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Prolog

19. Januar 1992

Dublin

Die kalte Nachtluft ließ meinen Körper erstarren, doch ich atmete tief durch und blieb dicht an die Hauswand gelehnt stehen, während ich die gegenüberliegenden Gebäude genau beobachtete und nach Bewegungen dunkler Gestalten Ausschau hielt.

Als ich niemanden entdeckte, huschte ich weiter durch die irische Hauptstadt.

Zwar wandelten um diese späte Uhrzeit nur noch vereinzelt Menschen auf der Straße, doch ich mied die Hauptstraßen und wählte enge Gassen zu meinem Ziel:

Das alte Herrenhaus Sciver´s Manor.

Warum ich allein mitten in der Nacht dorthin unterwegs war - das auch noch komplett unbewaffnet - war an sich eine kleine Sensation. Normalerweise verließ ich das Haus meines Herren in Rom niemals ohne Waffen. Immerhin war ich für die Sicherheit der Familie Van Sciver verantwortlich. Gut und Schön, paradoxerweise sollte ich erwähnen, dass die Van Scivers Vampire und ich unsterblich sind. Durch diesen Umstand bräuchten sie keine professionelle Wächterin wie mich, doch mächtige Vampir-Clans schmücken sich nun einmal gern mit gemütlicheren Lösungen anstelle von eigenen Bemühungen.

Mit drei konkurrierenden Familien auf der Welt war diese Anstellung allerdings auch nicht die Übelste. Man konnte davon ausgehen, dass an jeder Ecke ein potenzieller Attentäter auf ein Blutbad wartete. Es herrschten ungemütliche Zeiten.

Doch da ich weder ein Mensch noch ein Vampir war, belächelte ich die meisten anderen Vampire für ihren Mumm, mir in die Quere zu kommen.

So vorsichtig und tödlich ich normalerweise war, unterschied sich der Auftrag sich doch von all meinen Bisherigen:

Die Clanführerin der Familie Van Sciver, Lara, hatte mir mitgeteilt, sie wolle mich allein auf der Winterresidenz sprechen.

Es war ungewöhnlich, dass sie mich allein zu sich bestellte, denn genau genommen war ich ihrem Mann unterstellt.

Ich kam mit ein paar Minuten Verspätung auf dem Hof vor Sciver´s Manor an:
Mitten auf dem Platz stand ein stillgelegter Brunnen aus der Barockzeit, ein blauer VW Käfer stand vor dem Hauseingang.

Plötzlich ging die Haustür auf, knarrend und viel zu laut für meinen Geschmack, und ein älterer Mann trat heraus.

Ein Mensch, zweifelsohne: Ein schlagendes Herz und ein heftiger Atem.

Ich runzelte die Stirn, versteckte mich blitzschnell hinter einem Baum neben der Einfahrt und umschloss die Pistole in meiner Manteltasche.

Der Mann blieb neben dem Auto stehen und schaute sich langsam um. Ich verengte misstrauisch die Augen: Der Mann trug einen Revolver am Gürtel.

Na gut, das war merkwürdig, denn wenn dieser Typ als eine Art Sicherheitsposten gedacht war, würde er spätestens bei einem Vampir-Angriff den Löffel abgeben.

Andererseits konnte ich nicht abschätzen, mit was er den Revolver geladen hatte: Mit normalen Bleikugeln oder doch Kugeln aus Silber?

Langsam trat ich hinter dem Baum hervor, den Mann stets im Blick. Er stand mit dem Rücken zu mir und schien vollkommen auf das vertieft zu sein, was da hinten auf der Rückbank des Autos lag.

Erst als ich etwa drei Meter entfernt stand räusperte ich mich vernehmlich.

Der Mann zuckte zusammen, drehte die Waffe schon im Anschlag, doch ich brauchte eine halbe Sekunde bis zu ihm um ihm die Waffe lässig aus der Hand zu schlagen.

Er starrte mich zunächst sprachlos an, seine Augen strahlten vor Wachsamkeit, ansonsten schien von ihm keine Gefahr auszugehen.

„Sie sind Sienna Crowford?“, fragte er mich.

Klar, ich wurde schließlich erwartet. „Richtig. Mrs.van Sciver hat mich eingeladen“, antwortete ich automatisch.

Doch der Mann schüttelte den Kopf. „Ich bin verpflichtet, Ihnen mitzuteilen, dass Lady van Sciver sich nicht länger auf Sciver´s Manor befindet und längst abgereist ist. Mit unbekanntem Ziel“, sagte er.

Ich starrte ihn an undversuchte zu verarbeiten was er da gesagt hatte.

„Sekunde... Sie sagen mir bitte wer Sie sind“, meinte ich vorsichtshalber.

Einen Lügner fand man schließlich an jeder Straßenecke.

Der Mann neigte den Kopf.

„Mein Name ist Bill McKealey, Miss. Ich bin Lara van Sciver´s Sekretär."

Ich starrte ihn immer noch misstrauisch an, doch meine Sorge galt allein der Herrin des Hauses.

„Warum ist sie verschwunden? Was ist passiert?“, fragte ich langsam.

Bill steckte die Hand in seine Mantelinnentasche und holte einen Umschlag hervor.

„Der ist für Sie. Mrs.van Sciver hat ihn persönlich an Sie adressiert“, erklärte er.

Ich ergriff den Umschlag und machte ihn mit einem Schlitz meiner messerscharfen Fingernägel auf.

Ein kleiner Zettel befand sich darin, auf dem in einer eleganten Schnörkelschrift folgendes geschrieben stand:

 

Sienna, töten Sie sie oder lassen Sie sie am Leben?

Ich konnte es nicht entscheiden, denn dies
steht mir nicht zu.

Die Entscheidung überlasse ich Ihnen und lassen Sie niemanden von dem Inhalt des Briefes wissen. Niemanden!

Leben Sie wohl

Lara van Sciver

 

Ich runzelte die Stirn und las die Nachricht nochmals zweimal hintereinander durch, bis ich wieder zu Bill aufblickte.

„Sie redet von…“, ich brach ab und blickte noch einmal auf die Nachricht.
Lassen Sie niemanden von diesem Inhalt wissen

Ich entschied, Bill zumindest den richtigen Inhalt zu verschweigen und allgemein etwas über die Personen herauszufinden, von denen Lara geschrieben hatte.

„Für Was genau hat Lara Sie beauftragt? Warum empfangen Sie mich?"

Der alte Mann seufzte, öffnete die hintere Tür des Autos und trat beiseite, damit ich im Dämmerlicht sehen konnte, was auf der Rückbank lag.

Ich riss die Augen auf. Meine Hände verkrampften sich automatisch.

Es waren zwei schlafende Säuglinge.

Sie lagen beide in einer Zwillingswiege, eines in einem rosafarbenen, das andere in einem blauen Strampler.

„Das sind Lady van Scivers Zwillinge, Vincent und Ileana. Sie trug mir auf, sie Ihnen zu zeigen", sagte Bill.

Ich starrte die beiden Babys ausdruckslos an, was mir leichter fiel, als es hätte sein sollen wenn es um Vampire ging, denn ich hatte noch nie ihre "unschuldigste" Art gesehen: Ihre Haut sah so zart und fein aus wie Porzellan.

Auch wenn sie zu schlafen schienen war ich mir sicher, dass ihre Augen mir den Verstand buchstäblich heraus brennen würden.

Doch das war nur eine Ursache meiner Körperstarre: Wie um Himmels willen kam Lara van Sciver darauf, ihre eigenen Kinder zu töten? Und warum legte sie die Entscheidung darüber ausgerechnet in meine Hände?

Fragen über Fragen, die ich allesamt nicht beantworten konnte und schon gar nicht in der Zeit, in der es mir vorgegeben war. Denn in dieser Stadt trieben sich Vampire herum, die nicht zum Sightseeing gekommen waren.

Sie planten eindeutig einen Angriff auf dieses Haus. Auf die Zwillinge.

Mit einem Mal begriff ich den Sinn der Nachricht und ich versuchte, mein Pokerface zu wahren.

Die Uhr der St. Patrick´s schlug Mitternacht und eines der Babys, der kleine Vincent, wurde wach und fing an, zu quengeln.

Ob es ein Reflex meiner Instinkte war kann ich bis heute noch nicht erklären, jedenfalls streckte ich die Hände nach dem Kleinen aus und hob ihn in meine Arme.

Bill beobachtete mich misstrauisch doch als ich Vincent lediglich hin- und herwog und begann, eine Melodie aus meiner Heimat zu summen, setzte er eine überraschte Miene auf.

Ich lächelte ihm zaghaft zu und sah dem Kleinen zum ersten Mal in die Augen- und zum ersten Mal stockte mir bei dem Anblick eines Vampirs der Atem: Die Augen dieses Jungen waren von einem wunderbaren blau mit leichten dunkelvioletten Sprenkeln, ausdrucksstark und vollkommen.

Er sah mich nur an, das Quengeln schien er anhand meiner Stimme vergessen zu haben.

