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Prolog

 

Von Vampiren wurde sie die schlafende Königin genannt.
Die Werwölfe nannten sie Schattenkönigin.

Ihre Fähigkeiten umfassten Kontrolle über die Elemente: Feuer, Wasser, Erde und Luft. Sie hatte die Macht über die Zeit und konnte in den Verstand ihres Gegenübers blicken. Ihr blieb keine Wahrheit oder Lüge verborgen.

Um ihre Fähigkeiten vor neugierigen Menschenaugen zu schützen, schuf sie sich vor vielen Jahrtausenden ein Reich in den Karpaten, den Kristallwald. Sie wusste, dass sie nur jenen vertrauen konnte, die so wie sie anders waren: den Schattenwesen.

Wer sich in den Kristallwald begab, dem ließ die Königin die Wahl: Entweder man blieb für immer und lebte als Untertan in dem Dorf vor den Toren ihres Palastes, oder verließ ihn, ohne sich jemals daran erinnern zu können.

Die Königin stellte sich ihr Volk aus Schattenwesen zusammen, die sie respektierten und achteten.

Dennoch spürte sie mit der Zeit eine wachsende Leere in sich. Etwas fehlte und sie konnte nicht sagen, was es war. An was mangelte es ihr, wenn sie Kreaturen um sich hatte, die sie sorgen konnte?

Nach ihrer Begegnung mit den drei Wanderern, die sich ihr Vertrauen erschlichen hatten, war sicher, dass sie nie wieder so leichtfertig handeln würde.
Durch den Angriff wurde das Dorf zerstört, die Bewohner mit dem Fluch der Wanderer infiziert und wandelten nun als Untote durch den Kristallwald. Die Königin begriff, dass sie Hilfe brauchte, um die Situation vollständig zu begreifen: Die Natur von Vampiren war ihr noch gänzlich unbekannt und sie brauchte einen unabhängigen Verbündeten an ihrer Seite, der ihr nicht gefährlich werden würde. Die Dämonen, die keinerlei Emotionen ihr Eigen nannten, schickten einen von ihresgleichen, um der Königin zu helfen.

Die Alphawölfin, die Anführerin der Werwölfe, band sich mit einem Versprechen an die Königin, ihr Reich vor jedem Angriff zu beschützen, dem sie ausgeliefert sein würde. Das Territorium der Alphawölfin Sheila grenzte an den Kristallwald und war ebenfalls von den Wanderern zerstört worden.

Einige Monate nach dem Angriff stellte die Königin fest, dass sie schwanger war.

Und so wurden die ersten Feen geboren: Die Erste, als die Sonne den Horizont erreicht hatte. Ihre jüngere Schwester, als die Sonne unterging. Evelyn und Mary.

Die Jahre vergingen und die Königin stellte fest, dass ihre Töchter magische Fähigkeiten entwickelten: Ihre Erstgeborene Evelyn konnte Pflanzen und Tieren neues Leben einhauchen. Mary hingegen konnte den Verstand anderer manipulieren und sie Dinge in ihrem Sinne tun lassen.

Die Schwestern hatten ein inniges Verhältnis und wurden unter den Bewohnern des Kristallwaldes geschätzt, auch wenn ihre Anwesenheit schmerzvolle Erinnerungen barg.

Eines Tages geschah das Unvorstellbare, das das Reich jahrhundertelang zerstören sollte: Mary tötete mit unvorstellbarer Grausamkeit vier ihrer und Evelyns Freunde, während eines Festes im Palast, und richtete ein Massaker an, indem sie die Anwesenden dazu brachte, sich gegenseitig umzubringen.

Die Tat ihrer Tochter zerriss die Königin vor Schmerz. Ihr Volk forderte Vergeltung für Marys Tat und in ihrer Verzweiflung ersann die Königin einen Weg, der Mary vor dem Zorn ihrer Untertanen retten sollte: Ein Spiegelportal brachte sie an einen geheimen Ort, den sie nicht verlassen konnte. Unfähig, Mary allein einzusperren, trennte sich die Königin dafür auch von Evelyn.

Die Bewohner verziehen ihr nicht, dass sie Mary vor einer Strafe beschützt hatte und verließen ihr Reich, das sie einst so liebevoll errichtet hatte.

Es gab drei Dinge, die die sterbende Königin mit ihrer schwindenden Macht noch bewirken konnte. Einen Fluch, der die Alphawölfin mit ihrem Rudel an den Kristallwald fesselte. Ihre Untätigkeit, als die Dorfbewohner Hilfe bei ihr gesucht hatten, zahlten die Werwölfe mit immerwährender Gefangenschaft zurück.

Die Königin rief den Dämon zu sich, der ihr zur Seite gestellt worden war, nachdem er die vier Freunde der Schwestern bestattet hatte. Sie holte mit einem Zauber die verlorenen Seelen zurück und warf sie in die sprudelnde Quelle der Zeit, die durch ihr Schloss führte.

Diese Seelen sollten einander wiederfinden, sollte es Mary gelingen, aus ihrem Gefängnis auszubrechen und Schaden über die Schattenwelt zu bringen.

Dieses Wissen vertraute sie dem Dämon an, der bis zur Stunde ihres letzten, bewussten Atemzugs bei ihr blieb, ehe ewiger Schlaf die Königin umfing.

Sie würde nie erfahren, was aus den vier Seelen werden und ob ihre Töchter jemals einen Weg finden würden, um aus dem Gefängnis zu fliehen.

Alles, was sie mit ihrer letzten Tat erreichen wollte, war, dass ihr Reich eines Tages wieder von einer Königin regiert werden konnte, die nicht dieselben Fehler wie sie beging.

 

Kapitel 1

 

 

London einige Jahrhunderte später

 

Ileana

 

Hupende Autos, vorbeihastende Passanten und das Lichtermeer aus Ampeln und Werbeanzeigen. Ileana van Sciver lehnte am Fenster ihrer Limousine und betrachtete Piccadilly Circus von der Rückbank aus.

Henry, ihr Chauffeur, räusperte sich vernehmlich und lenkte Ileanas Aufmerksamkeit auf sich.

„Nicolas rief während Ihres Meetings ein paar Mal an, Madam.“

Ileana lächelte und sagte: „Natürlich hat er das. Er hatte heute einen Test in Geschichte.“

Henrys Blick und ihrer trafen sich im Rückspiegel und sie konnte sein Lächeln sehen.

„Er klang wütend und meinte, sein Nachhilfelehrer würde es nicht bringen.“

Ileana verdrehte die Augen. „Wie lange will er mir das noch erklären? Das ist bereits der fünfte Lehrer, den ich ins Haus geholt habe. Was kann so schwer daran sein, ein paar Daten auswendig zu lernen?“ Sie richtete ihre Worte eher an die Fensterscheibe als an Henry. Ihr neunjähriger Neffe bereitete ihr nicht viele Sorgen – abgesehen von seiner offenkundigen Abneigung gegen das Vergangene. „Hat er sonst noch etwas gesagt?“, fragte sie.

Henry nickte. „Sie sollen nicht sauer sein.“

Ileana schnaubte. „Wenn das seine Worte gewesen sind, Henry, weiß er genau, was das bedeutet. Konsequenzen, die er nicht cool finden wird.“ Im Klartext hieß das, eine weitere Suche nach einem Nachhilfelehrer.

Die Limousine hielt vor ihrem Reihenhaus im Stadtteil Belgravia und Henry öffnete ihr die Wagentür. Hier bewohnte sie seit sieben Jahren mit Nicolas und ihrer Mutter Lara eines der Häuser, die sich im Besitz des Vampir-Clans van Sciver befanden.

Sie wollte dem Jungen einen Teil jener Kindheit schenken, die auch sie mit ihrem Bruder Vincent in dieser Stadt gehabt hatte. Bei dem Gedanken an ihren Zwillingsbruder verkrampfte sich Ileanas Hand auf dem Türknauf, ehe sie in die Diele des Hauses trat, deren Boden mit einem schwarz-weißen Schachbrettmuster ausgelegt war. Das Klappern einer Tastatur war aus dem Wohnzimmer zu hören.

Als sie den Raum betrat, blickte Lara van Sciver auf. Die Vampirin war bereits über ein Jahrhundert alt, doch wirkte nur wenige Jahre älter als Ileana. Sie trug ihr schwarzes Haar kurz und hatte sich während Ileanas Abwesenheit blonde Strähnen färben lassen.

„Du bist spät dran. Man sagte mir, du seist bereits vor drei Stunden in Heathrow gelandet. Was hat dich aufgehalten?“

Ileana ließ sich ihr gegenüber auf einem Stuhl nieder und seufzte. „Dir bleibt auch gar nichts verborgen, Mum. Was kümmert es dich überhaupt? Du weißt, dass ich als Clanoberhaupt viel zu tun habe und meine Freiräume brauche.“

Lara lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Freiräume, die dir helfen, abzuschalten. Keine, die dich an vergangene Zeiten erinnern, die dich immer noch verletzen.“

Ileana runzelte die Stirn. „Wovon sprichst du?“

Lara drehte ihren Laptop um und schob ihn über den Tisch. Ileana las die Überschrift eines Artikels der lokalen Zeitung:

 

Polizeilicher Einsatz in beliebtem Restaurant

Am späten Abend stürmte eine Sondereinheit der Drogenfahndung das beliebte Restaurant „Jane’s View“. Polizeisprecher beriefen sich auf eine anonyme Quelle, die den Verkauf von Suchtmitteln zur Anzeige gebracht hatte. In den Räumen wurde jedoch nichts gefunden. Auch die Durchsuchung der Gäste und des Personals förderte keine Mittel dieser Art zutage. Dennoch hieß es, die Ermittlungen würden in alle Richtungen weiterlaufen.

 

Ileana betrachtete das Foto über dem Artikel: Es zeigte die Front ihres Lieblingsrestaurants hinter gelbem Absperrband. „Was hat das mit unserem Geheimnis zu tun, Mum?“

Lara klappte den Laptop zu und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. „Ist das nicht euer Lieblingsrestaurant? Das, in dem …“

Ileana spannte sich an und unterbrach sie: „Worauf willst du hinaus? Ich besuche das Restaurant, weil es die Erinnerung an mein altes Leben in London in mir wachhält!“

Lara schloss die Augen und schüttelte leicht den Kopf. „Ich mache mir Sorgen. Du hättest dort sein können und wenn sie dir Blut entnommen hätten, wäre das eine Angelegenheit des Netzwerks geworden.“

Ileana zuckte mit den Schultern. „Und wenn schon? Dafür ist das Netzwerk da: Um unsere Identität bei den Behörden zu verschleiern und uns aus solchen Situationen herauszuhelfen.“

Lara seufzte. „Deine Schwägerin hat das Netzwerk als letzten Ausweg gegründet, wenn alle anderen Optionen scheitern.“

Siennas Namen nicht auszusprechen, war in Ileanas Augen schlimmer, als es zu tun. „Das heißt noch lange nicht, dass dieser Aufstand, den du hier anzettelst, gerechtfertigt ist. Du würdest mir hier nicht auflauern, wenn es nur um die Drogenrazzia geht. Was willst du mir sagen, Mum?“

„Ich habe eine Quelle des Netzwerks in besagter Behörde, Ileana. Sie sagte mir, dass an jenem Abend das Personal vollzählig anwesend war.“ Sie holte ein Foto aus ihrer Handtasche: Das Bild musste am selben Abend entstanden sein und zeigte eine Personengruppe, deren Gesichter im Blaulicht teilweise dunkel oder blau beschienen wurden. Als das Papier unter ihren zitternden Fingern einknickte, ließ sie es los. „Eine bestimmte Blutanalyse von einem alten Bekannten dürfte ein interessantes Ergebnis liefern“, bemerkte Lara ruhig.

