brachte mich komplett um den Verstand, ich fraß ihm ja praktisch aus der Hand. Jeder andere hätte ihn wegen diesem Vorschlag in hohem Bogen rausgeschmissen, für immer! Aber ich, ich dachte über sein Angebot nach, sah es als eine wahrhaftige Möglichkeit an! Ich war ein hoffnungsloser Fall, genau wie Nicky gesagt hat. Verliebte mich in irgendeinen dahergelaufenen, hübschen Typen und selbst wenn ich mir vornahm, ihn vollkommen zu ignorieren, um meiner selbst Willen, konnte ich doch nicht konsequent sein. Nicht bei ihm, auch generell war das eigentlich keiner meiner großen Stärken, musste ich zugeben. War eben doch einfach breit zu schlagen. Doch die Wut und die Enttäuschung über seine Abweisung, als ich ihn fragte, was das zwischen uns beiden für ihn eigentlich war, brodelte noch immer in mir. Ich weiß es nicht, hatte er geschrieben und da war irgendwas, ganz tief in mir drin, zerplatzt, vielleicht war es die Traumblase gewesen, die sich aufgrund der Endorphine gebildet hatte, oder aber der Teil in meinem Gehirn, der schon die ganze Zeit über damit gerechnet hatte, dass sowas geschehen würde.

Die wenigen Stunden waren eben schon zu viel Glück gewesen, als dass so jemand wie ich es verdient hätte. Also musste ich jetzt doppelt leiden, als Strafe für meine Naivität und die Dummheit, die ich an den Tag legte, sobald der Schwarzhaarige meinen Weg kreuzte.

 

Mein Bauch knurrte und zog sich krampfartig zusammen, gleichzeitig mit meinen stillen Schluchzern und den Tränen, die regelmäßig aus meinen schmerzenden Augen traten. Egal, was ich tat, nichts schien mir glücken zu wollen, alles hatte seine verdammten Folgen. Ich kniff die Lider zusammen, versuchte so, das Salzwasser zu zwingen drin zu bleiben, mich zusammen zu reißen, denn das tat ein echter Kerl nun mal in solchen Situationen. Ich hatte heute schon zu viele Tränen vergossen und so fühlte ich mich auch. Erschöpft und entmutigt rollte ich mich in meiner selbst-bestickten Bettdecke zusammen, die sich wärmend um meinen zitternden Körper schlang und deren Muster so schön mit der Farbe der Tapeten harmonierte. Meine Oma hatte sie mal gemacht, wahrscheinlich aus Langeweile, und hatte sie im Keller verrotten lassen, bis ihr einfiel, dass es vielleicht noch gut genug für ihren Enkel war. Mein Weihnachtsgeschenk. Ich lachte bitter auf.

Auch wenn das Geschenk unmöglich von Herzen kommen konnte, hatte es mich doch gerührt, so sehr, dass ich nun schon seit einem halben Jahr in ihr schlief, was sichtlich unhygienisch war. Überall waren Krümel oder Flecken verteilt, ohne Aussicht darauf, jemals wieder von dort verschwinden zu können. Ich hatte Angst, dass die mühevoll zusammen gestickten Motive in der Waschmaschine ihre blauen Fäden verlieren könnten und das wollte ich auf keinen Fall riskieren. Der weiche, schon etwas aufgeraute Stoff hatte etwas heimatliches an sich, ich fühlte mich behütet, wenn ich mich in der Nacht an ihn kuschelte. Doch auch die selbst-bestickte Decke meiner Oma, konnte mir nicht die Last abnehmen, die sich auf meinen Schultern breit gemacht hat.

 

Ich drehte den Zettel in meinen Händen, besah mir jeden Buchstaben einzeln: an manchen Stellen hatte er zu fest aufgedrückt, sodass ein deutlich dunklerer Fleck an den Enden entstanden war, an anderen war die Farbe des Kullis so hell und dünn, dass ich mich fragte, ob er überhaupt auf einer festen Unterlage geschrieben hatte. Vielleicht war dieser Brief auch nur eine seiner spontanen Ideen, die er wahrlos umgesetzt hatte, doch auch daran wollte ich nicht glauben, denn das würde bedeuten, dass ich ihm nicht genug wert war, auch nur einen Gedanken zu verschwenden. Nein, dafür war Sasha ein zu verantwortungsbewusster Mensch. „So ist er nicht“, flüsterte ich leise zu mir selbst und meine Kehle fühlte sich dabei merkwürdig rau und vertrocknet an.

Plötzlich wog der einfach Zettel unendlich schwer in meinen Fingern und mir wurde noch einmal bewusst, wie viel von meiner Entscheidung abhing und wie viel ich mit einem einfach „Okay“ zerstören konnte, nämlich unsere Freundschaft, die in eindeutigen Zügen zu erkennen und nicht zu leugnen war. Aber war sie nicht schon längst zerstört, hatten unsere Küsse, so unschuldig sie im Vergleich zu dem, was ich eigentlich mit ihm anstellen wollte, nicht bereits alles verändert?

„Es kann nur noch besser werden, ich habe nichts zu verlieren“.

 

Als ich die gleichen Worte eine Stunde später wiederholte, klangen sie ganz anders. Vielleicht lag es daran, dass sich die Umgebung geändert hatte (ich saß mit Nicky nun draußen im Skaterpark, auf einer dieser schrecklich unbequemen Rampen, die ständig vibrierten, wenn einer dieser noch grausigeren Bretter vorbeifuhr und nicht mehr in meinem kleinen, stillen Zimmer), aber vielleicht lag es auch daran, dass ich es vor jemand anderem ausgesprochen hatte, und meine Worte somit automatisch an Gewicht zunahmen. Sie ließen sich nicht mehr zurück nehmen, nachdem sie meinen Mund verlassen hatten und es ließ sich auch schlecht leugnen, denn Nicky war ein sehr aufmerksamer Junge, auch wenn man es auf dem ersten Blick nicht zu glauben vermochte. Die braunen Locken versteckten, meiner Meinung nach, nur seinen brillianten Kopf: Keiner war so gut in Mathe wie er und bei Dungoens&Dragons hatte er mich längst übertroffen, beides etwas, wovor ich riesigen Respekt hatte.

 

Er seufzte und legte die schwarze Spielekonsole aus der Hand, direkt neben ihn, damit er sie ja nicht aus dem Blick verlieren konnte, sah einen Moment lang schweigend in die untergehende Sonne und streckte die kurzen Beine mit den schwarzen Converse in die vor Wärme flimmernde Luft. „Du wirst schwach, Owen. Kaum gibt er dir die Möglichkeit, ihn flachzulegen, springst du drauf an wie ein wild gewordenes Kanickl! Man sollte meinen, du wüsstest, wie du Druck abbauen kannst." Seine Nase krauste sich, ein Zeichen dafür, dass er versuchte ein Lächeln zu unterdrücken.

 

„Es geht doch nicht um den Sex!“ Meine Stimme überschlug sich fast vor Nervosität und ich konnte spüren, wie meine Wangen vor Scham heiß wurden. Auch wenn wir beste Freunde waren, Sex war bisher nie eines unserer Gesprächsthemen gewesen, zu peinlich, zu grotesk, und vor allem hatten wir beide keine Ahnung, wovon wir da sprachen. Grund genug, dieses Thema zu ignorieren. „Es geht um die...“, „ ...Gefühle. Schon klar.“ Der Braunhaarige seufzte erneut und schloss genießerisch die Lider, während die wärmenden Sonnenstrahlen auf uns nieder schienen. „Du denkst, er nutzt mich aus, oder? Ist es das, was du sagen willst?“, nörgelte ich aufgebracht und verschränkte meine Arme sofort verteidigend vor der Brust, doch er schüttelte prustend mit dem Kopf. „Ich will sagen, dass du blind vor Liebe bist. Oder aber, dein Bedürfnis nach deiner Entjungferung ist mittlerweile so groß, dass es dir den Kopf verdreht! Beides keine geeignete Gefühlslage, um wichtige Entscheidungen zu treffen, wenn du mich fragst“. Schnaufend schluckte ich meine Erwiderungen runter.

