„Schattenwesen ungleicher Art wird es niemals vergönnt sein, einander zu lieben – sie vergehen wie die Jahreszeiten, enden abrupt oder verenden ineinander wie Wasser das Feuer auslöscht.“
„Nachkommen unterschiedlicher Schattenwesen werden den Tod finden.“
– Gesetz der schlafenden Königin
„Es wird eine Zeit kommen, in der zwei Kinder gleicher Art geboren werden, identisch in ihrem Blut. Das eine mit Güte im Herzen wird zur Mittagsstund’ geboren. Das andere mit dem Keim der Zerstörung in der Seele zur Abendstund’. Die Letzten ihrer Art werden die Zerstörung ihrer Vorfahren herbeiführen.“
– Die Prophezeiung der Feenkönigin
Jeder mag Geschichten – ob man sie als Kind in Form von Märchen oder als neugieriger Leser zwischen Buchseiten ergründet.
Zwei Geschichten habe ich bereits erzählt, und nun ist es an der Zeit, eine weitere zu erzählen. Ich habe sie erlebt, habe Seite an Seite mit den Schattenwesen gekämpft, um meinen eigenen Platz zwischen ihnen zu finden. Damals wusste ich noch nicht, wohin mich die Ereignisse des Jahres 2012 führen würden. Heute, sieben Jahre später, sitze ich auf dem Boden eines Waldes, fernab der irdischen Welt, und warte auf das Mädchen, dem ich diese Geschichten erzählen will.
Sie verspätet sich und ich frage mich, was sie aufgehalten hat. Oder wer. Als ich hinter mir ihre leisen Schritte höre, die ihre Ankunft ankündigen, drehe ich mich um. „Du hast mich warten lassen“, sage ich, und das siebenjährige Mädchen mit den grünen Augen und dem honigfarbenen Haar sieht mich schuldbewusst an.
„Entschuldigung“, nuschelt es und legt die Hände über seinem weißen Sommerkleid zusammen.
Ich sehe über die Oberfläche des Wassers und seufze. „Bist du sicher, dass du mir so lange zuhören kannst? Dieses Mal wird es eine lange Geschichte“, sage ich und klopfe auffordernd zweimal auf das Holz neben mir.
Cassandra setzt sich neben mich. „Ja, das kann ich. Ich möchte mehr über Mummy und Daddy hören.“
Ich schlucke und unterdrücke die Tränen, die in meine Augen steigen, blinzle sie weg und atme tief ein. „Zwei Wochen nachdem dein Vater starb, war ich mit deiner Großmutter Lara in New York City. Sie war dort nach ihrer Gefangenschaft medizinisch betreut worden und sollte bald ihre Rückkehr nach Italien antreten …“
Sienna
Der Duft des Meeres, Asphalts und von Hot Dogs stieg mir in die Nase. Auf Pier 13 saß ich außerhalb eines kleinen Kaffeehauses. Der eisige Wind, der die winterlichen Düfte von Mandeln und gebackenen Kastanien zusätzlich aus den Parks bis hierhertrug, ließ selbst das Eichhörnchen auf meinem Tisch erzittern.
Ich legte sachte meine behandschuhte Hand über das zitternde Knäuel, während ich ihm mit der anderen ein paar Erdnüsse hinhielt.
„Du musst fressen“, murmelte ich. „Der Winter wird hart. Ich fühle es. Wenn du hierbleiben willst, musst du dir ein ordentliches Fettpolster zulegen.“ Mit vollen Backen starrte es mich mit seinen dunklen Augen an, als könne es nicht fassen, was ich gerade gesagt hatte. Ich lächelte und verpasste ihm mit dem Zeigefinger einen leichten Stups auf den Kopf. „Stimmt, nicht nur du musst essen“, murmelte ich und nahm einen Schluck aus meiner Tasse mit heißer Schokolade.
„Warum sitzt du nicht im Kaffeehaus?“
Olivers verärgerte Stimme war nachvollziehbar, doch es kümmerte mich nicht. Unter Menschen zu sein war mir fremd geworden. Anders als Oliver, der einen Monat lang in Foltergefangenschaft des Clans Saintclair hatte leben müssen, empfand ich Gesellschaft als Belastung. Der Vampir setzte sich neben mich. Sein blondes Haar hatte er mit Haargel nach hinten gekämmt, nur ein paar Strähnen hingen ihm ins Gesicht und betonten seine blaugrauen Augen, die wachsam den Pier auf und ab spähten. Sein bleiches Gesicht war von zwei Narben gezeichnet, die sich jeweils über seine hohen Wangenknochen zogen. Man hätte ihn auch für einen Piraten halten können, wenn man den langen schwarzen Mantel dazuzählte, den er trug.
Er sah mich an. „Warum bist du mit diesem Vieh hier draußen?“
Ich lehnte mich in dem Plastikstuhl zurück. „Weil ich es möchte. Tiere sind da drin verboten. Außerdem genieße ich die frische Luft.“
Oliver musterte nun das Eichhörnchen. „Warum lässt du es nicht einfach frei?“
„Es folgt mir auf Schritt und Tritt.“
Oliver starrte mich ungläubig an. „Und du hast nicht herausgefunden, warum?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe bereits alles versucht: aussetzen, verstecken. Alles auf einem Schiff. Es bleibt bei mir.“
Oliver zuckte mit den Schultern. „Vergiften?“, schlug er vor, doch er winkte sofort ab. „War ein Witz. Ein Haustier passt zu dir. Übrigens: Lara hat mich kontaktiert. Sie fährt heute Abend zurück nach Italien. Sie möchte, dass du mit ihr kommst, Sienna.“
Ich nahm erneut einen großen Schluck aus meiner Tasse, um mir meine Antwort so gut es ging zurechtzulegen. „Was hast du ihr geantwortet?“
Oliver trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte herum. „Worum du mich gebeten hast: Du überlegst es dir. Sie schien jedoch aufrichtig damit zu rechnen, dass du mit ihr kommst. Warum auch immer.“
Ich kannte Laras Grund: Sie wusste von meiner Schwangerschaft. Sie appellierte an den Familieninstinkt in mir, der während der letzten Wochen meiner Abwesenheit von Rom jede Sekunde von mir verlangt hatte, zu meinem Clan zurückzukehren.
Mein Clan. Ja, diese Bezeichnung verlieh mir mehr Unbehagen als alles andere: Ich hatte der Vampir-Familie, den Van Scivers, als Wächterin gedient. Über dreihundert Jahre lang hatte ich Eindringlinge und feindliche Clans mithilfe meiner Wächter aus Vampiren abgewehrt, bis Lara van Sciver vor zwanzig Jahren verschwunden war. Zurückgelassen hatte sie ihre neugeborenen Zwillinge, Ileana und Vincent, die sie angeblich hatte töten wollen. Vor zehn Wochen war ich mit Olivers jüngerem Bruder, Philipp Aragon, ausgezogen und hatte die Zwillinge in den Schoß der Familie zurückgeholt, nachdem sie neunzehn Jahre lang in einem Londoner Jugendheim aufgewachsen waren …
„Warum sträubst du dich gegen eine Rückkehr? Was willst du sonst tun?“, fragte Oliver und riss mich aus meinen Gedanken.
„Die Gründe dürften naheliegend sein, Oliver. Ich habe Phils Tod zu verantworten. Ich bin die Tochter einer verräterischen Psychopathin und …“ Ich konnte es Oliver nicht sagen. Noch nicht.
Vor nicht allzu langer Zeit hatten wir eine Affäre, die ich beendete, als die Zwillinge nach Rom kamen. Kurz darauf hatte ich ihn für eine Rettungsaktion rekrutiert.
Dabei war Vincent von Joanna Saintclair mit einem unbekannten Gift infiziert worden, das ihn in einen triebgesteuerten Vampir ohne jegliche Emotion verwandelte. Danach hatten wir die Meldung erhalten, dass Oliver ermordet worden war.
Bis vor zwei Wochen, als ich Lara van Sciver in Toronto aus ihrer Gefangenschaft befreien konnte, hatte ich nicht geahnt, dass er noch am Leben sein könnte.
„Du bist in erster Linie du selbst, Sienna.“ Seine Augen suchten meinen Blick. „Das weiß Simon und das wissen die anderen auch.“
Ich schätzte es, dass er mich aufzuheitern versuchte. „Das ist wahr. Doch du vergisst, wie ähnlich wir den Menschen sind. Wie blind wir der Wahrheit gegenüber sein können, wenn sie unbequem ist. Das weißt du ebenso gut“, entgegnete ich und lächelte gequält. Oliver betrachtete mich schweigend.
„Du bist nicht seine Tochter.“ Er sprach es aus, als sei es eine Gewissheit. Als wüsste er von den Gedanken, die mich dabei quälten. Die mir das Herz auseinanderrissen und Faser für Faser durchtrennten. Simon van Sciver, der Herrscher über den Clan in Europa, war laut Cordelia Aragons Behauptung mein biologischer Vater. Kein allzu schlechter Tausch gegenüber dem Mann, der mich großgezogen hatte: Simon war zwar keine Person, die sich in Gefühlen suhlte und zu jedem Geburtstag riesige Geschenkberge im Zimmer aufstellte, doch er verteidigte jeden, den er zu seiner Familie zählte.
„Das kannst du nicht wissen, Oliver“, sagte ich unwirsch und leerte die restlichen Nüsse mit einer Handbewegung auf den Tisch, sodass das Eichhörnchen sie nun von der Tischplatte auflesen musste. „Cordelia und Simon hatten ein Verhältnis. Das haben beide bestätigt, sogar Lucan wusste davon. Ein weiterer Beweis ist, dass ich ihr wie aus dem Gesicht geschnitten bin“, sagte ich und vermied es sorgfältig, ihn anzusehen.
„Ich bestreite nicht, dass du meiner Granny außerordentlich ähnlich siehst, aber … Simon dein Vater? Entschuldige bitte, aber dafür gibt es keinen Beweis, Si.“
Ich schluckte und sah ihn an. „Doch, den gibt es.“ Ich stand auf, vergrub die Hände tief in den Taschen und ging ein paar Schritte. Meinen Blick starr auf die Skyline Manhattans gerichtet, versuchte ich, die Tränen zurückzuhalten.
Es herrschte mehrminütiges Schweigen zwischen uns, bis Oliver erneut das Wort ergriff. „Du hast einen Test machen lassen?“
Ich nickte. „Wenige Tage nachdem ich Rom verließ, habe ich das Ergebnis erhalten: Eine Übereinstimmung von 99,89 Prozent zu Vincents und Ileanas DNA. Von vier weiteren Labors erwarte ich noch Ergebnisse. Über die Feiertage arbeitet jedoch keines von ihnen.“
Er war aufgestanden und hatte sich neben mich gestellt, seine Hand berührte meine ganz leicht. „Und … die andere Sache?“ Seine Finger schlossen sich um meine und eine Gänsehaut kroch meinen Arm hinauf. Ich wusste, was er da tat: Er setzte seine Fähigkeit ein, meine Gefühle zu lesen, indem er Hautkontakt herstellte. Verhindern konnte ich es nicht mehr, denn seine Berührung schenkte mir Trost.
„Ist das eine Frage oder nicht?“
„Seit zwei Sekunden ist es keine mehr, sondern eine Feststellung“, lautete die Antwort und sein Blick wurde strenger, sein Mund war zusammengepresst.
„Niemand weiß es. Bis auf Lara“, murmelte ich und sah ihn an.