„Ich kann mich nicht erinnern, dass unser Netzwerk für ein Schattenwesen außerhalb der Clans zuständig ist, außer ein Oberhaupt erteilt eine direkte Anweisung.“

„Lass ihn in Ruhe. Er soll da nicht reingezogen werden!“

Lara lachte leise auf. „Oh, ich bin die Letzte, die das möchte, mein Kind. Ich wahre nur deine Interessen. Und womöglich deine Sehnsüchte.“

Ileana biss die Zähne zusammen und verließ fluchtartig den Raum, stürmte die Treppe hinauf und hielt im Flur inne, die Hände zu Fäusten geballt. Wie konnte es ihre Mutter wagen, sich in ihre Angelegenheiten einzumischen?

Das Janes View war für Ileana eine emotionale Zuflucht gewesen, nachdem sie mit Nicolas und Lara hierhergezogen war: Eine Erinnerung an Sienna, Phil und Vincent. Dieser Ort war ihr Beginn.

Bis sie dort Adrian begegnet war und sich das geändert hatte. Vor vier Wochen hatte sie jene Person getroffen, die von ihm übriggeblieben war, nachdem sie ihm im Palast der Königin mit der Flügelklinge die Brust durchbohrt hatte …

„Tante Ileana?“

Nick stand in einem grauen Pyjama in der Tür seines Zimmers, die grünen Augen müde auf sie gerichtet.

„Hey Nicki. Habe ich dich mit meinem Getrampel geweckt?“

Er schüttelte den Kopf und erwiderte ihre Umarmung. „Ich habe deine Stimme gehört und wollte dir Hallo sagen, bevor ich ins Bett gehe.“ Nick ließ sie los und sah sie neugierig an. „Ist etwas passiert?“

Ileana überlegte, wie sie ihm ihr aufgebrachtes Verhalten erklären konnte. „Sobald das Schuljahr zu Ende ist, verlassen wir London für ein paar Wochen und nutzen die Zeit für andere Dinge. Zusammen. In Paris.“

„Ist es das, was Mum und Dad gewollt haben? Können wir das in Paris tun?“, fragte er zögernd.

Ileana spürte einen Kloß im Hals: Nick wusste nichts Konkretes über den Plan, dafür war er noch zu jung. Aber ihr war es wichtig gewesen, ihm von Beginn an von Sienna und Vincent zu erzählen. Sie wollte, dass Nick so aufwuchs, wie ihr Bruder und ihre Schwägerin es als richtig empfunden hätten. Ileana lächelte und strich Nick mit der Hand flüchtig durch das haselnussbraune Haar. „Alles, was ich für dich tue, geschieht auch für deine Mum und deinen Dad. Und für dich, so lange, bis du deinen eigenen Weg gehen wirst.“ Sie schob ihn in sein Zimmer. „Und jetzt ab ins Bett.“

Nick drehte sich zu ihr um. „Gute Nacht, Tante Lea.“ Er zögerte einen Moment, dann fügte er an: „Ich habe den Test heute vermasselt.“ Er machte die Tür zu.

Ileana verkniff sich ein Schmunzeln.

Nachdem sie sich mit Blut aus dem Kühlschrank gestärkt hatte, verließ sie das Haus unbemerkt durch den Hintereingang. Ileana wusste, dass ihre Mutter nur das Beste für das einzige Kind wollte, das ihr geblieben war. Ihre Methoden waren in den meisten Fällen, wie bei diesem, zu forsch. Dennoch war Ileana ihr insgeheim dankbar, dass Lara sie auf den Fall aufmerksam gemacht hatte.

Durch das nächtliche London zu Fuß unterwegs zu sein, war eine willkommene Abwechslung zu ihren Pflichten als Clanoberhaupt. Der Umzug nach Paris war notwendig, um einen weiteren Teil des Plans auszuführen: Sowohl Nick als auch ihre Tochter Cassandra waren in einem Alter, in dem sie sich bald von den Erwachsenen in ihrer Umgebung lösen wollten und erste eigene Wege und Entscheidungen treffen würden.

Ileana versetzte der Gedanke an ihre Tochter einen Stich. Sie war der Grund für ihren Plan und die Trennung, die zwei Familien gesprengt hatte.

Cassandra war mit einer zersplitterten Seele geboren, vergiftet durch den Geist der Königin. Cassandra lebte in unmittelbarer Nähe zu der Königin. Ileana dagegen in Ungewissheit, wie es ihr ging. Sicher wusste sie nur, dass ihr kleines Mädchen am Leben war. Würde der Plan aufgehen, würde sie ihre Tochter bald wiedersehen und Nick mit Sienna vereint werden, unter deren Schutz Cassandra stand.

Vor dem Janes View blieb Ileana stehen. Das Restaurant war geschlossen, die Fassade in Dunkelheit gehüllt. Gelbe Siegel signalisierten, dass das Betreten streng verboten war. Einige Passanten hielten kurz vor den dunklen Schaufenstern inne. Warum war sie hier? Es wäre unvorsichtig, einzubrechen und ein sinnloses Eingreifen des Netzwerks heraufzubeschwören.

Du bist seinetwegen hier, erklang eine Stimme in ihrem Kopf. Testen sie sein Blut, werden die Behörden feststellen, dass es keine menschlichen Merkmale aufweist …

Ileana wünschte, sie hätte ihn hier nicht vor zehn Jahren wiedergetroffen und dieses Restaurant in unbeschwerter Erinnerung behalten können. Adrians Auftauchen hatte sie für mehrere Wochen aus der Bahn geworfen. Sie hatte recherchiert, um eine Erklärung dafür zu finden, dass er sich nicht an die Ereignisse von damals erinnern konnte, geschweige denn an sich selbst und … an sie.

Was sie hatte herausfinden können, war, dass er sich mit Aushilfsjobs als Pianist über Wasser hielt und keinen festen Wohnsitz hatte. Das war jedoch ihr Stand von vor zehn Jahren und seither hatte sie das Lokal immer seltener besucht, da sie zu dem Schluss gekommen war, es wäre unfair ihm gegenüber, sich in sein Leben einzumischen, das er im Griff hatte.

Bis auf dieses eine Mal …

Sie wählte die Nummer ihres Sicherheitschefs Cesare.

„Miss van Sciver?“, meldete er sich.

„Guten Abend, Cesare. Wie schnell ist es möglich, eine Blutprobe aus dem Labor der Drogenfahndung auszutauschen? Es geht um die Ermittlung im Restaurant Janes View in London.“

Einen Moment lang war nur das Klappern der Tastatur zu hören, ehe sich Cesare wieder meldete: „Ich habe alles Nötige veranlasst. Machen Sie sich keine Sorgen.“

Ileana bedankte sich und legte auf.

Ein starker Wind setzte ein. Ileana zog sich die Kapuze ihres Mantels über den Kopf.

„Traurig, nicht wahr? Ein Anruf und eines der schönsten Restaurants dieser Gegend ist ruiniert.“

Ileana ignorierte die Bemerkung des Mannes und wandte sich zum Gehen, doch der Unbekannte sagte: „Sie sollten aufpassen, Ileana van Sciver.“

Sie blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich um. Vor ihr stand ein junger Mann mit kurzen dunkelblonden Haaren und Augen, so dunkel wie die Nacht. Er trug einen schwarzen Anzug und wirkte, als wäre er aus dem vorletzten Jahrhundert entsprungen. Doch Ileana erkannte die Tiefe in seinen Augen wieder und wusste, wen oder was sie vor sich hatte. „Sie sind ein Dämon.“

Der Unbekannte lächelte. „So ist es. Mein Name ist Gabriel. Ich suche nach einem meiner Zirkelmitglieder, ebenso wie Sie.“

Ileana verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie irren sich, Gabriel. Ich suche nicht nach ihm.“

Gabriel sah zu dem Restaurant. „Dennoch beschützen Sie ihn. Und dass, obwohl Sie ihn mit seiner eigenen Klinge durchbohrt haben.“

Ileana zuckte zusammen, ihr Körper fühlte sich auf einmal taub an: Für sie war es unerträglich gewesen, sich vorzustellen, sie hätte Adrian wirklich getötet. Bis sie ihn lebend gesehen hatte.

„Oh, Verzeihung“, fügte der Dämon an. „Nicht in dem Ausmaß, dass Sie ihm das Leben genommen haben.“

Er hatte ihre Gedanken gehört. Das war eine Fähigkeit der Dämonen, genauso wie die eigenen Gedanken telepathisch zu übermitteln. Ileana sah ihn verwirrt an, denn sie verstand nicht, was er ihr damit sagen wollte. „Aber er lebt ohne Erinnerung und Identität“, sagte sie zögernd.

Gabriel bedachte sie mit einem Blick, der ihr wie Mitleid vorkam. „Deshalb bin ich hier. Ich möchte ihn wieder zu dem machen, was er war.“

Ileana zuckte mit den Schultern. „Was habe ich damit zu tun?“

Gabriel schloss die Augen und sprach in Ileanas Kopf weiter: „Er hätte durch die Klinge in die Zwischenwelt befördert werden müssen. Aber das Höllenfeuer hat ihn nicht zu uns zurückgebracht. Ich habe mich gefragt, warum?“

Ileana zuckte reflexartig mit den Schultern. „Weshalb kommen Sie damit ausgerechnet auf mich zu?“

Gabriel lächelte. „Weil Sie ihn gut gekannt haben. Ich dachte, Sie könnten mir helfen, ihn zu finden.“

Ileana hob beide Augenbrauen. „Er spielt in diesem Restaurant jeden Donnerstag und Samstag am Klavier. Mehr weiß ich nicht und will ich auch nicht wissen.“

Gabriel folgte ihr, als sie dem Janes View den Rücken zuwandte und den Rückweg antrat. „Wenn das so ist, frage ich mich, warum Sie ihn beschützen wollen. Ich frage mich, ob er Ihnen mehr bedeutet, als Sie mir gesagt haben. Und jetzt sehe ich die Antwort darauf.“

Sein Blick glitt über ihr Gesicht und sein Lächeln wirkte traurig. Ileana schwieg. Es war nicht notwendig, ihm zu antworten. Er konnte ihren Schmerz sehen.