 

„Du hast doch keine Ahnung, wovon du da redest!", wisperte ich, mehr zu mir selbst als zu ihm, und sah überrascht auf, als er tatsächlich antwortete: „Da magst du verdammt recht haben“. In seiner Stimme schwang etwas mit, das ich nicht so ganz entschlüsseln konnte, vielleicht Traurigkeit, oder aber er war einfach nur genervt, von mir und meinem ewigen Wankelmut. Einer der Skater vollführte einen gewagten Trick auf seinem grün-meliertem Bord und kassierte ordentlich Applaus und lautstarkes Gejohle von seinen zwei Mitstreitern, die sich wie wir auf eine der Rampen niedergelassen hatten.

 

Wahrscheinlich war es ihnen zu heiß geworden, um Sport zu treiben, verständlich, bei den 38° Grad die momentan herrschten! Man sollte meinen, wir, als kleines Städtchen, wären von der Hitzewelle, die gerade im Land herrschte, verschont worden, ähnlich wie von der Industrialisierung oder der Autoprämie vor ein paar Jahren, aber nein, auch hier liefen zahlreiche Nachbarn ohne Oberbekleidung durch die Gegend, und präsentierten dabei den jahrelang mühevoll antrainierten Bierbauch. Würde ich auch tun, aber mir vor den wohlgeformten Bodys der Skater die Kleider vom Leib zu reißen, war mir dann doch zu peinlich und so schwitzte ich lieber. Nicky sah das anscheinend ähnlich, oder auch nicht, schließlich war er von so etwas Lästigem wie Schweiß eh nie betroffen. Beinah neidisch musterte ich das braune T-Shirt, das an den Achseln keine dunklen Verfärbungen aufwies und traute mich nicht einmal, meine eigenen anzusehen, ich spürte auch so, dass dort nicht gerade ein Trockengebiet war. Schon allein deswegen mochte ich den Winter lieber, außerdem hatte es noch einen entscheidenden Vorteil: Ich konnte meinen, leider recht dürren, Körper unter Bergen von Klamotten verstecken!

 

„Was soll ich denn jetzt machen, Nicky?“, fragte ich verzweifelt und ließ meine Schultern entmutigt hängen, das Gesicht zur Grimasse verzogen. Der Angesprochene blinzelte gegen die Sonne an und zog die Beine zu ihm hoch, um sich in den Schneidersitz zu begeben. Er zuckte mit den Schultern „Sasha ist kein schlechter Kerl, aber das Angebot ist nun mal was es ist: Ein Freifahrtschein für ungebundenen Sex, ohne Verpflichtungen. Du musst selbst wissen, was du willst, vielleicht hast du Recht und er verliebt sich in dich und ihr reitet zusammen in den Sonnenuntergang“, spöttisch äffte er mich nach, malte mit seinen Fingern Anführungszeichen in die Luft und ich bereut sofort, dass ich ihm überhaupt davon erzählt hatte. Er wurde wieder ernst und sah zu mir hoch. „Aber vielleicht tut er es auch nicht und bricht dir damit irgendwann unwissentlich das Herz“. Augenblicklich hatte ich das Bedürfnis, den Kloß herunter zu schlucken, der sich in meiner Kehle gebildet hatte und mir nun den Atem abschnitt. „Ja, vielleicht...“

 

 

 

 

Simon, mein herzallerliebster Bruder, saß mit einem wissenden, arroganten Lächeln an meinem kleinen Schreibtisch, einen blauen Kugelschreiber in der Hand, den er in einem unrhythmischen Tempo auf-und zu drehte. Überrascht und argwöhnisch die Augenbraue hebend blieb ich im Türrahmen meines Zimmers stehen.

„Was machst du denn hier?“, meine Stimme versagte in der Mitte des Satzes, und ich konnte nicht verleugnen, dass es vor Scham war. Ich war immer noch wütend, aber mein Ausraster, mitten im Supermarkt, unter den Augen unserer Nachbarn, trieb mir trotzdem die Röte in die Wangen.

 

„Die bessere Frage ist doch, was machst du hier?“

Was meinte er denn damit? Verwundert blinzelnd musterte ich ihn nun ausführlicher: Er hatte nur ein labriges, graues T-Shirt an, mit einer Jogginghose in der selben, nichtssagenden Farbe. Eigentlich völlig untypisch für ihn, legte er doch sonst so viel Wert auf sein Äußeres. Aber seine Augen...Mein Herz schlug vor Panik augenblicklich höher. Diesen Blick hatte er als Kind immer dann drauf gehabt, wenn er etwas gegen mich in der Hand hatte, mich ärgern oder gar erpressen konnte. Und das hatte er in unserer Kindheit leicher andauernd machen können. Irgendetwas hatte er herausgefunden und es war definitiv nichts Gutes!

 

„Was meinst du?“; fragte ich unsicher, obwohl ich schon längst wusste, dass die Antwort nichts Positives für mich beinhalten würde.

„Na, warum bist du nicht bei deinem kleinen, schwarzhaarigen Zuhälter von nebenan? Ich habe zwar keine Ahnung, was genau da zwischen euch läuft, aber dieser kleine Brief hier“, er wedelte mit dem abgeknickten Zettel in der Luft, „scheint mir der Beweis dafür zu sein, dass du nicht nur ne dreckige Schwuchtel, sondern auch noch reichlich dumm bist!“ Geschockt riss ich meine Augen auf, das durfte doch nicht...! Er lachte höhnisch, als ich eilig zwei Schritte auf ihn zuging und meine Finger nach dem Zettel ausstreckte, doch er riss ihn noch rechtzeitig hoch.

„Gib das her!“, quengelte ich reichlich unmännlich, doch da er ein wenig größer war als ich, lagen meine Chancen bei Null. Scheiße, aber auch!

 

„Hätte nicht gedacht, dass du dich jetzt auch noch prostituierst! Na, wenigstens bist du sozial engagiert und machst es der Schwuchtel für umsonst. Wäre schändlich für die Familie, wenn du für deine mangelnde Leistung im Bett auch noch Geld nehmen würdest“; abschätzig besah er mich von oben herab und unter seinen klaren Augen, fühlte ich mich plötzlich unendlich klein. Trostlos ließ ich die Schultern hängen und lehnte mich haltsuchend gegen die kühlende Tischplatte.

 

„Mag sein, dass dieser Sasha aus der Sicht einer Tunte ein ganz toller Hecht ist“, seine Augen glänzten vor Ironie, bekamen dann jedoch einen ernsteren Ausdruck, „aber, glaub mir, kein Mensch auf der Welt ist es wert, sich wie eine dreckige Nutte behandeln zu lassen. Vor allem dann nicht, wenn man damit dem Ruf seiner Familie schadet“. Einen Moment lang dachte ich, ich hätte so etwas wie Tränen im linken Augenwinkel meines Bruders gesehen, doch das konnte unmöglich sein. Das letzte mal als er geweint hatte, war er 12 gewesen, das war an Großvaters Beerdigung und ich konnte mit Recht sagen, dass die Beiden eine sehr enge Bindung zu einander gehabt haben mussten, schließlich war er jedes Wochenende von dem alten Herren abgeholt und verwöhnt worden. Keine Ahnung warum, aber nach Opas Tod war er noch abweisender geworden als er es eh schon war.

