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Prolog

 

1668 Tschechoslowakei

 

In der Wirtsstube war es laut und es roch nach Bier. Der Mann nahm seinen Hut ab, den er als Schutz vor dem Regen aufgesetzt hatte.

Während er zwischen den anderen auf seinen Tisch zuging, nickten ihm einige Männer zu. Er erwiderte ihren Gruß höflich, jedoch ohne Interesse dahinter. Er gab dem Wirt im Vorbeigehen ein Handzeichen und setzte sich an den Tisch, der ihm vorbehalten war. Die Männer im Umkreis von fünf Tischen warfen ihm immer wieder neugierige Blicke zu. Der Wirt persönlich brachte ihm einen Krug Bier und murmelte ihm leise zu: „Dein Gast wartet im Hinterzimmer auf dich, Lukas.“ Er nickte ihm dankbar zu und drückte ihm unauffällig ein paar Silbermünzen in die Hand. „Richte ihm aus, ich komme, sobald ich ausgetrunken habe.“

Der Wirt entfernte sich, Lukas trank einen kräftigen Schluck Bier und trommelte mit den Fingern ungeduldig auf der Tischplatte herum.

Er konnte Geheimniskrämereien nicht ausstehen.

Er hatte schließlich Ländereien, die es zu bewirtschaften galt, und dafür erwarteten die Leute Profit. Sein Erfolg war ebenso der des Dorfes. Auf der anderen Seite war er hoch angesehen, was sich in der Umgebung schnell herumsprach.

Das hatte zu diesem mysteriösen Treffen geführt: Er hatte vor ein paar Wochen einen Briefumschlag in seiner Diele vorgefunden. Die Handschrift und die Tinte ließen darauf schließen, dass es sich um einen reichen Verfasser handelte. In dem Brief wurde er aufgefordert, an diesem Tag um diese Uhrzeit in dem Wirtshaus zu erscheinen.

Lukas war auf der Hut und hatte alle Möglichkeiten durchdacht. Daher hatte er sich im Vorfeld bemüht, mit seiner Anwesenheit hier sicherzustellen, dass man ihn nicht hinterrücks in eine Falle locken konnte. Fünfzig mehr oder weniger glaubhafte Zeugen konnten bestätigen, dass er sich wohlauf hier aufgehalten hatte, ehe er sich in das Hinterzimmer der Gaststube begeben hatte. Warum er von einem möglichen Verbrechen ausging? Er lebte mit seinen dreißig Jahren nach wie vor allein. Er hatte lediglich einen Verwalter, der im Haus nach dem Rechten sah, sowie mehrere Knechte, die er in einem Schuppen auf seinen Ländereien untergebracht hatte. Sein Verwalter war erkrankt und lag seit mehreren Wochen im Bett. Der Brief war über Nacht auf dem Tisch neben der verschlossenen Haustür aufgetaucht. Niemand, den Lukas gefragt hatte, hatte sich dazu bekannt.

Er fragte sich, wer so leise vorgehen konnte, dass nicht einmal Norman, der beste Spürhund des Dorfes, angeschlagen hatte. Er trank in Ruhe sein Bier aus und ging, so ruhig wie er nur konnte, in Richtung Hinterausgang.

Er bog mit einem letzten Blick zurück in den Schankraum nach rechts ab und klopfte sachte an die Tür zu seiner Linken. Er konnte die Blicke der anderen Gäste im Nacken spüren. Die Tür öffnete sich leise quietschend. Der Wirt hielt die Tür von innen auf und Lukas trat ein.

Er drehte sich um, doch der Wirt sackte zu Boden und die Tür fiel ins Schloss. Lukas trat einen Schritt näher und drehte den Wirt mit der Schuhspitze auf den Rücken. Seine Augen waren weit aufgerissen, Blut lief ihm aus dem Mund und er hatte eine Wunde am Hals. Er war tot.

 

„Sie haben mich warten lassen.“

Lukas fuhr herum und wäre beinahe über den Wirt gestolpert. Die Stimme einer Frau kam von der anderen Seite des Zimmers. Nun, da er sich von dem ersten Schrecken erholt hatte, bemerkte Lukas einen kleinen Kamin an der Wand, dem zwei Sessel zugeneigt waren. In dem einen saß eine Frau. Sie saß dort und sah in die Flammen. Ihr platinblondes Haar hatte sie hochgesteckt, ihr Reiseumhang war an den Schultern feucht vom Regen. Lukas überlegte, was diese Szene zu bedeuten hatte, und ob er zurück in den Schankraum gehen und Hilfe suchen sollte.

„Oh, das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun“, sagte die Frau und drehte ihren Kopf in seine Richtung. Sie hatte blasse Haut, einen fein geschwungenen Mund und große braune Augen.

„Was meinen Sie damit?“, fragte Lukas. Er blieb, wo er war. Die Frau stand langsam auf und warf dem Toten hinter ihm einen mitleidigen Blick zu.

„Schade um ihn. Hätte er mir mitgeteilt, dass Sie sofort zu mir kommen würden, hätte er dieses Zimmer unbeschadet verlassen.“

Lukas schluckte. „Wer sind Sie? Warum bin ich hier?“ Die Unbekannte blieb stehen und lächelte. Dabei offenbarte sie perfekte weiße Zähne.

„Setzen Sie sich, Lukas.“ Ihre Stimme klang einladend, doch Lukas zögerte weiterhin. „Setzen Sie sich …“, wiederholte die Frau und wies auf den zweiten Sessel am Kamin.

„… oder Sie liegen neben dem armen Tölpel.“

Lukas verstand und ging auf den Kamin zu.

Die Frau trat zur Seite und ließ ihn mit einem Lächeln vorbei treten. Als er sich gesetzt hatte, tat sie es ihm gleich.

„Sie haben ihn getötet“, sagte Lukas und bemerkte zum ersten Mal das Zittern in seiner Stimme.

„Offenkundig“, sagte sie und lächelte erneut. „Ich kann keine Zeugen gebrauchen, Mr Szabo.“ Lukas runzelte die Stirn.

„Das ist die einzige Tür im Raum. Die vielen Gäste im Raum müssen Sie ebenfalls gesehen haben.“

„So ist es, aber das ist nicht meine Angelegenheit. Ich habe Sie nicht kontaktiert, um gemütlich zu plaudern.“ Ihre Augen hatten die Farbe von Haselnüssen, doch im Schein des Feuers nahmen sie einen bedrohlich goldenen Schimmer an.

Lukas fragte sich insgeheim, ob er bereits anfing, Wahnvorstellungen zu entwickeln.

„Warum haben Sie mich kontaktiert?“

Sie schien nicht bereit zu sein, seine Fragen zu beantworten, denn sie lächelte erneut.

„Sie verfügen über das, was ich suche. Ich möchte einen Platz in Ihrem Haus.“ Lukas blinzelte erstaunt.

„Madam, ich kann Ihnen nicht folgen. Ich wurde hierherbestellt ohne eine Erklärung. Ich habe dieses Zimmer betreten, nachdem Sie offensichtlich den Wirt getötet haben, und nun möchten Sie mir sagen, dass Sie mich zu ehelichen wünschen? Sie werden verstehen, dass ich ablehnen muss.“

Sie lachte leise, offenbar amüsiert.

„Mr Szabo, Sie haben eine blühende Phantasie. Sie stellen die offensichtlichen Fragen noch nicht, doch ich bin mir sicher, wir finden eine Lösung für mein Problem. Warten Sie hier, bitte.“ Sie stand auf und trat über den Toten hinweg zur Tür.