Gabriel nickte. „Deshalb war es clever von Ihnen, die Probe verschwinden zu lassen. Werden Sie mir helfen, ihn wieder zu dem zu machen, der er war?“

Ileana sah dem Dämon in die Augen und schüttelte den Kopf. „Ich wüsste nicht, wie.“

„Ich brauche die Flügelklinge“, antwortete Gabriel. „Wo befindet sie sich?“

„Ich kann sie Ihnen zukommen lassen. Das dauert allerdings ein paar Tage“, antwortete sie.

Gabriel streckte die Hand aus. „Dann haben wir eine Abmachung?“

Ileana zögerte. „Ich gebe Ihnen die Klinge unter einer Bedingung, Gabriel.“

Der Dämon verengte die Augen und zog seine Hand zurück. „Welche?“

Ileana biss sich auf die Unterlippe. „Halten Sie ihn fern von mir. Ich will ihn nie wiedersehen.“

Gabriel schien darüber nachzudenken, doch als Ileana ihre Hand nach seiner ausstreckte, sagte er: „Ich werde es tun.“

So schlossen die Vampirin und der Dämon in jener Nacht einen Pakt auf Kosten eines anderen.

Nachdem Ileana und Gabriel auseinandergegangen waren, ging die Vampirin zurück zu ihrem Haus. Erschöpft fiel sie in ihr Bett. Schlaf war etwas, das Vampire nicht benötigten. Das war eines der Dinge, die sie daran hasste, eine Vampirin zu sein, weil es ihr die Möglichkeit nahm, Ereignisse, die sie schmerzten, zu verarbeiten.

Sie wählte die Nummer des Instituts in Prag. „Bringt die Federklinge nach Paris. Keiner darf etwas davon erfahren.“ Sie weihte andere nie in ihre Pläne ein, ehe es nicht notwendig war. Gabriel hatte behauptet, er wolle Adrian in sein altes Leben zurückholen. Doch Ileana blieb misstrauisch und hatte nicht vor, dem Dämon ohne gründliche Recherchen das Schwert zu überlassen.

Seit Jahren hatten Experten in den Kreisen der Vampire versucht, mehr über die Eigenschaften der Klinge herauszufinden. Sie entstammte Adrians Flügeln. Im Kristallwald hatte Ileana ihn auf seinen Wunsch damit durchbohrt. In der Gewissheit, Adrian wäre in die Zwischenwelt befördert worden, war Ileanas Leben weitergegangen. Sie hatte gewusst, dass sie ein Leben ohne den Dämon führen musste, um den Verlust ihres Vaters und Bruders, des Clans und ihrer Familie zuliebe in ihr Innerstes zu verbannen. Adrian hätte … Was?

Ileana öffnete die Augen. Adrian hatte ihr damals versichert, dass die Flügelklinge weder sie noch Cassandra jemals verletzen würde.

Doch galt das auch heute noch? Ileana setzte sich auf. Schwaches Tageslicht drang durch die Vorhänge in ihr Schlafzimmer. Als sie Nicks Tür aufgehen hörte und kurz darauf seine Schritte auf der Treppe, folgte sie ihm. „Guten Morgen, Nicolas.“

Ihr Neffe schüttete sich Müsli in eine Schale und griff nach der Milch. „Morgen, Tante Ileana. Wo geht es heute hin?“

An den Wochenenden waren sie beide in der Regel allein, da Lara nach Bath fuhr, um die Großstadt hinter sich zu lassen. Ileana setzte einen Topf mit Milch auf den Herd und drehte sich zu Nick um. „Wir fahren nach Paris und sehen uns die Wohnung an, in der wir deine Ferien verbringen werden. Was hältst du davon?“

Nick sah sie mit großen Augen an. „Ich darf mitkommen?“ Seine Stimme war vor Aufregung ein paar Tonlagen hochgerutscht.

Ileana nickte. „Wieso nicht? Es handelt sich nicht um ein Meeting oder um Clan-Geschäfte.“

Nicks grüne Augen leuchteten vor Aufregung, während er sein Müsli löffelte, und Ileana beobachtete ihn amüsiert.

In den fast zehn Jahren, die sie miteinander lebten, war Nick ihr stets eine Erinnerung an Sienna und Vincent gewesen. Sein Aussehen glich dem seines Vaters, bis auf die grünen Augen, die Nick von seinem Großvater William Aragon geerbt hatte. Sienna hingegen war in ihrem Sohn nur dann zu erkennen, wenn man ihn lange genug kannte. Seinen starken Willen und sein Tatendrang hatte er zweifellos von ihr. Ileana lächelte in sich hinein und ergänzte: „Was wünschst du dir zu deinem Geburtstag nächste Woche?“

Nick sah sie an und legte seinen Löffel in die inzwischen leere Schüssel. „Das weißt du doch, Tante Ileana. Ich will nach Siena und Trinity Hall besuchen.“

Ileana senkte den Blick und schüttelte den Kopf. „Wir haben eine Abmachung, Nicki. Nicht, bevor du fünfzehn bist und alt genug, um …“

Nick stand auf und sah sie mit finsterem Gesichtsausdruck an. „Ich bin alt genug, um mit dir den Ort zu besuchen, an dem mein Dad gestorben ist!“

Sein Ausbruch überraschte sie und sie wandte sich von ihrem Neffen ab, um ihre zitternden Hände zu verbergen. „Nein. Es ist zu gefährlich. Selbst mit mir und zehn unserer Wächter, Nicolas. Du bist zu jung, um in den Umkreis der tödlichen Rosen und der Macht der Königin zu kommen.“ Ileana sprach ruhig und drehte sich zu dem Jungen um, der sie mit starrem Blick musterte. „Diese Entscheidung treffe ich. Nicht du. Noch nicht. Du bist das Wichtigste, das mir geblieben ist, Nick.“

Ihr Neffe verschränkte die Arme. „Das stimmt nicht. Da ist Cassandra. Du redest nie über sie und ich möchte mehr wissen. Warum erzählst du mir nie von ihr?“

Weil sie eine Sklavin der Königin ist, seit sie Teil meines Körpers war … Ileana schloss für einen Moment die Augen. „Ich kann dir nicht viel sagen. Alles, worauf ich hoffen kann, ist, dass deine Mutter sie so gut beschützt wie ich dich.“

Nicolas kam auf sie zu. „Warum tust du so, als wäre sie tot? Warum wollten meine Eltern, dass wir getrennt aufwachsen?“

Ileana sah ihn an. „Nicht heute. Das ist mein letztes Wort.“ Sie verließ die Küche. Auf der Treppe stand Lara und hatte augenscheinlich mitgehört. „Tu mir einen Gefallen und halte dich an unsere Abmachung“, bemerkte sie an ihre Mutter gewandt und verließ das Haus. Henry, der bereits am Auto lehnte, machte Anstalten, ihr die Tür zu öffnen, doch Ileana winkte ab. „Ich gehe zu Fuß, danke Henry.“

Sie hatte noch eine Sache zu erledigen, ehe sie mit Nicolas nach Paris abreiste.

 

 

Sienna

 

Regen prasselte auf das Dach der Hütte. Einzelne Tropfen fielen auf meinen Kopf. Das Dach aus Blättern hatte ein paar neue Löcher. Zwischen den Holzlatten sah ich den Lichtschimmer des anbrechenden Tages. Ein weiterer Tag im Kristallwald.

Nach ein paar Jahren hatte ich aufgehört, sie zu zählen, und mich voll und ganz darauf konzentriert, unseren Plan umzusetzen. Jenen Plan, den Ileana, Vincent und ich im August vor vielen Jahren geschmiedet hatten und der uns eines Tages aus unserer Lage befreien sollte.

Cassandra war inzwischen zu einem Mädchen herangewachsen, das sich regelmäßig die Geschichte darüber anhören sollte, wie wir hierhergekommen waren.

Das war alles, was ich ihr in dieser Welt, fernab der unseren, geben konnte. Das und meine Liebe zu der Nichte, die sie hätte werden können, wären wir zu Hause. Aber das waren wir nicht und sie stand unter dem Einfluss der schlafenden Königin, in deren Palast sie ein und aus ging.

Auf der Ruine mitten im Wald lagen Zauber, die verhinderten, dass ich Cassandra folgen oder auch nur in Erfahrung bringen konnte, was sie dort tat. Ihre Besuche bei mir waren daher umso kostbarer. An diesem Morgen war ich überrascht, sie am See vorzufinden. Dieser Ort zog sich entlang eines von Laub bedeckten Ufers bis hin zu den eingestürzten Steinmauern, die den alten Palast umgaben. Die Arme um die Knie geschlungen, saß sie dort und blickte nachdenklich über die Oberfläche des dunklen Gewässers. Ihr langes honigfarbenes Haar fiel ihr bis über die Schultern.

Ich trat neben sie. „Du besuchst mich sonst nie so früh“, bemerkte ich und sah auf sie hinunter.

Das Mädchen sah mich kurz an und zuckte mit den Schultern. „Ich habe nachgedacht. Über deine Geschichte.“

Ich runzelte die Stirn. „Es ist nicht nur meine Geschichte. Es ist auch deine, Cass.“

Cassandra sah mich lange an. „Nein. Es ist ein Spiel, Tante Sienna. Das hast du mir all die Jahre nie erzählt, aber für die Königin ist es eins.“

Perplex starrte ich sie an. Ich war stets der Meinung gewesen, der Einfluss der Königin auf meine Nichte wäre so stark, dass sie ihr meine Version der Ereignisse unglaubhaft machen würde. Andererseits war es das erste Mal, dass Cass über die Königin sprach, und ich hielt das für eine gute Gelegenheit, sie weiter darüber sprechen zu lassen. „Es gibt Dinge, die ich dir noch nicht erzählen konnte. Du bist noch ein Kind, Cass.“

Sie sah mich lange an, ehe sie antwortete: „Ich habe Dinge getan, die dich ängstigen. Warum sagst du mir nicht, weshalb wir hier sind?“

Ich verengte die Augen. „Oh, ich glaube, das weißt du längst. Oder Cassandra? Sie hat es dir gesagt.“

Meine Nichte lächelte geheimnisvoll und ihre grünen Augen blickten wieder in weite Ferne. „Ich fürchte, sie ist nicht die Böse, für die ihr sie gehalten habt, Tante Sienna. Was auch immer dich dazu bewogen hat, mit mir hierherzukommen, wird Mum und Nicolas nicht retten.“

Den Namen meines Sohnes zu hören veranlasste mich, einen Moment die Beherrschung zu wahren, ehe ich weitersprach:
„Was soll das heißen?“

Cassandra legte den Kopf schief und zuckte mit den Schultern. „Es heißt, ihr habt Mist gebaut.“

Ich biss die Zähne zusammen. „Wie ist das möglich? Alles, was die Königin uns angetan hat, die Prophezeiung und Vincents Tod …“, meine Stimme erstarb. „Warum?“

Sie deutete auf den See und machte eine Bewegung hinüber zum Wald. „Sie kann es dir nicht selbst sagen, aber du kannst es herausfinden, sagt sie. Die Zeit ist gekommen.“

Ich vergrub das Gesicht in den Händen. Hatte ich die Jahre hier mit Cassandra verschwendet? Hätte Vincent nicht sterben müssen?