„Ich werde dich nicht töten, kleiner Vampir. Nicht heute“, sagte ich so leise, dass Bill es nicht verstand.

Dann drückte ich ihm einen sanften Kuss auf die Stirn und legte ihn zurück neben seine Schwester, Ileana.

„Bill, was ich Ihnen jetzt sage bleibt unter uns und was wir nach diesem Gespräch tun werden, ebenfalls. Niemand darf es jemals erfahren“, sagte ich entschieden und machte die Tür zur Rückbank zu.

„Was meinen Sie damit?“, fragte Bill unsicher. Ich lächelte ihn an und hob meine Pistole vor sein Gesicht, den Lauf in den Himmel gerichtet. Eine Waffe in Reserve schadet nie, selbst wenn man den Eindruck erwecken möchte, unbewaffnet zu sein.

„Ich gehe auf die Jagd."

 

Kapitel 1


Ich konnte von Glück sagen, dass es nicht regnete, während ich wartete.

Feiner Nebel hing über dem Serpentine, dem See inmitten des Londoner Hyde Parks, an dem ich meine Verabredung zu treffen gedachte.

Die Nacht war bereits fortgeschritten. Einzelne Passanten streiften noch durch den Park, doch ihr Gang war eher von schneller Natur, was darauf schließen ließ, dass sie in ihr sicheres Heim zu gelangen versuchten.

Während ich auf einer Parkbank den See betrachtete, musste ich unwillkürlich schmunzeln bei dem Gedanken, dass sie in Anbetracht der Gegenwart eines Werwolfs, der kurz davor war, einen Vampir zu treffen, wohl instinktiv das Weite suchten.

Doch auch wenn von mir selbstverständlich keine Gefahr ausging, konnte man das von der Londoner City und ihren Bewohnern nicht gerade sagen.

Also lehnte ich mich zurück und sah noch einmal auf meine goldene Taschenuhr: Es war kurz vor elf.

Dieses Treffen war von der Familie Van Sciver arrangiert worden.

Der Vampir den ich treffen sollte, stammte aus der aus Kanada stammenden Familie Aragon, mehr wusste ich nicht über ihn.

Doch das war nicht der einzige Grund, der mich nach London geführt hatte…

Plötzlich nahm ich eine Bewegung auf dem See wahr und stand sofort auf, die Hand sicherheitshalber auf einem meiner Silberpistolen in der Innentasche gelegt.

Langsam, durch den Nebel bewegte sich etwas auf mich zu.

Ich atmete den Geruch des herannahenden Besuchers ein: Vampir durch und durch.

Mein Körper spannte sich an, meine Augen fixierten das Boot, das auf mich zu schipperte. In dem Boot war eine Person auszumachen, die darin stand und mit einem Ruder an das Ufer zutrieb.

Ich konnte mir ein Stirnrunzeln beim besten Willen nicht verkneifen. Diese Art war ich von anderen Vampiren nicht gewöhnt, der Park bot weitaus mehr Fläche zum Erscheinen als der See.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und wartete mit zusammengekniffenen Augen, wie das Boot am ansteigenden Rasen ankam und der Neuankömmling aus dem Kahn sprang und auf mich zusteuerte.

Er war jung, was mich ein wenig überraschte, Anfang zwanzig vielleicht.

Sein strohblondes Haar trug er in alle möglichen Himmelsrichtungen, vermutlich mit Haargel gebändigt und seine Augen sahen mich bereits erwartungsvoll an.

„Sie haben eine höchst unkonventionelle Art, hier aufzutauchen“, stellte ich zur Begrüßung fest.

Der Vampir neigte lächelnd den Kopf. „Freut mich sehr, dass Sie Ihnen gefallen hat, Miss Crowford“, sagte er mit typischer „Vampir-Samtstimme“.

Ich streckte ihm meine rechte Hand entgegen, um zumindest etwas Höflichkeit vorzutäuschen. ich wusste noch nicht, wie ich ihn einschätzen sollte.

Er ergriff sie und die vertraute Kälte seiner Berührung kroch durch meinen Körper.

„Philipp Aragon. Freut mich sehr, Sie kennenzulernen“.

Ich nickte und ließ ihn etwas zu schnell wieder los, was ihm ein Grinsen entlockte.

„Sie sind von jener Sorte, die Nichts und niemandem trauen“, stellte er fest, während ich den Kiesweg des Parks ansteuerte.

Wenigstens war er kein Dummkopf, wie ich anfangs befürchtet hatte. Meistens waren attraktive Vampire in einer größeren Region ihres Gehirns buchstäblich hohl, was ehrlich gesagt jammerschade war.

„Wenn ich es wäre, Mr Aragon, wäre ich die falsche für den Job“, erwiderte ich sachlich.

„Aber Sie trauen mir, Miss Crowford oder sollten es, richtig?“

Gegen jede Vernunft seufzte ich und blieb stehen. Der Vampir sah mich von der Seite her an.

„Sie sind hier, um mich bei meinen Recherchen zu unterstützen, die mich nach London geführt haben. Mein Auftraggeber und Ihre Familie, Mr Aragon, machen es wohl unmöglich, dass ich Ihnen offen mein Misstrauen zeigen könnte. Doch das ist normal für die Position, die ich innehabe, also nehmen Sie es nicht persönlich“, stellte ich klar.

Er lächelte höflich. „Würde mir nie einfallen“.

Ich blinzelte, nickte jedoch. „Und was sind das für Recherchen, wenn mir die Frage gestattet ist. Immerhin werde ich intensive Einblicke in Ihre Arbeit bekommen, hoffe ich“.

In seiner Stimme lag ein gefährlicher Unterton und ich knurrte leise.

„Keine Sorge, Sie werden Ihre Einblicke erhalten“, sagte ich nüchtern und sah ihn streng an.

„Doch zunächst sollte ich einige Dinge klarstellen, wie mir scheint. Erstens bin ich in diesem Fall Ihre Vorgesetzte und Partnerin in einem und Sie werden meine Anweisungen befolgen als hinge Ihr Leben davon ab, denn das könnte durchaus eintreten.

Da unsere Recherchen mit zwei Jugendlichen zu tun haben, möchte ich Sie bitten, stets gut ernährt zu sein, während wir uns im Einsatz befinden. Ich habe nicht die geringste Lust eine Blutorgie an die Familien zu melden. Noch Fragen?“

Philipp Aragon starrte mich einen Moment lang sprachlos an. „Haben Sie diese kleine Rede auswendig gelernt?“

Ich hob eine Augenbraue und er hob sofort die Hände. „Schon gut, Chefin. Ich hab alles verstanden was Sie mir gerade so bezaubernd vorgetragen haben“.

Na immerhin…

„Finden Sie nicht auch, dass es in Anbetracht unserer Situation, etwas albern wäre uns nicht mit Vornamen anzureden?“, fragte er wie aus heiterem Himmel.

Ich überlegte kurz, fand jedoch kein Argument dagegen und dieser Einsatz würde vermutlich keine zwei Wochen dauern. Wenn alles glatt lief.

„Einverstanden.“

„Also dann, nennen Sie mich doch bitte Phil“, sagte er salopp mit ausgebreiteten Armen und freundlichem Lächeln.

Er hatte eine äußerst angenehme Art an sich, also rang ich mir ein Lächeln ab.

„Sehr gern.“

„Also dann. Wo sind wir untergebracht, Sienna?“, fragte er, als wir unseren Weg fortsetzten.

Wir überquerten die Serpentine Bridge und steuerten am Princess-Diana-Gedenkbrunnen vorbei auf die Kensington Road außerhalb des Parks zu.

Ich machte mir einen Spaß daraus und schwieg.

Phils Gesichtsausdruck war äußerst belustigend. Die saphirgrünen Augen, so groß wie Untertassen, starrten das viktorianische Gebäude, das vor ihm in den Nachthimmel ragte an.

Am liebsten hätte ich ihm meinen Ellbogen in die Seiten gerammt, der Page an der Eingangstür warf ihm bereits neugierige Blicke zu.

„Phil, bitte reiß dich zusammen“, flüsterte ich ihm zu.

„Wir wohnen im Mandarin? Ist das dein Ernst?“, sagte er mit heiserer Stimme.

Ich nickte nur und gab dem Pagen am Eingang ein Zeichen mit der Hand. Ich war froh, dass ich bereits gestern am späten Nachmittag hier eingecheckt hatte und ich bereits bekannt war. Ansonsten hätte Phils jugendliches Gehabe uns vermutlich noch in eine noch peinlichere Situation gebracht.

„Sie wünschen, Miss Crowford?“ Der Page stand neben uns, hielt einen schwarzen Schirm schützend über uns, wobei Phil diese Geste nicht registrierte, der immer noch die Fassade des Hotels bewunderte.

„Führen Sie meinen Begleiter doch bitte in sein Zimmer.“

Der Page verbeugte sich. „Sehr gern. Sir? Wenn ich bitten darf.“

Ich sah Phil jetzt eindringlich an. „Wir sehen uns morgen früh um acht Uhr beim Frühstück auf der Terrasse, ja?“

Phil strahlte übers ganze Gesicht, wünschte mir eine gute Nacht und folgte dem Pagen ins Hotel.

