Cover

Oma's Kohlsuppe

Heute ist der Todestag meiner Oma. Sie ist vor 10 Jahren von uns gegangen. Ich muss noch oft an Sie denken. Man sagt, wenn die Zeit in der Sanduhr abgelaufen ist, sieht man am Ende des Tunnels ein Licht. Das Leben würde noch mal an einen vorziehen.

Ich weiß nicht ob das stimmt oder wie es wirklich ist, aber ich stell es mir so vor. Als würde man einen alten Spielfilm auf einen Kasten Fernseher mit Bild zurückspulen. Man startet beim Abspann und endet beim Filmtitel oder beim brüllenden Löwen. Kann schon sein, dass die Bilder am Anfang des Ablaufens etwas schneller laufen wie beim Blättern eines Daumenkinos und die Bilder am Ende langsamer. Was man als letztes gesehen hat ist einem noch frisch im Gedächtnis und präsent. Dinge, die in der Ferne liegen stell ich mir dagegen so vor als würde man ein altes, verstaubtes Dia, das Jahre lang in einem Schuhkarton auf den Dachboden geschlummert hat wiederfinden. Man sieht nur noch Umrisse und kann sich kaum erinnern.

Aus meiner Kindheit weiß ich nicht mehr viel. Wenn man mich fragen würde, wie unsere erste Wohnung geschnitten war, in der wir lebten, kann ich nichts mehr dazu sagen. Ich weiß weder die Anzahl der Räume, noch die Lage der Wohnung. Man muss dazu sagen, dass ich damals 4 Jahre alt war, als wir das erste Mal umgezogen sind.  Wir sind in damals öfters umgezogen, eh wir in das Haus meiner Großmutter nach Gotha gezogen sind. Es war ein drei Parteienhaus. Die Wohnung oben war an eine ältere Frau vermietet. Sie konnte kaum sehen und sammelte aber die Tageszeitung lückenlos inklusive Werbungsblätter.  Sie lass sie immer mit einer Lesemaschine, die bei ihr auf den Flur stand. In der mittleren Wohnung wohnten wir und nach ganz unten zogen meine Großeltern väterlicher Seite ein.

 

 

 

Sie kochten immer für meinen Bruder und mich Essen. So blieb uns der Kantinenfraß erspart. Wir blieben solange bei Ihnen bis unsere Eltern von der Arbeit heimkamen. Es schmeckte toll. Es gab nur zwei Probleme. A Oma tat immer zu viel auf und alle mussten sitzen bleiben, bis der letzte aufgegessen hatte und das war meistens ich. Und B sobald sie merkte mir schmeckte etwas besonders gut gab es, das so lange bis es mir zum Halse raus hin. Eines Tages gab es Kohlsuppe mit Thüringer Knackwurst angebraten und ganzen Pfefferkörnern drin. Lecker!!! Ich hätte mich darin reinsetzen können. Nur als es das den dritten Tag in Serie gab hat mein Opa rebelliert. In russischer Gefangenschaft gab es nicht anderes für ihm. 

Er hat mich immer mit zum Einkaufen genommen und ich habe ihm beim Tragen geholfen. Als Dankeschön durfte ich mir eine Zahlenreihe aussuchen. Er spielte immer 6 aus 49 aber nur die Samstagsziehung. Er war sehr abergläubisch spielte seit 40 Jahren dieselben Zahlen, und immer wenn der Mond zunahmen, sagte er: „Es gibt Geld.“. Wir drückten gemeinsam vor der Flimmerkiste die Daumen. Jedes Jahr zum Jahreswechsel kaufte er einen neuen Kalender, aber es durfte nicht irgendeiner sein. Es musste einer sein wo der Mondverlauf drauf sichtbar war. Damit wir immer wussten wann sich eine Glücksträhne anbahnte. Es kam leider nicht viel bei rum. Wenn es danach ging war fast immer Mondfinsternis, aber die Lottoziehung war immer sein Heiligtum. Ich glaube es gab nicht eine Ziehung die er im Fernsehen verpasste. Heute weiß ich was es für Ihm bedeutete als die Zahlen aus der Trommel fielen und auf ein langen Arm entlangliefen bis sie von der Ansagerin bekannt gegeben wurden. Mein Opa wiederholte sie und ich kreuzte sie immer an. Es ging dabei bei nicht nur ums Gewinnen, sondern viel mehr ums gemeinsame Mitfiebern und das Zusammengehörigkeitsgefühl.