Cassandra schlang ihre Arme um mich. Trotz allem war sie meine Familie, war gesund, trotz des zweifelhaften Einflusses der Königin, von der ich noch nicht wusste, was sie für ein Spiel trieb. Ich legte meine Hände auf Cassandras Schultern und drückte sie sanft. „Lass uns gehen“, sagte ich entschlossen und lächelte meine Nichte an. „Ich möchte wissen, was sie meint. Du nicht?“

Cassandra lächelte und es erschien mir als das kindliche Lächeln, das ihres war. „Auf gehts.“

 

Am Ufer des Sees lagen stets Herbstblätter, so als wäre diese Jahreszeit hier eingefroren worden. Vor uns erstreckten sich Überreste von Bäumen, deren Stämme nur noch aus verbranntem Holz bestanden.

„Dieser Teil des Reiches wurde von den Wanderern verwüstet“, sagte ich. Asche und Staub wirbelten bei jedem unserer Schritte auf und brannten mir in den Augen.

Cassandra hielt inne. „Ja, das war vor eurer Zeit.“

Ich runzelte die Stirn. „Was hat sie dir erzählt? Ich wusste schon immer, dass sie dir Dinge sagt, weil sie einen direkten … Zugang zu deiner Seele hat.“

Cassandra erwiderte: „Wenn ich es dir sagen würde, würdest du es nicht glauben, Tante Si. Ihr habt der Königin von Anfang an nicht getraut, weil ihr nur die Version von Opa Simon habt. Was nach dem Angriff der Wanderer wirklich passiert ist, weiß nur die Königin. Das ist der Grund, weshalb wir hier sind.“

Ich verstand nicht, was sie damit sagen wollte, und schwieg. Als mein Blick über den See wanderte, blieb ich verdutzt stehen. Ein Schwan gründelte in Ufernähe. Für einen Moment war ich überzeugt, einer optischen Täuschung zu unterliegen, doch dann streckte Cassandra eine Hand nach dem Tier aus, das daraufhin den Kopf aus dem Wasser streckte und langsam näher schwamm.

„Ist der wirklich?“, fragte ich perplex.

Cassandra wartete, bis der Schwan nur noch wenige Zentimeter von ihren Fingern entfernt war. „Nein, aber er ist trotzdem da, oder?“, sagte sie.

Als der Schwan den Kopf nach vorn neigte, um Cassandras Finger zu berühren, fasste sie ins Leere. Ich trat näher und erkannte, dass der Schwan durchscheinend war.

Cassandra ließ die Hand sinken. „Eine verlorene Seele aus diesem Reich, die nach wie vor hier gefangen ist. Beinahe so wie wir.“

Ich beobachtete, wie sich das Tier von uns entfernte. „Die Bewohner dieses Reiches. Es waren also Menschen.“

Cassandra stand auf und nahm meine Hand. „Nicht nur.“

Ich seufzte. „Wie oft habe ich dir unsere Geschichte erzählt? Einige hundert Mal, nicht wahr?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Ich kenne sie auswendig.“

„Wie kommst du darauf, dass die Version der Königin richtig ist?“, fragte ich weiter. „Sie kann dich genauso gut belogen haben.“

Cassandra sah mich an und ihr Händedruck wurde fester. „Sie hat keinen Grund dazu. Außerdem können wir uns seitdem wir hier sind, frei bewegen. Das Einzige, was wir nicht können, ist, dieses Reich zu verlassen. Vielleicht möchte sie, dass wir es kennenlernen. Du solltest ihr eine Chance geben, Tante Sienna.“

Blieb mir etwas anderes übrig?

 

Cassandra führte mich zu dem Dorf vor den Palastmauern. Ich vermied sonst, es zu betreten. Efeu rankte eingestürzte Mauern empor, als wollte es sie erdrosseln. Hecken zwängten sich ins Innere der Häuser wie ungebetene Besucher. Anders als im Wald war hier etwas gänzlich anderes am Werk: Evelyn, die über die Natur gebot.

„Das hier geschah also nach dem Angriff der Wanderer“, murmelte ich und versuchte, das Stöhnen des Windes in den Gassen zu ignorieren.

„Weshalb hat sie ihr Reich zerstört?“, fragte Cassandra, doch darauf wusste ich keine Antwort. Sie hatte vermutlich recht, dass wir nicht die ganze Geschichte kannten. Wenn wir darüber schon so wenig wussten …

Je länger wir die Häuserzeilen passierten, desto deprimierter wurde ich. Die Gewissheit, dass einzig Evelyn dieses Dorf zerstören konnte und kein Leben darin zurückgelassen hatte. Das machte sie ebenso gefährlich wie ihre Mutter.

Die Straße führte uns endlich aus dem Dorf heraus zurück an den See.

„Tante Sienna, sieh dir das an.“ Cassandra ließ meine Hand los und ging einen Hügel hinauf. „Das könnten Gräber sein, oder?“

Beunruhigt folgte ich ihr. Obwohl kein Grabstein die vier Erhebungen schmückte, waren sie doch unschwer als Gräber zu erkennen. Drei davon waren mit einer dichten Laubschicht bedeckt. Das vierte, eines der mittleren, lag kahl im Sonnenlicht. Nicht eine Pflanze hatte versucht, auf der brösligen gräulichen Erde Fuß zu fassen.

Ich kniete mich davor und legte meine Hand darauf. „In diesem Dorf starben Hunderte Menschen. Wieso gibt es nur diese vier Gräber?“, fragte ich geistesabwesend, denn ich hatte einen Gegenstand entdeckt, der in der Erde glitzerte. Ich schob die Erde beiseite. Eine schwarze Feder von der Größe meines Unterarms kam zum Vorschein.

„Was ist das?“, fragte Cassandra, als ich die Feder vorsichtig in die Hand nahm und die scharfe Kante betrachtete. Ich neigte meinen Kopf und atmete den Duft ein, der an ihr haftete. Die Feder glitt mir aus den Fingern, als ich den Duft erkannte.

„Tante Sienna?“ Cassandra packte mich am Oberarm.

Für einen Moment lehnte ich mich an sie, bis das Zittern abklang. „Er war hier. Er kannte die ganze Geschichte und hat uns belogen.“

Cassandra sah auf die Feder. „Wer?“

Ich stand auf und straffte die Schultern. „Adrian.“

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 2

 

 

Ileana

 

Lieber Vincent, liebe Sienna,

 

Nicolas hat heute sein erstes Wort gesprochen. Na gut, es war undeutlich, aber ich denke, es klang nach „Hund“.

Darüber solltet ihr wissen, dass unsere Nachbarin gleich sechs davon hat und Nick praktisch jeden Tag nach ihnen Ausschau hält, wenn wir rausgehen. Seit er laufen kann, klettert er überall herum und über ein Gitter brauche ich erst gar nicht nachzudenken, er würde es vermutlich schneller überwinden, als ich es abbauen kann.

Ihr seid seit einem Jahr nicht mehr Teil unseres Lebens und es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an euch beide und meine Cass denke.

Mum und Thomas helfen mir mit Nick und ich bin ihnen dafür unendlich dankbar, besonders, wenn ich mich mehrere Tage bei Angehörigen des Clans aufhalte. Zu meinen Aufgaben gehört momentan vornehmlich, Versprechungen zu erfüllen und einzufordern. Loyalität ist, besonders nach unseren Erlebnissen im Kristallwald, nicht leicht zu bekommen, immerhin sind zwei Oberhäupter und ihr beide von uns gegangen.

Mir bleibt nur zu hoffen, dass unser Plan gelingen wird, und Nick wohlbehalten aufwachsen kann. Und dass du, Sienna, gut auf meinen Schatz aufpasst.

Auch wenn ihr diese Zeilen nie lesen werdet, habe ich das Gefühl, sie erreichen euch. Egal, wo ihr seid.

 

In Liebe

Ileana

 

 

Während der letzten zehn Jahre hatte sie zwei Dutzend dieser Briefe geschrieben, die sie Nicolas an seinem zehnten Geburtstag übergeben wollte. Sie und zwei weitere, die Sienna und Vincent für ihn verfasst hatten. Sie hatten gewusst, dass sie ihren Sohn lange nicht wiedersehen würden und in Vincents Fall nie.

In der Nacht war sie auf den Speicher gegangen und hatte die Box hervorgeholt, da es nur noch zwei Wochen bis zu Nicks und Cassandras Geburtstag waren. Sie hatte sie aus Respekt vor Vincent und ihrer Schwägerin nicht geöffnet und wollte dennoch bei Nick sein, wenn er sie las.

Beim schwachen Schein der nackten Glühbirne, die von der Decke baumelte, saß Ileana im Schneidersitz und sah ihre alten Briefe durch, bis sie die Zeilen fand, die sie gesucht hatte. Schritte erklangen auf der Treppe und sie steckte die Briefe in ihre Manteltasche.

„Ileana?“

Tom erschien in der Tür und Ileana erhob sich. „Entschuldige, aber hier oben höre ich die Klingel nicht. Hat Mum dich reingelassen?“ Sie küsste ihn zur Begrüßung auf die Wange.

Toms braune Augen leuchteten kurz auf, ehe er sie umarmte. „Sie kann sehr zuvorkommend sein. Ganz anders, als du sie mir immer beschreibst.“

Ileana lächelte und löschte das Licht. „Sie mag dich. Ist das so abwegig?“

Tom nahm ihre Hand und blieb stehen. „Heißt das, sie akzeptiert mich?“, fragte er.

Ileana betrachtete sein aufgeregtes Gesicht und lächelte, ehe sie ihre Hand an seine Wange legte. „Sie hat keine andere Wahl. Es ist meine Entscheidung, mit wem ich zusammen bin.“

Tom wurde schlagartig ernst und die augenscheinliche Freude wich aus seinem Gesicht. „Dann lass es uns offiziell machen. Wir treffen uns seit sechzehn Monaten.“

„Könnt ihr das Liebesgesäusel irgendwo abhalten, wo ich nicht mithören muss? Da wird einem ja schlecht von.“ Nick hatte den Kopf aus seinem Zimmer gestreckt und gab würgende Geräusche von sich.

Ileana schob Tom auf die Treppe auf das Erdgeschoss zu. „Geh schon mal zum Auto, ja?“

Der Blick, den Nick ihm nachwarf, gefiel ihr nicht. „Was ist los, Nicki? Was stört dich?“

Er schloss die Tür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Als er sprach, sah er auf den Dielenboden. „Magst du diesen Typ wirklich?“

Die Frage überraschte Ileana. „Ja, das tue ich.“

Nick sah sie mit einem Blick an, der ihr deutlich zu verstehen gab, dass er mit der Situation nicht zufrieden war. „Ich nicht, Tante Ileana. Er behandelt mich wie Luft.“

Ileana runzelte die Stirn. „Wir sind nicht offiziell zusammen und solange kam es mir besser vor, wenn ihr euch nicht näher kennenlernt, verstehst du?“

Nick sah sie an, als hätte er es mit dem Kind zu tun und nicht umgekehrt. „Seltsam, dass du es noch nicht offiziell gemacht hast, dann wüsste ich sicher schon seine Lieblingsfarbe“, bemerkte er und öffnete seine Zimmertür.