Olivers Griff wurde fester. „Natürlich. Sie hat dich damit in der Hand. Deshalb ist sie sich sicher, dass du mit ihr kommen wirst.“
Ich starrte ihn an. „Sie benutzt es nicht als Druckmittel“, korrigierte ich ihn.
Oliver zog beide Augenbrauen hoch. „Nein, natürlich nicht. Sie ist das Clanoberhaupt. Würde ihr nie einfallen.“
Ich verdrehte die Augen. „Was willst du sagen?“
„Dass du aufpassen solltest, mehr nicht. Wer der Vater deines Babys ist, kann ich mir selbst zusammenreimen.“ Er ließ meine Hand los und wandte sich ab. Es beschäftigt ihn, dachte ich und schluckte.
„Willst du darüber reden?“ Seine Stimme klang neutral, doch die Gefühle, die ihn umgaben, verrieten mir, dass er eine Mauer um sich herum aufrechtzuerhalten versuchte.
„Das wäre dir gegenüber nicht fair“, antwortete ich deshalb und zog mein Smartphone hervor. 26 unbeantwortete Anrufe, 38 SMS und 2 Sprachnotizen hieß es auf dem Bildschirm. Ich stöberte in den Anrufprotokollen nach der einzigen unbekannten Nummer, die ich während der letzten zwei Wochen erhalten hatte, und wählte sie.
Während ich wartete, dass Lara van Sciver abnahm, beobachtete ich, wie Oliver den Pier entlangging und schließlich aus meinem Blickfeld verschwand.
„Sienna, wie schön, dass du zurückrufst“, ertönte Laras tiefe freundliche Stimme.
„Wie fühlen Sie sich?“, fragte ich diplomatisch.
„Viel besser, aber das weißt du natürlich. Oliver hat dir bestimmt mitgeteilt, dass ich heute Abend nach Rom abreisen werde.“
Ich schnaubte. „Ja, allerdings. Er sagte mir auch, dass ich an Bord sein werde.“ Am anderen Ende der Leitung war es für meinen Geschmack zu lange still, bis Lara dazu Stellung bezog. „Es ist mein Wunsch als Clanoberhaupt und als deine …“
Ich ließ sie nicht ausreden: „Als meine was? Ich bitte Sie, jetzt wird es interessant, wenn Sie tatsächlich Stiefmutter sagen wollten. Bei allem Respekt, Madam, aber Sie können mich weder zwingen, mit Ihnen nach Rom zu reisen, noch meine Ergebenheit einfordern. Die galt nur, solange Sie in Gefangenschaft waren.“
Ja, ich redete mit dem zweitmächtigsten Vampir meiner Welt, doch ich war immerhin an dritter Stelle: Hier ging es ums Prinzip. So langsam gewöhnte ich mich an die neuen Verhältnisse, zumindest was Verhandlungen anging.
„Ich bin enttäuscht, Sienna. Ich appelliere nicht an dich als Wächterin, die du nicht mehr bist. Ich bitte dich aufrichtig darum, aufgrund der Familie, die du nun hast und haben wirst, mit mir zu kommen. Etwas anderes kannst du dir als Simons älteste Tochter nicht erlauben, das weißt du.“
Na bitte, da war sie: die versteckte Drohung, von der ich geahnt hatte, dass sie irgendwann kommen würde. Ich gab es ungern zu, doch ich hatte keine andere Wahl, als mich ihr zu beugen. Vorerst. „Sie wissen genau, dass ich mich nicht um mein Image sorge. Das ist Aufgabe des Familienrats, der mir ehrlich gesagt herzlich egal ist …“
Nun war es an Lara, mich zu unterbrechen: „Ich spreche nicht nur vom Familienrat, Sienna. Ich spreche von viel mächtigeren Personen, die dich im Auge behalten und deine Schritte genauestens unter die Lupe nehmen!“ Ihre Stimme klang nun aufgeregt, beinahe hysterisch.
Ich blickte automatisch auf. „Wen meinen Sie?“
„Heute Abend am Pier. 22 Uhr. Es gibt vieles, worüber wir reden müssen.“ Sie legte auf.
Ich spürte ein Kratzen an meinem Knöchel und blickte auf das Eichhörnchen hinab, das darum bettelte, aufgenommen zu werden. Ich seufzte und streckte ihm meinen Arm hin, worauf es flink hinaufsprang und sich auf meine Schulter setzte. „Na, dann lassen wir uns mal auf diesen Deal ein, was?“, murmelte ich leise.
Als ich mein Smartphone in die Jackentasche zurücksteckte, strich meine Hand über einen weiteren Gegenstand. Ich holte ihn heraus. Es war der Spiegel meiner Mutter: rund und mit einem roten Rubin in der Mitte versehen, der die Form einer Sichel hatte. Ich wusste selbst nicht, warum ich ihn nicht einfach in den Atlantik warf oder vernichtete. Vermutlich deshalb, weil es das letzte Erinnerungsstück an die Frau war, die in mir ein Symbol ihrer krankhaften Liebe zu Simon gesehen hatte. Ich steckte ihn wieder weg und sah auf die Uhr.
Ich hatte noch fünf Stunden Zeit. Sollte es Lara gelingen, mich zu überzeugen, musste ich Vorbereitungen treffen. Ich bezahlte im Café und ging den Pier entlang. Bevor ich mich mit Lara treffen konnte, musste ich Oliver um Verzeihung bitten. Gekränkt, wie er auf mich gewirkt hatte, wollte ich ihn nicht hier zurücklassen. Nicht nach dem, was er durchgemacht hatte.
Die Vereinigten Staaten, Einflussgebiet der Saintclairs, wirkten nicht als solches. Vielmehr hatte ich den Eindruck, der Clan hätte sich hier ebenso in Luft aufgelöst wie in seinem unterirdischen Unterschlupf in Kanada. Als Werwolf spürte ich die Anwesenheit anderer Schattenwesen wie Vampire, Dämonen und meinesgleichen. Doch hier, am Knotenpunkt zur östlichen Welt, spürte ich heute Abend lediglich die Anwesenheit der von Menschen überfüllten Millionenmetropole.
Das machte es für mich umso schwerer, einen einzelnen Vampir aufzuspüren. Ich lehnte mich nach fünfzehn Minuten Fußweg entlang des Piers an die Brüstung und spähte hinüber auf die Skyline Manhattans, die von dem abschüssigen Elysian Park und dessen schneebedeckten Hügeln einen friedlichen Anblick bot. Ich atmete tief ein und konzentrierte mich stattdessen auf das, was Vampire ihr „Heiligtum“ nannten: ihr Blut, das sie zu dem machte, was sie waren. In ihm steckte ihre Unsterblichkeit, die Schnelligkeit und ihre scharfen Sinne. Seit Cordelia offenbart hatte, dass ich ihre Tochter war, hatte ich keinen Gedanken daran verschwendet, was das für die Zusammensetzung meines Plasmas bedeutete. Bis jetzt.
In mir floss zu einem Anteil das Blut des Aragon-Clans, zum anderen das Blut der Van Scivers, beide von dem Fluch des Wolfes unterdrückt. Vielleicht gelang es mir, eines Tages die genauen Auswirkungen meiner Erbanlagen herauszufinden. Ich setzte meine Suche nach Oliver im Park fort.
Weder sein Geruch war bemerkbar, noch konnten meine Sinne Anzeichen seiner Anwesenheit spüren. Also zückte ich mein Smartphone erneut und wählte verärgert seine Nummer. Wenn er wirklich glaubte, ich liefe ihm bis ans Ende der Welt hinterher, lag er definitiv falsch! Als es klickte, begann ich ohne Umschweife meinen Vortrag: „Oliver, ich weiß, mein Verhalten war nicht gerade nach Lehrbuch und es tut mir leid, dass …“ Ich brach ab, als ich weder seinen Atem noch irgendwelche anderen Geräusche, die auf Verkehr oder ein Etablissement hindeuteten, vernahm.
„Danke, Sienna. Wir sollten uns unterhalten. Madison Square Garden in einer Stunde. Wenn Ihnen nicht allzu viel an dem Blondchen mit der lächerlichen Frisur liegt, folgen Sie meiner Einladung besser nicht. Wir sind gründlich im Beseitigen.“
Wer immer da am anderen Ende der Leitung sprach, hatte eine samtweiche Stimme, die mir völlig unbekannt war und doch eine Anziehungskraft in sich trug, die mich schlucken ließ. „Wer sind Sie?“, fragte ich leise und sah mich nach allen Seiten um. Wurde ich beobachtet? Ich spürte, wie das Eichhörnchen auf meiner Schulter sich streckte und an dem Smartphone schnupperte, als wolle es mithören.
„Jemand, der an Ihrer Anwesenheit hier in New York interessiert ist. Ein weiterer König der Nacht, neben dem Ihren in Europa, wenn Sie verstehen. Treffen Sie mich an der Arena Madison Square Garden in exakt einer Stunde.“
Es klickte und die Verbindung brach ab. Ich ließ mein Smartphone sinken und starrte es noch eine ganze Weile an. Natürlich hatte der Anrufer seine Nummer unterdrückt gehalten. Doch was wollten sie von mir? Und was mich noch mehr beunruhigte: Wie hatten sie Oliver in die Hände bekommen? Er war einer der besten Vampir-Kämpfer, die ich kannte. Meine Hände legten sich automatisch um meine Körpermitte. „Da wir nun zu zweit sind, kann ich unmöglich allein dorthin“, murmelte ich und seufzte schwer. Ich wählte eine Nummer.
„Mrs. van Sciver. Ich brauche Ihre Unterstützung im Madison Square Garden. In einer Stunde.“
Vincent
Philipp Samuel Aragon
14.09.1991 - 22.12.2011
Die goldene Inschrift auf weißem Marmor glitzerte im Licht der Sonne. Ein in zwei Metern Höhe aufgestellter Bogen, der von zwei Säulen gehalten wurde, stand im Garten der Residenz Sunset Hill.
Zwei Wochen seit Cordelias Angriff waren vergangen und das Jahr 2012 war wenige Tage alt. Über Nacht war Schnee gefallen und lediglich ein paar Fußspuren führten durch die hauchdünne Schicht zu der Gedenktafel. Vincent stand an das Geländer des Balkons gelehnt und beobachtete die junge Frau, die vor der Tafel kniete und die vereisten Rosen gegen frische austauschte. Ileana hatte seit dem Tod ihres Blutspartners jeden Kontakt zu ihrem Bruder und dem Rest der Familie vermieden. Obwohl Vincent versucht hatte, seine Zwillingsschwester durch seine Anwesenheit, aufmunternde Worte und Geschenke für ihr ungeborenes Kind aufzuheitern, ignorierte sie jede seiner Bemühungen konsequent. Hartnäckig, wie sie war, sperrte sie sogar Simon aus, der ihr Verhalten aus mehreren Gründen als kritisch ansah: Als Clanoberhaupt stand er mit seiner Familie im Fokus der anderen Familien, die die Ereignisse der letzten Wochen äußerst besorgt zur Kenntnis genommen hatten. Verwehrte sich Ileana als Simons erstgeborene Tochter weiterhin, indem sie ihren Pflichten als Repräsentantin nicht nachkam, würde der Familienrat reagieren müssen. Vincent hatte während der vergangenen zwei Wochen mit ansehen müssen, wie eine Vielzahl von Familienoberhäuptern durch die Residenz gestürmt war, um Erklärungen einzufordern, und was er mitbekommen hatte, klang ganz nach einer Absetzung seines Vaters. Doch was bedeutete das für ihn? Für die Zukunft? Die Wahrheit war, dass die drohende Entlassung Simons lediglich die metaphorische Krönung dessen war, was Cordelias Enthüllungen betraf, die aus Vincents Sicht die Familie zerstört hatten, die Ileana und er sich gerade aufbauten. Sienna war wenige Tage nach dem Angriff gegangen, ohne ein Wort darüber zu verlieren, wohin. Die Familie Aragon hatte Phils Leichnam zu sich nach Kanada einfliegen lassen und seither der ganzen Gemeinschaft mitgeteilt, dass sie mit den Van Scivers nichts mehr zu tun haben wolle. Aus Vincents Sicht ein ungebührliches Verhalten gegenüber Ileana und ihrem ungeborenen Kind.