Ich sah ihnen nach, bis sie verschwunden waren und holte mein Handy heraus.

Die Nummer des Clanoberhauptes war die einzige darauf gespeicherte.

„Er ist hier. Keine besonderen Vorkommnisse“, sagte ich, als er den Hörer abgenommen und sich gemeldet hatte.

Seine Stimme klang düster in mein Ohr, als er sprach. „Du musst auf ihn aufpassen. Er ist hier, um zu lernen in unserer Familie Fuß zu fassen. Ich erwarte von dir, dass du ihn so gut es geht in deine Arbeit einbindest“.

„Ja, ich habe verstanden“, antwortete ich nur.

„Viel Glück, Sienna“, sagte er und legte auf.

Also noch jemand, auf den ich mein Augenmerk richten sollte. Ich rieb mir müde die Augen und warf erneut einen Blick auf die Uhr. Es war beinahe Mitternacht und inzwischen hatte es zu regnen begonnen.

Ich beschloss, noch einen Spaziergang zu machen und um über den morgigen Tag nachzudenken.

Ein nervöses Kribbeln breitete sich in meiner Magengrube aus und ich ging den breiten Gehweg entlang.

Es war neunzehn Jahre her. Seitdem hatte ich sie nicht mehr gesehen, nur die Erinnerung war geblieben. Das und Ungewissheit.

Bis vor einer Woche, als einer meiner Informanten sie aufgespürt hatte.

Sie waren hier in London.

Ich war so in Gedanken versunken, dass ich nicht bemerkte, dass eine Gruppe von Jugendlichen auf mich zukam.

„Glaubst du, wir kriegen sie noch heil nach Hause?“, fragte eine Mädchenstimme.

Ich blickte auf und dann prallte jemand schmerzhaft an meine linke Schulter, sodass ich zur Seite taumelte.

Fluchend fand ich mein Gleichgewicht wieder. „Könnt ihr nicht aufpassen?“, fauchte ich den Kerl an, der mich offensichtlich einfach übersehen hatte.

„Verzeihung“, sagte das Mädchen, das eben gesprochen hatte. Sie trug eine weiße Regenjacke und ihr langes schwarzes Haar fiel ihr ins Gesicht, während ihre hellblauen Augen mich entschuldigend ansahen. Über ihre Schulter hatte sie den Arm eines Mädchens gelegt, die offensichtlich nicht mehr imstande war, sich selbständig auf den Beinen zu halten.

Unter ihren rotblonden Locken wirkten ihre Augen müde und ihr Gesicht hatte einen rötlichen Schimmer.

Eindeutig Alkohol.

Ihr linker Arm wurde von dem Rüpel-Rempler gehalten, der eine schwarze Lederjacke mit Kapuze trug und sein Gesicht verbarg.

„Der Gehweg ist breit genug“, giftete ich ungehalten in seine Richtung. Das Mädchen mit den rotblonden Locken gab plötzlich ein gurgelndes Geräusch von sich und ihre Freundin reagierte sofort. Sie zerrte sich in die Seitengasse hinter mit, während ihr unhöflicher Begleiter sie losließ. Ich vernahm nur ein äußerst unangenehmes Spritzgeräusch und hatte nicht die Absicht mir noch mehr von der Show anzusehen, als der grobe Kerl neben mir plötzlich zu sprechen begann.

„Ich wollte Sie nicht umstoßen“. Ich sah ihn nicht an. Wenn dieser ungebildete Schnösel sich nichts Besseres einfallen ließe, würde er noch ordentlich was zu Hören bekommen.

Die Jugend von heute.

„Es ist nur, dass Joanna heute Abend wohl etwas zu tief ins Glas geschaut hat, während meine Schwester und ich uns auf der Tanzfläche verausgabt haben. Joanna ist nicht die größte Tänzerin.“

Ich verdrehte die Augen, während hinter mir das Gewürge anhielt und ich die Stimme des anderen Mädchens tröstend murmeln hörte.

„Vergesst es. Es ist nichts passiert. Viel Glück noch mit ihr“, warf ich ein und wollte nur weiter.

Außerdem wollte ich mich nicht weiter mit einem Wildfremden unterhalten, der sich nicht einmal für seine Tollpatschigkeit entschuldigt hatte.

Ich wandte mich gerade zum Gehen, als das Mädchen mit ihrer Freundin Joanna auftauchte.

„Hey, Bruderherz, jetzt pack mal bitte mit an, anstatt zu flirten!“

Diese Bemerkung war von so weit hergeholt, dass ich mir ein Lächeln nicht verkneifen konnte, während ihr Bruder neben Joanna trat und ihren Arm um seine Schultern legte.

Dabei fiel ihm seine Kapuze vom Kopf.

Als er mich daraufhin ansah, schien es, als würde mich ein schwerer Backstein in die Magengegend treffen.

„Entschuldigen Sie bitte. Es war nicht meine Absicht, Sie umzurennen“, sagte er lächelnd.

Das Blau seiner Augen war dasselbe wie bei seiner Schwester, ebenso wie das Schwarz seiner Haare.

„Schon vergessen“, erwiderte ich langsam und blinzelte. Ich wollte so schnell wie möglich weg. „Warten Sie mal“, hielt mich seine Schwester zurück.

Sie reichte mir einen babyblauen Regenschirm, den sie scheinbar in ihrer Handtasche versteckt hatte.

„Wir haben es nicht mehr weit bis nach Hause und Sie sehen schon sehr durchnässt aus. Bitte nehmen Sie ihn an. Vincent hat seine guten Manieren heute wohl zu Hause vergessen“, sagte sie.

„Das ist sehr freundlich von dir“, sagte ich perplex und nahm ihn entgegen.

„Gute Nacht“, sagte sie lächelnd.

Ich drehte mich um und ging schnellen Schrittes davon. Zweihundert Meter weiter bog ich konsequent in eine Seitengasse ein und lehnte mich gegen die Hauswand, den Schirm hatte ich inzwischen wieder zugespannt. Der Regen auf meiner Haut würde mit etwas Glück die Hitze, die in meinem Körper aufgeflammt war, etwas mildern.

Konnte das sein? Sie waren ihr mitten in London einfach so über den Weg gelaufen.

Sie waren es, da bestand absolut keinen Zweifel. Ihre Merkmale waren einmalig: Ihr attraktives Äußeres, ihre blasse Haut. Und da waren natürlich die atemberaubenden Augen, die ich niemals vergessen würde.

Ich atmete stoßweise ein und aus, dann huschte ich aus der Seitengasse und die Straße zurück. Mit ihrer betrunkenen Freundin waren sie bestimmt nicht weit gekommen…



*******


Joannas Arm lag schwer auf seinen Schultern. „Warum hast du kein Auge auf sie gehabt?“, fragte er seine Schwester Ileana.

„Das kann ich dir sagen, Vincent, weil sie normalerweise darauf achtet, wie viel sie trinkt und ich vertraue ihr! Wer hat denn auf der Tanzfläche mit zwei Blondinen rumgemacht?“, erwiderte sie aufgebracht.

Da Joanna mittlerweile in einen Trance-ähnlichen Schlaf gefallen war, bekam sie ihr Gespräch zum Glück nicht mit.

„Geht man in Clubs um sich zu amüsieren, oder um auf die Freundinnen der Zwillingsschwester aufzupassen?“

„Also…manchmal bist du wirklich blind“, stellte seine Schwester fest.

Vincent schwieg dazu. Es war schon spät und er war müde.

Der kleine Zwischenfall auf dem Gehweg hatte ihn für einen kurzen Moment wachgerüttelt, als er die junge Frau angesehen hatte.

Sie war allein unterwegs gewesen, außerdem hatte sie schockiert auf ihn gewirkt.

„Glaubst du, sie war allein unterwegs?“, fragte er.

Ileana sah ihn irritiert an. „Von wem sprichst du?“

Vincent schüttelte den Kopf. „Na von dieser jungen Frau vorhin.“

Ileana zuckte nur mit den Schultern, wobei sie darauf achtgab, dass Joanna nicht zu sehr schwankte.

Sie bogen um die Ecke und erreichten den Stadtteil Mayfair.

„Vielleicht war sie unterwegs zu einer Verabredung“.

„Um Mitternacht? So durchnässt würdest nicht mal du zu einem Date erscheinen“.

Ileana schnaubte. „Wieso machst du dir darüber überhaupt Gedanken? Als du mit ihr reden solltest, warst du so unsensibel wie lange nicht aber wahrscheinlich hast du dein Flirtpulver wohl schon längst verschossen“, stichelte Ileana.