„Nick, so kannst du nicht verschwinden“, rief Ileana ihm hinterher.

„Ich glaube, du hast ihn nicht so gern, wie du mir erzählen willst. Vermutlich sollte ich ihn nicht besser kennenlernen.“ Die Tür fiel ins Schloss.

Kurz war sie versucht, das Gespräch weiterzuführen, doch das musste sie verschieben, auf den Moment, wenn sie über die Worte ihres Neffen nachgedacht hatte, ohne die Fassung zu verlieren. Ihre Beziehung mit Tom war ihr immer ideal erschienen, da auch er viel auf Reisen war und sie viel gemeinsam erledigen konnten. Tom hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er sie gern an seiner Seite hatte und trotz der vielen Arbeit ein gemeinsames Leben mit ihr wollte.
In den Augenblicken, die nur ihnen gehörten, und die Ileana ihre Position und den Kummer um ihre Familie vergessen ließ. Ileana schloss einen Moment die Augen und ging schließlich nach unten, um Tom nicht zu lange warten zu lassen.

„Er mag mich nicht, habe ich recht?“, fragte Tom, als sie auf den Beifahrersitz glitt.

Ileana schloss die Tür und seufzte. „Er kennt dich nicht gut genug, um dich zu mögen. Deshalb sollte sich das ändern, oder?“

Tom sah sie durchdringend an. „Also möchtest du …?“

Ileana nickte. „In zwei Wochen ist Nicks und Cassies Geburtstag. Ich gebe ein Fest auf unserem Anwesen in Salisbury. Wir geben unsere Beziehung dort offiziell bekannt.“

 

 

Nicolas

 

Er knallte den Bleistift mit voller Wucht auf die Tischplatte, sodass die Mine brach.

„Sie wird merken, dass er nicht der Richtige ist“, sagte Jane, die mit einen Schreibblock auf dem Schoß auf seinem Bett saß. „Verlier jetzt nicht die Nerven und denk an diese Gleichungen.“

Nick drehte sich mit seinem Stuhl zu ihr um. „Sie ist seit über einem Jahr mit diesem Kerl zusammen und hat es immer noch nicht kapiert. Vielleicht ist es Zeit, etwas zu unternehmen, Jane.“

Jane legte ihren Stift beiseite. „Du willst die beiden auseinanderbringen?“

Nick zuckte mit den Schultern. „Wir müssen nur einen Grund finden, dass einer von beiden sich vom anderen trennt.“

Jane hob beide Augenbrauen. „Wir? Bist du wahnsinnig? Meine Eltern arbeiten für deine Tante, vergiss das nicht. Wenn sie rauskriegt, dass ich dir dabei geholfen habe, ihre Beziehung zu ruinieren, schmeißt sie Mum und Dad raus.“

Janes Eltern, Mrs. und Mr. O’Connell, arbeiteten im Transportwesen des Clans und waren für den internen Zollbetrieb in London zuständig. Sie kontrollierten und überwachten seltene Artefakte, die die Grenze passierten, auf deren Abstammung, und regelten den In- und Export familieninterner Besitztümer.

„Wenn sie es herausfindet. Bitte, Jane. Dafür sind doch beste Freunde da, oder?“

Jane sah noch immer nicht überzeugt aus, rutschte jedoch näher an die Bettkante und schien zu überlegen. „Wenn ich dir dabei helfe, würde ich vorschlagen, dass wir bei deiner Tante anfangen. Mir gefällt der Gedanke nicht, bei einem zweihundert Jahre alten Arzt herumzuschnüffeln.“

Nick atmete hörbar aus. „Meine Tante hat keine dunkle Vergangenheit. Dafür hatte sie zu wenig Zeit.“

Jane zuckte mit den Schultern. „Weißt du das genau?“

Nick schüttelte den Kopf. „Wir können auf dem Dachboden nachsehen. Soweit ich weiß, lagern dort Dokumente und Sachen aus der Zeit, als sie mit meinen Eltern noch in Italien gelebt hat.“

Für den Bruchteil einer Sekunde sah Jane weg, so als würde sie Nicks Eltern in diesem Moment im Raum sehen. Er sprach selten über sie und wenn er es tat, verschloss er sich danach vor der Außenwelt. „Sollen wir morgen damit anfangen? Denn wenn wir jetzt nicht mit Mathe weitermachen, werde ich morgen aufgrund von Hausarrest nicht hier sein können“, schlug Jane vor.

Nick lächelte ihr dankbar zu. „Stimmt. Lass uns weitermachen.“

 

Am nächsten Abend klingelte Jane wie besprochen um Punkt achtzehn Uhr. Ileana hatte einen Termin außer Haus und Lara war im Wohnzimmer am Telefon, als Nick die Tür aufmachte und Jane hereinließ. „Sie denkt, wir machen Hausaufgaben“, sagte er kurz angebunden und Jane hob eine Tasche voller Bücher hoch.

„Meine Eltern ebenfalls.“

Auf dem Weg zum Speicher stellte Jane ihre Tasche in Nicks Zimmer ab, ehe sie die Treppe hinaufschlichen.

An den Wänden standen etwa zwei Dutzend Kartons, hier und da mit aufgeklappten Deckeln. In einer Ecke waren alte Möbel aufgetürmt worden.

„Dafür brauchen wir sicher eine Weile“, bemerkte Nick und klappte eine der Kisten auf.

„Wonach sollen wir überhaupt suchen? Deine Tante führt nicht zufällig Tagebuch?“, fragte Jane und hievte eine Kiste von einem Stapel.

Nick schüttelte den Kopf. „Dafür ist sie viel zu oft unterwegs.“

Jane wühlte bereits in dem Karton. „Weißt du was über Cassandras Dad?“

Nick überlegte. „Sie fährt jedes Jahr an seinem Todestag zu seinem Gedenkmal nach Rom. Aber das ist nichts, das uns weiterhilft.“

Jane setzte sich auf den Boden und betrachtete den Inhalt ihrer Kiste, während Nick seine weiter durchsuchte. Alte Bilder in verblichenen Goldrahmen, die Personen zeigten, die er nicht kannte.

„Gab es jemanden danach?“, fragte Jane plötzlich.

Nick unterbrach seine Suche erneut. „Keine Ahnung. Hat mich nie interessiert.“

 

Ihre Suche ergab keine nennenswerten Ergebnisse, außer schmerzende Arme, als beide schließlich beschlossen, tatsächlich ihre Schulaufgaben zu erledigen und ihr Vorhaben vorerst abzubrechen.

Jane legte den Stift beiseite. „Könnte Lara etwas wissen?“

Nick schnaubte. „Granny? Soweit ich weiß, ist sie Team Tom. Außerdem standen sie und meine Tante sich nie besonders nahe.“

Jane sah nachdenklich aus dem Fenster. „Dann musst du dich vielleicht damit abfinden, dass sie diesen Doktor wirklich als ihren Partner auserkoren hat.“

Nick schaute entrüstet drein. „Niemals. Ich kann mir kein schlimmeres Geburtstagsgeschenk vorstellen, als diesen Langweiler in der Familie zu begrüßen.“

 

 

Ileana

 

 

„O’Connell, ich brauche dieses Schwert morgen!“ Ileana umklammerte ihr Handy so fest, dass es bedenklich knirschte, doch das war ihr egal. Ihr Zollbeamter in London hatte ihr soeben in einem dringenden Anruf mitgeteilt, dass es Lieferverzögerungen gäbe und die Flügelklinge deshalb nicht rechtzeitig bis morgen eintreffen würde.

„Mylady, es tut mir wirklich leid, aber die Familie Clayton zieht zurzeit nach London um und sämtliche ihrer Artefakte bedürfen einer gründlichen Überprüfung. Wir sind überlastet“, stotterte O’Connell.

„Würde es helfen, wenn ich die Klinge selbst abhole?“, schlug sie vor. Für einen Moment herrschte Stille, in der sich Daniel O’Connell wahrscheinlich mit seiner Frau Emily besprach, die seine rechte Hand war. Als er sich wieder meldete, klang er selbstsicherer und Ileana verkniff sich ein Lächeln.

„Die Klinge wurde heute Morgen von Prag hierher transportiert. Sobald sie eingegangen ist, melden wir uns, Miss van Sciver.“

Ileana bedankte sich und legte auf. Über die Flügelklinge wusste niemand aus ihrer Familie Bescheid und so sollte es auch bleiben. Würde die Existenz der Waffe bekannt, würde man ihre Fähigkeiten herausfinden wollen, und sie hatte nicht vor, auch nur eine Information über Adrian publik werden zu lassen.

Tief sog sie die Nachtluft ein, während sie, am Geländer lehnend, beobachtete, wie die Wellen der Themse ans Ufer schlugen.

„Eine schöne Nacht für einen Spaziergang, nicht wahr, Ileana?“

Sie zuckte zusammen. Eine zierliche Gestalt im Mantel zeichnete sich unter einer Laterne ab. Unter der Kapuze erkannte sie Evelyns hübsches Gesicht, umrahmt von feuerroten Locken. Bevor sie sich abwenden konnte, sprach Evelyn weiter. „Ich dachte, ich komme mal vorbei, um mich auf den neuesten Stand zu bringen. Nachdem du mich vor zwei Jahren rausgeworfen hast, bin ich untergetaucht.“

Ileana warf ihr einen wütenden Blick zu. „Gut so, weshalb bist du hier und belästigst mich?“

Evelyn trat näher und schlug ihre Kapuze zurück. „Ich habe dir damals gesagt, dass ich dir und deiner Familie helfen kann, Mary zu besiegen, wenn sie unsere Mutter wieder zum Leben erwecken will.“

Ileana wandte sich ab. „Meine Antwort lautet immer noch Nein. Wir haben vorgesorgt.“

Evelyn schwieg und Ileana musterte sie verstohlen von der Seite. Ihre Magie war noch da, sie konnte es am Schimmer auf Evelyns blasser Haut sehen. Ileana war nie dazu gekommen, sie zu fragen, wieso sie als Feenkönigin abgesetzt worden war. Bisher hatte sie Evelyn als Feindin betrachtet, die ihr den Vater genommen hatte. Aber sie war auch ihre Schwester. „Warum bist du zurückgekommen?“ Ileana biss sich auf die Zunge, weil sie sich zu der Frage hatte hinreißen lassen.

„Weil die Zeit dafür gekommen ist. Unsere Schwester beobachtet euch. Irgendwann wird sie dahinterkommen, was ihr vorhabt.“ Evelyn stützte die Arme auf das Geländer und sah Ileana mit ihren dunkelgrünen Augen sorgenvoll an. „Ihr könnt Mary nicht so nebenbei aufhalten. Sie verkörpert das Schicksal.“

Am liebsten hätte Ileana ihr Vorwürfe gemacht, weshalb sie nicht vorher mit diesen Informationen rausgerückt war, stattdessen sagte sie: „Sie ist deine Zwillingsschwester. Wie sollen wir sie aufhalten?“

Evelyn sah einen Moment lang zu Boden. „In gewissem Maße habe ich bereits etwas dagegen getan, weißt du? Vor langer Zeit in einer einzigen Nacht vor zehn Jahren.“

Ileanas Finger klammerten sich um das kalte Metall des Geländers. Wollte Evelyn ihr sagen, dass …?