Lukas wagte es nicht, den Kopf zu wenden, um sehen zu können, was sie tat. Die Tür war angelehnt worden, sie sprach offenbar mit jemandem. Als sie wieder eintrat und sich ihm gegenübersetzte, hielt sie ein schlafendes Baby im Arm, eingewickelt in eine grüne Decke. Lukas runzelte die Stirn. „Ich werde Ihnen die Situation erklären, Mr Szabo. Wenn Sie mir aufmerksam zuhören, werde ich Ihnen das sagen, was Sie wissen müssen. Haben Sie das verstanden?“ Lukas nickte. „Ich verstehe.“

„Es geht um meine Tochter“, sagte sie und lächelte auf das schlafende Baby hinab. „Sie kam vor wenigen Wochen, am achtundzwanzigsten Juli zur Welt. Ihr Vater ist ein edler Gentleman, der großes Ansehen genießt. Doch er ist nicht mein Ehemann. Ich befinde mich in einer Situation, die es mir unmöglich macht, meinen kleinen Engel zu behalten.“ Ihre Miene nahm traurigere Züge an und sie drückte das Baby fester an sich. „Ich bin hier, um Sie zu bitten, sich um meine Tochter zu kümmern, Mr Szabo.“ Lukas fand nach anfänglichen Schwierigkeiten seine Stimme wieder, die vor Erstaunen wegzubleiben drohte.

„Wie kommen Sie ausgerechnet auf mich?“

„Sie haben die besten Voraussetzungen dafür“, antwortete sie schlicht.

„Sie töten mich, wenn ich mich weigere, nehme ich an?“, fragte er.

Sie lächelte wieder. „Sie besitzen eine schnelle Auffassungsgabe.“ Lukas sah auf das Baby hinab.

„Sie ist ein Bastard, sagten Sie. Doch dasselbe wird man von ihr vermuten, wenn ich sie großziehe.“

Der Blick der Frau wurde von einer Sekunde zur anderen finster, ihre Augen, die er so faszinierend fand, verengten sich zu roten Schlitzen und er sprang erschrocken auf.

„Ich tue das nicht für meine Tochter“, zischte sie, ihre Stimme klang unmenschlich und ein tiefes Grollen drang aus ihrer Kehle. „Ihr Vater wird dafür büßen, was er mir angetan hat, Mr Szabo. Sie sind klug genug, um sich eine gute Geschichte für ihr Auftauchen auszudenken.“ Lukas schluckte. „Was sind Sie?“

„Spielt das eine Rolle?“ Lukas zögerte.

„Ich weiß gern, mit was ich es zu tun bekomme, Madam.“

Die Frau blinzelte und ihre Augen nahmen ihre braune Farbe an.

„Sie wird menschlich sein, wenn sie sie so behandeln, Mr Szabo.“

„Woher soll ich das wissen? Sie haben einen Menschen umgebracht. Ihr Auftreten ist unnormal. Von Ihrer … Tochter soll ich nicht dasselbe erwarten?“ Die Frau schüttelte den Kopf.

„Ich werde Ihnen jährlich eine feste Summe zukommen lassen. Ich werde Ihre Farm fördern und Ihnen Arbeiter schicken, sollten Sie jemals in eine Krise geraten. Ich bin keine Frau von nebenan, wie Sie sicher festgestellt haben. Meine Macht hat sich womöglich nicht bis hierher herumgesprochen, doch das ist der Grund, warum ich dieses Dorf und Sie ausgewählt habe.“

Lukas sah auf das friedlich schlafende Baby hinab.

„Ich brauche Zeit, um mich darauf vorzubereiten.“

Die Frau lächelte und leiser Triumph spiegelte sich in ihren schönen Zügen. „Vier Wochen, Mr Szabo. Mehr gebe ich Ihnen nicht. Sie wird nach Ablauf dieser Zeit bei Ihnen sein.“ Lukas nickte. „Dann kann ich gehen?“

„Selbstverständlich. Sollten Sie nach wie vor Zweifel haben, werden Sie sehen, dass ich durchaus überzeugend sein kann. Ich wünsche einen guten Heimweg.“ Lukas stand auf und ging so selbstsicher wie möglich durch den Raum.

Er machte dabei einen großen Bogen um den toten Wirt, öffnete die Tür und trat hinaus in den leeren Flur. Was er vorfand, war Stille.

 

Er war nicht lange in dem Nebenraum gewesen. Es müssten zumindest Geräusche vom Klirren der Krüge zu hören sein. Lukas ging den Flur herunter und bog um die Ecke. Was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Das, was die Frau mit überzeugend gemeint hatte, spiegelte sich in Blut an den Wänden wider. Die Menschen, die er vor wenigen Augenblicken noch lebend und lachend gesehen hatte, waren nur noch leblosen Hüllen, erstarrt in ihren grauenvollen letzten Sekunden …

 

 

 

10 Jahre später

 

 

Das Mädchen rannte über die Wiese auf das Haus zu. In der Hand hielt es einen Blumenstrauß.

„Martha!“, rief sie fröhlich, als sie durch die Hintertür des Hauses hineingestürmt kam. Die Köchin des Hauses, die in diesem Moment Teigwaren zubereitete, griff sich vor Schreck ans Herz.

„Du meine Güte, Kind. Wie schaffst du es immer wieder, lautlos zur Tür hereinzukommen?“

Das Mädchen zuckte mit den Schultern.

„Sie werden alt, Martha.“ Die Köchin schnaubte entrüstet. „Solange ich hier stehe und deinen Vater und dich bekoche, falle ich nicht tot um.“

Das Mädchen füllte einen Krug mit Wasser aus dem Eimer neben der Tür und steckte den Blumenstrauß hinein. „Glaubst du, er gefällt Papa?“

Martha strich sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn und lächelte ihr zahnlückenreiches Lächeln. „Er ist wunderschön, Sienna. Ich denke, er wird ihm gefallen. Aber sei leise, wenn du die Treppen hochgehst. Wenn er schläft, solltest du ihn besser nicht wecken.“ Sienna stieg die Treppe hinauf, den Behälter mit den Blumen hielt sie dabei fest umklammert. Dabei gab sie sich Mühe, die knarrende vorletzte Stufe zu überspringen.

Lukas Szabo war seit drei Wochen erkrankt und verließ sein Bett kaum noch. Sie klopfte sachte an die Tür und drückte vorsichtig die Klinke herunter. Ihr Papa lag schlafend im Bett und bemerkte Siennas Hereinkommen nicht.

Das kleine Mädchen schlich auf Zehenspitzen zum Bett und stellte die Blumen vorsichtig auf dem kleinen Beistelltisch ab. Doch als sie zu ihrem Papa blickte, wich sie schlagartig zurück: Er sah sie an.

„Papa?“, fragte sie zögernd.

Lukas Szabos Gesicht war gerötet, seine Augen weit aufgerissen. Sienna hatte ihn stets als ernsten und strengen Mann gekannt. Er war stets stark gewesen. In ihrer Gegenwart hatte sie sich sicher gefühlt. Doch nun hatte ihn die Krankheit zermürbt und, wie es schien, auch all jene Eigenschaften, die auch sie sich immer gewünscht hatte. Er murmelte etwas Unverständliches und Sienna kam näher, nahm seine Hand mit ihren Händen und umklammerte sie fest.

„Papa? Ich bin´s, Sienna.“

Lukas Szabo Atmung wurde schneller und Sienna bekam Angst. „D-Du b-bist nicht m-eine Tochter.“ Schritte ertönten auf der Treppe und Martha erschien.

„Kind? Was tust du da?“

Sie kam schnell herein, doch Sienna wich vor ihr zurück. „Lass mich in Ruhe! Hör auf, Papa geht´s nicht gut!“ Doch Lukas Szabo riss ihr seine Hand weg und sah mit leerem Blick zu ihr auf.

„Bring diesen Dämon raus!“, rief er halb von Sinnen aus und drehte sich auf die andere Seite, die Augen weit aufgerissen. Martha packte Sienna unter den Achseln und hob sie hoch.

Der Anblick ihres Vaters brannte sich in ihr Gedächtnis ein und überlagerte alles andere, was sie von ihm gekannt hatte. Das kleine Mädchen verlor an jenem Tag die Eigenschaft, Kind zu sein. Zu früh wurde sie mit der Identität konfrontiert, die sie eines Tages einholen würde …

 

 

 

 

Teil 1 Sienna Kapitel 1



November, London 2011



Im Angesicht des Grauens war es schwierig, Haltung zu bewahren:

Das Jugendheim in Mayfair war zerstört, das eingerissene Loch in der Mauer, an dessen Stelle einst das Eingangstor gestanden hatte, war mit gelbem Band abgesperrt worden.