Vincent ignorierte ihre Bemerkung. „Trotzdem, Ileana. Ich bin irgendwie erleichtert, dass du ihr deinen Schirm geborgt hast.“

„Hörst du bitte auf damit, Vince? Du hörst dich an, als wärst du total verknallt in sie, obwohl du sie nicht kennst!“

Sie waren vor einem großen Grundstück angekommen, das von hohen weißen Mauern geschützt war. Ileana drückte das große Tor auf und die beiden schlüpften vorsichtig mit der schlafenden Joanna hinein.

Sie durchquerten den großen Garten und stiegen die wenigen Treppenstufen zum Eingang des Hauses hinauf.

Neben der großen Eichentür war ein Messingschild eingelassen:


St. Paul Youth Centre


Ileana legte einen Finger an die Lippen und drückte die Eichentür langsam auf.

Ein Gewitterblitz zuckte durch den Nachthimmel und hallte in der Eingangshalle wider, was nicht gerade dazu beitrug, heimlich still und leise und nach der Sperrstunde das Jugendheim zu betreten.

Doch niemand war zu sehen und auch keine Schritte waren zu hören als sie durch die Eingangshalle schritten und die Treppe hinauf zu ihren Zimmern schlichen.

Vincent war sich sicher, dass sein Arm auf Joannas Schulter eingeschlafen war und war dankbar, als sie endlich Ileanas Zimmer erreichten, das sie mit ihrer Freundin teilte.

Sie legte Joanna gemeinsam auf ihr Bett.

„Ich kümmere mich noch um sie. Geh du lieber schnell ins Bett, bevor Mrs Trott noch auf der Matte steht und dich zwingt, ihr Büro mit dem Staubsauger zu bearbeiten“, sagte Ileana und zog ihre Regenjacke aus.

„Würde ihr ähnlich sehen“, gähnte Vincent.

„Gute Nacht, Vince“, ertönte Ileanas Stimme aus dem Badezimmer und Vincent ging hinaus.

Glücklicherweise befand sich keiner im Korridor und er konnte zwei Stockwerke weiter unentdeckt sein Zimmer betreten, dass er sich noch bis vor kurzem mit einem Jungen geteilt hatte, der inzwischen aufs College ging.

Er hängte seine Jacke an den Kleiderhaken an der Wand und ließ sich voll bekleidet auf sein Bett fallen.

Er war bereits eingeschlafen, als Sienna Crowford sein Zimmer betrat.






Kapitel 2




Phil saß in einem gemütlichen Korbstuhl und wartete auf Sienna.

Er war bereits eine halbe Stunde zu früh, doch das war ihm egal. Er liebte es, die anderen Hotelgäste zu beobachten.

Ihm gegenüber saßen zwei junge Touristinnen, die ihm ab und an interessierte Blicke zuwarfen.

Vor allem ihr Geruch entfachte seine Aufmerksamkeit immer wieder, doch er hatte sein Frühstück bereits auf seinem Hotelzimmer genossen, das er sich vom St. Mary´s Hospital bringen ließ, wie es Sienna gewünscht hatte.

Du benimmst dich in England gefälligst anständig, hast du mich verstanden, Philipp Aragon?!

Die Stimme seines Vaters hallte in seinem Kopf wider und er starrte finster auf den Hyde Park hinüber.

„Entschuldige die Verspätung, Schatz“. Phil schreckte aus seinen Gedanken hoch, als Sienna neben ihm auftauchte und ihn sanft auf die Wange küsste.

Ihre Berührung brannte auf seiner Haut und er musste sich zusammenreißen, nicht aufzustehen.

„Ich denke, unsere Arbeitszeit beginnt, also gilt deine Aufmerksamkeit ab jetzt mir, verstanden?“, flüsterte sie ihm ins Ohr und richtete sich auf.

Phil verstand und grinste, während Sienna sich ihm gegenübersetzte und die Touristinnen betrübte Mienen zogen.

Seine Partnerin bestellte ein ausgiebiges Frühstück, während Phil sie eingehend mustern konnte.

Zweifelsohne war sie mit ihrem goldblonden langen Haar und blaugrünen Augen atemberaubend schön, doch er spürte die falsche Fassade dahinter:

Sie war als Werwolf für jeden Vampir eine große Bedrohung wenn sie es wollte und er akzeptierte sie als seine Mentorin.

Heute Morgen wirkte sie jedoch etwas erschöpft, ihre Augenringe waren deutlich auf ihrer blassen Haut zu sehen.

Als der Kellner sich entfernte und Sienna ihn wieder ansah, senkte Phil rasch den Blick.

„Ich traf gestern durch Zufall auf unsere Zielpersonen“, sagte sie.

Phil setzte sich sofort auf. „Wie das?“

„Ich erzähle dir zuerst am besten von unserem Auftrag. Vor ein paar Tagen erhielt ich die Information eines meiner Spione, dass hier in London zwei Vampire leben.

Sie sind unter Menschen aufgewachsen und erreichen kommenden Januar ihr zwanzigstes Lebensjahr“.

Phil nickte. Er wusste, was das bedeutete: Wuchsen Vampire unter Menschen auf, konnten sie bis zu einem gewissen Alter problemlos von menschlicher Nahrung leben, doch im fortgeschrittenen Teenageralter machten sich ihre Vampir-Gene bemerkbar.

Meistens durch Übelkeit bei Nahrungsaufnahme, allergische Reaktionen auf Sonnenlicht oder ihre Augen fingen an, zu glühen.

„Und bei ihnen sind erste Anzeichen aufgetreten?“, fragte er. Sienna schüttelte den Kopf und biss sich auf die Unterlippe.

„Es sind keine aufgetreten“.

Phil runzelte die Stirn. „Woher wusste dein Spion dann, dass sie Vampir-Gene in sich tragen?“

Sienna schwieg. Schließlich erschien der Kellner wieder mit ihrem Frühstück und stellte es vor ihr auf den Tisch. Phil verzog das Gesicht, tarnte das jedoch noch rechtzeitig mit einem Husten.

Sienna schenkte sich Earl Grey in ihre Tasse.

„Mein Spion erkannte die Beiden an ihren äußeren Merkmalen“.

Phil zuckte nur mit den Schultern.

„Dann würde ich jeden Gothic gleich als Vampir abstempeln“.

Sienna spießte ein Stück Rührei auf ihre Gabel. „Das war nicht gemeint. Hier, das ist ein Foto der beiden“.

Sie hielt ihm ihr Smartphone entgegen und Phil betrachtete das Foto darauf: Ein junger Mann und eine junge Frau waren darauf zu sehen. Er verstand sofort, warum Siennas Spion

angenommen hatte, sie gehörten zu einem Vampir-Clan.

„Der Junge…er sieht aus wie…“, begann Phil doch Sienna schnitt ihm das Wort ab: „Wie Simon van Sciver, dem Clanoberhaupt, richtig“.

Phil betrachtete das Foto und zoomte ein wenig heran. Die junge Frau neben ihm, die auf einer Parkbank saß während er ihr scheinbar etwas erzählte, erinnerte ihn ebenfalls an jemanden doch er wusste nicht genau zu sagen an wen.

Die Sonne schien auf ihr wunderschön langes glattes Haar, ihre Augen strahlten voller Leben.

Seine Augen glitten über ihren eleganten Hals und ihrem zu einem Lächeln geformten Mund und seine Augen fingen an, zu glühen.

„Phil!“, zischte Sienna und schnappte ihm das Handy aus der Hand. Gerade noch konnte er ein verärgertes Knurren unterdrücken.

„Ich hänge sehr an meinem Handy“, sagte Sienna nur und frühstückte weiter. Phil atmete tief ein und versuchte, ihr Bild aus dem Kopf zu bekommen.

Zwecklos.

Als Sienna mit dem Frühstück fertig war und nur noch ihr Tee zwischen ihnen stand, beschloss Phil, sich weiter über den Auftrag zu erkundigen, um sich abzulenken.

„Wie ist ihr Name?“

„Vincent und Ileana. Sie sind Zwillinge, aber das hast du sicher gesehen“.

„Was planst du zu tun?“

Sienna lächelte verschwörerisch. „Wir brauchen den Beweis, dass sie Vampire sind, damit die Familie sie zu sich holen kann. Daher lautet unser bescheidener Auftrag konkret: DNA-Material beschaffen“.

Phil nickte. „Ok und wie lief dieses Treffen gestern genau ab?“

Sienna erzählte es ihm. „…und anschließend bin ich ihnen in dieses Jugendheim in Mayfair gefolgt und bin übers Fenster eingestiegen“.

Phil starrte sei mit offenem Mund an. „Aber…dann hättest du doch spielerisch ein Haar oder die ganze Bürste von diesem Vincent mitgehen lassen können!“, flüsterte er.

Sienna bedachte ihn ungerührt mit einem langen Blick und er schluckte. Mit einem Mal fühlte er sich ein wenig eingeschüchtert.

„Das würde die Leistung eines Anfängers entsprechen und das bin ich nicht, Philipp Aragon.

Außerdem könnte ich dich dann sofort wieder nach Hause schicken, willst du das?“

„Nein, natürlich nicht“, gab Phil sofort zu und Sienna lächelte kurz.