Danach habe ich ihn nie mehr weinen sehen. Zugegeben, ich habe ihn so oder so gemieden, also wer wusste schon, was während meiner Abwesenheit geschah, aber dass mein Bruder gerade vor mir weinte, war trotzdem unmöglich!

 

„Weinst du etwa?“, quietschte ich nun schockiert und meine Augenbrauen schossen unabsichtlich in die Höhe. „Sei nicht albern, Owen!“. Er erhob sich hastig aus dem quietschenden Drehstuhl, warf den Zettel in die Luft, sodass ich ihn gerade noch zu fassen bekam, bevor er zu Boden segeln konnte und eilte aus dem Raum. Als ich ihm verblüfft nachsah, konnte ich jedoch genau erkennen, dass sein Rücken bebte, ein eindeutiger Hinweis auf verzweifeltes Schluchzen. Was war nur mit den Leuten um mich herum los? Bei allem was sie sagten, gerieten sie neuerdings in Gefühlsduselei, egal ob Nicky oder, ich verzog das Gesicht, mein Bruder. Vielleicht steckten wir doch alle im selben Boot, auf eine verqueerte Art und Weise und ich wusste einfach nur nichts davon?

 

Ich krauste meine Stirn, sodass unschöne Falten entstanden und wischte mir den Schweiß in meinen Handflächen an meiner Hose ab. Ich hatte Nicky nie danach gefragt, ob er sich in jemanden verliebt hatte, ich wusste nicht einmal, ob er überhaupt ein romantisches Interesse an irgendjemanden hatte! Vielleicht war der Kleine ja auch asexuell, homosexuell, bisexuell oder gar hetero! Ich hatte doch keinen Plan, auf was Nicky überhaupt stand...Und Simon war nicht der Typ dafür, sich in Gefühle jeglicher Art zu verstricken. Ich schüttelte seufzend den Kopf und ließ mich auf das glatte Leder des Stuhls fallen. Im Sommer klebte es unangenehm an der verschwitzten Haut, doch es kühlte meinen überhitzten Körper auch, also versuchte ich das beständige Ziehen in den Kniekehlen zu ignorieren.

 

Ich schielte unbeholfen zu meinem kleinen Handy, das unangetastet auf dem Nachttisch neben meinem Bett lag und keinen Mucks von sich gab. Wie auch, Sasha hatte nicht mal meine Nummer und Nicky war bis vor wenigen Minuten noch mit mir zusammen gewesen, unwahrscheinlich, dass er sich schon bei mir hätte melden können. Andere Freunde hatte ich nun mal nicht.

 

Mit lautem Geknister zerknüllte ich den Brief in meinen Händen, mit einem Versprechen an mich selbst: Ich würde nicht nachgeben! Nicky hatte recht, Sasha wollte nun mal keine Beziehung und ohne die, würde ich keine weiteren Berührungen zulassen!

Wenn er diesen Körper wollte, sollte er sich auch Mühe geben, und, verdammt, ich würde dafür sorgen, dass er Nachts nur noch von mir träumte!

 

Das würde sicher nicht einfach werden (an mir war schließlich nicht gerade viel dran, was man betonen könnte!) aber irgendwann würde dem Schwarzhaarigen die Puste ausgehen, da war ich mir sicher! Manche Menschen musste man eben zu ihrem Glück zwingen.

 

Optimistisch drehte ich mich samt Stuhl ein wenig herum und blickte geradewegs in mein Ebenbild. „Wird Zeit für eine Veränderung!“, flüsterte ich mir selbst entgegen.

11. Kapitel

Sasha:

 

 Der Stuhl knartschte, als ich mich zurücklehnte und nachdenklich mit meinen Zehen wackelte. Vor und zurück, zurück und vor. Immer wieder, im stetig gleichen Rhythmus. Der kühle Wind des Ventilators, den ich unten im Keller gefunden hatte, wehte um meine nackte Haut.

 

Die Sonne schien, die Temperatur war angenehm, ja, eigentlich war der Tag geradezu perfekt! Ich streckte meine Hand nach dem gekühlten Limonaden-Glas aus und nuckelte am Strohalm. Wäre da nicht dieses nervige Knistern in meinem Hinterkopf, das in jeder ruhigen Minuten zu einem Hämmern und schließlich zu einer tosenden Explosion anschwoll und mich mit Erinnerungen überflutete, die ich am liebsten wieder verstecken würde.

 

Jedenfalls so lange, wie ich noch auf eine Antwort warten müsste.

 

 Mittlerweile war schon wieder eine Woche vergangen, ich wusste nicht einmal, ob Owen den Brief gelesen hatte und ich schwankte andauernd zwischen Scham und der völligen Ohnmacht. Zum einen bereute ich es, dem Blonden ein Angebot unterbreitet zu haben, von dem ich wusste, dass es nicht gerade ... üblich war, zum anderen hatte ich keine Ahnung, was ich tun sollte und so saß ich nun tagaus tagein wahlweise in unserem Garten oder in der Schule.

 

Und wenn ich dort nicht war, dann saß ich auf der Rampe im Skaterpark und grübelte über meine eigene Dummheit, während die immer gleichen Jugendlichen auf ihren Boards um mich herumfuhren und knatternde Geräusche von sich gaben.

 

Heute hatte ich mich für den Garten entschieden, denn es war eindeutig komfortabler bei 38° unter dem kleinen, schattigen Apfelbaum zu liegen, als mich in der prallen Sonne brutzeln zu lassen. Außerdem hatte das noch einen weiteren Vorteil, denn wenn ich den Kopf etwas drehte, konnte ich durch einen Schlitz im Holzzaun auf das Nachbar-Grundstück lugen und beobachten, wie abwechselnd Nicky und Owen in einem aufblasbaren Schwimmbecken verschwanden.

 

Dabei war mir nicht entgangen, dass er eine dieser ultra-engen Badehosen trug, die heutzutage keiner mehr besaß, weil sie alles betonten, was nicht betont werden sollte. Und mir war auch nicht entgangen, dass sich bei seinem Anblick ein merkwürdiges Stechen in meiner Brust breit machte und ich gegen einen Kloß anschlucken musste, der, egal was ich auch tat, einfach nicht verschwinden wollte.

 

 Ich zog meine Nase kraus und schob die schwarze Sonnenbrille von meinem Kopf zurück auf ihren Platz, propfte mir hastig die Kopfhörer in meine Ohren und drehte die Lautstärke auf. Vielleicht würde die Musik meine Gedanken übertönen und das penetrante Hämmern einfach verschwinden, wenn ich es nicht mehr hören könnte.

 

Doch die Bilder blieben, eingebrannt in meinen Netzhäuten und ich ließ es zu. Ließ zu, dass ich daran dachte, wie es sich anfühlte, meine Lippen auf seine zu legen, den Geschmack seiner Haut in mir aufzunehmen und meine Finger mit seinen zu verschränken.

 

Es war albern, sich in solchen Details zu verlieren, wen interessierte es schon, wie Owens Haar im Licht aussah, wenn wir uns doch schon seit so einer langen Zeit nicht mehr berührt hatten. Owen. Ich brauchte ihn, ich wollte ihn. Spüren, ansehen, riechen. Gott, sein Duft!

 

Ich schluckte. Er roch so süß ...

 

 Ich schlug mir die Nächte um die Ohren mit seinem Geruch und dem Gedanken daran, am nächsten Tag wieder in die Schule gehen zu müssen, neben ihm zu sitzen, während der Bus das eklige, kleine Gebäude ansteuert und in den Mathestunden aus seinem Buch gucken zu müssen. Und obwohl es so schmerzte, war es irgendwie tröstlich, dass sich das nicht geändert hatte.