Es war ein kühler Herbsttag, der Winter schickte seine Vorboten mit Morgentau und Frost voraus. Warum stand ich hier? Ich wickelte meinen Schal fester, den ich mir als Schutz vor der Kälte um den Hals gelegt hatte, und ging langsam davon. Vorbei an den Zahlen Zwanzig bis Dreißig, die mit Blut an die Mauern geschmiert worden waren, verließ ich das ehemalige St. Paul.

Seit dem „Massaker“, wie es die Zeitungen genannt hatten, waren vier Wochen vergangen.


Ich hatte mich von meinen Verletzungen soweit erholt, dass ich reisen konnte. Doch mein Körper erinnerte mich bei jedem Schritt, den ich tat, daran, dass ich es mit einem Vampir zu tun gehabt hatte: Meine Wunden, die aufgrund des Giftes langsamer verheilten als gewöhnliche, schmerzten nach wie vor.

Doch ich ertrug sie stillschweigend. Selbst die Ärzte, die mich wöchentlich auf Sciver´s End, dem Landsitz der Familie Van Sciver untersucht hatten, konnten mich nicht dazu bringen, meine Wunden in Ruhe verheilen zu lassen. Mein Wille, das Geschehene der vergangenen Wochen zu verstehen, war zu groß, um untätig rumzuliegen.

Seit drei Tagen befand ich mich in London auf Spurensuche. Ich erhoffte mir keine konkreten Ergebnisse. Ich wusste, auf was ich treffen würde, wenn ich nach ihnen suchen würde:

Leid und Tod. Überall dort, wo Joanna Saintclair aufgetaucht war, war Blut geflossen, hatte es Tote gegeben oder waren Menschen verzweifelt.

Menschen wie die Angehörigen der Mordopfer im St. Paul oder in der Klinik, in der sie stationär untergebracht worden war.

Ich fuhr ein paar Stationen mit der Tube bis zum Hyde Park Corner. Ein Blick hinüber zum Mandarin Hyde Park Hotel reichte aus, danach wandte ich mich von den Erinnerungen, die das mit sich brachte, ab und betrat den 1,4 Quadratkilometer großen Park. Je näher ich dem Serpentine See kam, desto langsamer wurden meine Schritte. Es war, als stünde ich wieder an dem Punkt, an dem diese Geschichte vor Wochen angefangen hatte. Da war sie. Die Bank, auf der ich gewartet hatte. Nur war sie besetzt.

„Hallo Sienna. Ein schöner Morgen, nicht wahr?“

Ich blieb zwei Meter vor der Bank stehen und sah über den See.

„Wo hast du den Vorsprung rausgeschlagen? Als ich beim St. Paul abgebogen bin, warst du erst auf der anderen Seite des Grundstücks“, sagte ich.

Phil zuckte mit den Schultern. „Ich bin gelaufen. Womöglich hast du getrödelt?“ Ich warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. „Was willst du hier?“

„Wir haben uns Sorgen um dich gemacht, Si. Einfach von Sciver´s End zu verschwinden … Wir dachten, du machst irgendeine Dummheit.“

Ich lachte amüsiert. „Ich und eine Dummheit begehen? Ich bin ausreichend klar im Kopf.“

Nun war es an dem Vampir, zu lachen.

„Nach dieser Sache wäre jeder neben der Spur. Selbst jemand wie du, der schon alles Mögliche gesehen hat.“

„Nun, das Mögliche vermutlich nicht“, erwiderte ich und ließ meine Augen golden aufblitzen.

Phil seufzte. „Si, du hast miterlebt, wie jemand, der dir sehr nahesteht, zu einem kaltblütigen Vampir mutiert ist.“ Ich spürte, wie das vertraute Fallgefühl wieder in mir aufstieg, und schluckte.

„Stimmt, jetzt fällt es mir wieder ein, Phil. Du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Was machst … oh, natürlich. Guten Morgen, Ileana.“

Ich hatte ihre Schritte gehört und ihren Geruch vernommen, bevor ich mich umgedreht und sie gesehen hatte. Phils Blutsverwandte, ein Partner gleichen Blutes und verbunden durch ein psychisches Band, war auf dem Kiesweg aufgetaucht. Ihr langes schwarzes Haar trug sie offen unter einer grauen Wollmütze. Passend dazu hatte sie sich einen grauen Mantel umgelegt, der sie vor der vorwinterlichen Kälte schützte.

„Hallo Sienna, schön, dich zu sehen.“

Aus ihrer Stimme konnte ich deutlich einen kühlen Unterton heraushören. Sie war wenige Tage nach dem Verschwinden ihres Bruders Vincent zu mir gekommen und hatte mir versichert, dass sie mir nicht die Schuld an dem gab, was ihm zugestoßen war.

Doch da war eine Spur von Misstrauen in ihrem Lächeln gewesen. Wer konnte es ihr verdenken? Ich hatte ihrem Bruder das Herz gebrochen und ihn seinem Schicksal überlassen.

„Du wolltest wissen, was wir hier tun? Die Wahrheit herausfinden. So wie du die Sache angehst …“, fing Phil an, doch ich unterbrach ihn.

„Ich gehe hier überhaupt nichts an! Ich versuche, damit fertigzuwerden.“

„Indem du die Gebäude anstarrst?“, fragte Ileana.

„Ihr habt kein Recht, mir nachzuschnüffeln“, sagte ich ruhig und sah die beiden abwechselnd an.

„Es tut mir leid, was passiert ist und auch, dass die Familie darunter leiden muss, doch ich kann nichts davon ungeschehen machen. Ich werde herausfinden, wie es dazu kam, und werde versuchen, es wieder gutzumachen. Aber wenn ihr hier herumsteht und meint, mich beratschlagen zu müssen, dann seid ihr hier falsch!“

Ileana und Phil wechselten beide überfordert wirkende Blicke. Doch das war das letzte, was ich nun brauchte: Vampire, die nicht hier sein wollten.

„Ihr habt es gut gemeint und dafür bin ich dankbar, wirklich.“

Ich lächelte ihnen ermutigend zu.

„Es ist meine Art, damit fertig zu werden. Wie es weitergehen soll und wie wir eine Lösung finden, ist eine andere Sache.“ Ich ging hinüber zu Ileana und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

„Wir holen Vincent zurück. Egal, wie.“

Sie nickte. „Keine Alleingänge mehr. Phil und ich halten einen solchen Schock nicht noch einmal aus.“ Phil räusperte sich. „Und ich halte ihren Schock und meine Sorge darüber, welchen Mist Oliver wieder gebaut hat, nicht noch einmal in dieser Kombination aus.“

„Oliver ist raus aus der Sache. Er lässt es sich in Brasilien sicher gut gehen“, erwiderte ich.

Mein Ex-Liebhaber und Informant, Oliver Aragon, hatte sich kurz nach dem Vorfall im St. Paul in einen Flieger zu seiner Mutter gesetzt.

Er war der einzige außer Joanna Saintclair, der wusste, was mit Vincent genau passiert war. Zumindest ging ich davon aus. Es war auch gut möglich, dass er ohnmächtig in einer Ecke gelegen hatte …

„Was sagt Arina überhaupt zu eurer spontanen Reise? Sie muss außer sich sein.“

Ileanas und Vincents Tante, das ehemalige Clanoberhaupt der Familie Van Sciver, hatte die Zwillinge vor acht Wochen bei sich aufgenommen und ihnen die Wahrheit über ihre Herkunft verraten. Bis zu diesem Zeitpunkt waren sie davon ausgegangen, normale Teenager zu sein.

Phil zuckte mit den Schultern. „Ihr geht es wegen Vincent sowieso schon schlecht. Das Blutsband zwischen den beiden scheint durch seine Verwandlung gekappt worden zu sein.