„Du bist wieder zurück, Vincent?“, sagte eine vertraute Stimme neben ihm und riss ihn aus seinen Gedanken. Er musste den Blick leicht senken, um seiner zierlichen Tante in die Augen zu sehen. Arina hatte selbst mehrere Tage in einem Koma gelegen, das von Cordelias Giftgasangriff beendet worden war. Sie allein war der Grund, warum Vincent die Hoffnung auf einen positiven Verlauf der Konflikte nicht aufgegeben hatte. Sie schien aus unerschütterlicher Zuversicht zu bestehen, hatte Simon beigestanden, obwohl sie selbst noch nicht bei Kräften gewesen war. Nebenbei hatte sie versucht, Phils Eltern zu kontaktieren, um sie zum Einlenken zu bewegen. Vincent wusste, dass sie nichts lieber tun würde, als zurück nach Melrose zu fahren. Doch genau wie Simon lag ihr das Wohl ihrer Familie und vor allem der Zwillinge am Herzen.
„Ich wollte nach Ileana sehen. Doch das ist jeden Tag dasselbe. So scheint es zumindest“, sagte Vincent.
Arina sah nun ebenfalls zu der Gedenktafel hinab. „Gib ihr Zeit zu trauern. Einen Blutspartner zu verlieren ist das Schlimmste, was ein Vampir durchmachen muss. Gerade in ihrem Zustand, in dem das Baby und sie von dieser Verbindung abhängig sind.“
Vincent kannte das Risiko, dem sich Ileana damit aussetzte und was das Schweigen der Familie Aragon so fatal machte: Verweigerte man ihr wenigstens bis zur Geburt ihres Kindes Blutkonserven, die von Phil eingelagert worden waren, könnte Ileanas Körper das Baby abstoßen.
„Du weißt, weshalb ich versuche, mit ihr zu reden. Sie kann mich nicht ewig von sich weisen!“, erwiderte Vincent finster. „Sie bringt sich von Tag zu Tag mehr in Gefahr. Das kann sie nicht einfach ignorieren.“
Arina legte ihm ihre Hand auf den Oberarm. „Du hast Angst, sie auch zu verlieren.“ In ihren Worten lag weitaus mehr, als sie gesagt hatte: Siennas Verbleib war ungeklärt, ebenso ihre Abstammung, da sich Simon vehement weigerte, einen DNA-Test durchzuführen.
„Danke, Arina, aber meine Zuversicht schwindet Tag für Tag mehr. Ich meine, was wird aus uns? Ich habe das Gefühl, ständig nur die Scherben auflesen zu müssen, die andere aus meinem Leben machen. Nachdem du uns zu dir geholt hattest, dachte ich, wir könnten endlich in eine schöne Zukunft sehen. Stattdessen zerstören jene, die uns hassen, fremde Leben, bis sie schließlich unseres zerstören. Sie sind auf dem besten Wege dahin.“
Er sah krampfhaft auf Ileanas Hinterkopf. „Cordelias Tod bedeutet nichts, Arina. Die Verluste sind dieses Mal zu groß.“
Der Druck von Arinas Hand wurde fester. „Ich mache dir einen Vorschlag: Kümmere dich erst um deine Zwillingsschwester. Währenddessen werde ich die Aragons weiterbearbeiten, sie können Ileanas Gesundheit nicht aufs Spiel setzen wollen. Darren und Michaela sind nicht grausam, das passt einfach nicht zu ihnen.“
Vincent lächelte. „Danke. Ich bin froh, dass du da bist, Arina.“
Sie erwiderte sein Lächeln und ließ ihn los. „Ich bin immer für euch da. Vergesst das nicht.“ Sie ging wieder in das Haus zurück, das von der aufgehenden Sonne allmählich cremefarben beschienen wurde.
Vincent holte unterdessen sein Handy hervor und wählte Victor Lovetts Nummer. „Hier ist Vincent van Sciver. Ich brauche schnellstmöglich einen Termin bei Ihnen, Doc.“
Am anderen Ende herrschte kurzes Schweigen, bis Victor Lovett fragte: „Was kann ich für Sie tun, Vincent?“
Bevor dieser antwortete, vergewisserte er sich, dass Ileana ihn weder sehen noch hören konnte und ging ein paar Schritte die Veranda entlang. „Können Sie mich an den besten Gynäkologen der Gemeinschaft verweisen? Der Termin beläuft sich auf den Namen meiner Schwester.“
Als er sich nach dem Telefonat mit Dr. Lovett umwandte, sah er seine Schwester die Treppe zum Haus hinaufsteigen und ging auf sie zu. „Guten Morgen“, begrüßte er sie. Ileana sah zu ihm hinüber und blieb abrupt stehen. Ihre Augen wichen seinem Blick aus, stattdessen sah sie auf die verschlossene, acht Meter entfernte Tür.
„Du bist wieder aus der Stadt zurück, wie ich sehe. Eine weitere wilde Partynacht?“, fragte sie.
Vincent wusste, dass sie dadurch so weit wie möglich von sich ablenken wollte, doch dieses Mal hatte er nicht vor, das zuzulassen. „Du warst gestern nicht bei dem Empfang. Die Familien Robinson, Clayton und weitere Angehörige der Opfer haben ihrer Toten gedacht. Simon hat nach dir schicken lassen.“
Ileana presste die Lippen zusammen. „Du weißt, dass ich trauere, Vince. Du weißt es, Simon weiß es und die Gemeinschaft weiß es auch.“
Sie sprach das Wort mit so viel Bitterkeit in der Stimme aus, dass kein Zweifel daran blieb, dass sie das System verabscheute. Vincent wusste, dass sie noch vor Phils Tod mit ihm gemeinsam eine Vereinigung der Clans in Betracht gezogen hatte.
Doch das gehörte für sie offensichtlich der Vergangenheit an. „Das weiß ich, Schwesterherz, und ich möchte dich nicht zu etwas drängen, aber …“, fing Vincent an, doch Ileana unterbrach ihn.
„Nein, Vincent, du willst mich davon überzeugen, für diese Hyänen das große Vorbild zu spielen, das trotz eines unerträglichen Verlustes bereit ist, nach vorne zu sehen. Für dich zum Mitschreiben: Das bin ich nicht. Das kannst du allen sagen und mich gefälligst in Ruhe lassen, klar?“ Die letzten Worte hatte sie direkt an die geschlossene Tür gerichtet.
Als sie bereits davonstürmen wollte, hielt Vincent sie jedoch an beiden Oberarmen fest. „Nein, das kann ich nicht, hörst du? Es geht hier nicht nur um dich, sondern auch um unseren Vater. Er wird sein Amt verlieren, wenn wir ihm keine Rückendeckung geben. Was wird dann aus uns?“
Ileanas Gesichtsausdruck verfinsterte sich und sie riss sich los. Vincent spürte die Woge des Zorns, die sich um sie herum wie eine heiße Druckwelle bildete. „Was weißt du denn schon von dem, was er hier aufgeben muss? Du hast ihn nicht erlebt, als Arina im Koma lag. Ich habe ihn noch nie so leer und verlassen gesehen. Genauso fühle ich mich jetzt, Vince. Ich bin mir nicht sicher, ob er tatsächlich in diesem Amt bleiben möchte. Hast du ihn mal danach gefragt?“
Vincent zögerte und Ileana fuhr unbeirrt fort.
„Siehst du? Finde erst einmal heraus, wovon du redest. Vielleicht kann dir unsere andere Schwester dabei helfen, die es sich irgendwo bequem gemacht hat!“
Eine Ohrfeige hätte nicht wirkungsvoller sein können. Ileana ließ ihren Bruder stehen und Vincent war, als sei sein Herz von einem auf den anderen Moment zu Eis erstarrt. Trauer hatte Ileana in ein kaltes Wesen verwandelt, kälter als sie es als Vampir jemals gewesen war.
Sienna war für sie beide ein Thema, das ihnen schmerzvolle Erinnerungen bescherte. Sowohl der Tod von Phil, den sie in Kauf hatte nehmen müssen, als sie Cordelia ausgeschaltet hatte, als auch ihre Verwandtschaft mit den Zwillingen war etwas, mit dem sie beide hart zu kämpfen hatten. Besonders nachdem es für Vincent und Sienna endlich nach einer gemeinsamen Zukunft ausgesehen hatte, war diese Form der Trennung für Vincent kaum erträglich, sodass er jegliche Gedanken und Gefühle zu diesem Thema aussperrte.
Stattdessen kanalisierte er diese in das körperliche Training. Gemeinsam mit dem ältesten Wächter der Familie, Nathanael, verbrachte er viele Stunden im Kraftraum. Solange Sienna Sunset Hill den Rücken kehrte, musste jemand ihren Posten übernehmen, und Vincent war fest entschlossen, diesen zu übernehmen, bis sie zurückkehrte. Wann auch immer dies geschehen mochte …
„Ileana scheint nicht bereit zu sein, in naher Zukunft von ihrer Haltung abzuweichen“, berichtete Vincent Simon, als er in dessen Arbeitszimmer trat.
Der Clanführer wirkte mit seinem jungen Gesicht lediglich ein paar Jahre älter als sein Sohn, der ihm mit seinem kohlrabenschwarzen Haar und den dunkelblauen Augen zum Verwechseln ähnlich sah. Simon war einer der ältesten Vampire der Welt und herrschte mit mehreren Unterbrechungen über die Länder zwischen Spanien und Griechenland. In allen Ländern lebten Vampir-Familien, die sich seinem Clan zugehörig fühlten und ihm Loyalität versprochen hatten. Nur in wenigen Ländern hatten andere Schattenwesen die Oberhand, zum Beispiel in Deutschland der Katzen-Clan und in der Schweiz und Rumänien der Wolfs-Clan.
In den vergangenen Wochen hatte Vincent viel Wissen über die geheime Schattenwelt angesammelt, hatte über die Familie recherchiert und mit verschiedenen Familienoberhäuptern gesprochen. Als drittgeborenes Kind Simons war es ebenfalls seine Aufgabe, Anteil am Leben der vielen Familien zu nehmen, wenn auch in geringerem Maße als Ileana. Diese Anteilnahme war in den vergangenen Tagen und Wochen bitter nötig, denn aufgrund der vielen Angriffe des Clans Saintclair hatten einige Familienmitglieder ihr Leben verloren. Und das, weil sie versucht hatten, die Zwillinge und die Herrscherfamilie zu beschützen.
Simon, der sich bisher souverän in seiner Position gehalten hatte, wirkte angeschlagen. Er saß am Fenster und ließ sein Gesicht von der Sonne bescheinen. Vampire hatten im Laufe der Evolution gelernt, ein wirkungsvolles Serum herzustellen, das sie vor den schädlichen UV-Strahlen schützte.