„Dachte ich mir. Nein, um es kurz zu sagen: Ihr Blut ist für mich weitaus interessanter“.

Sie nippte an ihrer Tasse Tee, während Phil realisierte, was sie gerade gesagt hatte.

„Du erwartest doch nicht ernsthaft, dass ich das übernehme?“

„Vorerst nicht, keine Sorge. Nein, ich setze nicht gleich das Leben der Zwei aufs Spiel.

Wir bauen eine Beziehung zu ihnen auf. In meinem Fall hat sich das auf wunderbare Weise schon erledigt. Du wirst Ileana den Schirm zurückbringen, den sie mir geliehen hat“.

Sie griff in ihre Handtasche, holte einen Knirps heraus und reichte ihn ihm.

Phil nahm ihn entgegen.

„Und wer soll ich deiner Meinung nach sein? Ein Penner, der ihn dir geklaut hat und nun Lösegeld fordert?“

Sienna verdrehte die Augen. „Ich glaube, da lässt du dir sicher etwas einfallen“.

Phil lehnte sich ein Stück vor.

„Schleichst du mir nach und schickst Berichte nach Kanada wie ich mich anstelle?“

Sienna sah ihn überrascht an.

„Warum fragst du mich das jetzt?“

Phil sah sie ernst an. „Man hat dir meine Vorgeschichte mitgeteilt, oder? Du weißt, warum ich hier bin?“

Sienna wirkte aufrichtig perplex. „Nein, das weiß ich nicht genau. Aber um deine Frage zu beantworten: Ich werde keine Berichte an Irgendjemanden schicken was dich betrifft, Phil. Ich gebe lediglich Rückmeldung wenn dieser Auftrag abgeschlossen ist“.

Phil gab sich damit kurzerhand zufrieden, doch seine schlechte Laune hielt an.

Sienna lehnte sich vor und ihr Gesichtsausdruck war freundlich.

„Ich vertraue dir, Phil. Du bist kein Idiot, das sehe ich dir an. Du wirst mich nicht enttäuschen, oder?“

„Nein, ich werde mein Bestes tun“, erwiderte Phil und mit einem Mal empfand er Dankbarkeit für Sienna.

Diese sah auf ihre Uhr und nickte. „Gut, es wird langsam Zeit. Ich schlage vor, du machst dich auf den Weg, die Adresse steht auf dem Stiel des Schirms also müsstest du es finden.

Ich erwarte dich dann im Hyde Park an der Parkbank, wo wir uns gestern getroffen haben“.

Phil nickte und stand auf. „Wir sehen uns“.



******


„Ich glaube, er hat Gefallen an dem Mädchen“.

„Beobachte es weiter, wenn er rückfällig wird, dann muss er zurück nach Kanada“, lautete der Befehl von Seiten Simon van Sciver.

Mir war vollkommen klar, dass ich ein enorm hohes Risiko damit eingegangen war, Phil allein mit Ileana sprechen zu lassen, doch was ich ihm heute beim Frühstück gesagt hatte galt:

Ich vertraute ihm.

Meine Erfahrung belief sich auf drei Jahrhunderte unter Vampiren und die menschliche Seite in mir sagte mir, dass Phil sich in Gegenwart Ileanas beherrschen würde.

Mein Spion erwartete mich an der Peter Pan Statue im Park.

Ich hatte Oliver vor einigen Jahren kennengelernt. Er lebte außerhalb der Vampir-Gesellschaft und betrieb ein kleines Cafe am See.

Er hatte mir auch den entscheidenden Hinweis gegeben, der mich veranlasste nach London zu kommen und die Zwillinge zu melden.

Er sah mich kommen und lächelte mir entgegen. Ein Kribbeln breitete sich in meinem ganzen Körper aus und ich lächelte zurück.

Er ergriff meine Hand und küsste sie in Gentleman-Manier.

Oliver entstammte ebenfalls wie Phil, der Familie Aragon, doch ich hatte ihn nie gefragt, in welchem Verhältnis er genau zu ihr stand. Dazu war ich genauer gesagt nie gekommen.

„Lange nicht gesehen, Madam“, begrüßte er mich und seine Zähne strahlten mit ihm um die Wette.

Ich ließ meine Hand in seiner und hielt sie fest, auch wenn sein Händedruck sich kühl an meiner Haut anfühlte und mein Körper sich in Alarmbereitschaft anspannte.

„Und das aus deinem Mund? Du bist älter als ich. Für dich müssen sich sechs Jahre anfühlen wie eine Sekunde“, sagte ich schmunzelnd.

Oliver verengte die Augen und betrachtete mich. „Sie sehen mir auch nicht gerade gesund aus, Miss Crowford. Sehe ich da graue Haare?“

Ich boxte ihn mit meiner freien Hand spielerisch in den Magen.

„Besonders witzig warst du noch nie“. Oliver hob beide Augenbrauen.

„Aber du lachst“. Tauche…

Ich ließ seine Hand los, Oliver gab sie wiederstrebend frei und fuhr sich stattdessen durch sein dunkelblondes Haar.

„Ich habe eine Frage an dich. Es betrifft ein Mädchen mit dem Vincent und Ileana wohl befreundet sind“.

Oliver bot mir seinen Arm an und ich reichte ihm Meinen. Gemeinsam schlenderten wir durch den Park. „Du meinst sicher Joanna Newton. Sie ist ein Jahr jünger als die Zwillinge und hat einen Nebenjob im Pub Old Trafford.“

Ich lächelte zufrieden. „Wie sieht ihr Umfeld aus?“

„Ihr Vater ist vor fünfzehn Jahren bei einem Arbeitsunfall in einem Kraftwerk ums Leben gekommen und ihre Mutter ist, soviel ich weiß, schwer depressiv geworden und in einer psychiatrischen Einrichtung. Joanna ist seit vier Jahren im St. Paul“, sagte Oliver.

Ich fröstelte augenblicklich und er zog mich instinktiv näher an sich.

Doch ich war bei Weitem noch nicht fertig mit der Befragung.

„Wie steht sie genau zu den Zwillingen?“

Oliver und ich steuerten sein Cafe am See an, das wie immer gut besucht war.

„Joanna steht Ileana näher als Vincent. Das „Beste Freundinnen-System“. Wie sie zu Vincent steht, kann ich dir nicht genau sagen“.

Ich nickte. „Danke, Oliver. Wie immer bestens informiert“.

„Für dich immer“, erwiderte er entspannt.

„Dein Cafe läuft gut, wie ich sehe“, sagte ich hastig um meine Verlegenheit zu überspielen.

Oliver schien das nicht zu entgehen, ließ mich los und trat vor mich.

„Wir können auch gern woanders hingehen, wo wir etwas mehr…für uns sind“, schlug er vor und strich mir wie selbstverständlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Ich wüsste da etwas“, sagte ich und Oliver ließ seine Hand an meiner Wange entlang gleiten. Für einen kurzen Moment blieb sie an meinem Hals liegen, wo mein Puls verräterisch kraftvoll meine Gefühle verriet.

Er umschlang meine Taille mit seinem Arm und ich ließ mich gegen ihn sinken, lehnte mich mit dem Kinn an seine Brust.

„Ich habe dich vermisst, Sienna“, murmelte er. Ich atmete tief ein und trat einen Schritt zurück. „Komm“, sagte ich leise und streckte ihm meine Hand entgegen.

















Kapitel 3



Mit einem strahlenden Grinsen hielt Ileana ihm den Brief entgegen und Vincent nahm ihn ihr ab.

Er brauchte nicht erst den Inhalt zu lesen, das Wappen der Universität Oxford in der obersten Ecke sagte ihm alles.

„Ich. Bin. Angenommen!“, rief Ileana freudig und hüpfte begeistert durch Vincents Zimmer.

„Es wäre reichlich faszinierender gewesen, wenn sie dich abgelehnt hätten“, bemerkte er trocken und Ileana schleuderte ihm ein Kissen vom Bett entgegen, das er jedoch lässig auffing.

„Deine Kommilitonen sollten sich in acht nehmen, Nächstes Jahr wirst du noch zum Tutor ernannt, wenn das so weitergeht“.

Ileana grinste und lief rosa an. „Vincent, das müssen wir feiern!“

„Aha und mit wem? Noch so eine Orgie wie gestern und wir können Joanna gleich auf einem abgelegenen Friedhof parken.“

Ileana band sich ihr langes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und machte ihre Jacke zu.

„Dann eben alkoholfrei, Bruderherz. Ich hol uns was aus dem Laden um die Ecke“.

Vincent zuckte mit den Schultern. „Wie du meinst.“ Er warf einen Blick nach draußen.

„Aber nimm einen Schirm mit, sonst können Joanna und du gleich eine Krankenstation aufmachen“.

„Oh, verdammt. Den habe ich doch diesem Mädchen von gestern gegeben“, sagte Ileana.

Vincent sah sie an. „Ach ja…stand da nicht deine Adresse drauf?“

„Doch, schon. Egal, ich lauf schnell“.