„Mary hat mich zwar als Feenkönigin absetzen können, indem sie mein Schicksal änderte, doch ich dachte, ich hätte mit Cassandras und Nicolas’ Geburt ihren Untergang eingeläutet. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.“

Ileana platzte der Kragen. „Soll das heißen, du hast uns die ganze Zeit benutzt, um unsere Kinder gegen Mary in die Schlacht zu führen? Was geht in deinem kranken Hirn vor sich?“

Evelyns Gesicht zeigte keine Regung. „Nein. Du unterstellst mir ein Motiv, das ich nie hatte. Marys Boshaftigkeit kann ich nicht ausgleichen. Das, was unsere Mutter getan hat, um uns von ihrem Reich fernzuhalten, hat Mary zerstört. Was sie braucht, ist jemand, der ihr die Liebe schenken kann, die sie so dringend braucht.“

Ileana schnaubte und war nicht bereit, sich zu beruhigen. „Sie braucht einen guten Therapeuten und eine Abreibung. Tut mir leid, Evelyn, aber ich opfere weder meine Tochter noch meinen Neffen für dieses Biest.“ Sie wandte sich ab, um zu gehen, doch plötzlich spürte sie Evelyns Hand auf ihrer Schulter.

„Hast du das nicht bereits, Ileana? Du lebst von deiner Tochter getrennt. Ihr habt eure Familien auseinandergerissen, um Marys Blick zu entkommen. Selbst deine Liebe hältst du unter Verschluss, um sie nicht auf seine Spur zu bringen. Ich biete dir meine Hilfe an. Ich kann Marys Blick auf bestimmte Zeit trüben, bis du in einer Position bist, die es euch erlaubt, Sienna und Cassandra aus dem Kristallwald zu holen, ehe Mary sich völlig Cassandras Geist bedienen kann.“

Ileana rührte sich nicht, ließ sich jedes einzelne Wort Evelyns durch den Kopf gehen. „Du hast gesagt, ich halte meine Liebe unter Verschluss. Das ist nicht wahr. Ich werde sie bald öffentlich machen.“

Evelyns Hand verschwand von ihrer Schulter und Ileana drehte sich um. Sie sah ein schwaches Lächeln auf Evelyns Lippen.

„Wir beide wissen, dass ich nicht deinen Arzt damit meine. Doch ich muss dich warnen. Mary weiß um die Fähigkeiten eines Dämons und wird verhindern wollen, dass er in dein Leben zurückkehrt. Sei auf der Hut, bis du dich entschieden hast, mir zu vertrauen.“ Sie wandte sich um und ging davon und ehe Ileana etwas sagen konnte, um sie aufzuhalten, löste sie sich in Luft auf.

 

 

Ileana

 

Während der nächsten Tage versuchte Ileana, nicht an Evelyns Worte zu denken, doch es wollte ihr nicht gelingen. Immer wieder saß sie an ihrem Schreibtisch, holte ein Blatt und einen Stift hervor, aber sie konnte ihre Gedanken dazu nicht auf das Papier bringen. Weder konnte noch wollte sie Evelyn Glauben schenken.

Auf dem Flur hörte sie, wie Nicolas nach unten zum Frühstück ging und stand ebenfalls auf. Sie musste die Reise nach Paris verschieben, solange der Verbleib der Flügelklinge noch unklar war, und Mary angeblich auf der Lauer lag.

„Guten Morgen, Nick.“ Sie setzte sich ihrem Neffen gegenüber, der an einer Scheibe Toast kaute und sie nach wie vor finster musterte.

„Hi.“ Seinem Unterton zufolge, war er immer noch sauer.

Ileana lehnte sich zurück. „Was hältst du von einem Ausflug zum Street Market in Camden? Sieh es als Friedensangebot und Entschuldigung.“

Nick hielt einen Moment im Kauen inne, um seinen Bissen im Anschluss herunterzuschlucken. „Wir beide?“

Ileana zuckte mit den Schultern. „Von mir aus kannst du Jane O’Connell gerne mitnehmen, wenn sie uns begleiten will.“

Nick ließ sich mit seiner Antwort Zeit und Ileana war sicher, er wollte sie damit auf die Folter spannen. In dieser Hinsicht war er wie sein Vater Vincent.

„Okay, ich rufe sie gleich an“, sagte er und verschwand in Windeseile aus der Küche.

 

Da es ein Samstag war, herrschte auf den Märkten in Camden Hochbetrieb. Stände reihten sich am und um den Regent’s Canal entlang und lockten Besucher aus aller Welt an. Hier konnte sich sogar Ileana gut unter die Menge mischen. Als Clanoberhaupt hatte sie stets einen Leibwächter dabei. In diesem Fall war es Henry, der sich bemühte, nicht von der Menschenmenge von ihnen weggedrückt zu werden. Für Ileana war es eine willkommene Abwechslung und so genoss sie es, in einem lockeren Outfit und mit Hochsteckfrisur über den Markt zu schlendern.

Für Nicks beste Freundin Jane schien es jedoch eine eher unangenehme Situation zu sein. Immer wieder warf sie Ileana verunsicherte Blicke zu und wechselte kaum ein Wort mit ihr.

Ileana schob das auf ihre Autorität als Oberhaupt, obwohl dies nicht der erste Ausflug mit den beiden war. „Wie geht es deinen Eltern, Jane?“, fragte sie beiläufig, während sie einen Stand mit bunten Schals und Tüchern begutachteten.

Jane schien über diese einfache Frage erleichtert. „Sehr gut, danke. Mum denkt darüber nach, in eine andere Abteilung zu wechseln.“

Ileana hob eine Augenbraue. „Tut sie das?“

Janes Gesicht nahm eine zartrosa Farbe an und sie fügte hinzu: „Ihr Verständnis vorausgesetzt, Madam.“

Ileana lächelte ihr zu. „Du kannst mich mit meinem Vornamen ansprechen. Wir kennen uns immerhin schon seit ein paar Jahren.“

Jane lächelte schüchtern zurück und griff nach ein paar Shirts. „Ich denke, die gefallen mir.“

Ileana zuckte mit den Schultern. „Na, dann probiere sie an. Ich stehe gerne als Beraterin zur Verfügung.“

 

Nachdem sich Jane für drei Shirts entschieden hatte, machten sie sich auf die Suche nach Nick.

„Dort drüben steht Henry. Vor dem Antiquitätenladen“, sagte Ileana und führte sie über die Straße auf ein Eckhaus mit violettem Anstrich und kleinen, in Weiß gestrichenen Balkonen zu. Henry stand dort unter einem hölzernen, verblichenen Ladenschild. Den Schriftzug Foster’s Antiquitäten aus aller Welt konnte man jedoch noch erkennen.

Ileana trat neben Henry und sah den Sicherheitschef an. „Ist es ein Zufall, dass mein Neffe hierhergekommen ist?“, fragte sie.

„Er hat etwas gesehen, das seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Sie sollten vielleicht auch einen Blick darauf werfen, Madam.“

Seinem Ton nach zu urteilen, beunruhigte es ihn, und Ileana starrte ihn erschrocken an. „In Ordnung. Sie behalten die Straße im Auge“, sagte sie.

Henry nickte. „Verstanden.“

Sie sah Jane an, die das Gespräch mit großen Augen verfolgt hatte. „Du bleibst bei Henry. Keine Widerrede.“

Sie betrat den Laden, ohne Janes Protest abzuwarten. Eine Glocke ertönte, als die Tür aufschwang. Der Raum war mit kleinen Tischen gefüllt, auf denen polierte Kelche, Pokale und andere Gefäße standen. Auf anderen wurde altes Porzellan ausgestellt. Ileana folgte dem Gang zu ihrer Linken und kam an eine kleine Fensterfront, die den Blick auf den Hinterhof freigab. Hier waren Bilder aufgestellt worden: Fotografien in schwarz-weiß und Farbe sowie Gemälde, Radierungen und Zeichnungen. Die Hände auf dem Rücken, stand Nick vor einer Staffelei.

„Nicolas?“

Er drehte sich um. „Ich glaube, da hat dich jemand porträtiert, Tante Ileana.“

Nick trat einen Schritt zur Seite und Ileanas Blick wurde von einer Skizze angezogen: Die Zeichnung eines Gesichts im Profil. Eine junge Frau, die glatten Haare kinnlang, mit hoher Stirn, die Augen etwas zu weit auseinander. Ihr verträumter Blick war nach oben gerichtet. Ileana atmete scharf ein. Diese Frisur hatte sie bis vor neun Jahren getragen. „Das ist sicher reiner Zufall“, sagte sie und trat neben Nick, um sich die Zeichnung genauer anzusehen. Sie schien noch nicht fertig zu sein, denn ein paar Konturen im Gesicht waren nur vorgezeichnet.

„Verzeihung, kann ich Ihnen helfen?“ Ein älterer Herr, seinem Namensschild nach Mr. Foster, stand hinter ihnen.

Ileana wandte sich ihm zu. „Tatsächlich können Sie das. Steht dieses Bild zum Verkauf?“

Mr. Foster blickte an ihr vorbei und starrte das Porträt an. „Bedauerlicherweise ist dieses Werk und alles Weitere in diesem Bereich meines Geschäfts nicht für den Verkauf bestimmt. Der Künstler, der sie anfertigt, nutzt das hier als Zwischenlager, wissen Sie.“

Ileana betrachtete die Bilder dahinter. „Verkaufen Sie diese Werke, wenn sie fertiggestellt sind?“

Mr. Foster betrachtete sie genauer und ihm schien zu dämmern, weshalb Ileana das Porträt interessierte. „Wenn der Preis stimmt, könnte sich der Urheber davon trennen. Kommen Sie in ein paar Tagen wieder, dann können Sie persönlich mit ihm sprechen.“

Ileana konnte den schnell schlagenden Puls an seinem Hals sehen sowie seinen Schweißausbruch riechen. Sie sah sich einen Moment um und nickte. „Sehr freundlich von Ihnen, das werde ich tun. Komm Nicolas, wir gehen.“

Ihr Neffe sah sie fragend an, doch sie nahm seine Hand und ging entschlossen hinaus, wo Henry und Jane warteten.

„Geht schon mal zur Bahn. Ich muss noch ein Telefonat führen.“

Nick beugte sich zu Jane und flüsterte ihr etwas ins Ohr, während Henry die beiden sanft durch die Menge schob. Ileana zückte ihr Handy und rief Cesare an.

„Wie läuft es mit den Blutproben der Mitarbeiter des Jane’s View?“, fragte sie.

„Alle Proben waren menschlich“, lautete die Antwort.