 

Und auch Zwergnase war noch immer der Gleiche, obwohl er nun öfter mal einen Blick über seine Konsole wagte und sein Blick mit jedem Tag besorgter wurde. Die Spannung zwischen Owen und mir war Keinem entgangen, die anderen witzelten schon über den 'Ärger im Paradies'. Zu meiner Überraschung, Querstrich Erleichterung, hielt Markus sich mit Sprüchen jedoch größtenteils zurück. Ich glaubte kaum, dass ich meine Hände dann noch von seinem Gesicht hätte fernhalten können.

 

 Doch am meisten setzte es mir zu, dass ich all das tat. Dass ich an ihn dachte, unabhängig davon wo ich gerade war oder um wie viel Uhr. Dass ich ihn nicht abschütteln konnte und dass mein Herz zusammenzuckte, wenn ich sah, wie glücklich er war, lachte, und ich wusste, dass er es nicht wegen mir tat. Und wenn ich ehrlich zu mir sein wollte, das Ganze objektiv betrachtete, dann verhielt ich mich wie ein liebeskranker Teenager. Fehlten nur noch die zehn Tonnen Eiscreme und ein Haufen voll von Liebesromanen alà Rosamunde Pilcher.

 

Ich seufzte. Ich konnte nur warten, hoffen, bangen. Vielleicht würde er das Angebot annehmen, vielleicht würde er mich aber auch nur weiterhin ignorieren und sein Mathebuch mit mir teilen.

Ich sah zu Owen rüber, wie er auf dem Rand des Schwimmbeckens saß und an einem Wassereis leckte. Vielleicht wird auch alles wieder so, wie es vorher war, dachte ich still.

 

 Ja, vielleicht...

 

 

 

Am nächsten Morgen saß ich wiedermal unruhig auf meinem Stuhl und knabberte am Ende des Bleistifts, an dem sich normalerweise ein Radiergummi befand, das aber irgendwann in den letzten Jahren Millimeter für Millimeter verschwunden war. Ich wog den karierten Collageblock in meiner linken Hand und schielte abwechselnd auf den Stift und den leeren Platz neben mir. Das dunkle Holz des Stuhls sah ohne seinen Besitzer einsam aus und ich vermisste die warme Ausstrahlung eines anderen Körpers neben mir.

 

Obwohl die Sonne schien, die Temperatur im Klassenzimmer quasi ins Unermessliche stieg und meine nassen Achseln Zeugen des Sommers waren, kroch die eiserne Kälte in mir hoch. Owen war nicht da. Ich hätte darauf vorbereitet sein müssen, immerhin fuhren wir jeden Morgen zusammen im Bus und Nicky hatte bereits verlauten lassen, dass wir heute wohl nicht mehr mit ihm rechnen könnten.

 

Es war trotzdem ein komisches Gefühl, ganz allein hier zu sitzen. Die Blicke der anderen, das Getuschel, heute blieb es allein an mir hängen und ich war nicht in der Verfassung, um sie einfach wegzuwischen. Zudem machte ich mir Sorgen um den Blonden. Er war ehrgeizig und ich hatte immer den Eindruck, er würde erst dann Zuhause bleiben, wenn er körperlich nicht mehr in der Lage dazu wäre, die Straße runter zur Bushaltestelle zu laufen.

 

 Ich drehte den Stift zwischen meinen Fingern und sah aus dem Fenster. Das Glas war dreckig und dank der Sonnenstrahlen sah man die dunklen Streifen besonders deutlich. Manche Schüler hatten mit den den Fingern Worte hineingeschrieben, irgendwelche Beleidigungen wie Hackfressenficker oder wahlweise auch hungrige Analratten. Keine Ahnung, wo man solche Begriffe fand, vielleicht ein wilder Wort-Mix aus dem Duden?

 

 „Sasha, kommen Sie bitte nach Vorne und schreiben Ihre Lösung für Aufgabe 3c an?“ Frau Berger sah ungeduldig zu mir und streckte ein Stück weißer Kreide vor sich ab, das ich mir widerwillig entgegen nahm, nachdem ich mich vom Platz gehievt hatte.

 

Um ehrlich zu sein, hatte ich keinen Schimmer von Mathe oder von den Hausaufgaben oder von Aufgabe 3c. Ich wusste nicht einmal, was Aufgabe 3c war, denn das Mathebuch, das ich sonst immer benutzte, war samt Owen ja verschwunden und, warum auch immer, hatte man mir alle Bücher außer dem Mathebuch gegeben.

 

Ich verharrte tatenlos vor der grünen Tafel, spürte, wie mein Puls vor Scham raste und hörte, wie die ersten Schüler hinter mir anfingen zu murmeln.

 

„Sasha? Alles in Ordnung bei Ihnen? Soll ich Ihnen die Aufgabe diktieren?“ Frau Berger klang hilfsbereit wie immer, eine tolerante Lehrkraft eben, konnte ihren gereizten Unterton jedoch nicht gänzlich verbergen.

 

Ich kratzte verlegen meine Stirn und schüttelte den Kopf. Die Kreide bröselte leicht zwischen meinen feuchten Fingerkuppen und hinterließ einen weißen Film auf meiner Haut, als ich es auf die Metallschiene unter der Tafel legte. Ich sah, wie Frau Berger verärgert den Mund zusammenkniff und sich kleine Fältchen darum bildeten.

 

„Vielleicht sollten Sie besser aufpassen, anstatt aus dem Fenster zu starren. Setzen Sie sich, Sasha! Leonie, würden Sie es bitte einmal versuchen?“

 

Ein mollige Blondine stampfte von der vordersten Sitzreihe an die Tafel und schrieb ihre Ergebnisse an. Und auch, wenn mein innerer Schweinehund sich dagegen strotzte, griff ich nach meinem Bleistift und schrieb die Aufgaben ab. Wirklich nachvollziehen, was ich das abschrieb, tat ich nicht.

 

War in Mathe aber immer so, deswegen machte ich mir keine unnötigen Sorgen. Und als die Pausenglocke klingelte, war ich auch bestimmt nicht der einzige, der erlöst aufatmete. Der ewige Fluch der Mathematik!

 

 Das Quietschen meiner Schuhe auf dem Linoleum-Boden ging im Getöse der Menge unter. Da Owen wohl einen auf kränklich machte, führte mich Nicky ausnahmsweise vom Klassenzimmer nach draußen, hinter die Sporthalle, zu einer schmalen Holzbank, die zur Hälfte in der Sonne und zur anderen Hälfte im Schatten der Regenrinne stand.

 

„Sonne oder Schatt'n?“, fragte Zwergnase und blinzelte dabei gegen das grelle Licht an, das sich in den Fenstern der Halle brach. Ich zuckte unschlüssig mit den Achseln, eigentlich war es mir schnurz-piep-egal, ließ mich dann aber auf der Schattenseite des Lebens wieder. Ob das ein Omen war? Gut möglich.

 

 „Hör' mal, Sasha, kein Plan, was du gedenkst mit Owen zu tun ...“, er hob bedeutungsvoll die Augenbrauen, „ ... aber wir wiss'n ja alle, dass da bestimmte Gefühle mit im Spiel sind und ich wär' dir echt dankbar, wenn du versuch'n würdest, es nicht vollkommen zu versau'n, kapiert?“

 

Ich nickte mechanisch, wobei ich meinen Blick nicht eine Sekunde von den wuchernden Grashalmen unter meinen Füßen nahm. Nicky wusste es. Wusste er auch von …? „Gut. Owen schmiedet nämlich schon Pläne, wie er dich dazu bekommt, mit ihm in den Sonnenuntergang zu reiten, vielleicht willste ihm das ganze Drama ja einfach ersparn und den armen, armen Owen gesund pflegen!?“

 

Wieder diese komische Augenbrauen-Geste. Mein Mund war ganz trocken vor Aufregung. Nicht nur, dass Nicky anscheinend peinlich genau darüber Bescheid wusste, was zwischen mir und Owen lief (oder eben nicht lief!), nein, er hatte mir auch Ratschläge gegeben. Wenn man sowas denn einen Rat nennen wollte.