Dieses wurde intravenös in die Blutbahn gespritzt, sodass der Wirkstoff sich dort verteilen konnte.
Simon öffnete die Augen und sah seinen Sohn an. „Es war zu erwarten, dass Ileana Zeit braucht. Doch diese Zeit haben wir leider nicht. Der Familienrat hat mir während der vergangenen Nacht mitgeteilt, dass er über meine weitere Position in der Gemeinschaft beraten und im Anschluss eine Entscheidung fällen wird.“
Vincent setzte sich ihm gegenüber. „Das hat doch nicht nur mit Ileanas Haltung zu tun, habe ich recht?“
Simon nickte. „Lass es mich so formulieren: Andere Familien bringen weitaus stabilere Voraussetzungen mit als wir – eine Blutspartnerschaft, die Bestand hat, gesunde Nachkommen, die ebenfalls feste Bündnisse eingegangen sind und keine Skandale mit sich ziehen.“
Vincent verdrehte die Augen. „Fehler, die du vor Jahrhunderten begangen hast, machen dich noch lange nicht zu einem schlechten Clanführer. Selbst die Auswirkungen sind …“, Vincent suchte nach dem passenden Wort, „… überschaubar.“
Simon lachte leise und freudlos. „Du meinst, überschaubar vielfältig. Eine Affäre mit der Blutspartnerin des besten Freundes, aus der eine Tochter hervorging, die in einen Werwolf verwandelt wurde. Das ist wohl der schwerwiegendste von all diesen Fehlern. Die restlichen sind dir bekannt.“
Er stand auf und ging ein paar Schritte auf und ab. Vincent beobachtete ihn. Da war keine Resignation zu sehen, keine Verzweiflung mehr, die Simon trug.
„Wie stehst du dazu, Vincent?“, fragte er plötzlich.
Von der Frage überrumpelt, räusperte sich der junge Vampir zunächst, um Zeit zu schinden. „Du müsstest dich klarer ausdrücken, wenn ich dir darauf eine Antwort geben soll, Simon.“
Dieser stützte sich mit den Handflächen auf dem Tisch ab und sah Vincent ernst in die Augen, sodass er sich unwillkürlich nach hinten lehnte. „Cordelias Behauptungen haben uns alle getroffen. Doch sie werden vom Familienrat für bare Münze genommen, darauf stützen sie ihre Entscheidung, meine Position infrage zu stellen. Wann und wo ihre erste Sitzung stattfindet, wird mir im Laufe der nächsten Tage mitgeteilt. Du füllst den leeren Posten des Wächters gut aus, und wenn du bereit bist, bitte ich dich offiziell, Cordelias Behauptungen nachzugehen. Mit jedweder Unterstützung der Familie.“
Vincent stand auf. „Das wollte ich, seit wir in den Kerkern Phil verloren haben. Ja, ich bin bereit dazu, Dad.“
Simon lächelte und in seinen Augen leuchtete ein Funken Stolz auf. „Ich wusste, dass du das sagen würdest.“ In diesem Moment klingelte Simons Handy und er nahm ab. „Hier ist Simon. Was gibt es?“
Er lauschte, dann fiel ihm plötzlich das Gerät aus der Hand. Es krachte auf die Tischplatte, von wo es Vincent aufhob und seinem Vater hinhielt. Simon nahm es entgegen und sprach mit deutlich rauchiger Stimme weiter: „Danke für Ihre Mitteilung. Sie sind sich sicher, dass sie es ist? Verstehe. Nein, wir kümmern uns selbst darum. Die Familie behält das selbst in der Hand. Gracias, Pedro.“ Simon legte auf und starrte einen Moment lang ins Leere.
„Was ist passiert?“, fragte Vincent.
Simon schwieg weiterhin. Erst als sich die Türen öffneten und Arina eintrat, regte er sich. Als Arina seinen Gesichtsausdruck sah, schien auch sie zu realisieren, dass etwas nicht stimmte. „Was ist passiert? Ist etwas mit Ileana?“, fragte sie und trat an Vincents Seite.
Simon schüttelte den Kopf. „Sie hat ihr Versprechen gehalten. Nach all den Jahren hätte ich nicht damit gerechnet, sie wiederzusehen“, murmelte Simon und ein breites Lächeln trat auf sein Gesicht, wie es Vincent noch nie zuvor gesehen hatte. Simons nächste Worte vergaß er nie wieder, es war, als stoße jemand eine lange verschlossen geglaubte Tür auf.
„Sienna hat Lara gefunden. Sie kehrt zurück zu uns. Wir werden wieder eine Familie sein.“
„Wir haben ein Problem.“
Die ersten Worte, die Lara van Sciver an mich richtete, als sie mich vor der Arena Madison Square Garden traf, stimmten mich nicht zuversichtlicher. Ich stand vor den verschlossenen Einlasstüren, da an diesem Abend keine Veranstaltung stattfand.
Außer die, zu der wir eingeladen worden waren und Oliver als Entführungsopfer im Mittelpunkt stand. Ich hatte Lara nach ihrer Befreiung in das Institut nach Toronto gebracht, wo sie medizinisch versorgt worden war. Dazu hatte eine lange Behandlung mit Simons Blut gehört, das ihr die beste Heilung garantierte. Am heutigen Abend sah sie aus, wie ich sie in Erinnerung gehabt hatte, bevor sie verschwunden war, mit Ausnahme ihrer kurz geschnittenen Haare, die einen Blondstich angenommen hatten. Ihr schmales blasses Gesicht hatte mehrere kleine Narben von der jahrelangen Folter davongetragen, doch ihre blauen Augen leuchteten wieder, im Gegensatz zu ihrer Trübung zu Anfang ihrer Befreiung. Sie war schon immer schmal gebaut gewesen, doch an diesem Abend kam sie mir so schwächlich vor, dass ein Luftzug sie an die nächste Hauswand fliegen lassen könnte.
„Was für Probleme, Madam?“, fragte ich sie.
Lara blieb vor mir stehen. „Toronto hat Madrid informiert, dass ich ihre Patientin war. Das habe ich wohl deinem Netzwerk zu verdanken, doch das soll uns heute Abend nicht kümmern. Erzähl mir, was passiert ist.“
Ich berichtete ihr von dem Anruf und dem Inhalt des Gesprächs. Lara schien von dem unbekannten Anrufer beunruhigt zu sein: „Wer auch immer dahintersteckt ist mächtig und offensichtlich keines Clans zugehörig, sonst hätten wir von ihm gehört.“
Ich nickte zustimmend. „Das ist naheliegend und deshalb habe ich Sie angerufen. Ich bezweifle, dass es zu einem Kampf kommen wird, aber aufgrund meines Zustands schien es mir sicherer.“
Lara betrachtete mich mit unverhohlener Neugier.
„Du wirst nicht denselben Fehler begehen wie ich, nehme ich an?“, fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf. „Ich weiß zwar nicht, von welchem Fehler Sie sprechen, doch ich habe weder vor, den einen noch den anderen zu machen.“ Laras Augen verengten sich und ein spöttisches Lächeln umspielte ihre Lippen.
„Wir sprechen später weiter, das verspreche ich dir. Nun sollten wir den jungen Aragon aus dieser Lage befreien, meinst du nicht?“
„Selbstverständlich, Madam“, murmelte ich, als sie auf die Türen zuging und versuchsweise daran zog und drückte. Wie zu erwarten, waren sie allesamt verschlossen. Ich sah an der breiten Glasfront des Gebäudes empor, doch es waren weder Lichter noch Bewegungen dahinter erkennbar. Ich blickte mich um. Die wenigen Passanten, die auf den Straßen unterwegs waren, achteten weder auf uns noch auf das Gebäude.
„Wann wollte er dich treffen, sagtest du?“, fragte Lara.
Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. „In fünf Minuten. Wir haben also noch etwas Zeit. Er nannte sich König der Nacht. Was fällt Ihnen dazu ein?“
Laras Blicke suchten die Straßen ab, während sie sich neben mich stellte. „Spontan betrachtet eine Person, die nur nachts aktiv ist. Also … kein Vampir?“
Ich nickte zustimmend. „Das liegt nahe, denn immerhin haben Vampire seit einem halben Jahrhundert ihr Serum, das sie vor den UV-Strahlen der Sonne schützt. Wer auch immer seine Augen auf mich gerichtet hat, lebt im Schatten und ist nicht in der Lage, sich unter den Menschen zu bewegen, ohne aufzufallen.“
Lara packte mich an der Schulter und ich wurde aus meinen Überlegungen gerissen. Es war still. Sämtliche Geräusche aus unserer Umgebung, selbst das Hupen der Autos war verstummt, als hätte jemand die Lautstärke abgedreht. Ich hörte mein Herz und sein Schlagen wurde schneller, denn sonst war alles wie immer. „Was geht hier vor?“, flüsterte ich und war erleichtert, meine Stimme zu hören. Lara antwortete nicht, sondern deutete mit einem Kopfnicken auf eine Stelle zu meiner Linken. Inmitten des Gehwegs, der von Menschen passiert wurde, verharrte eine regungslose Gestalt.
Sie ragte zwei Meter über die Köpfe der Menschen, ein dunkler Kapuzenmantel verhüllte Gesicht und Körper. Ich versuchte, den Geruch der Kreatur einzuatmen, doch da war nichts. Nur die Gerüche der Passanten, ein Gemisch aus Stress, Verpackungen und Klebstoff. Ich fluchte innerlich und sah Lara an.
„Wir warten“, sagte sie, auch wenn ihre Lippen zitterten.
Ich blickte wieder auf die Gestalt. Sie stand näher, als hätte sie sich in den wenigen Sekunden bewegt, ohne dass wir es mitbekommen hatten. Ohne Geräusche, als wäre sie … Ich neigte meinen Kopf ein wenig zur Seite und konnte zwei pechschwarze Flügelspitzen unter dem Saum des Mantels erkennen.
Ich starrte gut zehn Sekunden darauf, um sicherzugehen, dass ich mir diese Entdeckung nicht einbildete. Ich blickte auf das schwarze Loch, wo ich unter der Kapuze ein Gesicht vermutete. „Ich bin da. Wo ist Oliver Aragon?“
Der Kopf unter der Kapuze hob sich ein Stück und richtete sich auf Lara, deren Hand sich auf meiner Schulter verkrampfte. „Sie soll gehen.“ Die Stimme hallte in meinem Kopf wie gedämpfte Bässe wider. Als ich Lara ansah, wurde mir klar, dass nur ich diese Stimme gehört hatte, denn sie sah die Gestalt weiterhin konzentriert an. „Lara, ich bitte Sie zu gehen“, sagte ich.
Lara sah mich irritiert an. „Wie bitte? Das kann nicht dein Ernst sein. In deinem Zustand …“ Sie unterbrach sich und starrte ins Leere, dann auf die Gestalt zurück.
Offenbar sprach sie nun auch zu ihr, ohne dass ich es hören konnte. Was ging hier nur vor? Lara ließ mich schließlich los. „Ich warte hier. Pass gut auf dich auf.“ Es klang viel mehr nach einem Befehl als nach ehrlicher Besorgnis, doch das war mir in dieser Situation gleichgültig. Die Kapuzengestalt vor uns streckte plötzlich einen ihrer Arme aus und aus dem herabhängenden Ärmel lugte eine kräftige Hand hervor, deren Farbe mich an Marmor erinnerte.