Ileana kniff einen Moment lang die Augen zusammen und dachte nach. „Danke. Kannst du herausfinden, wer im Hinterhof von Mr. Fosters Antiquitätengeschäft auf dem Camden Market Kunstwerke verkauft?“ Cesare bejahte und Ileana legte auf. Sie sah sich einen Moment um, ehe sie sich von dem Antiquitätengeschäft entfernte. Es war ein beklemmendes Gefühl gewesen, diese Bilder dort unvermittelt vorgesetzt zu bekommen. Hatte er womöglich seine Erinnerungen wiedererlangt, ohne dass sie davon erfahren hatte? Unter Einsatz ihrer Ellenbögen erreichte sie den Eingang zur U-Bahn-Station.

„Sie halten sich nicht an die Abmachung, Ileana.“

Sie blieb stehen und blickte sich um. Jemand rempelte sie an.

„Wollen Sie mir etwas vorenthalten, indem Sie Adrians Klinge zurückhalten?“

Ileana drehte sich um und blickte Gabriel ins Gesicht. Sie widerstand der Versuchung, einen Schritt die Treppe hinunterzumachen. „Selbst ich kann nicht zaubern. Die Klinge hängt im Zoll fest.“

Der Dämon zeigte keine Gefühlsregungen. „Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht viel mehr Zeit damit lassen. Sie kennen die Gefahr, die Marian darstellt.“

Ileana schüttelte den Kopf. „Warum ausgerechnet jetzt? Nach zehn Jahren kommen Sie und möchten ihn zurück? Weshalb?“

Bevor sie zurückweichen konnte, legte Gabriel ihr seine Hand auf die Schulter und übte sanften Druck aus. „Weil es notwendig ist, dass er zurückkehrt.“ Dann versetzte er ihr einen Stoß. Aber statt, dass sie die Treppe hinuntergeschleudert wurde, war es, als würde sie gegen eine flexible Wand gedrückt.

Gabriels Augen weiteten sich und Ileana nutzte die Gelegenheit und packte das Handgelenk des Dämons. „Was ist hier los?“, fauchte sie und riss sich los, ehe ihr noch etwas bewusst wurde: Die Menschen strömten weiter an ihr vorbei nach oben und unten, ohne von ihnen Notiz zu nehmen und in völliger Stille. Als hätte jemand auf lautlos gestellt.

Gabriels Blick wanderte nach links und er ließ Ileana abrupt los. „Halt du dich da raus!“

Der Zorn in seiner Stimme erschreckte sie mehr, als sein Versuch, sie die Treppe hinunterzustoßen.

Evelyn blickte nicht minder zornig zurück, eine Hand auf dem Geländer, die andere nach ihnen ausgestreckt. War sie dafür verantwortlich, dass Gabriel ihr nichts antun konnte?

„Du stellst mir keine Bedingungen. Wenn Mary dich instrumentalisiert, dann weiß ich genau, wo ich eingreife“, sagte sie und ihre Stimme klang dunkel und bedrohlich.

Diesen Moment nutzte Ileana aus und schlug Gabriels Arm beiseite, doch er packte sie um die Hüfte und zog sie an sich. Erfolglos kämpfte sie gegen seinen Griff an. Evelyn senkte den Arm.

Gabriels freie Hand legte sich um Ileanas Kehle. „In ihr sind noch so viele dieser Emotionen.“

Ileana versuchte, seine Hand von ihrem Hals zu lösen und ertastete auf seiner kühlen Haut eine wärmere Stelle. Sie drehte den Kopf so weit, wie es Gabriels Griff zuließ. „Ich kenne solche Male. Wenn es zu stark reagiert, bedeutet das deinen Tod.“

In diesem Moment schien Evelyns Kraft zu versagen. Ileana spürte, wie sich die Schwerkraft wie von selbst wieder in den Abgrund senkte und sogar Gabriels Griff lockerte sich.

„Sie behaupten, zu wissen, was hinter den Malen steckt?“, knurrte Gabriel und ließ sie frei.

Ileana hustete und betastete ihren Hals.

„Das kreisrunde Mal trägt jeder Dämon an einer anderen Stelle und wurde uns von der Feenkönigin geschenkt. Vor sehr langer Zeit, als diese Welt noch von verfeindeten Stämmen bevölkert wurde.“

Ileana hatte nicht bemerkt, dass sich Evelyn neben sie gestellt hatte, bis die Fee plötzlich das Wort ergriff: „Genug. Das geht sie nichts an!“ Evelyns Grausamkeit war ihr von ihrer ersten Begegnung auf Trinity Hall in Siena gut in Erinnerung, doch nun schwang eher Angst in ihrer Stimme mit.

Daraufhin wandte sich Ileana an Gabriel, dessen Blick auf Evelyn ruhte. „Adrian hatte auch so eins auf der Brust, aber es war größer“, sagte Ileana.

Gabriels Blick schoss zu ihr zurück. „Es warnt uns, wenn wir von starken Emotionen umgeben sind, die wir aufnehmen können. Sowohl von außen als auch … von innen. Habe ich etwas vergessen?“

Der Sarkasmus, der in seinen Worten mitschwang, irritierte Ileana.

Evelyn wandte sich Ileana zu. „Geh nach Hause. Ich erkläre dir das an einem anderen Ort unter vier Augen. Bitte.“

Ileana zögerte und sah Gabriel an: „Ist es wahr? Hast du in Marians Auftrag gehandelt?“

Der Dämon sah sie an. „Sie hat versucht, mich auf ihre Seite zu ziehen, aber meine Loyalität liegt woanders. Ich befürchtete, Marian würde Ihr Vorhaben durchkreuzen und Adrian töten. Jetzt müssen wir schnell handeln, Miss van Sciver. Er ist ein Schwachpunkt für Sie.“

Ileana nickte und sah Evelyn an. „Kannst du uns helfen? Wenn du das tust, höre ich dir zu.“

Die ehemalige Feenkönigin schien ebenfalls nachzudenken und zuckte schließlich mit den Schultern. „Eine andere Wahl haben wir wohl nicht.“

 

Nick lauerte im Flur. „Warum sind wir so schnell aus dem Laden verschwunden?“

Ileana antwortete erst, nachdem sie ihren Mantel an den Kleiderständer gehängt hatte. „Diese Bilder haben etwas zu bedeuten, Nicolas. Ich weiß noch nicht, was, aber das wird überprüft.“

Er legte die Arme über die Knie und Ileana setzte sich zu ihm. „Hat es mit Mum und Dad zu tun?“

Ileana schluckte und betrachtete ihren Neffen mit einem sanften Lächeln. „Ja, ich denke schon. Wie bist du darauf aufmerksam geworden?“

„Eigentlich hatte ich was im Schaufenster gesehen, von dem ich dachte, es wäre ein schönes Geschenk für dich. Na ja, und dann habe ich halt gestöbert und bin auf die Zeichnung gestoßen.“

Sein Blick verschleierte sich. Ileana kannte diese Anzeichen: Nicolas war schon immer für magische Aktivitäten empfänglich gewesen und wurde von ihnen angezogen wie ein Magnet.

„Wer könnte diese Bilder gemalt haben?“, fragte er plötzlich und riss Ileana aus ihren Gedanken.

„Das werde ich dir sagen, wenn es feststeht, Nick.“ Ileana stand auf. „Ich bitte dich aber, Jane nichts davon zu erzählen.“

Nicolas nickte und sah zu ihr auf. „Du weißt, wer es gewesen ist, oder?“

Ileana öffnete den Mund, um zu verneinen. Dann wurde ihr klar, dass die Antwort wie eine Lüge klingen würde, und schloss ihn wieder.

Nick zuckte mit den Schultern. „Schon okay.“ Er stand auf und umarmte seine Tante flüchtig. „Hab dich lieb.“

Und damit ging er die Treppe hinauf und ließ Ileana mit dem Gefühl zurück, dass ihr Neffe mehr wusste, als er ihr gesagt hatte …

 

 

2 Stunden zuvor

 

 

Nicolas betrachtete die fein gearbeiteten Schatullen mit den filigranen Mustern und dem samtenen Innenfutter, die vor langer Zeit Schmuckstücke beinhaltet hatten, die längst vergessen waren, im Schaufenster. Er wünschte sich von Zeit zu Zeit, dass er mehr von seinen Eltern in den Händen halten könnte. Doch die meisten ihrer Habseligkeiten waren in Siena auf Trinity Hall in dem „verwünschten Haus“, wie er es nannte, geblieben.

Er blickte über die Schulter. Seine Tante und Jane unterhielten sich an einem Stand. Henry war nicht zu sehen, doch Nick wusste, dass er wie aus dem Nichts erscheinen konnte, also entschied er sich, den Laden zu betreten. Es roch nach altem Holz, Lack und frischer Farbe. Dabei sah der Laden mit seinen vergilbten Tapeten alles andere als frisch gestrichen aus.

Von einem Verkäufer war keine Spur zu entdecken. Nick schlenderte zwischen den Antiquitäten umher, bis er ein Geräusch aus dem hinteren Teil vernahm. Die Hintertür des Ladens stand offen und auf dem Pflaster des Innenhofs ertönten Schritte. Nick schlängelte sich zwischen einem Mahagonischreibtisch und einer Vase, die fast so hoch wie er, hindurch und erkannte, woher der Geruch nach Farbe kam: Einige Dutzend Aquarellbilder waren hier aufgestellt worden. Größtenteils zeigten sie fantastische Landschaften: Die Bäume wirkten durchscheinend und schimmerten im Licht der Sonne blau und violett. Alle Abbildungen schienen denselben Ort aus verschiedenen Blickwinkeln zu zeigen. Nur auf einem drängte sich ein Dorf in den Schatten eines prächtigen Palastes.

„Entschuldige bitte, lässt du mich mal vorbei?“, fragte plötzlich jemand und Nick machte erschrocken ein paar Schritte zur Seite.

Ein junger Mann stellte eine Kohlezeichnung zu den übrigen Bildern.

Er war überrascht, dass der Maler offenkundig sehr jung war: Sein Haar war schwarzbraun und etwas zerzaust und als er Nick einen flüchtigen Blick zuwarf, sah er in seinen Augen ein ähnliches Blau wie auf den Bildern. Noch während er ein „Entschuldigung“ murmelte, war der junge Mann schon auf dem Innenhof verschwunden, um weitere Bilder hereinzutragen.

Ileana betrachtete ihn aus den Schatten. Nick machte einen Satz. „Tante …“, sagte er und ihm ging auf, dass er die Frau auf der Kohlezeichnung für Ileana gehalten hatte. Nein, nicht nur vermutet, sie glich ihr aufs Haar. Das Schwarz-Weiß der Zeichnung verstärkte diesen Effekt. Instinktiv drehte sich Nick zum Schaufenster um, auf dessen anderer Seite er Henry von hinten sehen konnte. Sollte er ihn darauf aufmerksam machen? Die sich schließende Hintertür traf die Entscheidung für Nick. Der Maler stellte sich zu ihm.

„Gefallen sie dir?“

Unbeholfen zuckte Nick mit den Schultern. „Sind das reale Orte, die Sie malen?“, fragte er stattdessen.