 

Und nebenbei auch noch fallen gelassen, dass Owen mich um den Finger wickeln wollte, was auch immer das bedeuten soll. Ich konnte nur hoffen, dass das mit dem Reiten nicht wörtlich zu verstehen war, denn ich hatte schreckliche Angst vor diesen Huftieren und der Gestank erst! Allerdings konnte ich mir Owen auch nicht wirklich auf einem Pferd vorstellen, oder bei irgendeiner anderen sportlichen Betätigung.

 

 Ich glaube nicht, dass das zwischen mir und ...

 

Plötzlich hielt Nicky meine Hand eisern fest, mit der ich bereits ein paar Wörter auf einen kleinen Schnipsel gekrakelt hatte und machte einen äußerst genervten Eindruck.

 

„Sasha, das war der einzige Rat, den ich dir jemals in Bezug auf Owen geben werde. Keine Insiderinfos, Psychologengespräche und besonders kein Kummerkasten unter dieser Rufnummer! Verstanden? Wenn du darüber red'n willst, geh zu Owen, der schnieft sich wahrscheinlich schon den ganzen Morgen die Seele ausem Leib. Sommergrippe. Lass dich nich anstecken und bring ihm ein paar Grippostat, wenn er einmal anfängt zu kränkeln, kommt er ganze drei Wochen nich mehr ausem Bett, der Simulant!“

 

Er schlug mir beherzt auf den Rücken und holte schon seine PSP aus der Tasche, während ich völlig regungslos dasaß und verblüfft dreinschaute. Man konnte sagen, was man wollte, diese Zwergnase war schon ein komischer Typ!

 

 

 

Owen:

 

 Warm. Viel zu warm. Hastig schmiss ich die selbst-gehäkelte Decke von Omi in die Ecke und breitete meine Arme zu den Seiten hin aus. Ich spürte den fettigen Schweiß an mir kleben und am liebsten wäre ich zum zweiten mal heute unter die Dusche geschlurft. Aber ich konnte mich nicht dazu aufraffen.

 

Stattdessen griff ich nach einem neuen Papiertaschentuch vom Nachtschränkchen, nestelte es aus der kleinen Öffnung und schniefte geräuschvoll hinein. Der Bereich unter meine Nase war schon völlig wund und rot, kein schöner Anblick und ziemlich empfindlich noch dazu. Wäre ich doch nur nicht in das Planschbecken gegangen ...

 

Jetzt hatte ich den Salat! Stöhnend ließ ich mich zurück ins Kissen fallen und warf das Taschentuch zu den andern zwanzig in den Mülleimer neben meinem Bett. Wahrscheinlich hatte ich nicht mal getroffen, sollte mir aber auch egal sein. Wenigstens würde ich nicht mit Sam rausgehen müssen, wusste sowieso nicht, warum mein feiner Herr Bruder nicht selbst mit seinem dummen Köter gehen konnte.

 

 Genervt strampelte ich wüst in meinem Bett rum, bis alle Kissen von der Matratze gefegt worden waren. Ich konnte beinah spüren, wie das Laken an meinem verschwitzten Rücken klebte. Uahhh! Das Gesicht verziehend schob ich langsam meine Beine über die Bettkante und patschte seufzend durch mein Zimmer auf das Bad zu.

 

Simon würde mir einen ellenlangen Vortrag über den Wasserverbrauch halten, ginge ich noch ein weiteres mal in die Dusche. Sehnsüchtig blickte ich auf die gläserne Trennwand, beließ es dann aber bei einem Schwung kaltem Wasser im Gesicht. Das flüssige Nass floss in Tropfen meine Haut hinunter, wusch den Schweiß weg und gab mir das Gefühl von Frische.

 

Plötzlich hörte ich das laute Surren der Türklingel, dann das Poltern von Füßen, die die Treppe runter hasten und schließlich das wütend gebrummte „Ich komm ja schon“ von Simon. Ich stütze mich neugierig mit beiden Händen am kühlen Rand des Waschbeckens ab, während ich nach unten lauschte.

 

 Die Tür wurde quietschend geöffnet. Stille. „Ähm kann ich dir vielleicht helfen?“

 

Keine Antwort. Langsam ahnte ich bereits, wer dort unten an der Tür stand. Aber das konnte doch nicht sein, oder?

 

Hastig nahm ich den roten, flauschigen Bademantel von der Kommode, der meine Brust verdeckte und eigentlich meiner Mum gehörte, schlang den dazugehörigen Gürtel schlabbrig um meine Mitte und tappste mit nackten Füßen die Treppenstufen hinunter und spähte um die Ecke.

 

„Bist du vielleicht schwerhörig? Willst du zu jemandem? Oder hast du dich vielleicht in der Tür geirrt? Bist du ein Freund von Owen?“, rasselte Simon mittlerweile alle Möglichkeiten hinunter und erntete nur verlegenes Schweigen von seinem Gegenüber.

 

„Äh lass ihn ruhig rein, das ist Sasha, ein Freund aus der Schule“, krächzte ich schnell und krallte mich mit der rechten Hand an das Treppengeländer, um nicht aus den Latschen zu kippen. Schniefend und vollkommen verlegen schlang ich den Mantel enger um mich.

 

Warum musste er auch immer dann vorbeikommen, wenn ich womöglich noch hässlicher aussah als sonst? Meine Haare lagen platt am Kopf, und ich roch wie ein verfaulendes Eichhörnchen. Dazu noch die knallrote Nase und die Schnodder-Geräusche, die ich im Sekunden-Takt beim Atmen von mir gab.

 

 „Ach, du bist Sasha? Hab schon viel von dir gehört.“

 

Simon hob skeptisch eine Augenbraue und weitete die Haustür ein Stück, sodass der Schwarzhaarige in den Flur schlüpfen konnte. Auch wenn ich es ungern zugab, mein Bruder war nicht dumm, er konnte 1 und 1 zusammen zählen. 100 Punkte also für den nervtötenden Studenten im blauen T-Shirt dahinten, dem eine leuchtenden Glühbirne über dem Kopf schwebte!

 

Ich warf ihm einen bösen Blick zu, ehe ich peinlich berührt in den roten Flausch-Ärmel hustete.

 

„Tut mir leid, ich bin echt krank. Ich fürchte, wenn du mir zu nah kommst, stecke ich dich noch an.“

 

Er zuckte abwehrend mit den Schultern, nestelte etwas am schwarzen T-Shirt herum und schielte beklemmt zu Simon, der erwartungsvoll an der Wand lehnte. Er würde wahrscheinlich lieber zehn Runden mit Sam drehen, als von hier zu verschwinden und etwas zu verpassen. Mein Daumen rückte nervös die Brille zurecht, bevor ich mich stumm seufzend

 

auf der Stufe umdrehte und den Weg zu meinem Zimmer hochmaschierte. „Na gut, komm, wir gehen nach oben.“ Sasha folgte mir auf dem Fuße, ich hörte den Klang seiner Turnschuhe auf dem Holz hinter mir und das leise Klappern seiner Vorderzähne, als diese seine Piercings anknabberten. Bei dem Gedanken an das Metall, kribbelte meine Unterlippe erwartungsvoll, ehe sie sich nach unten verzog und ich ein kräftiges Niesen ausstieß.