Doch sie war so makellos glatt, dass ich dem Besitzer weder Geschlecht noch Alter zuordnen konnte.
„Nehmen Sie meine Hand, Sienna. Ihrem Kind und Ihnen wird nichts geschehen. Das ist nicht unser Ziel.“
Ich atmete tief durch und legte meine Hand auf die Handfläche der Gestalt. Ich spürte den Druck von warmen Fingern, die sich um meine schlossen, danach wurde es schwarz um mich herum.
Der Geruch von Asche, brennenden Pflanzenfasern, verkohlten Körpern. Diese Erinnerung, die erste, die ich zu Beginn meines unsterblichen Daseins hatte, war eine der schlimmsten, die ich je erlebt hatte. Sie bedeutete für mich den Verlust meiner Familie, meiner Freunde und die grausame Abschlachtung meines Heimatdorfes. Durch Werwölfe, deren Angriff niemand hatte verhindern können. Außer …
Ich öffnete die Augen und blickte in den Nachthimmel. Meine Hände spürten kühlen Beton und ich stützte mich ab. Rechts neben mir ging es gefühlte hundert Meter nach unten, links erstreckte sich das Dach eines Gebäudes, auf dessen Dachkante ich lag. Wer auch immer mich hierhergebracht hatte, bewies einen merkwürdigen Humor.
Meine Hand legte sich auf meine Bauchdecke. Ich spürte das kleine Herz noch immer schlagen. Eine Sorge weniger. Ich setzte mich auf und drehte dem Abgrund den Rücken zu. Da war er. Oder es.
Gleich neben dem Geländer einer Feuertreppe, die auf das Dach führte. Dort stand die Kapuzengestalt, deren Aussehen mich unwillkürlich an einen Mönch erinnerte. Keine Spur von Oliver oder anderen Anwesenden. „Warum ich?“, fragte ich und ging langsam auf meinen Bewacher zu. Doch ich erhielt keine Antwort.
Wenn er mich provozieren wollte, war das der falsche Weg. „Sie sind größer als die meisten Menschen, zeigen weder Ihr Gesicht noch den Rest von sich. Unter Ihrem Mantel war das Ende zweier Flügel zu sehen und Sie riechen nach Asche, Feuer und Verwesung“, ich machte eine Pause. Vielleicht entlockte ihm das einen Ton. Oder meinem Kopf, wie auch immer er sich äußern wollte. In diesem Fall nicht.
Ein kurzer Moment der Stille sagte mir, dass sich unsere Umgebung noch im verstummten Modus befand. „Was ist das überhaupt für ein Trick? Die Geräusche der Welt auszuschalten. Wozu?“ Mein Blick blieb an der Kapuze hängen und ich äußerte meine letzte Vermutung, bevor mein Geduldsfaden endgültig riss. „Ist es da unten so laut, dass Sie ab und zu für einen Ausflug hier hochkommen? Ich dachte, der Fall aus dem Himmel war tief genug, warum wollt ihr erneut an der Pforte klopfen, wenn man euch sowieso nicht reinlässt?“ Es schien, als hinterließe meine Stimme ein Echo, sodass ich den Ton noch einige Sekunden zu hören bekam.
„Wir sind nicht darauf aus, zurückzukehren, Sienna. Doch warum fragten Sie nach meiner Natur, wenn Sie es schon längst wissen?“
Wow, Mr. Mönch sprach wieder.
Ich zuckte mit den Schultern. „Es sagt eine Menge über jemanden aus, wenn man weiß, wie sein Gegenüber ausflippt, das ist alles. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes ein Engel.“ Die Gestalt hob beide Hände und schlug die Kapuze zurück. Wer sich nun goldenes Licht, Fanfaren und goldene Löckchen erhofft hatte … Fehlanzeige. Ein scharfkantiges Gesicht. Dichte dunkle Augenbrauen umrahmten Augen so schwarz und tief wie die Nacht über unseren Köpfen. Zu meiner Überraschung sah er jung aus, Anfang zwanzig oder jünger. Doch das Faszinierendste war, dass die Zeit keinerlei Spuren an ihm hinterlassen hatte. Ich bezweifelte, dass er seinem äußeren Alter entsprach und doch war da kein Anzeichen zu erkennen. Oder war es der Umstand, dass er schlichtweg attraktiv war? Hoppla, wo kam denn dieser letzte Halbsatz her?!
Ich räusperte mich. „Ich muss mich entschuldigen. Sie sind kein Engel.“
Mein Gegenüber grinste und sprach zum ersten Mal richtig, indem er seine Stimme außerhalb meines Kopfes verwendete: „Wir werden häufig verwechselt, Sienna. Im Mittelalter hielt man uns für Geisterwesen, verantwortlich für Naturphänomene oder auch chemische Prozesse wie die Vergärung des Weines oder das Sauerwerden der Milch. Dann kehrte sich unser Ruf überwiegend ins Negative und wir wurden nur noch Dämonen genannt.“
Ich verschränkte die Arme. „Das trifft auf die meisten Schattenwesen zu, die mit einer mysteriösen Legende in Verbindung gebracht werden. Also, warum haben Sie meinen Freund entführt, um mich hierherzubringen?“
Der Dämon lachte leise. „Weil er der beste Köder ist, nicht wahr? Sie sind verantwortlich für den Tod seines kleinen Bruders und wollen nicht auch noch ihn verlieren. Naheliegend, dass Sie für diesen Unsterblichen fast alles stehen und liegen lassen.“
Ich schaute mich um. „Es gibt also noch mehr von Ihrer Sorte? Warum gibt sich Ihr Anführer nicht zu erkennen? Er war es schließlich, der mich angerufen hat.“ Der Dämon neigte den Kopf leicht und kam näher. Ich bemühte mich, keinen Schritt zurückzutreten, obwohl mir alles an dem Kerl Grund dafür gab. Er machte mich nervös, meine Instinkte versagten und ertranken in Emotionen, die er in mir auslöste und die meiner Auffassung nach nicht da sein sollten. Prompt machte er halt. „Sie haben sich gut im Griff. Normalerweise liegen Frauen auf dieser Distanz längst in meinen Armen.“ Ich blinzelte.
Oh Gott, bitte nicht noch so einer …
„Sie sind witzig, Sienna. Aber keine Sorge, es liegt wohl an Ihrem Kind. Es ist überaus mächtig. Mädchen oder Junge?“, fragte er. Versuchte er nun, sich zu entschuldigen? Langsam wurde es mir zu bunt.
„Was tue ich hier? Wenn ich nicht bald ein Lebenszeichen von Oliver oder Antworten bekomme, benutze ich diese Feuertreppe da hinten und bin weg!“
„Bleiben Sie, Miss van Sciver. Setzen Sie sich und seien Sie unser Gast.“ Eine neue Stimme in meinem Kopf ließ mich erstarren. Ich blickte mich um, doch ich sah niemanden. Der Dämon, der mich hierhergebracht hatte, hatte den Kopf geneigt und sah nach unten.
Ich konnte nicht einschätzen, wie viele Dämonen es noch gab und woher sie kommen würden. Doch eines wusste ich: Es war die Stimme, die am Telefon zu mir gesprochen hatte. Ich spielte mit, setzte mich im Schneidersitz auf den Boden und wartete auf das, was als Nächstes kommen würde. Die Stille zog sich in die Länge, bis ich von allen Seiten eine leichte Druckwelle spürte und der Lärm der irdischen Welt für eine Sekunde wieder hörbar war. Danach erneut Stille.
Als ich aufblickte, war ich umzingelt. Sie standen in einem Kreis um mich herum, trugen allesamt lange Kapuzenmäntel und ihre Flügel schillerten im Licht der umliegenden Wolkenkratzer. Ich hatte bereits vermutet, dass die Flügel der Dämonen nicht nur zur Zierde an ihrem Rücken wuchsen. Sie hatten dieselbe marmorfarbene Haut wie ihr Artgenosse und dieselben schwarzen Augen. Ansonsten unterschieden sie sich in Körperbau und anderen äußeren Merkmalen wie zum Beispiel der Frisur.
Es waren zwölf, doch elf davon starrten wie leere Marionetten zu Boden. Der Zwölfte sah mir in die Augen. Er hatte dunkelblonde schulterlange Haare und trug einen Dreitagebart. Ich erwiderte seinen Blick und lächelte höflich.
„Nett, dass wir uns endlich kennenlernen.“
Der Dämon trat einen Schritt vor und setzte sich ebenfalls. Der Schwarzhaarige trat an seine Stelle in die entstandene Lücke und schloss so den Kreis. „Die Umstände unseres Kennenlernens waren bedauerlich. Doch es war notwendig, Sie hierherzubringen. Das, was ich mit Ihnen besprechen möchte, geht alle Schattenwesen etwas an.“
Nachdem ich Oliver immer noch nicht gesehen hatte, schaltete ich auf stur. „Ich wüsste nicht, was ich mit jemandem zu besprechen hätte, der mir nicht einmal einen Beweis dafür liefern kann, dass ich nicht umsonst hier erschienen bin. Oder sich nicht einmal vorgestellt hat.“
Der Dämon nickte. „Mein Name ist Gabriel und wir spielen seit Jahrtausenden nicht fair. In diesem Fall müssten Sie das Risiko eingehen, unser Gespräch abzuwarten, bis Sie Ihren Freund wiedersehen können.“
Ich runzelte die Stirn. „Das klingt, als wollten Sie etwas von mir verlangen. Eine Art Preis dafür, dass ich Ihnen zuhöre.“
Der Dämon machte eine wegwerfende Geste mit der Hand. „Das können Sie gern so auffassen, doch wir sehen es als Notwendigkeit an. Ich führe den Dämonenzirkel in New York und kann es mir nicht leisten, Vertrauen zu schenken. Schon gar nicht an andere Schattenwesen.“
Ich seufzte, gequält von der wachsenden Arroganz meines Gegenübers. „Raus mit der Sprache. Was ist so dringend, dass ihr euch genötigt seht, euch an mich zu wenden?“
Gabriel stand auf und ich tat es ihm gleich. Der Kreis teilte sich, als ich ihm in Richtung Dachkante folgte. „Wir Dämonen haben während der letzten Wochen mit Besorgnis auf die Vorkommnisse auf Ihrem Kontinent geblickt. Eine Prophezeiung, eine Familienzusammenführung und zwei Babys, die euch das Verderben bringen. Sieht nicht besonders gut für die unsterblichen Kinder der Nacht aus.“
Ich starrte ihn von der Seite her an. „Das hätten Sie auch am Telefon sagen können. Inwiefern betrifft das Ihre Dämonen?“ Gabriel breitete die Arme aus.
„Es betrifft die ganze Stadt, Sienna. Unsere, die Städte Ihrer Familien und der Clans. Die halbe Welt. Wenn ein Krieg der Schattenwesen ausbricht, kann dieser unmöglich vor den Menschen geheim gehalten werden. Das ist es doch, was das oberste Gebot aller ist: im Verborgenen zu leben, am Rande der Sterblichen.“
Langsam bekam ich eine Vorstellung dessen, was dem Anführer der Dämonen auf der Zunge lag. „Sie befürchten, die Angriffe könnten sich zu einem Krieg entwickeln? In diesem Fall kann ich Sie beruhigen: Cordelia ist tot und Lucan hat die Flucht ergriffen.“
Gabriel betrachtete mich mit steinerner Miene.