Es scheint, als hätte sie den Draht zu ihm verloren.“ Als ich diese Aussage hörte, lief mir ein Schauer über den Rücken: Eine Blutsverbindung konnte nicht einfach so getrennt werden. Lediglich die Aufnahme von anderem Vampirblut war in der Lage, eine solche Verbindung zu zerstören.

Eine solche Aufnahme dauerte, wenn es richtiggemacht wurde, mehrere Tage. Wie war es möglich, dass es Joanna innerhalb weniger Minuten gelungen war?

„Sienna?“ Ich erwachte aus meinem Gedankentraum. „Wir müssen zurück nach Edinburgh.“



*





„Wir sitzen im Zug.“

Phils Gesicht war die Überraschung anzusehen. Ich saß ihm gegenüber, während Ileana sich auf dem Bahnsteig an einem Stand eine Zeitung kaufte.

„Wir haben einen Privatjet zur Verfügung und fahren mit dem Zug?“

„Rekapitulieren wir die letzte Reise mit einem Privatjet, in dem ihr gesessen seid“, sagte ich langsam. Phil zuckte mit den Schultern.

„Das war eine einmalige Sache, Si.“

„Und ich gehe auf Nummer sicher. Eine Zugfahrt hat ihren Charme, findest du nicht?“ Er sah mich an, als könne er nicht glauben, was er soeben gehört hatte.

„Ist das dein Ernst? Seit wann gibst du dich solchen Dingen hin? Diese Seite kenne ich überhaupt nicht an dir.“

Ich senkte den Blick und runzelte die Stirn. „Ich wollte die Gelegenheit nutzen, um in Ruhe mit euch zu sprechen. Allein und ohne Zeugen. Trotz all eurer Bemühungen, mich von einer Zusammenarbeit zu überzeugen …“ Ich machte eine Pause und wies mit einem Kopfnicken nach draußen. „… weiß ich, dass Ileana mir misstraut.“

Phil folgte meinem Blick. „Gut erkannt. Als sie hörte, was passiert ist, wollte sie dich umbringen. Ich habe ihr geraten, damit zu warten, bis du wieder auf den Beinen bist. Aber ich glaube, sie hat sich mittlerweile beruhigt.“

„Wie ich deine offene Art schätze“, entgegnete ich. „Du hast mit ihr geredet, stimmt´s?“

Phil lächelte mich an. „Sie ist noch sehr impulsiv. Das wird sich legen, wenn die Verwandlung sich … der finalen Phase nähert. Es wird bald soweit sein. Sie braucht immer mehr Blut am Tag und weniger von mir.“

„Es stimmt also nach wie vor zwischen euch?“, fragte ich. Er nickte. „Selbstverständlich.

Wir haben ein vertrautes Verhältnis und sie lernt schnell.

Ich kann mit ihr reden und sie trennt das, was sie von mir lernt, von dem, was wir freundschaftlich austauschen. Das schätze ich an ihr.“

Ich nickte anerkennend. „Das freut mich für euch beide. Sicher sind deine Eltern stolz auf dich.“

Phils Gesicht nahm einen ernsteren Zug an. „Mom ist es. Sie würde Ileana am liebsten adoptieren, denke ich. Sie hat sie bereits in Rom ins Herz geschlossen. Ich wünschte nur, Dad würde sie kennenlernen.“ In diesem Moment spürte ich eine Kälte an meinen Füßen emporgleiten und weiter zu meinen Knien und ich bekam eine Gänsehaut.

„Phil“, ermahnte ich ihn. Er riss die Augen auf und die Kälte kroch langsam wieder an meinen Beinen herunter und verschwand.

Es war zwar nur ein kleiner Ausbruch gewesen, doch ich als Werwolf bin in der Lage, Stimmungen und Emotionen der Vampire wie austretendes Gas zu spüren. Genauso ist es meinen unsterblichen Gegenübern möglich, diese zu lenken und wieder zurückzuziehen.

„Entschuldige“, sagte er und tätschelte kurz mein Knie. In diesem Moment ging die Schiebetür auf und Ileana stand dort. „Störe ich?“, fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Nein“, antworteten wir und lehnten uns demonstrativ in unsere Sitze zurück. Auf Phils Gesicht trat eine Spur Verärgerung und ich bemühte mich, eine neutrale Miene aufzusetzen.

Ileana setzte sich ohne ein weiteres Wort neben Phil und vertiefte sich in die Zeitung.

Ich beließ es dabei, sie zunächst in Frieden zu lassen. Es war später Vormittag und wir würden erst am Abend in Edinburgh eintreffen, also bliebe mir genug Zeit, das zur Sprache zu bringen, was ich ihnen zu sagen plante.


Am späten Nachmittag, als wir die Grenze nach Schottland überquert hatten und Ileana ihre fünfte Partie Schach gegen Phil gewann, wachte ich aus einem kurzen Nickerchen auf.

„Wer hat gewonnen?“, fragte ich schlaftrunken, während sie ihre Figuren neu anordneten.

Ileana hob in Siegerpose beide Arme. „Fünfmal hintereinander“, verkündete sie stolz.

Wie sie so im Schneidersitz auf der gepolsterten Bank saßen und sich spielerisch feindselige Blicke zuwarfen, empfand ich eine angenehme Ruhe in mir aufsteigen.

„Verschiebt eure sechste Partie doch für mich“, warf ich ein und beide sahen mich an. „Ich möchte euch etwas erzählen.“

Nachdem sie ihr Schachbrett weggeräumt und mir ihre volle Aufmerksamkeit geschenkt hatten, holte ich noch einmal tief Luft und begann:

„Was würdet ihr sagen, wie alt ich bin?“

Ileana blinzelte. „Fünfundzwanzig.“

Phil schnaubte. „Darauf antworte ich nicht.“

„Physisch liegt Ileana gar nicht weit daneben“, räumte ich ein und warf Phil einen finsteren Blick zu. „Ich war zwanzig Jahre alt, als ich verwandelt wurde. Im Jahr 1688.“


Kapitel 2



„Ich wuchs als Kind auf dem Landgut meines Vaters Lukas Szabo auf. Meine Mutter starb bei meiner Geburt und mein Vater hatte immer viel auf dem Land zu tun. Großgezogen hat mich genau genommen unsere Haushälterin und Köchin, Martha. Sie war alleinstehend und wie eine Mutter für mich. Mein Vater weigerte sich, ein weiteres Mal zu heiraten, also war klar, dass ich selbst früh verheiratet werden musste, um das Land, das mein Vater bebaute, mit meiner Familie weiterführen zu können. Er ließ mir trotz meines Geschlechts eine gute Bildung zukommen, was für damalige Verhältnisse unüblich war. Es mangelte ihm allerdings an Empathie und Zuneigung für mich.“

Ein bitteres Lächeln huschte über meine Lippen.

„Es gab eine Phase in meinem Leben, als er an Fieber erkrankte. Es war ungewiss, ob er überleben oder sterben würde. Ich besuchte ihn eines Tages, um ihm frische Blumen als Trost zu bringen. Nun, er bezeichnete mich als Dämon und ließ mich von Martha aus dem Raum werfen. Danach kapselte ich mich ab. Da er gutes Geld verdiente, war es ihm möglich, sich von einem Arzt behandeln zu lassen. Nach ein paar Wochen war er wieder auf den Beinen. Doch was er mir damals gesagt hatte, vernichtete mein Verhältnis zu ihm für immer.

Als ich sechzehn war, wurde ich verheiratet. Er hieß Jacob und besaß ebenfalls Land abseits unseres Dorfes. Ich hätte es schlechter treffen können, wir verstanden uns gut.

Es war jedoch nicht die große Liebe, wie man sie heutzutage gern ausschlachtet“, fügte ich noch lächelnd an.