 

Ich stöhnte erschöpft. Während alle andern bei diesem schönen Wetter fleißig in der Schule waren, saß ich hier und tropfte mit dem Wasserhahn um die Wette. Schlaff schloss ich meine Zimmertür hinter uns beiden, ehe ich mich auf meinen Schreibtischstuhl fallen ließ, sodass der rote Stoff des Mantels in Falten über meine nackten Oberschenkel schlug. Sasha kaute noch immer auf seiner Unterlippe, doch sonst war alles still.

 

„Ähm also Nicky hat mir die Hausaufgaben schon geschickt, p-per Handy, meine ich. Du hättest nicht extra vorbeikommen müssen.“ Ich deutete auf die zwei Zettel in seiner Hand, Mathe und Biologie, wenn ich mich recht erinnerte. Er nickte und kratzte sich leicht am Hinterkopf, legte die in der Mitte geknickten Blätter sachte auf mein Bett und ließ sich daneben nieder.

 

Ich konnte nicht anders, als ihn aus dem Augenwinkel zu mustern. Seine grünen Augen blitzten gerade so unter dem dichten Haar hervor und die silbernen Ringe in der Unterlippe glänzten im Licht der Zimmerlampe, waren leicht angefeuchtet von Sashas Geknabbere. Er streckte sich, greift nach einem kleinen Kugelschreiber, etwas halb so lang wie mein Mittelfinger, wiegt ihn eine Weile hin und her, als wäre er sich nicht sicher, ob er wirklich etwas schreiben wolle.

 

„Hier.“ Ich reichte ihm einen Notizzettel, einen von Solchen, die am oberen Ende einen Klebestreifen besaßen, und nestelte nervös einen Fussel nach dem andern aus dem Bademantel. Mittlerweile war mich nicht mehr warm, auf meinen Beinen hatte sich eine Gänsehaut ausgebreitet, die Härchen standen stramm nach oben ab und erinnerten mich an ein gerupftes Huhn.

 

Wie geht es dir? Du siehst ziemlich mitgenommen aus... Ich schnaufte und musste gleich darauf husten. „Nette Umschreibung“, witzelte ich heiser, „aber danke, ich werd' schon wieder, schätz' ich.“ Er lächelte, nicht ganz, denn es erreichte seine Augen nicht. Ich habe dir etwas mitgebracht.

 

Er kramte in seiner Hosentasche und zog eine rechteckige Silberfolie heraus. Grippostat stand darauf. Er stand auf, wartete einen Augenblick, kam dann näher, so nah, dass sein Knie gegen das Leder zwischen meinen Beinen stieß. Langsam drückte er die Folie ein, prödelte die Tablette heraus, drehte sie zwischen seinen Fingerkuppen und begutachtete sie. Und ich ihn.

 

Sasha lächelte schief und berührte mit der kühlen Schale des Medikaments leicht meine Unterlippe und bedeutete mir damit, meinen Mund einen Spalt breit zu öffnen. Zögerlich trennte ich meine Lippen voneinander, schluckte trocken und spürte im nächsten Moment, wie sein Daumen der Pille einen kleinen Stoß gab, sodass sie wie von selbst auf meine Zunge fiel.

 

 Sein Finger lag noch immer an meiner Lippe, fuhr leicht am Rand entlang, runter zum Kinn und ließ dabei nie seinen Blick von meinen Augen. Hätte ich nicht vorher schon unter Schweißausbrüchen gelitten, dann spätestens jetzt! Er beugte sich über mich, strich mit seiner linken Hand eine Strähne aus dem Gesicht, die platt herunterhing und deshalb auf meine Stirn fiel.

 

Ich spürte, wie das Kratzen in meinem Hals sich meldete und mit jedem Atemzug stärker wurde. Kurz umschlossen stieß ich ihn etwas von mir weg und hustete in meine Ellenbeuge, solange bis meine Augen schon ganz vertränt waren und meine Sicht verschwamm. Mit den Fingern schlüpfte ich unter meine Brille und strich mir die kleinen, salzigen Tropfen vom Jochbein. „T-tut mir leid“, stammelte ich und zog den Rotz hoch, der sich in meiner Nase gesammelt hatte. Verdammt, es tat mir wirklich leid und wie...! Eine Sekunde später, nur eine Sekunde!

 

Schon gut, du kannst ja nichts dafür, ich hol dir ein Glas Wasser.

 

 

 

12. Kapitel

Im Grunde genommen, war es gar nicht mal so übel, krank zu sein. Jedenfalls nicht, wenn ein gutaussehender, schwarzhaariger junger Mann sich so rührend um einen kümmerte, wie Sasha es tat.

 

Eingemümmelt in meine Tagesdecke und in einen dicken Schal, den ich zwischen den Winterklamotten aus dem Keller gekramt hatte, lag ich auf dem Sofa und nippte an einer warmen Hühnerbrühe. Die Flüssigkeit ließ sich zwar einfacher schlucken als das belegte Brötchen, das Sasha mir zuerst angeboten hatte, aber so richtig rosig war das Ganze trotzdem nicht.

 

Mein Hals fühlte sich an wie eine Tomate, die vor Reife gleich platzen würde. Das passierte natürlich nicht, aber wäre vielleicht gar nicht so schlecht gewesen, denn auf eine Mund-zu-Mund-Beatmung von Sasha verspürte ich durchaus eine gewissen Lust.

 

Quietschend öffnete sich die Glastür zum Garten und ein blonder Schopf lief mit einem eben so blonden Köter ins Wohnzimmer, das sicherheitshalber von einem brummenden Ventilator dauergekühlt wurde.

 

Simon ließ sich schnaufend neben mir auf dem Sofa fallen und verschränkte abschätzig die Arme vor der Brust, die verschwitzt glänzte und sich mit jedem seiner hastigen Atemzug auf- und ab bewegte.

 

„Das ist also Sasha, he?“, flüsterte er, während sein linkes Auge in die Küche schielte, wo Sasha gerade Kaffee kochte. Für ihn, nicht für mich, verstand sich. Die braune Brühe würde ich im Leben nicht anfassen.

 

Sam hechelte lautstark und lehnte sich gegen das Bein seines Herrchens, während Sabbertropfen kontinuierlich aus seinem Maul auf das Parkett flossen. Das Sommerwetter bekommt wohl keinem gut, dachte ich still und setzte die dampfende Tasse auf dem Wohnzimmertisch ab.

 

„Sieht so aus ...“, antwortete ich wage.

 

„Und? Habt ihr … das geklärt?“

 

Sein Gesicht verzog sich zu einer undurchschaubaren Fratze, während er seine Frage in den nicht vorhandenen Bart nuschelte und sich ebenfalls nicht vorhandene Fusseln von der nackten Haut zupfte.

 

Nichtssagend zuckte ich mit den Schultern. Lieber nicht zu viel preisgeben. Simon wusste nämlich schon jetzt, viel zu viel ... Eigentlich sollte ich wirklich öfters mal die Klappe halten, täte gut. Besonders, weil sich das mit Sasha allmälig zu etwas entwickelte, was der ein oder andere als 'Freundschaft Plus' bezeichnen würde. Und da körperliche Anziehung der erste Schritt in Richtung emotionale Anziehung war, war dies gleichzeitig auch der erste Schritt auf meiner To-Do-Liste, um Sasha vollends an meine schlaksige Seite zu bekommen

.

„Nur weil dein Lover kein Wort rausbekommst, musst du jetzt nicht plötzlich solidarisch werden! Ach, interessiert mich sowieso nicht, Hauptsache ihr lasst die Finger von einander, solange ich im Raum bin, sonst kriege ich noch das Kotzen!“

 

Angewidert wand er sich dem hechelnden Getier zu, unter dessen Schnauze sich mittlerweile ein kleiner See gebildet hatte. Stumm verzog ich meinen Mund. Gut, dass ich keine Tiere hatte, war ja ekelig sowas! Abgesehen davon, dass unsere ganze Familie nicht sonderlich tierlieb war, wunderte es mich sowieso, dass ausgerechnet Simon sich einen Hund zugelegt hatte.