„Sie glauben es nicht?“, fragte ich zurück. Gabriel nickte schweigend. „Nein, wir wissen es.“
Meine Nerven waren angespannt und ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, welche Gefahr noch da draußen lauerte, die ganze Clans sprengen konnte. Abgesehen von dem, was Cordelia offenbart hatte.
Gabriel trat bis an den Rand des Daches und blickte hinab auf die Straße. „Gehen Sie an den Ursprung zurück, Sienna. Der Feind ist so alt wie wir, mächtig und kaum zu erkennen. In diesem Krieg können Sie nur verlieren und wir sind nicht bereit, tatenlos zuzusehen.“ Er sah mich direkt an. „Ich kann Ihnen leider nicht mehr sagen. Ich fürchte um meinen Zirkel, und es wird besser sein, Sie finden es selbst heraus.“
Ich trat an seine Seite, langsam hob ich meinen Fuß auf den Vorsprung und wagte einen Blick nach unten. Es ging tief hinunter und ich schluckte. „Ich erwarte nicht, dass Sie mir Namen oder Adresse nennen noch die Tür zeigen, an der ich klingeln kann, Gabriel. Doch eine Nadel im Heuhaufen zu suchen ist selbst für mich schwierig.“
Gabriel lächelte schief. „Zu warten, bis dieser Feind vor Ihrer Tür steht, ist vergebens. Was wissen Sie über die Verteilung der Schattenwesen? Damit meine ich nicht, wie sich Ihr Vater sein Nest gebaut hat, sondern was die anderen Clans betrifft. Blicken Sie über Ihren Tellerrand hinaus.“ Er sprang rückwärts vom Vorsprung wieder auf das Dach und ich blickte ihm verwirrt nach. „Das war’s?“
Der Dämon winkte mich mit einer lässigen Geste zu sich. „Noch nicht ganz. Um meinem Zirkel nicht Untätigkeit vorwerfen zu lassen, gebe ich Ihnen eines meiner Mitglieder mit, bis die Gefahr … beseitigt ist.“
Ich sprang nach vorn und versperrte ihm den Weg. „Moment mal, das können Sie nicht so einfach tun!“
Gabriel zuckte mit den Schultern. „Sie irren sich. Ich kann tun, was ich will. Sunset Hill soll groß sein und über viele Gästezimmer verfügen. Vollkommen ausreichend für einen Dämon.“ Formal gesehen hatte ich dem nichts entgegenzusetzen: Die Sommerresidenz stand jedem offen, der Hilfe anzubieten hatte.
Ich seufzte. „Gut, von mir aus schicken Sie jemanden. Führen Sie mich jetzt zu Oliver, damit wir verschwinden können.“ Gabriel winkte einen seiner Dämonen zu sich und deutete mit einem Kopfnicken zum Ende des Daches. „Binde den Vampir los. Er hat die Aussicht sicher genossen.“ Als er sich mir wieder zuwandte, neigte er leicht den Kopf.
„Danke für Ihre Zeit, Sienna. Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen. Schade, dass ich nicht voraussehen kann, ob wir uns wiedersehen. Es ist interessant, wie wenig vom Altertum übrig geblieben ist, nicht wahr? Die Menschen hatten eine Ahnung von unserer Existenz, ja, manchmal wussten sie darum und bekämpften uns. Nun ist es genau anders herum: Wir bekämpfen uns gegenseitig und sie glauben, alles zu wissen. Passen Sie auf, dass es Ihnen nicht genauso ergeht.“
Ich lächelte dünn zurück. „Oh, keine Sorge. Sie haben mir genügend Denkanstöße gegeben, Gabriel.“
Ich hörte ein Stöhnen und sah, wie Oliver von dem Dämon über den Vorsprung gezogen wurde. Ich rannte zu ihm und kniete mich vor ihm auf den Boden. Er schien unverletzt zu sein und dazu stinksauer:
„Wenn du mich das nächste Mal aus einer Gefangenschaft rettest, sollte ich wohl Personenschutz verlangen!“
Ich gab ihm einen leichten Schlag auf die Schulter. „Du lebst noch, also hör auf, dich zu beschweren.“
Oliver richtete sich nun auf und wischte sich etwas, das aussah wie Tierhaare, von seiner Jacke. „Ich hing genau vor der Entlüftung eines Apartments, das von mindestens fünf Perserkatzen bewohnt wird! Ich habe bei jedem neuen Schub gehofft, du machst diesem sogenannten Dämonenfürsten endlich Beine. Stattdessen hast du es nicht gerade eilig gehabt, mich zu sehen.“
Ich verdrehte die Augen. „Wenn du dich ausgeheult hast, können wir gehen, hoffe ich. Lara wird sich Sorgen machen.“
Oliver fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. „Wer ist das denn?“
Ich wandte mich dem Dämonenzirkel zu, doch alle seine Mitglieder waren bereits verschwunden. Abschiedsworte hielten diese Kreaturen wohl für entbehrlich. Doch der Dreizehnte, der mich auf dieses Dach gebracht hatte, lehnte lässig am Geländer der Feuerleiter und beobachtete uns neugierig.
„Wir finden schon selbst hinunter“, sagte ich, als wir an der Treppe angekommen waren. Die Augen des Dämons glühten, sodass die Augäpfel durchgehend schwarz wirkten.
„Das glaube ich auch. Doch leider war ich noch nie in Europa und muss Ihnen daher auf Schritt und Tritt folgen. Sie haben doch sicher nichts dagegen. Ich verspreche, mich unhörbar fortzubewegen.“
Beinahe wäre Oliver gegen meinen Rücken geknallt, als ich stehen geblieben war. „Sie begleiten uns.“ Es kostete mich einige Mühe, diesen letzten Satz nicht wie eine Frage klingen zu lassen.
Der Dämon grinste. „Ich wusste, dass Sie sich freuen.“
Oliver schnaubte. „Glauben Sie mir, mein Freund, diese junge Lady ist bereits vergeben.“
Mir reichte es. „Ich bin weg. Ihr könnt gern ohne mich weiterdiskutieren!“ Mit diesen Worten schlüpfte ich an dem Dämon und Oliver vorbei und eilte so schnell wie möglich die Treppe hinunter.
Sienna
Es war kurz nach Mitternacht, als mich Lara am Pier 13 traf. Nachdem ich von dem Hochhaus geflohen war und den Rest des Abends in einem Café in Manhattan verbracht hatte, war meine Wut größtenteils verflogen.
„Oliver hat mir berichtet, was passiert ist“, sagte die Clanführerin, als sie sich neben mich an das Geländer lehnte. „Dieser Dämon meinte, er sei unser Gast, und bat darum, ihn mitzunehmen. Hat er die Wahrheit gesagt?“
Ich schwieg und kraulte das Eichhörnchen am Kopf. Das Tier hatte die Begegnung auf dem Dach bemerkenswert ruhig in meiner Mantelinnentasche überstanden. Es hatte zu schneien begonnen. Dicke Flocken wirbelten durch die Luft, legten sich auf mein Haar und meine Jacke und schmolzen auf meinem Handrücken.
„Du hast dich verändert, Sienna. Das fiel mir bereits auf, als du mich befreitest. Früher warst du unantastbar. Heute sehe ich eine verletzliche junge Frau neben mir, die leidet. Nur den Grund dafür scheint sie mit aller Macht in sich einschließen zu wollen.“ Ihre Stimme triefte vor Neugier und ich sah sie an, weder beeindruckt noch verlegen von ihren Worten. Im Gegenteil: Lara wusste, dass es mir schlecht ging, und versuchte, mir die Ursachen dafür zu entlocken, indem sie mich reizte. Alles, was sie damit erreichen konnte, war mein steigendes Misstrauen.
„Da ich Ihnen noch eine Antwort schulde, sage ich sie Ihnen jetzt: Ich werde mit Ihnen nach Italien zurückkehren. Der Dämon wird mitkommen. Doch Sie werden weder erfahren, warum er uns begleitet, noch worüber ich mit Olivers Entführern gesprochen habe.“ Sie schuldete mir Antworten, auf die ich zwanzig Jahre lang gewartet hatte. Mein Vertrauen hatte sie in jener Nacht verwirkt, als sie ihre Zwillinge töten wollte.
In ihren Augen blitzten rote Funken auf, ein Zeichen von Ärger oder Zorn. Doch sie hielt sich zurück und nickte. „Schön, das müssen wir nicht jetzt besprechen. Oliver möchte sich von dir verabschieden. Er wartet am Steg meines Schiffes. Es legt in einer halben Stunde ab. Sei bitte pünktlich.“
Sie wandte sich ab, doch ich hatte plötzlich das Gefühl, ihr etwas sagen zu müssen: „Sie irren sich. Ich war auf der Suche nach einem Zuhause. Ich fand es und Cordelia nahm es mir. Ich trauere nicht nur um Philipp Aragon, sondern auch um den Verlust eines Lebens, das meinem Kind genommen wurde. Sie schulden Ihren Kindern auch eines, vergessen Sie das nicht, Madam.“
Lara lächelte nun und neigte den Kopf. „Wir werden wohl niemals Freundinnen werden, doch ich bewahre mir meinen Respekt vor dir. Den hast du verdient, auch wenn die Prophezeiung mir vor zwanzig Jahren etwas anderes zeigte. Ich will hoffen, ich werde diesen Respekt niemals verlieren.“ Sie ging den Pier entlang und verschwand in der Dunkelheit zwischen den dichter werdenden Nebelschwaden.
„Wow, die Königin sah nicht gerade erfreut aus.“ Oliver stand ein paar Meter entfernt und schien unsere Unterhaltung mit angehört zu haben. Ich blieb, wo ich war und setzte das Eichhörnchen mit beiden Händen vor mich auf den Boden. „Lauf. Finde ein neues Zuhause.“ Das Tier blinzelte und schnupperte am Boden.
„So stellst du dir vor, es loszuwerden? Das klappt nie“, bemerkte Oliver.
„Du wolltest dich verabschieden. Ich habe erwartet, du begleitest uns.“ Ich wollte nicht schon wieder mit ihm streiten, schon gar nicht über meinen Stil, ein Tier freizulassen.
Oliver ließ seine Vampirzähne aufblitzen und sah gedankenverloren auf den Hudson River, der die Lichter der Brooklyn Bridge spiegelte. „Nein, ich helfe dir am besten, wenn ich zu meiner Familie zurückkehre.“
Er trat näher an mich heran und nahm meine Hand. Ich ließ es zu, seine Berührung schenkte mir Trost und Hoffnung. Dieses Mal spürte ich nur die Kühle seiner Haut, nicht den Versuch, meine Gefühle zu ertasten. „Ich wünsche dir Glück. Du wirst es brauchen“, sagte ich und drückte seine Hand leicht. Was Worte betraf, war ich in so etwas nicht gut. Oliver kannte unsere Art, voneinander Abschied zu nehmen, zur Genüge, daher ließ er sich seine Gefühle nicht anmerken.
„Das ist für dich“, sagte er und legte ein quadratisches Päckchen auf das Geländer. Es war in grünes Geschenkpapier eingewickelt und mit einer roten Schleife versehen. „Ein verfrühtes Geschenk. Wenn dein Kind auf die Welt kommt, erinnere dich daran, dass es mindestens ein Mitglied des Clans Aragon gibt, das es beschützen würde, wenn es andere verweigern.“
Er ließ meine Hand los und lächelte. In diesen seltenen Momenten, die nicht vom Weglaufen, Angreifen oder Warten auf diese Dinge bestimmt wurden, fühlte ich, wie ein Leben fernab davon möglich wurde. „Danke, Oliver. Ich werde mich daran erinnern.“ Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn sanft auf die Wange. Bevor es doch zu einem peinlichen Moment werden konnte, ging ich an ihm vorbei den Pier entlang.