Weder Ileana noch Phil sprachen ein Wort. Sie sahen mich wie hypnotisiert an, also fuhr ich fort:

„Kurz nach der Hochzeit starb mein Vater, wie ich heute vermute, an einem Herzinfarkt. Jacob und ich entdeckten einige Tage später, dass er jahrelang Lieferungen von Getreide, Obst und Gemüse erhalten hatte. Besser gesagt, Samen zum Anbau. Wir waren nie in der Lage, die Quelle ausfindig zu machen. Die Lieferungen kamen nachts mit einer Kutsche. Wir hörten eines Nachts das Klopfen an der Tür, drei feste Schläge. Doch als wir das Bett verließen und nach unten gingen, um nachzusehen, waren nur noch Spuren auf dem Weg zu sehen, wo Pferde und die Kutsche gestanden hatten.

Alles, was dort stand, waren Holzkisten voller Ernte oder Samen, die wir anpflanzen konnten. Martha, die uns Gott sei Dank erhalten geblieben war, berichtete mir nach diesen Vorkommnissen, dass diese Lieferungen kurz nach meiner Geburt angefangen hatten, nachdem sie angestellt worden war. Das erklärte den Erfolg meines Vaters, jedoch nicht den Grund. Wir nahmen sie weiterhin an, denn wenn es uns geschenkt wurde, warum sollten wir nicht daraus Profit schlagen? Anderthalb Jahre später, kam unser Sohn Louis zur Welt.“

Ileana schluckte und Phil runzelte die Stirn.

Ich sah nach draußen auf die schottischen Highlands, die um diese Jahreszeit im Nebel an uns vorbeizogen. „Jacob, Louis, Martha und das Gut. All das machte mein Leben endlich zu etwas, das als solches bezeichnet werden konnte. Ein schönes Leben. Ich war glücklich und hatte mit der Erziehung eines Kindes und dem Führen meines Haushaltes genug zu tun, während Jacob sich um das Land kümmerte.

Doch dann, eines Tages, hörten wir von den Überfällen auf benachbarte Länder und ihre Dörfer: Sie kamen mitten in der Nacht, lautlos und töteten schnell.“ Ich legte meine Hand auf die Fensterscheibe. „Es wurde in den Wirtsstuben geflüstert und auf den Straßen, während man Waren anbot. Vor den Türen der Kirche, einfach überall. Wir hielten es für böses Gerede und glaubten nicht daran. Bis Martha im Sterben lag.“

Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen, und eine Berührung an der Schulter. Ileana saß neben mir und berührte mich zögernd mit der Hand. „Martha lag tagelang im Bett und sprach nur noch unter großen Anstrengungen. Das Atmen fiel ihr schwer. Doch eines Morgens rief sie mich allein zu ihr. Ich setzte mich an die Bettkante und sie erzählte mir von einem Vorfall, der sich im Jahr 1688 ereignet hatte.

Damals wurde unten im Dorf die Kundschaft eines Wirtshauses massakriert, innerhalb einer Nacht. Der einzige Überlebende war laut ihrer Aussage mein Vater. Doch die Beschreibung, wie die Leichen in diesem Haus zugerichtet worden waren, passten exakt auf die Erzählungen aus dem Umland.“

„Wie ist das möglich? Waren es dieselben Täter?“, fragte Phil. Ich zuckte mit den Schultern.

„Möglich. Hätte ich die Leichen damals gesehen … könnte ich euch heute mit Bestimmtheit sagen, ob es sich um die gleichen Täter handelte.“

„Es waren also Werwölfe?“, fragte Ileana. Ich nickte. „Die Bedrohung war da, doch aufhalten konnten wir sie nicht. Es war … ein Gerücht, das sich eines Nachts bewahrheitete, als wir schliefen. Unser Dorf war groß und ich hörte es zunächst nur: Das Zersplittern von Holzwänden, die Schreie und … die grauenvollen Ermordungen der Bewohner.“ Ich ballte die Hand zur Faust und hinterließ dabei Kratzspuren auf dem Glas.

„Meine Familie überlebte es nicht. Ich versuchte, meinen Sohn zu retten, doch das letzte, was ich sah, waren die leuchtenden Augen des Wolfes, der mich angegriffen hat.“

Die Lampe an der Decke ging an und ich registrierte, dass es bereits dämmerte.

„Nicht gerade eine Gute-Nacht-Geschichte“, bemerkte Phil und sah mich an. „Doch es tut mir leid, was dir passiert ist. Ich hätte niemals gedacht, dass du etwas derart Schlimmes durchleben musstest.“ Ich lächelte gezwungen.

„Heute bin ich darüber hinweg. Es ist lange her und ich habe gelernt, damit zu leben.“

„Aber du warst in diesem Dorf die einzige, die in einen Werwolf verwandelt wurde?“, fragte Ileana.

Ich seufzte und sah sie an. „Nein, das war ich nicht. Doch bevor der Fluch sich bei den anderen Bewohnern ausbreiten konnte, wurden alle getötet. Die Werwölfe, die damals auszogen, um brandschatzend und mordend durch den Osten Europas zu ziehen, wurden schon seit langem von deinem Vater und seinen engsten Freunden, Will Aragon und Lucan Saintclair, beobachtet. In dieser Nacht schlugen sie mit ihren Vampiren zu und töteten die Werwölfe. Mich fanden sie und ließen mich am Leben. Seitdem lebe ich unter ihnen.

Es war eine Entscheidung aus Dankbarkeit, trotz unserer natürlichen Feindschaft. Simon entschied sich für mein Leben und ich erleichtere ihm sein heutiges.“

„Werwölfe übertragen ihren Fluch durch einen Biss, nicht wahr? Genauso wie wir?“, fragte Phil nach. Ich schüttelte den Kopf. „Nicht ausschließlich. Es stimmt, dass der Fluch durch einen Biss auf einen Menschen übertragen werden kann. Doch es ist auch möglich, als Werwolf geboren zu werden.

Aber da bin ich keine Expertin. Auch die Annahme, dass wir uns nur bei Vollmond in einen Werwolf verwandeln, stimmt nicht. Es gab eine Zeit, in der das so war. Vampire laufen heutzutage auch im Sonnenlicht herum, nicht wahr? In meinem Fall hat die Evolution genauso zugeschlagen, selbst wenn ich nicht verstehe, was meine Art davon hat. Fakt ist, dass ich mich nach Belieben in einen Wolf verwandeln kann, doch es ist mir nicht an Vollmond möglich. Im Gegenteil: Ich bin an Vollmond so menschlich wie vor meiner Verwandlung.“

„Wie kompliziert ist das denn? Ich sehe darin keine Vorteile für dich“, bemerkte Phil finster.

Ich lächelte künstlich zurück. „Dein Mitleid ehrt mich zutiefst.“

Ileana räusperte sich. „Was hat Simon mit der ganzen Sache zu tun? In welcher Form hat er dich gerettet und … wovor hat er dich gerettet?“

Der Zug fuhr bereits durch Edinburghs Vororte. „Das erzähle ich euch später. Ich habe das Gefühl, wir sind bald am Bahnhof angekommen.“

„Bitte, Sienna. Ein Grund. Warum bist du bereit, dein Leben für ihn und den Clan aufs Spiel zu setzen?“, fragte Ileana hartnäckig.

„Weil er mich davon abgehalten hat, wahnsinnig zu werden. Ich hätte um ein Haar Lucan Saintclair ermordet“, antwortete ich gelassen. Ileana und Phil tauschten bestürzte Blicke. „Wir sind da“, bemerkte ich und wich weiteren Blicken aus.

Stattdessen sah ich aus dem Fenster und entdeckte eine vertraute Gestalt in der wartenden Menschenmenge auf dem Bahnsteig.

„So wie es aussieht, hat Arina von unserer Reise hierher erfahren.“


Es wurde höchst unerfreulich, um den Empfang am Bahnhof zu beschreiben.

Arina sah wütend aus und verströmte eiskalte Wellen, die mich bereits beim Aussteigen trafen. Zudem trug sie nur schwarz, sodass sie rundum für eine Killerin hätte gehalten werden können.

Da ich offiziell nicht mehr für Simon arbeitete und aufgrund ihrer Einladung nach Sciver´s End gekommen war, bekam Phil ihren Ärger besonders zu spüren, als wir gemeinsam im Auto in Richtung Melrose unterwegs waren.