Der junge Mann betrachtete jedes seiner Werke eingehend, ehe er antwortete: „Ich weiß es nicht genau. Ich sehe sie einfach vor mir, wenn ich anfange, eine Idee umzusetzen.“

Nick kaute auf seiner Unterlippe und versuchte, eine andere Frau in der Zeichnung zu sehen, als die, die ihn aufgezogen hatte. Ohne Erfolg. War es möglich, dass dieser Mann sie kannte? „Sie auch?“, fragte er.

Der Mann erwiderte seinen Blick mit einem abwesenden Lächeln. „Eine flüchtige Begegnung, Junge. Aber sie ist seitdem ein wiederkehrender Teil meiner Erinnerungen. Obwohl sie nur kurz mit mir gesprochen hat.“ Er kramte in seiner Hosentasche und holte einen Schlüssel hervor. „Sie ist aber noch nicht fertig. Fass sie also nicht an, verstanden?“

Sein Ton war plötzlich kühl und distanziert, doch Nick hörte ihm gar nicht mehr zu. Erst, als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, blickte er auf und drehte sich blitzschnell zu den Bildern um, als er mit dem Fuß gegen etwas stieß. Eine kleine Box aus Holz, kaum größer als eine normale Schmuckschatulle. Hatte der Maler sie hiergelassen oder verloren? Ohne zu überlegen, bückte er sich danach und stopfte sie in die Innentasche seiner Jacke.

„Nicolas?“

Er atmete tief durch, ehe er sich zu ihr umdrehte. „Ich glaube, da hat dich jemand porträtiert, Tante Ileana.“

 

Es war ein Glück, dass seine Tante sich Zeit ließ, nach Hause zurückzukehren. So hatte er die Möglichkeit, die Box in seinem Zimmer zu verstecken.

Ihre ausweichenden Antworten auf das Bild bestätigten seinen Verdacht: Sie kannte den Maler, aber wollte es geheim halten.

Doch weshalb?

 

Kapitel 3

 

 

Evelyn

 

Für jene unter den Schattenwesen, deren Existenz länger währt als jeder Kalender von Menschenhand, ist unsere Geschichte nur eine von vielen. Mit vier Ausnahmen.

Als Verkörperung der Natur betrat ich die Welt vor vielen Tausend Jahren und lernte sie in ihrer Vielfalt und Schönheit so sehr zu schätzen, dass der Schmerz über das Vergangene irgendwann in Vergessenheit geriet.

Doch ich konnte die Stimme meiner Schwester nicht aus meinem Kopf verbannen. „Wir sind innerlich tot, Eve. Da gibt es nichts, was uns an andere bindet, und wir werden immer anders sein.“

Sie hatte damals recht behalten, doch Hass und Zorn hatten ihre Seele ergriffen und das Herz meiner geliebten Schwester Stück für Stück zersetzt. Ich hatte mich stets davor gefürchtet, sie würden auch mein Leben irgendwann beherrschen …

„Neben dir ist sicher noch Platz.“

„Du setzt dich sowieso, also spare dir die vorgetäuschte Höflichkeit, Gabriel“, sagte ich.

Der Dämon nahm Platz. „Du bist noch wütend, oder?“

Ich sah ihn ungläubig an. „Derartiges kann ich mir nicht leisten und ist in unserer Situation unangebracht. Genau wie dein schäbiges Verhalten.“

„Also wütend, ich wusste es“, murmelte Gabriel und ich wandte mich ab.

„Der Vorteil meiner Natur ist, dass ich auf Gefühle keine Rücksicht nehmen kann. Mary zu schlagen, wird schwer genug und du machst es nicht leichter, wenn du ihr in die Hände spielst. Wir brauchen dich auf unserer Seite“, sagte ich mit Nachdruck und sah ihn wieder an.

Gabriels Augen, hinter denen nichts als Leere zu sehen war, blickten in meine, als er antwortete: „Du kennst meine Antwort bereits, Eve. Doch ich möchte auch Adrian zurückholen und wenn sich Ileana van Sciver dagegen entscheidet, ist sie im Weg.“

Ich unterdrückte ein Seufzen und behielt meine Gedanken vorerst für mich. Er hatte keine Ahnung, wie alle Beteiligten in dieser Geschichte miteinander verbunden waren, und wie lange meine Schwester und ich darauf gewartet hatten, dass dieser Zeitpunkt endlich kommen möge. Sowohl zum Guten als auch zum Schlechten.

„Woher weißt du, dass sie kommen wird? Warum sollte sie einer Schwester zuhören, die euren Vater getötet und den Tod eures Bruders nicht verhindert hat?“, fragte Gabriel.

Ich lächelte und ließ die Blätter der Büsche mithilfe meiner Magie rascheln. „Ich habe unseren Vater nicht getötet. Sie wird kommen, weil ich ihre letzte Hoffnung bin, Gabriel.“ Ich hörte ein leises Knacken, als würden Klingen aufeinandertreffen, und spürte den Windzug, als Gabriel seine Schwingen ausbreitete, sodass sie zu beiden Seiten über die Bank hinausragten.

„Das warst du auch einst für mich, Eve.“

Ich hatte mich gefragt, wann er das Thema zur Sprache bringen würde, und war dankbar, als ich Ileana auf uns zukommen sah.

„Ich bin nicht diejenige, die dich verbannt hat. Ich gab dir eine zweite Chance auf der Erde und das sollte genügen.“ Ich stand schnell auf.

Plötzlich spürte ich etwas Scharfes unterhalb meines Kinnes und nahm die Konturen seines schwarzen Flügels wahr, der sich gefährlich nahe an meiner Kehle befand. Ich sah ungerührt zu ihm auf. „Eine Berührung von mir und ich könnte dich zu Asche zerfallen lassen.“

Gabriel lächelte ungerührt. „Nicht vor deiner Schwester. Außerdem brauchst du mich noch. Das hast du gerade gesagt.“

Ich legte den Kopf zur Seite und sah ihn lange an. „Manchmal denke ich, da ist mehr, als nur diese zerstörte Seele, mit der du auf die Erde gestürzt bist. Mehr, als ich damals gesehen habe, als ich dich fand. Mehr, als die Male auf eurer Haut euch jemals fühlen lassen können. Sind Gefühle tatsächlich Teil deines Wesens geworden?“

Statt darauf etwas zu erwidern, zog er seinen Flügel zurück und wandte den Blick ab. Ileana stand auf der anderen Seite des Platzes und nur ein stillgelegter Brunnen trennte uns voneinander.

Ich trat einige Schritte von Gabriel weg und ging auf die Vampirin zu. „Danke, dass du gekommen …“ Ich brach mitten im Satz ab. Ileana war nicht allein. Neben ihr stand Nicolas, der den Dämon und mich neugierig beäugte.

 

*

 

„Du nimmst einfach das Eigentum von jemand anderem mit nach Hause? Bist du verrückt?“, fragte Jane. Ein Streifen roten Sonnenlichts fiel durch das Fenster auf die Box auf Nicks Bett.

Nick lauschte, ob sich jemand im Flur aufhielt, und drehte dann den Schlüssel im Schloss. „Er schien mir kein Attentäter zu sein, der Bomben bastelt, Jane. Er ist Maler.“

Jane zuckte mit den Schultern. „Und meine Eltern sind Zollbeamte, die wertvolle und gefährliche Artefakte für deine Tante schmuggeln.“

Nick seufzte und nahm die Box in die Hände. „Sie ist zu leicht und sie hat keinen Verschluss. So was wie eine Trickschachtel.“

Jane nahm sie ihm aus der Hand und musterte sie. „Weder Verzierungen noch sonst irgendwelche Markierungen. Könnte einfach ein Stück Holz sein.“ Sie sah Nick mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Vielleicht wissen meine Eltern, was es sein könnte.“

Nick schüttelte den Kopf und nahm ihr die Box aus der Hand. „Es muss mit meiner Tante zu tun haben. Oder mit diesem Mann. Er hat sie gezeichnet.“

Jane sah ihn mitfühlend an. „Du scheinst diesen Doktor wirklich nicht zu mögen, wenn du deine Tante mit einem Wildfremden verkuppeln willst.“

Nick schnaubte. „Wir sollten noch einmal zu dem Laden gehen, uns dort unauffällig umschauen.“

Jane hob die Hände. „Ohne mich. Ich glaube einfach nicht, dass dir dieser Mann durch Zufall über den Weg gelaufen ist, der deine Tante von wo auch immer kennt.“ Sie schwang sich ihren Rucksack über und ging zur Tür.

„Danke für deine Mithilfe“, bemerkte Nick.

Jane hielt mit der Hand auf der Klinke inne. „Ich frage Mum und Dad nach Boxen wie dieser.“

Enttäuscht, dass Jane ihn hängen ließ, gab er der Box einen Schubs, der sie unter das Bett beförderte.

„Wir müssen uns unterhalten, Nicolas.“

Erschrocken drehte er sich zur Tür. Er hatte Ileana nicht hereinkommen gehört. Die steile Falte über der Nase war ein schlechtes Zeichen. Noch schlechter waren die zusammengepressten Lippen. Er schluckte. „Worüber? Ich habe noch Hausaufgaben.“

Ileana senkte kurz den Blick, ehe sie die Tür weiter öffnete. „Komm mit. Ich möchte dir erzählen, weshalb du bei mir bist. Weshalb du wirklich hier bist.“

 

 

Sienna

 

Die Feder glitzerte zwischen meinen Fingern. Ich hielt sie in das schwache Licht, das durch die Bäume zu uns hindurchschimmerte. Das tiefe Schwarz schluckte die Strahlen der Sonne, als hätte die Feder keine Oberfläche.

„Tante Si?“

Cassandras Anwesenheit hatte ich ausgeblendet, doch weshalb sollte ich ihr meinen Verdacht nicht mitteilen? „Ein Dämon war hier, als das Dorf vernichtet wurde. Wenn diese Feder auf einem der Gräber lag, dann muss das so gewesen sein. Adrian und Simon haben das aber bestritten. Entweder wussten sie es nicht oder sie haben es uns verschwiegen.“

Cassandra streckte ihre Hand nach der Feder aus. „Darf ich sie haben?“

Ich zögerte einen Moment, doch dann reichte ich sie ihr.

Als sich ihre Finger um die Feder schlossen, weiteten sich ihre Pupillen. Auch wenn Cassandras Seele angegriffen worden war, so besaß sie doch die besondere Gabe, längst Vergangenes zu sehen, indem sie Gegenstände aus dieser Zeit berührte. Zu beeinflussen, was sie sah, war ihr noch nicht möglich, und ich hatte mich immer bemüht, zu ihr durchzudringen, wenn sie dabei in ihre Trance verfiel. Bisher

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Hanna Marten
Cover: Cover & Books - Lyn Baker
Lektorat: Lektorat Wortnetz - Katrin Opatz
Korrektorat: Herzblut Korrektorat - Stephanie Bösel
Tag der Veröffentlichung: 15.03.2021
ISBN: 978-3-7487-7723-6

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Daniela und die gemeinsame Zeit, die du mit Sienna & Co. im Kristallwald verbracht hast und immer noch dorthin willst. Für den Jungen mit dem Schwanenmal Danke für die geliehenen Flügel, die diese Geschichte getragen haben

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