„Sienna!“
Ich blieb stehen und drehte mich um. Oliver kam auf mich zu und in seinen Händen hielt er das weiße Eichhörnchen, das sich offenbar zu befreien versuchte. Es biss und kratzte wie verrückt auf Olivers Finger ein. „Da möchte jemand mit dir gehen, so wie es aussieht.“ Perplex streckte ich eine Hand aus und das Eichhörnchen sprang in hohem Bogen von Olivers Handfläche, landete auf meinem Oberarm und krabbelte auf meine Schulter.
„Denk dir lieber einen Namen aus. Los wirst du es nicht“, sagte Oliver und zwinkerte. Das Tier rollte sich auf meiner Schulter zusammen. „Kaum warst du ein paar Schritte entfernt, ist es dir nachgehüpft.“
Ich runzelte die Stirn und warf dem zitternden Knäuel einen Blick zu. „Also noch ein Passagier auf dem Schiff nach Hause.“
Warum nahm die Clanführerin der Vampire keinen Privatjet nach Europa? Die Antwort war simpel: Lara liebte ihre Jacht und den Komfort, den ihr dieses Bauwerk bereits in den 90er Jahren geboten hatte.
Seit ihrem Verschwinden hatte es im Hafen von Monte Carlo vor Anker gelegen und war nun eigens für ihre Rückkehr nach New York City gesteuert worden. Als ich auf dem Pier den Ankerplatz ansteuerte, fiel mir die Jacht sofort ins Auge. Das Wappen des Clans prangte am Heck, direkt darunter der Name:
D. Lorray
Quadratische Fenster zierten die Außenfront; zwei Etagen, darunter die Steuerkabine, wurden von breiten Decks umrahmt. Der spitz zulaufende Bug stach wie ein silbernes Schwert in die Wasseroberfläche. Ich schätzte die Jacht auf eine Länge von 50 Metern und war der Meinung, dass diese Art zu reisen bei Weitem ungefährlicher war als mit einem Flugzeug, dessen Technik in der Vergangenheit bereits häufig manipuliert worden war. Als ich vor die Treppe trat, die den Pier mit dem Schiff verband, überkam mich ein Schauder, der mich frösteln ließ. „Trauen Sie sich etwa nicht, an Bord zu kommen?“ Die Stimme in meinem Kopf war wieder da. Dunkel und verführerisch. Zumindest hörte es sich so an, als bezwecke der Besitzer letzteren Effekt.
„Kommt ganz darauf an, ob Sie hinter dem Steuerrad sitzen. Macht ihr Dämonen das Kapitänspatent in der Hölle oder reicht euch die Titanic da unten auch nicht mehr aus?“, fragte ich versuchsweise, um festzustellen, ob er mich überhaupt hören konnte.
„Ich steuere nicht, Sienna. Ich bin im Auftrag meines Zirkelmeisters hier und Ihr Gast.“ Ich betrat die Treppe und stieg die Stufen hinauf, bis ich auf dem Oberdeck stand. Direkt vor mir ging es in die Steuerkabine, eine weitere Tür links daneben führte in die Innenräume.
„Ich muss mich mit Ihnen unterhalten. Von Angesicht zu Angesicht“, sagte ich, denn diese Stimme in meinem Kopf bereitete mir Sorgen. Ich kannte die Blutsverbindungen unter Vampiren, die Gefühle nachempfinden und ertasten konnten. Ich wusste, dass mein Kind ein Blutsband mit Vincent und mir teilte und mich, solange es ein Teil von mir war, vor sämtlichen fremdartigen Vampirkräften schützte. Ich wollte mir nicht ausmalen, was Dämonen in der Lage waren zu tun, wenn sie sich bereits in meinem Kopf einnisten konnten.
„Später. Mrs. van Sciver befindet sich im Wohnbereich des Schiffes und sollte sich zunächst vergewissern, dass Sie unbeschadet an Bord sind.“
Ah, natürlich musste ich mich noch bei der First Lady der Vampirwelt anmelden. Ob sie mich in den Kesselraum zum Kohleschaufeln oder in die Erste-Klasse-Suite schickte, blieb abzuwarten. Hinter der Tür tat sich ein gemütlicher Wohnbereich auf: eine Fensterbank mit einem Glastisch, auf dem eine Vase frisch duftender Zinnien und Zichorien stand. Ein mit weichem Teppich ausgelegter Gang führte zu einer bequemen Sofa-Ecke, die einem Flachbildschirm zugewandt war, ehe er leicht absank und in weitere Treppen, vermutlich zu den Kabinen, überging. Ein sanftes Vibrieren im Boden deutete darauf hin, dass die Motoren angelassen worden waren und die Jacht bald ablegen würde.
Ich setzte mich an den Glastisch zu den duftenden Blumen, wo mir auffiel, dass zwischen den blassblauen Zichorien und violetten Zinnien eine einzelne blutrote Blüte steckte, deren Art und Gattung ich jedoch anhand der Fülle der anderen beiden nicht erkennen konnte. Ich beugte mich leicht vor, um sie herauszuziehen, doch Schritte auf der Treppe kündigten Laras Kommen an, sodass ich mich zurück auf die Bank sinken ließ.
Lara hatte sich der schweren Winterkleidung entledigt. Stattdessen trug sie eine leichte hellblaue Bluse und eine Jeans. Auf diese Weise konnte ich einen Blick auf jenes Mal werfen, das sie als besonders wichtig für die Gemeinschaft kennzeichnete: die Narben in Form zweier Punkte, die von Simons Biss stammten und von einer feinen Tätowierung umrahmt wurden, die das Wappen des Clans darstellte.
„Kommen wir gleich zur Sache“, sagte sie lächelnd und setzte sich zu mir an den Tisch. „Nachdem du nach meiner Befreiung meine Hilfe ausgeschlagen und dich zurückgezogen hattest, habe ich lange darüber nachgedacht, wie wir in Zukunft miteinander umgehen sollten. Du bist Simons älteste Tochter und damit seine potenzielle Nachfolgerin.“
Ich blinzelte und schüttelte den Kopf. „Das ist nur zum Teil wahr. Simon ernannte Ileana bereits vor einigen Wochen zu seiner Nachfolgerin, sollte er jemals abtreten. Mit Ihrer Rückkehr dürfte das nebensächlich geworden sein.“
Lara hob eine Augenbraue und lachte leise vor sich hin. „Dir ist nie der Gedanke gekommen, Profit aus deiner Herkunft zu schlagen?“ Ich starrte sie angewidert an. Doch was sollte ich ihr sagen?
Sie kannte den Inhalt der Prophezeiung, und mit dem Wissen, das sie über mich und die letzten Jahre erhalten hatte, würde ich an ihrer Stelle vermutlich dieselbe Frage stellen.
„Selbstverständlich habe ich das. Doch welchen Profit könnte ich daraus schlagen, wenn meine Geschwister und ich darunter leiden? Wir sind während dieser letzten Wochen … Freunde geworden … wir …“, mir gingen buchstäblich die Worte dafür aus. In den letzten Wochen gab es keinen Tag, an dem ich nicht an sie gedacht hatte. An das, was ich verloren und gleichzeitig gewonnen hatte.
Lara schien aufrichtig verblüfft zu sein. „Freunde also, wie reizend“, sie lehnte sich leicht vor, in ihren Augen sah ich rote Funken aufblitzen. „Ich werde dich im Auge behalten. Genieße die Reise. Dein Aufenthalt in Rom wird weit weniger angenehm sein.“
Offensichtlicher hätte eine Drohung nicht sein können. Doch sie sprach mit einer langjährigen Sicherheitschefin, die Zugang zu jahrzehntelang gehegten Geheimnissen hatte.
Meine Vergangenheit war dunkel, meine Handlungen ebenfalls, also kein Grund, sie nicht wieder hervorzuholen.
Ich setzte mein höflichstes Lächeln auf. „Ihrer wird es auch nicht sein, Lara. Während Ihrer Abwesenheit hat sich Ihre Schwester um Ileana und Vincent gekümmert. Simon setzte Ileana als seine Nachfolgerin ein, weil er beabsichtigte, mit Arina auf Sciver’s End zu leben. Kleiner Denkanstoß für Sie.“
Ich sprang auf und verließ den Wohnbereich über die Treppen. In einem Korridor, an den sich die Privatkabinen anschlossen, lehnte ich mich gegen die Wand. Was war nur in mich gefahren? Wenn Lara glaubte, mich bedrohen zu müssen, um sich sicher zu sein, dass ich keine Gefahr darstellte, sollte sie sich warm anziehen. Mir blieb nur eine Möglichkeit, sie davon zu überzeugen, dass ihre Verdächtigungen unbegründet waren: den ganzen Inhalt der Prophezeiung zu erfahren …
In diesem Moment erlosch das Licht über meinem Kopf. „Großer Auftritt, Sienna. Ihre Herrin kocht vor Wut.“ Die Stimme des Dämons drang in mein Ohr und ich spürte die Wärme eines Körpers neben dem meinen. Durch die Fähigkeit meiner Nachtsicht konnte ich seine Konturen erkennen. Seine Flügel ragten in einem Bogen über seine Schulter hinauf und schwangen sich leicht hinab bis auf Höhe seiner Knie zu zwei scharfen Spitzen.
„Sind Sie unbekleidet, oder warum löschen Sie auf so theatralische Art und Weise das Licht?“, fragte ich bissig.
„Oh, glauben Sie mir, das dient einzig und allein der Tatsache, dass Sie sich auf unser Gespräch konzentrieren können.“
Angeber!
Ich löste mich von der Wand und stellte mich mitten in den Korridor. „Ich kenne Ihren Namen noch nicht. Wenn Sie uns tatsächlich helfen wollen, sollten Sie einige Karten offenlegen und nicht nur Ihre … Oberweite.“ Der Dämon legte den Kopf schief.
„Dies ist mein erster direkter Kontakt mit der irdischen Welt. Ich fürchte, einen Namen kann ich Ihnen noch nicht nennen.“
Das Ganze wurde immer verworrener.
„Was meine Ernährung betrifft, benötige ich nicht viel. Lediglich genug Gift eines Vampirs zum Beispiel.“
Ich zuckte mit den Schultern. „Dürfte kein Problem sein. Noch etwas, das ich wissen müsste?“
Der Dämon breitete seine Flügel aus, sodass sein Umriss sich bis an die Wände erstreckte. „Ich werde, was meinen Aufenthalt bei Ihnen angeht, alles tun, um das Gelingen der Mission zu gewährleisten. Ich gehe über Leichen, und dabei unterscheide ich weder zwischen Mann und Frau noch zwischen Unschuldigen und Feinden.“
Ich verschränkte die Arme. „Das ist nicht das Schlimmste an Vorsätzen, was man sich für einen solchen Aufenthalt auf Erden vornehmen kann, schätze ich.“
Die dunklen Flügel raschelten, doch es hörte sich nicht nach den sanften Bewegungen echter Federn an, vielmehr nach dem Scharren spitzer, scharfer Klingen.
„Ich halte mich im Frachtraum des Schiffes auf. Dort ist es gemütlich und weniger belebt. Eine gute Nacht, Sienna.“
Das Licht ging an, doch der Korridor vor mir war leer. Ich atmete tief ein. Mein neuer Begleiter war mächtig, das wurde mir nun endgültig klar, doch ich spürte, dass er etwas weitaus Gefährlicheres verborgen hielt als Kaltblütigkeit.