„Ich wünsche eine Erklärung, Philipp. Ohne ein Wort mit Ileana nach London zu fahren, ist nicht gerade nach Lehrbuch, findest du nicht? Sie ist noch zu jung, um in einer Großstadt alleine mit dir herumzuspazieren!“

Ich schluckte und war dankbar, dass ich neben ihr saß und nicht zwischen Phil und Ileana, deren Gefühle nun sicherlich blank liegen mussten.

„Arina, ich bin ihr Blutsverwandter und …“, setzte Phil an, doch Arina ließ ihn nicht aussprechen.

„Richtig, du bist ihr Blutsverwandter. Du hast damit nicht zu entscheiden, wo sie sich aufhält und wann sie bereit ist, sich ihren Instinkten zu stellen, ohne einem Blutdurst zu erliegen! Ich habe die Verantwortung für euch alle, das heißt auch für dich. Ich kann dich also jederzeit wieder zurück nach Hause schicken!“ Danach herrschte Totenstille. Nicht einmal ich hatte das Gefühl, das Wort ergreifen zu müssen. Arina sah mich kein einziges Mal an.

Als wir zwei Stunden später vor Sciver´s End vorfuhren, stieg Phil aus und verschwand umgehend in Richtung Wald.

Ileana folgte ihm, sobald sie Arina einen bösen Blick zugeworfen hatte.

„Du hättest wissen sollen, dass sie dir folgen, Sienna.“ Arinas Stimme klang mit einem Schlag müde, als sie ausstieg und ich es ihr gleichtat.

„Verstehe, jetzt bin ich dran?“, fragte ich höflich, doch Arina schien auf eine angemessenere Antwort zu warten. Ich seufzte und spürte, wie ein Regentropfen auf meine Stirn fiel.

„Gehen wir rein“, sagte Arina und wir betraten das kleine Landhaus, das Simon van Sciver, Ileanas und Vincents Vater, vor Jahren hier erbaut hatte.

Eine Viertelstunde später saßen wir im Wohnzimmer vor dem Kamin. Draußen regnete es bereits in Strömen, doch von Ileana und Phil war noch nichts zu hören.

„Ich versuche, dir die gegenwärtige Lage zu erklären“, begann Arina, während ich ein paar Holzscheite zurechtrückte.

„Welche Lage? Die kenne ich bereits. Vincent lebt hier irgendwo im Wald und ernährt sich vermutlich von Tierblut, was ihn auf Dauer nicht zufriedenstellen wird …“, begann ich, doch Arina schüttelte den Kopf.

„Das meinte ich nicht, Sienna. Ich rede von Ileana und Phil. Du hast die zwei höchstens ein paar Stunden miteinander erlebt, doch selbst dir muss es aufgefallen sein.“ Ich setzte mich ihr gegenüber in den Sessel.

„Auf welche Vermutung spielst du an? Ich habe zwei.“

„Sie laufen Gefahr, sich ineinander zu verlieben“, sagte Arina. „Wie alle Blutsverwandten, zweifelsohne. Damit musst du rechnen, wenn ein Blutsband erschaffen wird. Da ist noch mehr, richtig?“ Arina nickte und ihre grauen Augen sahen ins Feuer. „Phil hat ausgezeichnete Arbeit geleistet.

Ich habe Michaela geschrieben und ihr von seinen Fortschritten hier berichtet. Ileanas Herz

wird bald aufhören, zu schlagen. Du weißt, was das heißt.“ Ich wusste es zu gut: Eine bestehende Blutsverbindung wird aufgelöst, sobald der umgewandelte Partner so viel Gift in seinem Körper reproduziert, dass das Herz automatisch zu schlagen aufhört. Die Verwandlung in einen Vampir ist somit abgeschlossen und Ileana wird ein anderes Verhalten an den Tag legen als jetzt. Ihr Mitgefühl, ihre Emotionen und all das, was ihre Menschlichkeit auszeichnet, werden hinter einer Maske verschwinden. Es war traurig, doch notwendig. „Ich verstehe noch nicht, was das mit Phil und ihr zu tun hat.“ Arina sah mich an.

„Er wird zurück nach Kanada gehen. Ich wollte ihn vorhin zwar nicht wirklich nach Hause schicken, doch ich finde, er sollte sich mit diesem Gedanken anfreunden. Er ist immerhin der zukünftige Clanführer seiner Familie. Es wird Zeit, dass er sich eine feste Blutspartnerin sucht.“

Ich atmete deutlich hörbar aus. „Arina … findest du nicht, dass du übertreibst? Entschuldige bitte, aber Phil ist nicht verpflichtet, Clanführer zu werden. Er ist nicht Darren Aragons Erstgeborener, und das weißt du.“

Arinas Blick bohrte sich in meine Augen.

„Du weißt es noch nicht.“ Ich blinzelte.

„Was?“ Arina faltete die Hände im Schoß.

„Oliver ist tot. Er wurde vor zwei Tagen tot in Sao Paolo aufgefunden. Es war ein Angriff der Familie Saintclair.“ Ich schloss die Augen und meine Hände krallten sich um die Sessellehnen.

„Es tut mir leid, Sienna. Aber so wie es aussieht, war Phils Abreise mit Ileana kein Versuch, dich zu finden, sondern …“ Arina suchte nach der richtigen Bezeichnung, die ich ihr resigniert abnahm: „Ein Fluchtversuch. Aber das passt nicht zusammen, Arina, sie wollten mit mir gemeinsam hierher zurückkommen um herauszufinden, was mit Vincent passiert ist.“

„Ich weiß. Aber stell dir vor, wie ich in dieser Lage dastand. Ich war erleichtert, als ich Simon anrief und er mir sagte, dass ihr euch im Vormittagszug nach Edinburgh befandet.“ Ich verdrehte unwillkürlich die Augen.

„Wie die Fliegen im Netz der Familie Van Sciver. Wie hat er uns ausfindig gemacht?“

„Die Familie hat Mittel und Wege.“

„Bemerkenswert, wie es ohne Anschluss an soziale Netzwerke geht, nicht wahr?“, bemerkte ich lächelnd. Arina erwiderte mein Lächeln. „Du hast dieses System mit aufgebaut. Du solltest die Letzte sein, die sich darüber aufregt.“

Kapitel 3



Phil stand auf dem Steg und rauchte, während Ileana an dessen Ende saß. Ich war mir nicht sicher, ob ich richtig handelte, indem ich das Thema zur Sprache brachte. Ich ging langsam, um im Falle eines Gesprächs der beiden schnell wieder kehrtzumachen. Doch es sah nicht danach aus, also betrat ich den Steg.

„Lass mich raten: Arina hat dich hierhergeschickt?“, fragte Phil und atmete Tabak aus, den ich naserümpfend zur Kenntnis nahm.

„Nein, ich bin aus freien Stücken hier. Ich muss ebenfalls mit euch sprechen. Ihr habt mir Dinge vorenthalten. Olivers Tod zum Beispiel.“

Phil ließ die Zigarette fallen, die durch den Schlitz zwischen den Brettern in den See fiel.

„Die Familie Aragon trauert um ihn. Ich gehöre nicht dazu, Si. Mein Bruder war ein selbstsüchtiges Schwein.“ Mir klappte der Mund auf.

„Das kannst du nicht ernst meinen, Phil.“ Er sah mich an, dann seufzte er.

„Nein, da hast du recht. Ich könnte vor Wut platzen, wenn ich ehrlich bin. Er war unsere einzige Chance, herauszufinden, wie es zu Vincents Verwandlung kam. Jetzt müssen wir uns auf das einzige konzentrieren, was wir dazu noch haben: Vincent selbst, nicht wahr?“ Ich hob eine Hand. „Bevor wir damit anfangen, möchte ich noch die Konsequenzen ansprechen, die Olivers Tod mit sich bringen. Ist dir der Gedanke schon gekommen?“

„Wir haben darüber gesprochen, Sienna.“ Dieses Mal meldete sich Ileana zu Wort, die bisher geschwiegen hatte. Sie hatte sich umgedreht und saß nun uns zugewandt auf dem Steg. Sie sah mir dabei in die Augen und ich registrierte das schöne Blau darin. Dasselbe wie bei Vincent; ich verscheuchte den Gedanken.