Es klopfte an der Tür und Vincent rief: „Herein!“

Es war Vincents Zimmernachbar, Patrick, der seinen Kopf ins Zimmer steckte.

„Hey Ileana. Du hast Besuch in der Eingangshalle.“

Die Zwillinge sahen sich an. „Ok, danke Paddy“.

„Na dann geh mal“, kommentierte Vincent als Patrick gegangen war.

Ileana knuffte Vincent an die Schulter, dieser stand auf und umarmte seine Schwester einmal fest.

„Herzlichen Glückwunsch, Ileana“, sagte er und ließ sie wieder los. Sie lächelte ihn an und verließ das Zimmer.

Für einen Moment starrte er die Tür an und seufzte. Ein Stipendium für Oxford war schon immer Ileanas Traum gewesen.

Dass er sich für sie erfüllt hatte freute ihn ebenso sehr, doch er fragte sich, ob es noch jemand Anderen gefreut hätte abgesehen von ihren Freunden.

Sicher, die Pflegefamilien, die Ileana gern aufgenommen hätten wären überaus entzückt gewesen. Doch Ileana wollte nicht gehen, nicht ohne Vincent, ihrer Familie.

Und so waren sie geblieben. Jahr für Jahr, gab es Anträge oder Eltern, die Ileana gern hätten haben wollen, doch sie war stur geblieben.

Mit der Zeit hatte sich Vincent daran gewöhnt und mittlerweile war er darüber hinweg, doch ein winziger Stachel der Enttäuschung saß immer noch tief.

Reiß dich zusammen, dachte er bestimmt. Du studierst bald Politikwissenschaften und kannst sie mit dem Gesetz langweilen wenn sie dich mit Jane Austen und Shakespeare nervt.

Ein wenig besser gelaunt machte er sich auf den Weg nach unten, um Ileana vielleicht noch einzuholen. Er ging schnellen Schrittes durch die Korridore, erreichte die große Treppe die in die Eingangshalle führte und blieb wie angewurzelt stehen.

Am Fuße der Treppe stand seine Schwester vollkommen in ein Gespräch vertieft mit einem jungen Mann, den er noch nie gesehen hatte.

Er ging langsam auf die beiden zu und räusperte sich vernehmlich, als er nur noch drei Treppenstufen über ihnen stand.

Ileanas Gesprächspartner wandte sich ihm zu.

Er war groß, blond und attraktiv. Er schenkte ihm ein höfliches Lächeln, das Vincent nicht erwiderte.

„Hey Vincent. Das ist Phil. Er hat mir meinen Schirm zurückgebracht“, sagte Ileana und tatsächlich hielt sie ihren blauen Knirps in einer Hand.

„Du bist sicher ihr Zwillingsbruder, Kumpel“, sagte Phil und Vincent nickte.

„Stimmt und wer bist du genau? Wie kommst du überhaupt an ihren Regenschirm?“

Phil schien anhand von Vincents grober Art nicht in die Knie zu sinken, sondern hielt fest seinem Blick stand.

„Meine Cousine Sienna und ich machen hier Urlaub und sie hat mich gebeten den Schirm zurückzubringen. Sie hätte es gern persönlich getan, doch sie liegt mit einer Erkältung im Bett.“

„Dann hat ihr dein Schirm doch nicht so viel gebra…“, begann Vincent doch Ileana warf ihm einen bösen Blick zu und er verstummte.

„Dann wünschen wir ihr natürlich gute Besserung“, fügte er hastig hinzu. Phil kramte unterdessen in einem seiner Hosentaschen und holte eine ziemlich zerquetschte Packung Tabletten hervor.

„Hier das ist für eure Freundin. Sienna erzählte mir, ihr wäre es gestern wohl schlecht gegangen“. Vincent starrte die Packung an als wäre sie eine Giftspinne.

Den Schirm zurückzubringen war ja noch nachvollziehbar, doch jetzt noch die Tabletten für Joanna? Ileana jedoch nahm sie Phil ab. „Vielen Dank.“

Vincent verdrehte die Augen.

„Wir wollten übrigens heute Abend ein wenig feiern und wenn ihr neu in London seid, kommt doch mit wenn es deiner Cousine besser geht?“, fragte sie Phil.

Vincents heftiges Kopfschütteln ignorierte sie.

Phil lächelte. „Klar, warum nicht, danke“.

Ileana schrieb Phil ihre Handynummer auf einen Zettel, reichte ihn ihm und er verabschiedete sich schließlich wieder.

Ileana sah ihm nach und Vincent trat mit verschränkten Armen neben seine Schwester.

„Habe ich da gerade den ersten Flirt meiner kleinen Schwester live miterleben dürfen?“

Sie sah ihn mit frostigem Gesichtsausdruck an.

„Da hast du Recht. Aber im Gegensatz zu dir breche ich nicht ein Herz nach dem Anderen“, sie stürmte nach draußen und ließ Vincent verwirrter denn je zurück.



*******


Blut tropfte in das Waschbecken. Mit zitternden Händen drehte ich das Wasser auf und betupfte die Wunde an meinem Hals.

Die Tür zum Badezimmer ging auf. Oliver trat ein, lediglich mit seiner Hose bekleidet und mit sorgenvollem Blick.

„Hey ist alles in Ordnung?“, fragte er.

Ich ignorierte ihn konsequent, während ich mir die Hände wusch und den Kragen meines hastig übergestreiften Morgenmantels musterte, der zum Glück keine Blutflecke abbekommen hatte.

Oliver trat hinter mich und legte eine Hand auf meine Schulter.

„Sienna, es tut mir wirklich wahnsinnig leid“.

Ich wirbelte herum und schlug seine Hand weg. „Spar dir deine Worte! War es Das, was du all die Jahre wolltest?! Von einem Werwolf probieren? Wenn das der Fall ist, verschwinde von hier“, fauchte ich ihn an.

Oliver riss die Augen auf und schüttelte den Kopf.

„Das ist nicht wahr! Außerdem habe ich eindeutig mehr getan, als nur von dir zu probieren…“, fing er an doch ich stürmte an ihm vorbei ins Zimmer zurück, schnappte seine auf dem Boden verstreuten Kleider ein und warf sie ihm in die Arme, als er mir nachlief.

„Die kannst du draußen anziehen“, sagte ich, stürmte zur Tür und riss sie auf.

Oliver ging schweigend an mir vorbei. Doch ich konnte die Tür nicht zuschlagen, ich sah ihn noch kurz an.

„Du weißt, wie es für uns ist. Die Lust überwältigt und wir haben keine Kontrolle über uns selbst“, sagte er.

„Trotz allem solltest du Prioritäten setzen, oder? Wenn du deinen Durst über mein Leben stellst, kann ich dich nicht länger als Spion akzeptieren“, sagte ich bestimmt und schlug die Tür zu.

Dann sank ich auf den Boden und versuchte, nicht in Tränen auszubrechen…




































Kapitel 4



„Was ist mit deinem Hals passiert?“, fragte Phil zum vierten Mal.

Er saß in Siennas Zimmer in einem bequemen Sessel mit Fußlehne, während sie sich seit einer Stunde im Bad verbarrikadierte.

„Nichts!“, lautete die Antwort, ebenfalls zum vierten Mal.

Phil ließ sich jedoch nicht täuschen. Sie hatte ihm nach seiner Rückkehr aus dem St. Paul eine SMS geschrieben, dass sie ihn im Hotel erwartete.

Er konnte in ihrem Zimmer immer noch einen leichten Geruch von Blut ausmachen, doch Sienna blieb stur und sagte nichts.

Als sie aus dem Bad kam, hatte sie ein dünnes blutrotes Tuch um den Hals gebunden, darüber hinaus trug sie eine schneeweiße Bluse und ihre schwarze Lederjacke.

„Du hast die Zwillinge aufgesucht. Wie lief es denn?“, fragte sie.

Phil erzählte ihr alles, während Sienna am Türrahmen stehen blieb.

„Haben sie zufällig erwähnt, wo sie feiern gehen möchten?“, fragte Sienna, als er geendet hatte.

Phil schüttelte den Kopf. Sienna trat ans Fenster hinüber und sah hinaus.

Es regnete immer noch in Strömen.

Phil war sich sicher, dass etwas passiert war, doch er wollte ihr keine weiteren Fragen stellen.

„Sie werden uns ohne Zweifel in einen ihrer Clubs im West End schleifen wollen, was keine gute Idee ist, dort haben wir keine Macht über sie“, murmelte sie.

„Das klingt schräg“, meinte Phil.

Sienna drehte sich zu ihm um. „Es geht darum, uns nicht zu vielen Menschen auszusetzen. Wir brauchen ihr Blut und dafür auch ihr Vertrauen. In einer von Neonleuchten behängten Disco und Heavy-Metal-verseuchter Atmosphäre lässt das sich kaum bewerkstelligen!“, fuhr sie ihn an.

„Was habe ich dir bitte getan?“, fragte Phil und stand auf.