 

Ich wusste noch ganz genau, wie wir als Kinder für zwei Wochen nach Spanien geflogen waren, in ein kleines, schnuckeliges Dorf am Meer, und Simon jeder Katze, die uns über den Weg lief, einmal kräftig am Schwanz gezogen hatte. Er fand es witzig - ich nicht besonders. Denn meine Beine waren damals noch zu kurz gewesen, um vor Simons zurückschlagenden Opfern zu fliehen.

 

Und auch jetzt brachte mich die plötzlich entdeckte Tierliebe meines Bruders oft genug in Teufels Küche: Denn wer wollte schon bei 32° Grad im Schatten, eine Töle ausführen, die einem in schweißtreibender Kleinstarbeit alle Muskeln einzeln ausriss?

 

Mum meinte, Sam würde mich dazu bringen, an die frische Luft zukommen und Simon war einfach froh, mich leiden zu sehen. In Wahrheit zwang die Angst vor einem Spaziergang mich aber dazu, mich noch häufiger in meinem Zimmer zu verstecken, um jeglichen Kontakt mit meinen Erziehungsberechtigten zu vermeiden. Denn diese mochten es anscheinend gern, ihren eigenen Sohn mit Herzklabaster an einer Hundeleine zu sehen, die ihn über den harten Beton der Straßen zog.

 

„Ey, du Spast! Pass auf, wo du die Tasse hinstellst!“ Lautes Gerumpel und ein ziemlich eindeutiges Krachen, weckte mich aus meinen Gedanken.

 

„Verdammt, meine Schuhe sind hinüber … Guck nicht so, hol dir den Lappen aus der Spüle und wisch das weg! Ist schließlich deine Schuld das Ganze!“

 

Eilig erhob ich mich aus den weichen Polstern des Sofas, verabschiedete mich von der Hühnerbrühe und latschte schnellen Schrittes in die Küche, deren Boden mit brauner, dampfender Flüssigkeit überschüttet war. Mittendrin zwei Paar Füße - beide sahen nach dem Unfall nicht mehr wirklich präsentabel aus. Einige Scherben mit Weihnachtsmann-Mustern lagen quer im Raum verteilt und warteten nur darauf, sich in die ein oder andere Hautstelle zu bohren.

 

„Oh“, war das Einzigste, das ich rausbekam. Simon sah wenig erfreut aus und Sashas Gesichtsausdruck konnte ich nur zu gut deuten. Irgendeine Mischung zwischen Scham und Wut, die auch mich immer wieder befiel, wenn ich in die Nähe meines älteren Bruders kam. Dessen Ausstrahlung brachte einen automatisch dazu, sich ungehörig dumm vorzukommen.

 

„I-Ich mach das schon weg, keine Sorge! Ist ja nichts passiert!“, murmelte ich hastig, warf Sasha ein beruhigendes Lächeln zu, versuchte dies auch bei Simon, musste mir aber geknickt eingestehen, dass dieser danach sogar noch ein wenig wütender aussah als zuvor.

 

„Nichts passiert? Hast du dir schon mal meine Schuhe angeguckt? Die sind hinüber!“ Verärgert trat er den Rest des Tassenhenkels weg, der klackernd gegen eines der Stuhlbeine stieß und verschwand im Flur, wo er die versüfften Treter von den Füßen streifte.

 

„Mach dir keine Sorgen, ist nur eine Tasse … und eine ziemlich hässliche noch dazu!“ Mit zusammengezogenen Augenbrauen fing ich an, die Scherben auf zu heben und versuchte, die braune Pfütze auf den Fliesen zu umgehen. Sasha stand überfordert und offensichtlich eingeschüchtert in der Ecke, die Hände in den Hosentaschen vergraben und beobachtete mich still dabei.

 

Ja, es war wirklich nicht schlecht krank zu sein – auch wenn ich einen schweigenden Sasha nun wirklich oft genug zu sehen bekam. Hauptsächlich in meinen Träumen. Unbekleidet, süß wie Zucker und mit leuchtende Augen, die nur auf mich fixiert waren … Schnell schüttelte ich den Kopf.

 

„Ey, Blindfisch!“ Verärgert drehte ich mich um. Simon stand im Türrahmen und betrachtete seine verhunzten Schuhe. Überall waren dunkle Stellen auf dem grauen Stoff seiner Latschen und bildeten ein unschönes Muster.

 

„Schnapp dir einen Lappen und mach die sauber! Wenn die Flecken nicht gleich ausgewaschen werden, bleiben sie vermutlich für immer da drin und ob du's glaubst oder nicht, so viel Geld habe ich nun auch wieder nicht.“

 

Wer's glaubt, wird selig. Keine Ahnung, ob Simon noch irgendeine andere Leidenschaft außer Lernen und Vögeln hatte, aber arbeiten war garantiert keine davon! Das Geld kam trotzdem – entweder von unseren Eltern oder von Oma, die schrullige, alte Dame, an die ich mich mittlerweile nur noch schwammig erinnern konnte. Verdammte Spießer!

 

„Mach's selber!“ Ich versuchte beim Aufwischen vergeblich den Rotz in meiner Nase zu behalten und hielt es deshalb für zu riskant, ihn mit meinen wütenden Blicken zu taxieren. Stattdessen schmiss ich den triefenden Lappen in die Spüle und nahm Sasha vorsichtig bei der Hand.

 

Meine Hände waren mit kaltem Schweiß überzogen, aber ich hatte keine Zeit, mich dafür zu schämen. Ich wollte ihn nicht noch weiter der Anwesenheit meines Bruder aussetzen und schlug den Weg in mein Zimmer ein. Eigentlich hatte ich vorgehabt, ihn loszuwerden. Nicht, dass ich das wollte, aber ich hatte die leichte Vorahnung, mein verschnupftes Gesicht würde mit den Stunden nicht unbedingt attraktiver werden.

 

Und darauf kam es an, oder nicht?Ich hatte versucht, etwas mehr auf die Rippen zu bekommen, doch die Erkältung zerrte an mir und meinen wertvollen gesammelten Fettzellen. Also bunkerte ich neuerdings unter meinem Bett keine Männer-Kalender mehr, sondern Kinder-Schokolade. Na gut – ich gab's zu!Die Männerkalender waren immer noch da, aber immerhin um ein paar Zentimeter nach hinten gewichen!

 

Nichts desto trotz hatte ich ein ungutes Gefühl in meiner Magengegend, das mir zu sagen versuchte, dass ich mich lieber im Bett verkrümeln sollte, anstatt mit meinem angehenden Lover auf der Bettkante zu sitzen und die Wand anzustarren.

 

Die Stimmung war unangenehm – sehr sogar. Meine Wangen waren nicht mehr nur vom Fieber gerötet und Sasha sah mich nicht einmal an. Ich zweifelte daran, dass das meinen Plan unterstütze, aber ich setzte im Moment alles auf die Karte des hilflosen Jungen, der gerade einen starken Mann brauchte. Fraglich war jedoch, ob Sasha sich selbst in der Rolle meines Retters sah … Irgendwie verständlich – er haderte offensichtlich noch immer mit sich selbst!

 

Dann musste ich eben die harten Geschütze auffahren! Ich putzte noch einmal ordentlich meine Nase, befeuchtete meine spröden Lippen und brachte mich in Pose. Ein Bein aufgestellt, das andere angewinkelt und das Haar verwegen durcheinander gestrubbelt – die Männerkalender waren also doch nicht ganz nutzlos!