„Wir wissen, was es für die Aragons bedeutet. Für uns, sowie für meine Verwandlung.“

Ich hob beide Augenbrauen. „Ach ja? Darf ich fragen, wie ihr dazu steht?“ Phil schnaubte.

„Du darfst. Eine Antwort bleibt jedoch aus“, sagte er und seine Augen fingen an, zu glühen. „Misch dich nicht in unsere Angelegenheiten ein, Si.“

„Phil, ich wollte mich nicht einmischen …“, fing ich an, doch er unterbrach mich.

„So klang es aber. Ich habe es satt, dass sich andere in mein Leben einmische. Ich habe meine Entscheidung getroffen und die lautet, dass ich solange an Ileanas Seite bleibe, wie sie mich braucht.“ Ich nickte.

„Ich verstehe.“ Ileana stand nun auf und trat an Phils Seite.

„Wirst du uns unterstützen, Sienna?“, fragte sie. Ich drehte mich zur Seite und sah über die Oberfläche des kleinen Sees, der um diese Jahreszeit vom Laub der umstehenden Bäume bedeckt war, die an seinem Ufer standen.

„Warum sagt ihr mir nicht, was los ist?“ Ileana trat einen Schritt vor.

„Weil es nicht anders geht.“

Ich lachte freudlos.

„Der erste Tag unseres Bündnisses, um Vincent zu retten, und wir verschweigen einander bereits Wichtiges.“

Phil sah nach oben und schien nach Worten zu suchen, die ihm im Moment jedoch nicht über die Lippen kommen wollten.

„Wir waren immer ehrlich zu dir. Doch in diesem Sinne solltest du diese Entscheidung unsererseits als Blutsverwandte und Freunde akzeptieren.“

Es fiel ihm offenbar schwer, mir die Wahrheit zu verschweigen. Ich nickte.

„Dir kann ich dieses Versprechen bindend geben, du bist eine geborene Angehörige des Van-Sciver-Clans. Ich schwöre dir, dass ich eure Angelegenheit keiner weiteren Person gegenüber erwähnen werde, bis ihr diesen Schritt getan habt.“ Ileana sah mich einen Moment lang sprachlos an, dann umarmte sie mich stürmisch, sodass ich ein paar Schritte nach hinten treten musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. „Danke“, flüsterte sie mir ins Ohr. Als sie mich losließ, sah ich Tränen in ihren Augen.

„Keine Ursache“, erwiderte ich verlegen.

„Phil? Was ist los?“, fragte Ileana plötzlich und ich wandte mich dem anderen Vampir zu, der uns den Rücken zugekehrt hatte. Sein Körper war angespannt und nun sah ich auch, warum: Am Ende des Steges stand Vincent.

Nur sah er nicht aus wie Ileanas Zwillingsbruder. Sein Haar war zerzaust und glatt, seine Wangenknochen stachen deutlicher hervor und warfen Schatten auf seine blasse Haut. Er trug nach wie vor seine Kleidung, die er vor Wochen bei dem Angriff getragen hatte: Jeans, Pullover und einen langen schwarzen Ledermantel. Doch seine Augen waren die größte Veränderung, wie sie uns rot leuchtend entgegenstarrten und uns alle drei gleichermaßen zu lähmen schienen. Ileana und Phil schienen wie erstarrt, da sie Vincent zuletzt vor seiner Verwandlung gesehen hatten. Ileana neben mir bewegte sich, doch Phil war zur Stelle und packte sie an der Schulter, um sie zurückzuhalten.

„Rühr dich nicht vom Fleck“, sagte er angespannt.

Ich stand nun hinter den beiden und sah geradewegs in Vincents Gesicht, das vollkommen ausdruckslos war.

„Lasst mich mit ihm sprechen.“ Ich ging ein paar Schritte nach vorne an Ileana und Phil vorbei, bis ich drei Meter vor ihnen stand.

Vincents Körperhaltung veränderte sich plötzlich: Er trat einen Schritt nach vorn, verharrte kurz und schlug dann mit voller Kraft auf den Steg ein. Das Holz splitterte, der Steg schwankte und ich rannte auf ihn zu.

Ich spürte, wie das Blut in mir in Wallung geriet und meine Temperatur anstieg. Ein Zeichen dafür, dass ich jederzeit bereit war, mich zu verwandeln. Doch das konnte ich jetzt nicht tun. Vincent schien mich kommen zu sehen, er sprang zur Seite und ich landete auf dem Waldboden. Phil und Ileana tauchten neben mir auf. Der Steg schien zwar beschädigt, ging jedoch nicht zu Bruch.

Vincent stand nun an einen Baum gelehnt.

„Was willst du hier, Vincent?“, fragte Phil.

Er antwortete nicht. Seine Augen glühten wieder auf, so als würde jemand sie ein- und ausschalten. Sein Oberkörper neigte sich vor und er suchte mit einer Hand am Baum Halt. Zögernd ging ich wieder auf ihn zu, doch er hob den Kopf und fauchte mir entgegen, die Zähne gefletscht und mit hasserfülltem Blick. Dieser Anblick ließ mich beinahe zurückweichen, doch ich blieb stehen.

„Vincent“, sagte ich klar und deutlich, die Augen auf sein Gesicht gerichtet. Sein Blick blieb auf meinem Gesicht haften und ich spannte die Schultern an.

„Sieh. Mich. An“, sagte ich, meine Stimme nach wie vor erhoben. Meine Augen begannen unter der Anstrengung, nicht zu blinzeln, feucht zu werden. Vincents Körper wurde ruhiger, er sah mich weiter an und ich wagte mich weiter vor, bis ich nur noch einen Meter von ihm entfernt stand.

Womöglich war es Wahnsinn, doch ich ging auf die Knie und Vincent folgte meiner Bewegung und sank mir gegenüber zu Boden, die roten Augen ruhig auf mich gerichtet.

„Ich werde dir nichts tun.“ Ich blieb sitzen und versuchte, den Blickkontakt langsam abzubauen, indem ich meine Augen bewegte, aber dennoch in seinem Fokayus hielt.

„Sag mir, warum du hergekommen bist“, sagte ich. Er öffnete den Mund und sprach mit brüchiger Stimme: „Ich suche sie überall.“ Obwohl ich die Antwort bereits kannte, fragte ich: „Wen suchst du?“ Vincent begann, erneut zu zittern, und ich fixierte meinen Blick wieder auf seine Augen.

„J-Joanna.“ Seine Lippen zitterten, dann sank er auf dem Waldboden zusammen und blieb regungslos liegen. Stille.

Ich wandte mich Ileana und Phil zu, die mich mit offenem Mund anstarrten. Als ich sprach, bemerkte ich, dass ich genauso zitterte, wie Vincent es soeben getan hatte.

„Wir sollten ihn sicherheitshalber fesseln und … ins Haus bringen. Jemand muss Arina holen, damit sie nicht zu überrascht ist. Phil, kriegst du das hin?“

Er nickte stumm und huschte davon. Ileana trat nun näher und kniete sich neben ihren bewusstlosen Bruder.

„Was war denn das gerade?“, fragte sie und sah mich an.

Ich schluckte und setzte mich erschöpft auf den Boden. „Meine Fähigkeiten, Ileana. Ich kann Vampiren meinen Willen aufzwingen, wenn ihre Widerstandsschwelle niedrig ist. Da Vincent nicht er selbst ist, war das in seinem Fall recht einfach.“

Ileana blinzelte. „Das können Werwölfe? Das war mir nicht bekannt.“ Ich öffnete den Mund, doch in diesem Moment kamen Phil und Arina zwischen den Bäumen hervor.

„Oh mein Gott“, hörte ich Arina murmeln.

„Lange Geschichte“, ergänzte Phil und warf mir einen vielsagenden Blick zu, der bedeutete, dass er Arina nicht genau erzählt hatte, warum Vincent plötzlich hier lag. „Phil, trag ihn bitte rein, bevor wir noch handgreiflich werden müssen“, sagte Arina.