Sienna öffnete den Mund, um zu antworten, doch sie schloss ihn wieder und besann sich scheinbar anders.

„Entschuldige, ich wollte dich nicht so angehen“, sagte sie ernst und Phil nickte nur, auch wenn er immer noch nicht wusste, warum sie so aufgebracht war.

„Ich habe bereits eine Lokalität im Auge. Ich nenne dir die Adresse und du schickst sie mit Uhrzeit an Ileana. Mehr nicht.“

Phil starrte sie an. „Wieso?“

Zum ersten Mal an diesem Abend lächelte Sienna. „Es verleiht dem Ganzen einen besonderen Reiz“.

„Na gut, das ist dein Plan“, sagte Phil.

Sienna kam nun zu ihm hinüber und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

„Ich hatte eine Verabredung, die etwas aus dem Ruder lief. Ich habe eine Wunde davongetragen aber es ist nichts Schlimmes. Mach dir keine Sorgen um mich“.

Von dem plötzlichen Geständnis überrascht konnte Phil nichts anderes tun, als stumm mit dem Kopf zu nicken.

„Ich werde mich allerdings noch einmal untersuchen lassen, nur um sicherzugehen. Wir treffen uns vor Ort. Die Adresse schicke ich dir per SMS“, sagte sie und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer.

„Na danke für das nette Gespräch“, murmelte Phil, doch der Ärger über seine Mentorin war endgültig verraucht.

Er zückte sein Handy und schickte folgenden Text:

Sie ist sauer. Was hast du ihr angetan? Philipp

Nach einer Minute kam die Antwort:

Das geht dich nichts an. Privatangelegenheit. Oliver

Doch Phil ließ sich nicht so leicht abwimmeln:

Ich bin dein Bruder und sie ist meine Partnerin.

Olivers Antwort blieb knapp:

Dein Pech.

Da kam Siennas SMS mit der Adresse ihres Treffpunktes mit den Zwillingen dazwischen und Phil leitete sie umgehend an Ileana zusammen mit der Uhrzeit weiter.

Dann knöpfte er sich wieder Oliver vor:

Wenn du sie gebissen hast und sich ein Band bildet, ist das euer Pech!

Oliver antwortete daraufhin nichts. Vermutlich zog er diese Möglichkeit erst jetzt in Betracht, was Phil für vollkommen unsensibel und unreif hielt.

Er hatte nicht vor, Sienna etwas von seiner Verbindung zu Oliver zu erzählen. Ihre Beziehung war mehr als kompliziert. Außerdem wäre sein Vater darüber nicht sehr erfreut wenn herauskam, dass er Kontakt zu Oliver hatte, zumal er sowieso nicht gut auf Phil zu sprechen war.

Phil stand auf und ging in sein eigenes Zimmer, ein paar Türen weiter, um sich für den Abend umzuziehen.

Die Sorge um Sienna blieb jedoch, er konnte nur hoffen, dass sie nicht durch Olivers Fehler an ihn gebunden war.


































Kapitel 5


„Sie hatten Glück, Miss Crowford. Wer immer Sie da in die Finger bekommen hat, hat nicht genügend Blut von Ihnen getrunken, um eine Blutsverbindung entstehen zu lassen.“

Ich atmete erleichtert auf und lehnte mich in dem Behandlungsstuhl zurück in dem ich saß.

Dr. Karin Lovett war eine Ärztin in Diensten der Familie und führte eine kleine Praxis im Londoner Stadtteil Hampstead.

Sie behandelte alle möglichen Personen, von menschlichen Säuglingen bis hin zu einem angeknabberten Werwolf wie mich.

Sie war ebenfalls ein Vampir, lebte jedoch seit ihrer Scheidung nicht mehr unter ihnen.

„Vielen Dank, Dr. Lovett. Sie wissen gar nicht, wie sehr Sie mir geholfen haben“, sagte ich dankbar und stand auf.

„Was führt Sie nach London, Miss Crowford? Ich dachte, Sie stehen in Diensten meines Bruders?“

Ihre bernsteinfarbenen Augen ruhten nach wie vor auf mir und ich zögerte kurz.

„Das kann ich Ihnen nicht sagen, tut mir leid. Geheimhaltung ist in diesem Fall von höchster Priorität.“

Dr. Lovett stand ebenfalls auf, ihre Miene war ernst. „Sie wurden verletzt.

So ein Biss wie dieser an Ihrer wohl intimsten Stelle kommt nicht von irgendwoher, da bin ich mir sicher. Also warum sind Sie hier?“

Ich verschränkte die Arme. „Hört sich nach einer Drohung an. Was soll dieses Spiel?“

Karin Lovett war als eine Art Engel bekannt, ihre schwarzen Locken und ihr herzförmiges Gesicht verliehen ihr dieses Aussehen, doch jetzt wirkte sie eher bedrohlich.

„Ich bin nicht von gestern, Miss Crowford. Sie vernachlässigen in diesem Fall Ihre Aufgabe.

Sie wissen, dass meine Kontakte bis nach ganz oben reichen?“

Ich war irritiert anhand ihrer Reaktion und setzte mich wieder ihr gegenüber, denn offensichtlich lag hier keine akute Bedrohung ihrerseits vor.

„Ich versichere Ihnen, dass ich meine Aufgabe zur vollsten Zufriedenheit Ihres Bruders ausführen werde.“

„Daran zweifle ich nicht, Sie sind die Beste, wie man hört. Doch ist es auch für die Zwillinge das Beste?“

Ich stand auf und schlug mit beiden Handflächen auf den Schreibtisch, die Augen fest auf die Ärztin gerichtet, die zusammenzuckte.

„Woher wissen Sie davon? Was geht hier vor?“

In diesem Moment ging die Tür des Behandlungszimmers auf und eine in schwarz gekleidete Frau betrat das Zimmer.

Der Geruch eines Vampirs ging von ihr aus, ich zog mich sofort in Richtung Fenster zurück und zog meinen Revolver hervor.

„Kein Grund zur Sorge, Miss Crowford.“

Sie sah mich mit unerschrockener Miene an und lächelte. Ich verengte misstrauisch die Augen.

Sie war einen ganzen Kopf kleiner als ich, ihr rotbraunes Haar hatte sie zu einem strengen Knoten gebunden, ihre Augen hatten die Farbe reinsten Silbers.

Ihr Aussehen konnte ich nicht einordnen, sie schien weder den Van Scivers noch den Aragons anzugehören.

„Wer sind Sie?“, fragte ich sie. Die Fremde sah Dr. Lovett kurz an, dann wieder mich.

„Bevor ich Ihnen meinen Namen nenne, brauche ich Ihr Wort niemandem etwas von meiner Anwesenheit zu verraten. Ich weiß von Ihrem Auftrag hier in London und auch, dass Philipp Aragon Sie begleitet.“

Anhand dieser Tatsachen war ich eindeutig im Nachteil, doch wohin würde dieses Gespräch führen?

Ich schluckte und nickte. „In Ordnung, Sie haben mein Wort.“

Die Frau nickte und nahm auf meinem Stuhl Platz, während ich am Fenster stehenblieb und Dr. Lovett weiterhin im Auge behielt.

„Mein Name ist Arina van Sciver, ehemalige Clanführerin der Familie und Tante der Zwillinge Vincent und Ileana van Sciver.“

Plong

Mein Revolver landete auf dem Parkettboden und mein Körper erstarrte.

Ich hatte einen unbekannten Namen erwartet, langweilig und ohne Bedeutung, doch jetzt sah ich mich mit drei Informationen konfrontiert, die einschlugen wie eine Bombe.

Arina van Sciver war in der Tat die ehemalige Clanführerin der mächtigsten Vampir-Familie in Europa. Bis sie aus mir unbekannten Gründen ihren Gefährten Simon verließ und ihren Status aberkennen ließ.

Simon van Sciver hatte daraufhin Lara, Arinas Halbschwester geheiratet.

Diese Verbindung machte sie tatsächlich zu Vincents und Ileanas Tante.

Dr. Lovett bot mir schweigend ihren Stuhl an, doch ich schüttelte nur den Kopf und sah Arina an. „Was wollen Sie von mir?“

Arina lächelte zuvorkommend. „Sie brauchen sich nicht zu sorgen, Miss Crowford. Ich werde weder meinem Ex-Ehemann etwas von ihrer Liaison mit Oliver Aragon erzählen, noch werde ich mich in Ihren Auftrag einmischen, wenn Sie kooperativ mir gegenüber sind.“

Schon passiert, dachte ich zornig und sah auf die Uhr. Es wurde langsam Zeit mich auf den Weg zu unserem Treffen zu machen sonst kam ich noch zu spät.

„War´s das?“

„Nein, ich fürchte noch nicht ganz. Ich muss Sie um einen Gefallen bitten, Miss Crowford und das ist keine Kleinigkeit.“

Ich steckte meinen Revolver wieder in die Innentasche meiner Lederjacke und verschränkte die Arme. „Inwiefern?“

„Ich verlange Zeit von Ihnen. Zeit, die ich benötige, um die Zwillinge zu mir zu nehmen“, lautete die Antwort.