 

Zugegeben; Sasha war ziemlich verwirrt von diesem plötzlichen Anflug der Erotik und mir war die Situation eigentlich mehr als peinlich. Doch ich hatte die kleine Hoffnung, dass er dem Wink vielleicht folgen und mich um wenigstens einen Kuss reicher machen würde.

 

Keine Ahnung, ob er mich mit der Rotznase wirklich attraktiv fand oder ob meine aufreizende Position nicht doch eher nach Rückenschmerzen aussah, aber Sasha lächelte.

 

Ja, er lachte sogar. Was mich bei unserem ersten Treffen vielleicht noch erschrocken hatte, zog mich nun automatisch an. Meine Lippen zuckten, und meine Mundwinkel wackelten verräterisch.

13. Kapitel

 *Zwei Wochen Später*

 

Das schwarze Leder meiner Kamera fühlte sich kalt und fremd unter meinen feuchten Fingerspitzen an, viel zu lange hatte ich sie im Schrank verstaut und sie nicht mehr hervorgeholt. Doch jetzt, im gleißenden Licht der Sonne, hielt ich sie wieder in meinen Händen, fest umschlungen und unsicher, ob mein Vorhaben von Erfolg gekrönt sein würde. Meine langen Vorderzähne bohrten sich leicht in die verkrustete Kante der Unterlippe und rissen sie wieder auf, ein Bluttropfen quol hervor und hinterließ einen fahlen Geschmack auf der Zunge, als ich ihn flüchtig wegleckte.

 

"Ich dachte, wir wären fürs Fotografieren hier, nicht fürs Rumsitzen." Nicky fuhr sich durch die Locken, eine ragte nun besonders hoch empor, und nahm mir die Kamera ungeduldig aus der Hand, setzte an und drückte den Auslöser. Ein aufleuchtender Blitz und dann ein Klick. Ich, wie ich im Gras an einen Baum gelehnt saß, die Augen hinter der Brille wahrscheinlich zu hässlichen Schlitzen verengt und der Mund unschön verzogen. Toll. Wirklich großartig!

 

"Glaubst du, dass das so eine gute Idee ist?", fragte ich zögerlich und blinzelte gegen die grellen Sonnenstrahlen an, die mich trotz der schützenden Blätter über uns blendeten. "Owen, du weißt, was ich von der ganzen Sache halte, also hör auf, mir solche Fragen zu stellen! Beweg' endlich deinen Hintern und wirf dich in Pose, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit." Seine Stimme war ungewöhnlich harsch und obwohl ich eher selten an ihm zweifelte, so machte sich doch ein kleiner Funke der Skepsis in mir breit. Was hatte er denn sonst an unserem Samstagnachmittag zu tun?

 

Ich klopfte meine Jeans ab, sah dabei zu, wie grüne, plattgesessene Grashalme vom blauen Stoff auf die Erde fielen und stütze mich am bemoosten Baumstamm ab, während ich mich aufraffte. Half ja nichts, die Fotos mussten fertig und wenn ich einigermaßen passabel aussehen wollte, sollten wir den Shoot machen, bevor ich in meinem eigenen Schweiß stand! Und das würde nicht mehr lange dauern. Zierliche, dunkle Ränder hatten sich bereits unter meinen Achseln gebildet, gerade so fein, dass man es ohne großen Aufwand am PC kaschieren könnte.

 

Meine Sohlen quietschten, als ich mich etwas nach unten bückte und in das Objektiv lächelte. Klick. Ich liebte dieses Geräusch. Klick. Es hatte etwas mechanisches, kontrollierbares, man konnte genau abschätzen, ob das Foto etwas werden würde oder nicht und doch blieb ein nervöses Kitzeln im Hals, bis man die Ergebnisse auf dem Laptop sehen konnte. Ich veränderte etwas meine Stellung, lehnte mich gegen die raue, rillige Rinde des Baumes und hebte meinen Arm über den Kopf, die Sonne schien nun genau durch das kleine Dreieck, dass sich dadurch gebildet hatte.

 

"Gut so?" Nicky schüttelte genervt den Kopf. "Ich weiß wirklich nicht, was das bringen soll, Owen. Denkst du, er legt sich das Foto unters Kissen und schwupdiwup steht er mit Rosen vor deiner Tür? Mal davon abgesehen - wie willst du es ihm denn unterjubeln?"

 

Er hob abwartend die zierlichen Augenbrauen und senkte die Kamera auf Brusthöhe, sodass sich das hohe Gras der Weide in der Linse spiegelte. Ich zuckte unbeholfen mit den Schultern. Vielleicht hatte ich nicht gerade weit gedacht, zugegeben. Ich wollte doch nur, dass ich immer um ihn herum war und was gäbe es da Besseres als ein Foto? Nicky kam auf mich zu, die Kamera hatte er sich mit der Schlinge locker um den Hals gehängt.

 

"Zieh dich aus!", sagte er plötzlich und deutete auf mein weißes Hemd, das Beste, das ich im Schrank gehabt hatte. "W-Warum?", stotterte ich verwirrt und verschränkte die Arme automatisch schützend vor meiner Brust. Mein Herzschlag hatte sich bei seinen Worten sofort erhöht. Der Gedanken vor jemandem völlig nackt zu stehen, raubte mir für einen Moment den Atem. Vor allem hier, an der frischen Luft, wo uns theoretisch jeder beobachten konnte.

 

"Owen, stell dich nicht an, zieh dich aus! Hier ist keiner, nur ich und du und deine Kamera." Er deutete auf die schwarze Nikon um seinen Hals, die so unschuldig wirkte, wie sie so in der Sonne glitzerte.

 

"Und ein paar wirklich eklige Insekten, nicht zu vergessen! Du weißt, wie riesig meine Mückenstiche immer werden und ..." Ohne zu zögern, griff er nach meinem Hemd, schlug meine panischen Hände weg, die versuchten, ihn daran zu hindern und machte einen Knopf nach dem andern auf. Stück für Stück wurde meine blasse Haut sichtbar, doch seine Hände berührten mich nicht, ich spürte nur einen kühlen Laufthauch, als das Hemd endlich auseinanderklaffte und von meinen Schultern rutschte.

 

Für wenige Sekunden blieb mein Blick auf dem weißen Stoff im Gras, eine Amaise lief bereits darüber. Beschämt versuchte ich mit meinen Händen etwas zu verstecken, meine Nippel vielleicht oder meine Brust, keine Ahnung, ich wusste nur, dass es albern aussah, denn Nicky lachte. Er lachte so selten, richtig, meine ich. Ab und zu ein kleiner Schmunzler, aber nur ganz, ganz selten ein echtes Lachen. Meine Hände sanken nutzlos an die Seiten und ich versuchte zu überspielen, wie unangenehm mir das Ganze war. Ich versuchte, mal nicht ein überempfindlicher, unerfahrener Junge zu sein und straffte meinen zusammengesunkenen Körper.

 

"Okay, kletter auf den Baum, auf den ersten Ast dort oben." Sein Zeigefinger deutete auf einen dicken, tiefliegenden Ast, der leicht zu erreichen war, wenn man nicht total unsportlich war. Nur war ich das leider, also brauchte ich drei Anläufe, bis ich es endlich schaffte, mein Bein über das dunkle Holz zu schwingen und mich gerade aufzusetzen.

Impressum

Texte: Die Rechte liegen allein bei mir, die widerrechtliche Kopierung der Texte ohne Einverständnis des Autors wird strafrechtliche verfolgt.
Bildmaterialien: Ich habe keinerlei Rechtsansprüche am Cover und an der Zeichnung selbst.
Tag der Veröffentlichung: 07.08.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch den Lesern und hoffe, es hat euch gefallen ;) Liebe, liebe Grüße das Häschen :3

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