Kapitel 4



Toronto


Die Lampe knallte an die Wand und zerschellte. Danach die Vase über dem Kamin, im Anschluss landete die Standuhr im Feuer. Joanna packte gerade den Stuhl vom Beistelltisch, doch dann räusperte sich jemand hörbar an der Tür und sie hielt inne.

„Mutter“, sagte sie langsam und neigte den Kopf.

„Was hat das hier zu bedeuten?“, fragte die Frau und kam auf ihre Tochter zu.

„Vater hat mir mitgeteilt, dass ich hier in Kanada bleiben soll.“ Ihre Wut darauf war größer denn je, doch sie versuchte, in der Gegenwart ihrer Mutter Haltung zu bewahren.

„Da hatte er absolut recht, Schätzchen“, sagte die Mutter und ihre braunen Augen verengten sich zu Schlitzen. Sie hob eine Hand und strich ihrer Tochter über die Wange. „Und das weißt du auch. Wir dürfen unseren Plan nicht gefährden, indem du ein weiteres Mal zu viel ausplauderst, verstehst du das nicht?“ Sie lächelte und zeigte dabei ihre Vampirzähne. Joanna nickte gehorsam. „Aber … ich wollte ihn nicht zurücklassen, Mutter. Vincent gehört mir!“ Die Ältere lächelte wohlwollend.

„Ich weiß, Schätzchen. Deshalb habe ich befohlen, Oliver Aragon aus dem Weg zu räumen. Er hätte uns gefährlich werden können.“

Joanna sank auf den Stuhl, den sie eben noch an die Wand hatte schmettern wollen.

„Warum lässt du Sienna nicht endlich töten? Dieses Miststück muss verschwinden. Sie wird mir immer im Weg stehen, solange sie lebt.“

„Bald nicht mehr, Tochter. Das garantiere ich dir.“ Sie legte Joanna eine Hand auf die Schulter.

„Versprochen?“, fragte sie. Als ihre Mutter nickte, lächelte Joanna zufrieden. „Das mit der Einrichtung tut mir leid.“

„Du wirst lernen müssen, dich besser unter Kontrolle zu haben“, sagte ihr Mutter ernst und Joanna ging aus dem Zimmer. „Bevor ich dich selbst unter Kontrolle bringen muss.“


*

Melrose


Es war ein Etappensieg.

Vincent wieder im Haus zu haben war mehr, als wir zu hoffen gewagt hatten, als Ileana, Phil und ich am Morgen im Hyde Park miteinander gesprochen hatten. Doch ihn im Wald zu bändigen, hatte mich körperlich und psychisch sehr mitgenommen.

Sobald wir das Haus erreicht hatten und Phil den bewusstlosen Vincent auf die Couch gelegt hatte, griff Arina nach dem Telefon und rief im Institut der Familie in Edinburgh an.

„Schicken Sie mir sofort einen Arzt nach Sciver´s End. Vincent van Sciver ist hier aufgetaucht und wir brauchen dringend medizinische Beratung. Ach, und noch etwas: Er sollte sich auf das Schlimmste gefasst machen. Außerdem brauchen wir eine große Menge meines Blutes, Status A in der Familienhierarchie. Danke.“

Ich ging in mein Zimmer, das Vincent früher bewohnt hatte, legte mich aufs Bett und schlief nach wenigen Minuten ein.

Ich träumte von roten Augen, von Teenagern, die aufgespießt auf den Rohrleitungen eines Hauses drapiert waren und von Joannas gehässigem Lächeln, während sie auf mich herabblickte …

Als ich schweißgebadet erwachte, war es bereits dunkel.


Im Haus war es still. Ich saß eine Weile ruhig auf dem Bett und lauschte. Kein Mucks war zur hören, nur der Wind schlug gegen die Fensterscheibe. Ich fühlte mich innerlich ausgelaugt, so, als hätte ich heute im Wald sämtliche Kräfte eingebüßt, die ich sonst benötigte, um einen Tag voller Kämpfe zu überstehen. Wenn ich ehrlich war, musste ich mir eingestehen, dass ich meine hypnotischen Fähigkeiten lange nicht benutzt hatte.


Doch es war der einzige Weg, um Vincent daran zu hindern, auf seine eigene Schwester, Phil und mich loszugehen. Das, was in ihm steckte, war gefährlicher, als es den Anschein hatte. Ich hatte seit meiner Verwandlung vor drei Jahrhunderten viele unterschiedliche Vampire kennengelernt und mir eines vor allem zu Herzen genommen: Die „Rotaugen“ waren am gefährlichsten.

Man könnte meinen, jeder Vampir mache am Anfang seiner Verwandlung ein Stadium durch, in dem er überwiegend mit dieser Farbe in den Augäpfeln herumläuft. Solange er seinen dafür vorgesehenen Partner und Blutsverwandten dabeihat, der nach dem Rechten sieht, sagt nicht einmal der Familienrat etwas dagegen - der immer etwas zu meckern hat.

Für mich waren die rotäugigen Vampire meine erste Bewährungsprobe als Vampir-Jägerin gewesen: Sie zu töten beziehungsweise unschädlich zu machen, war meine Hauptaufgabe, als Simons Aufgabengebiete noch auf sechs Schultern verteilt gewesen waren: Als Sunset Hill, seine Sommerresidenz, sich im Bau befand, gab es eine Menge Vampire, die in Rom ihr Unwesen trieben und überhaupt nicht darüber erfreut gewesen waren, dass sich ein Dahergelaufener in Rom einnistete.

Doch all jene, die geglaubt hatten, er wäre ein einfacher Vampir, wurden eines Besseren belehrt. Neben mir hatte er seine beiden Verbündeten, Lucan und William. Doch heute war nichts mehr von diesem Bündnis übrig: William war tot und sein Clan geschwächt, während Lucan einen Krieg gegen Simon führte. Einen Krieg, dem nun sein Sohn zum Opfer gefallen war.

Ein leises Klopfen an meiner Tür unterbrach meine Erinnerungen.

„Ja, bitte?“ Phil steckte den Kopf ins Zimmer. Ich sah ihm sofort an, dass er mit guten Nachrichten gekommen war, denn der Anflug eines Lächelns lag auf seinen Lippen.

„Entschuldige die Störung. Vincent ist stabil.“

Ich schwang die Beine aus dem Bett und rutschte an den Bettrand. „Was heißt das?“, fragte ich.

Phil trat nun ganz ins Zimmer und setzte sich in den Sessel neben die Tür.

„Victor Lovett, Karins Mann, kam vorbei und hat ihm Arinas Blut verabreicht. Über die Nadel. Während der ganzen Prozedur hat er nicht mal mit der Wimper gezuckt. Victor sagt, es sei wahrscheinlich, dass der Körper aufgrund der Umstellung noch geschwächt sei. Wir wollten warten, bis du wieder auf den Beinen bist, um ihn zu fragen, in welchem Zustand er vor der Bluttransfusion gewesen ist.“

„Wie kommt ihr darauf, dass es mich interessiert?“, fragte ich. Phil sah mich an.

„Du bist die Wächterin der Familie. Es sollte dich interessieren." Ich legte meine Handflächen auf die Knie und umschloss sie, während ich ihn gelassen ansah.

„Ich bin nicht länger die Wächterin der Familie, Phil, schon vergessen? Simon hat mich gefeuert.“

Zu meiner Überraschung grinste Phil plötzlich über das ganze Gesicht.

„Das hat er mal getan, ich erinnere mich tatsächlich. Aber vorhin meinte er, du seiest wieder im Dienst.“

Ich runzelte die Stirn.

„Wann hat er das gesagt?“

„Als er vor vier Stunden hier angekommen ist.“

Na toll.


Ich hatte mir ein Wiedersehen mit dem Clanoberhaupt vor einem

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Hanna Marten
Bildmaterialien: Hanna Marten
Lektorat: Syntax Lektorat
Tag der Veröffentlichung: 10.05.2016
ISBN: 978-3-7396-5436-2

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Leser

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