„Wie kommen Sie auf die Idee, ich würde mich auf diesen Deal einlassen?“, fragte ich leicht lachend. Ihr Vorschlag war absurd.

Arina van Sciver blinzelte. „Ich fürchte, Sie haben keine Wahl.“

Verflucht! Ich presste den Kiefer zusammen, ich konnte nichts mehr darauf antworten. Woher stammte diese Sicherheitslücke?!

„Mal angenommen, ich lasse mich auf diesen Vorschlag ein. Wie wollen Sie das mit Simon van Sciver regeln, ohne dass diese kleine Unterhaltung herauskommt?“

Arina nickte verständnisvoll. „Ich bin in der Lage, Vincent und Ileana ein Heim zu bieten, fernab der Intrigen und Probleme der Familie, Miss Crowford. Ich denke, das wird selbst mein Exmann einsehen. Auch ich habe meine Spione.“

Ich dachte einen Moment über diesen Vorschlag nach.

„Ich werde über Ihr Angebot nachdenken. Morgen um dieselbe Zeit gebe ich Ihnen Bescheid, wenn Ihnen das genügt.“

Arina und Dr. Lovett tauschten Seitenblicke, dann nickte sie. „Danke, Miss Crowford.“



******


„Du siehst wirklich gut aus, Ileana, aber würdest du jetzt bitte aufhören, dich ständig im Spiegel anzustarren? Oder willst du ihn noch fragen, ob du die Schönste im ganzen Land bist?“

Vincent lehnte am Türrahmen zu ihrem Zimmer, während Ileana vor ihrem Spiegel stand.

Joanna kicherte und nahm einen weiteren Schluck aus ihrer Tasse.

Sie fühlte sich immer noch ausgelaugt und war untröstlich ob der Tatsache, dass Vincent und Ileana sie allein lassen mussten.

„Spar dir deine Worte, Vince.“

„Ich warte unten auf dich. Bis dann, Jo!“, sagte er und entfernte sich.

Ileana zupfte an ihrer indigoblauen Bluse und warf Joanna einen Blick zu, die sehnsüchtig auf die Stelle starrte, wo Vincent gestanden hatte.

„Wie lange willst du es noch hinauszögern?“

Joanna zuckte zusammen und starrte auf ihre Tasse.

„Es hat keinen Sinn. Er sieht mich lediglich als gute Freundin, Ileana.“

„Und woher willst du das wissen? Du hast Klarheit, wenn du ehrlich zu ihm bist, Jo. Das ist alles, was ich dir raten kann“, sagte Ileana bestimmt.

Joanna lächelte leicht. „Na dann, lass deinen Traummann nicht warten, Süße.“

Ileana lief rot an.

„Phil ist nicht mein Traummann. Ich habe ihm lediglich angeboten …“, doch Joanna nickte.

„Schon klar.“

Ileana seufzte, zog ihre Jacke über und ging nach unten, wo Vincent bereits auf sie wartete.

„Na dann. Also warum machen wir das eigentlich mit? Dieser Typ schickt dir irgendeine Adresse und du gehst blind darauf ein? Haben sie nicht behauptet, sie seien zum ersten Mal hier?“, fragte er, als sie sich auf dem Weg zur U-Bahn machten.

„Tatsächlich hat Phil nur erwähnt, dass er mit seiner Cousine hier Urlaub macht.

Wenn er mir die Adresse geschickt hat, dann entweder, weil er sich schon gut in London auskennt oder uns beide in einen Hinterhalt locken und uns kidnappen will.“

Vincent hielt ihre Version für ziemlich weit hergeholt.

„Du scheinst ausgiebig über diesen Kerl nachgedacht zu haben“, bemerkte er nur.

„Nicht mehr wie sonst über jemanden, der mir sympathisch ist.“

Vincent grinste. „Ich freue mich immer mehr auf diesen Abend.“

Eine halbe Stunde später standen sie vor einem kleinen Restaurant und Ileana sah noch einmal auf das Display ihres Handys, während Vincent die Straße rauf und runter blickte.

„Also die Adresse stimmt eindeutig“, bestätigte Ileana.

Vincent sah auf die Uhr. „Es ist gleich neun. Wir warten besser da drin.“

Sie betraten das Restaurant, dessen Empfangsraum dunkelbraun vertäfelt war. Der Boden bestand aus antiken Teppichen, selbst die Bilder an den Wänden wirkten wie aus dem späten neunzehnten Jahrhundert.

„Wow“, kam es von Ileana. „Ein Glück, das du dich so herausgeputzt hast“, meinte Vincent, während sie auf einen freundlich blickenden Empfangschef zugingen.

Vincent packte Ileana am Arm und hielt sie zurück. „Warte mal. Sollten wir nicht auf Blondlöckchen warten?“

„Blondlöckchen steht schon hinter euch“, sagte eine amüsierte Stimme und Vincent fuhr herum.

Wahrhaftig stand Phil vor ihm, der spöttisch lächelte.

„Hey. Ganz schön teurer Laden“, begrüßte Vincent ihn und Phil neigte leicht den Kopf.

„Bedank dich bei Sienna. sie hat das Restaurant ausgesucht, sie verspätet sich etwas.“

Seine Augen richteten sich wie magnetisch auf Ileana.

„Wir sollten uns einen Tisch suchen, meint ihr nicht?“

Das Restaurant erinnerte an dem Stil aus den dreißiger Jahren, Vincent konnte Ileanas verliebten Blick förmlich spüren: Ihre Augen bewunderten jeden einzelnen Quadratzentimeter des großen Raumes, dessen Tapete moosgrün mit goldenen Weinranken verziert war.

Gewaltige Kronleuchter aus Kristall hingen von den hohen Gewölbedecken, aus denen spielende Engel gehauen worden waren.

Die Tische waren an der Wand aufgestellt worden, umgeben von gemütlichen Sitzpolstern, damit die Gäste etwas Privatsphäre genießen konnten.

Das Schmuckstück des Restaurants bildete der hintere Teil des Ladens.

Dort gingen die Verzierungen in die Wand über, sodass der Gast den Eindruck bekam, in eine Art Höhle aus Kunst zu tauchen.

Beleuchtet wurde sie lediglich durch Kerzen, die von den herausgearbeiteten Engeln gehalten wurden.

Ein Flügel war darin aufgestellt und ein kleines Ensemble spielte darin.

„Ist es nicht seltsam, dass wir seit bald zwanzig Jahren in London leben und diesen Traum übersehen haben?“, fragte Ileana Vincent und dieser zuckte mit den Schultern.

„Die schönsten Kleinigkeiten werden oft übersehen“, warf Phil ein.

Vincent warf ihm einen skeptischen Blick zu.

„Ihr kennt euch also doch hier aus, richtig?“

„Sienna kennt sich hier aus. Meine Eltern haben mich genötigt, mit ihr hierher zu kommen“, antwortete Phil und lehnte sich zurück.

„Was heißt genötigt?“, fragte Ileana neugierig. Phil senkte den Blick, seine Hände, die auf dem Tisch lagen, verkrampften sich ineinander.

Vincent seufzte innerlich. Manchmal war seine Schwester zu wissbegierig.

Ileana schien es ein wenig peinlich zu sein.

„Entschuldigung. Ich wollte nicht indiskret sein.“

Phil schüttelte den Kopf und wirkte plötzlich um einiges reifer. „Schon in Ordnung. Ich hätte das Thema nicht anschneiden sollen.“

Ein Kellner erschien und nahm ihre Bestellung auf. Während Vincent und Ileana etwas sich bestellten, lehnte Phil mit der Begründung ab, er wartete auf seine Cousine.

„Und Ileana, du bist Literatur-Expertin?“, fragte Phil unerwartet und Ileana sah ihn verwundert an.

„Richtig. Ich studiere bald Literatur und Kunstgeschichte. Woher weißt du das?“

Phil zuckte nur mit den Schultern. „Sieht man dir an. Die Art, wie verzaubert du von dem Raum bist.“

Vincent trieb Phils unverfrorenes Verhalten allmählich auf die Palme. „Ich würde dafür höchstens einen Sinn für Kunst schließen“, entgegnete er entschieden.

Phils Augen sahen ihn forschend an. Lag es am Licht oder kamen sie ihm eine Spur dunkler vor?

„Dieser Raum ist originalgetreu aus einem der größten Literaturwerke der Geschichte übernommen worden“, antwortete Ileana langsam.

„Aha.“

Vincent passte es nicht, dass Phil bei seiner Schwester punktete.

„Entschuldigt mich bitte kurz“, sagte Phil und stand auf. Als er um die Ecke in Richtung Flur gebogen war, sah Ileana ihren Bruder fassungslos an.

„Was ist heute mit dir los?

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Lektorat: Bettina Auer
Tag der Veröffentlichung: 29.03.2015
ISBN: 978-3-7368-8633-9

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Eltern und Ela & Mone in Liebe

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