Die erste Nacht auf dem Schiff wurde zu einem wahren Albtraum. Nach den Ereignissen in New York City fiel ich erschöpft in ein warmes bequemes Bett in einer der Gästekabinen. Der Schlaf riss mich in seine Tiefen und bescherte mir einen seltsamen Traum:
Ich stand auf halber Anhöhe des Hanges, auf dessen Plateau Sunset Hill thronte. Doch etwas stimmte nicht. Ein Geruch hing in der Luft, der diesen Traum so real machte, dass ich mich umsah und erkannte, dass die Weinreben rings um mich herum verkohlt waren. Tot und zu schwarzen Strünken erstarrt. Mein Blick fiel auf das Gras zu meinen Füßen.
Doch dann wurde ich wie aus dem Nichts aus dem Schlaf gerissen. Etwas Kühles presste sich gegen meine Kehle und ich roch Silber. Ich erkannte, dass es ein Messer war, und die Person, die es hielt, stand über mich gebeugt und starrte aus hasserfüllten blauen Augen zu mir herab. „Wir müssen reden, Schwesterherz.“ Ihre Stimme war nichts weiter als ein finsteres Knurren. Noch benommen von dem Traum schluckte ich.
„Freut mich auch, dich zu sehen, Ileana.“
Sienna
„Du warst nicht einfach zu finden“, sagte Ileana mit einem Lächeln, das weder ihre Augen erreichte noch aufrichtig war. Das Messer an meinem Hals zitterte nicht, sie hielt es ruhig, und auch ihr Blick verriet mir, dass sie vorhatte, diesen Moment lange genug auszukosten. Ich bewegte mich nicht, sondern sah sie an. Gründlich, wie ich es bei Feinden tun würde:
Der Geruch eines Vampirs, gesunde, strahlend blasse Haut und langes schwarzes Haar. Ihr feines Gesicht wirkte, als hätte sie trainiert, keine Emotionen zu zeigen, doch ich wusste es besser: Vampire sahen immer so aus. Ileana trug über ihrer Jeans einen Pullover und eine Lederjacke. Von ihrer Schwangerschaft war noch nichts unter ihren Kleidungsstücken zu erkennen.
„Nun, ich war auch nicht scharf darauf. Aber jetzt hast du mich gefunden, das konnte offenbar nicht warten, bis deine Mutter und ich in Rom sind?“, fragte ich.
Ileana setzte sich auf die Bettkante, ohne die Position des Messers zu verändern. „Du weißt, warum ich hier bin“, entgegnete sie.
Ich starrte auf die Klinge. „Du bist mit dem Vorhaben hierhergekommen, mich zu töten. Sonst wäre dieses Ding in deiner Hand nicht da, wo es jetzt ist.“
Ileanas Augen fingen an zu glühen und der Druck auf meiner Haut verstärkte sich schmerzhaft. Trotzdem war ich noch nicht bereit, ihr die Hand wegzuschlagen oder mich auf eine andere Art und Weise zur Wehr zu setzen. Ileana schien von dieser Reaktion weder überrascht noch sonderlich angetan zu sein.
„Ich will die Wahrheit von dir!“, zischte sie, drehte das Messer und die Spitze schnitt in meine Haut.
Ich reagierte sofort, schlug ihre Hand mit der Handkante zur Seite und sprang auf meine Füße, blieb jedoch auf dem Bett.
Ileana atmete heftig, ihre Kondition hatte in letzter Zeit wohl gelitten. Ich spürte, wie warmes Blut meinen Hals hinabrann. Doch die Wunde war bereits dabei, sich wieder zu regenerieren.
„Willst du mir wehtun oder Antworten bekommen, Ileana? Ich nahm dir deinen Gefährten, ich verstehe, dass du beides brauchst. Doch eines möchte ich klar sagen: Ich wollte ihn nicht töten …“, weiter kam ich nicht.
Ileana sprang mit einem Wutschrei auf mich zu, doch ich rollte mich zur Seite weg und kam in geduckter Haltung auf dem Boden neben dem Bett auf. „Wehtun hat offenbar gewonnen“, murmelte ich und stand auf. Von meinem Kissen waren nur noch Fetzen und Federn übrig.
Ileana zischte: „Du kannst mir nicht erzählen, dass du keine Wahl hattest! Simon und Vincent waren bei dir, Sienna! Außerdem war Verstärkung unterwegs und bereits in Hörweite. Vincent hat mir alles berichtet! Phils Tod wäre vermeidbar gewesen, aber du musstest ihn sofort mit deinen Klauen attackieren! Ich kann das nur als Absicht auslegen!“
Sie sprang ab und erwischte den Moment, an dem ich von ihren Worten getroffen wurde. Ich knallte mit voller Wucht gegen die Wand, schlug mit dem Hinterkopf auf und verlor das Bewusstsein.
*
Das leise Summen der Maschinen im Frachtraum war eine angenehme Abwechslung für den Dämon, der seit seiner Ankunft in der Welt der Sterblichen weilte und bisher nur wenig Aufregendes gesehen hatte. Bis zum Zeitpunkt, als die Tür des Frachtraumes aufging. Er saß mit eingezogenen Flügeln auf einer Kiste und befand sich außer Sichtweite der Tür, da stapelweise leeres Frachtgut vor ihm aufgetürmt worden war. Zunächst war er sich sicher, drei pumpende Herzen zu hören, doch es kamen nur zwei Paar Füße in den Raum.
Der Geruch des Werwolf-Mädchens drang in seine Nase und ein ihm unbekannter Geruch. Der eines weiblichen Vampirs.
Die Clanführerin war es nicht. Scheinbar trug die Vampirin die Werwölfin. War sie bewusstlos?
Der Dämon hob den Kopf und nahm den schwachen Duft von Blut wahr. Oh, hier wurde es offenbar interessant …
Ein brennender Schmerz fuhr durch meine Gelenke: erst an den Füßen, ein paar Sekunden später an den Händen. Das Klirren von Ketten holte mich endgültig aus meiner Bewusstlosigkeit zurück.
Ileana stand direkt neben mir und zurrte die letzte Kette mit Scharnieren an der Wand fest. Es roch nach Holz und Öl. Wir befanden uns scheinbar im Frachtraum. Etwas abseits entdeckte ich einen Rucksack, der offen stand.
„Was hast du vor?“, fragte ich mit erstickter Stimme. Ileana antwortete nicht, sondern ging zu dem Rucksack hinüber und öffnete ihn. Sie holte einen Bunsenbrenner und ein verschlossenes Gefäß aus Eisen hervor. Ich riss die Augen auf.
„Das wagst du nicht“, flüsterte ich, als sie beides auf den Boden stellte und den Brenner in Gang setzte.
„Finde es heraus. Du kennst die Methode selbst gut genug. Ich bezweifle jedoch, dass diese Schmerzen an das herankommen, was ich durchgemacht habe“, sagte Ileana kalt. War das hier eine Selbstmitleidsnummer oder tat sie es aus purer Verzweiflung?
Was auch von beidem zutraf: Ich musste sie davon abbringen. Nur wie? Ileana öffnete das Gefäß und ich roch sofort das Silber. Es zu erhitzen würde dauern.
„Simon und Vincent wissen nicht, wo du steckst, oder?“, fragte ich, während sie mit einer langen Zange das Gefäß einklemmte und über den Brenner hielt. Ihre Augen glühten karmesinrot.
„Natürlich nicht. Sie hätten mich niemals gehen lassen. Beide sind vollkommen aus dem Häuschen, dass unsere Mutter wieder da ist. Sehr nobel von dir, sie zu befreien. Auch wenn ich vermute, dass das Ganze nur ein Ablenkungsmanöver war, um zu verschwinden.“ Natürlich und im Himmel wachsen Kartoffeln …
„Korrigiere mich, aber dieses Schiff nimmt Kurs auf Rom. Deine Theorie widerspricht jedweder Logik, Ileana. Warum sollte ich verschwinden wollen? Ich habe Phil geliebt und er war mein bester Freund!“ Meine Stimme überschlug sich, während der Schmerz, der durch die Ketten verursacht wurde, zunahm. Ileana sah mir während meiner letzten Worte in die Augen und in das Rot mischte sich ein seltsamer Schimmer, der mich an dunkle Gewitterblitze erinnerte. Doch dann war er verschwunden und Ileana entblößte ihre Reißzähne, die spitz hervortraten.
„Wage es nicht, von Liebe zu sprechen. Ich habe gesehen, was du Vincent angetan hast. Seit ihr euch über den Weg gelaufen seid, ist er gebrochen! Du vernichtest jeden, der dir zu nahe kommt. Doch nicht mit mir, falls du darauf vertraut hast, eine Art Geschwisterbeziehung aufzubauen!“
Aus dem Gefäß dampfte es und ich schluckte. Das letzte Argument, das ich hier noch nicht hatte aussprechen wollen, schoss mir in den Kopf. Ileana hob das Gefäß in die Höhe und sah mich an.
„Ich verzeihe dir nicht. Niemals, Sienna. Du hast mir das Liebste genommen. Jetzt nehme ich dir dein Liebstes.“ Wie bitte? Da war es wieder, das Funkeln in ihren Augen, das nicht der vampirischen Natur entsprach. Es schlich sich immer wieder zwischen ihre glühenden Augen. Sie kam ein paar Schritte näher und ging vor mir in die Hocke, das Gefäß auf Kopfhöhe.
„Ich habe sein Herz schlagen hören, als du bewusstlos warst. Eigentlich wollte ich dir langsam die Haut von den Knochen lösen. Silber ist da bei Werwölfen sehr gründlich, habe ich gelesen. Doch wer hätte gedacht, dass da noch ein viel passenderes Ziel auf mich wartet.“
Befand ich mich in einem realen Albtraum? Das hier konnte nicht die Ileana sein, die ich vor drei Monaten kennengelernt hatte. Sie legte eine Hand auf den Saum meines Pullovers und ich zerrte mit aller Kraft an den Ketten.
„Zwecklos, Schwester. Verabschiede dich von dieser Missgeburt“, seufzte Ileana und senkte das Gefäß. Es gab einen Knall.
Ich hörte ein Klirren und Ileanas Aufschrei. Dann sah ich ihn und meine Augen weiteten sich: Der Dämon stand hinter Ileana. Seine Augen waren auf sie gerichtet, doch das Faszinierendste an ihm waren seine Flügel, die ich zum ersten Mal ausgebreitet vor mir sah. Sie hatten eine Spannweite von mindestens fünf Metern und schimmerten schwarz. Er sah Ileana konzentriert an und schien mit ihr zu sprechen.
Sie war von seinem Eingreifen offensichtlich so irritiert, dass sie sich keinen Zentimeter bewegte. Als sich Ileana plötzlich zu mir umdrehte, zuckte ich innerlich zusammen: In ihre Augen war das Blau zurückgekehrt, doch dieses Mal schimmerte es durch Tränen hindurch, die herabtropften und über
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Hanna Marten
Cover: Cover & Books Buchcoverdesign by Rica Aitzetmüller
Lektorat: Textstübchen Anita Held / www.textstuebchen.de
Tag der Veröffentlichung: 24.03.2019
ISBN: 978-3-7487-0034-0
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für jeden mit Fantasie im Herzen und mit dem Mut, sie in die Welt hinauszutragen