 

 

 

 

Ein Jahr nachdem mein Opa starb wurde meine Oma ins Krankenhaus eingeliefert mit Krebs. Ich hatte zu dem Zeitpunkt grade die Schulzeit abgeschlossen, den Führerschein erhalten und mit einer Ausbildung begonnen. Das Leben sollte vor mir liegen in allen seinen Farben. Ausgerechnet da kreuzte die Farbe schwarz meinen Weg. Ich war sie oft besuchen, auch wenn es hart für mich war. Niemand anderes aus meiner Familie konnte sie besuchen, da alle auswärts arbeiten. Also habe ich meinen Mut zusammengenommen und sie mehrmals in der Woche besucht. Es war nicht leicht für mich, denn die eigentlich starke Frau, die sich vor keiner Gartenarbeit scheute jetzt so hilflos und zerbrechlich zu sehen.  Ich musste immer aufpassen, wenn ich das Krankenzimmer betrat, das ich nicht gleich losheulte, denn ich wollte ihr nicht das Gefühl geben, das sie ein Ballast ist. Ich wollte ihr viel mehr das Gefühl vermitteln, dass sie etwas Besonderes ist und danke sagen für alles was sie für uns getan hatte. Man merkte wie sie Tag für Tag abbaute. Beim letzten Mal hatte ich ein Halma Brett dabeigehabt um sie abzulenken. Nein eigentlich damit wir uns nicht permanent in die Augen schauen müssen. Sie hatte es mir beigebracht als ich 8 Jahre alt war und sie noch nicht bei uns lebte. Ich baute die Figuren auf und wir spielten. Bei ihrem ersten Zug stößt sie aus Versehen alle Figuren um. Es war kein Problem für mich. Ich sagte ihr das es meine Schuld war, weil ich das Brett auf eine unebene Stelle auf dem Tisch aufgebaut hatte und wir lachten.

Wir spielten eine Weile, als die Tür aufging und eine Krankenschwester nach uns schaute. Sie war in meinem Alter und sah nett aus. Sie brachte ein Stück Apfelkuchen und einen Fencheltee. Oma fragte scherzhaft die Krankenschwester: „Nur eins? Wir sind doch zu zweit junge Dame.“ Wir alle drei lachten. Sie hatte schöne Zähne. „Ja leider nur eins“, sagte sie,“ die Krankenhausleitung hat uns die Portionen zugeteilt, aber wenn sie möchten, kann ich ihn gerne meins bringen“. „Das ist aber liebgemeint“, entgegnete Oma bevor ich antworten konnte, „aber sie müssen auch was essen mein Kind, nicht das sie vom Fleisch fallen und mir niemand mehr meine Tabletten bringen kann, die ich doch benötige.“ „Und wenn ich niemanden hätte, den ich nicht die Tabletten bringen kann, hätte ich keinen Job mehr. Es ist also eine Win-to-Win Situation.“ Wir lachten wieder. Kurz darauf verließ sie den Raum und wir waren wieder unter uns.

Es dauerte nicht lange, bis Oma einen Zug machte, der nicht erlaubt war. Ich schaute sie fragend an und versuchte, ihr zu erklären, was sie gerade falsch gemacht hatte. Doch Oma war sich keine Schuld bewusste.  Und so ließ ich sie gewähren. Sie machte es noch ein paar Mal, doch es war mir egal. Es ging in dieser Partie eh nicht ums gewinnen. Ihr Blick war unbezahlbar als sie den letzten Pöppel ins Ziel brachte und gewonnen hatte.  Wir machten immer einen Termin für das nächste Treffen. Nächster Mittwoch halb fünf.  Sie hatte kein Handy, also musste die Verabredungen gehalten werden. Absagen war nicht drin. Nun hatte gab es wieder ein Ziel, was es für sie zu erreichen galt. Als ich die Tür schloss konnte ich dieses Mal innehalten.  Ich brauchte etwas um die Halma Niederlage zu verarbeiten, was mich stört war nicht, dass ich verloren hatte, sondern das die Partie offenbarte wie weit Oma abgebaut hatte.

 

 

 

 

Dennoch freute ich mich auf unseren nächsten Termin. Auf dem Weg zu ihr hatte ich extra bei einem Bäcker angehalten. In der Hoffnung, dass die nette Krankenschwester wieder da ist, hatte ich drei Stücken Erdbeerkuchen bestellt und das obwohl ich einem Tag vorher mit einer Diät begonnen hatte. Ich wurde enttäuscht statt der netten Krankenschwester nahm mich der Chef Arzt in Empfang. Er nahm mich zur Seite. Ich war aufgewühlt, weil ich nicht musste was jetzt kommt. Er sagte mir mit ruhiger Stimme, dass es jetzt so weit ist und Oma das Krankenhaus nicht mehr verlassen würde.. Es wäre an der Zeit Abschied zu nehmen. Sie hätte, wenn es gut geht, noch zwei, vielleicht drei Wochen Zeit. Ich atmete noch mal tief ein, fasste meinen Mut zusammen und drückte die Klinge der Tür zu ihrem Zimmer nach unten.

Mein Herz gab mir einen Stich und es fühlte sich schwer an. Die Klinke leistete Widerstand, gab aber dennoch nach. Es kam mir vor, als ob sie sich dieses Mal viel schwerer drücken ließ als sonst. Oma saß auf ihrem Bett und sie machten den Anschein, dass sie wusste das ihre Zeit gekommen war. Sie schaute aus dem Fenster. Ich stellte den Erdbeerkuchen auf den Nachttisch ab. Sie schaute mit sehnsüchtigem Blick auf die verwilderte Parkanlage, die sich direkt vor dem Krankenhausgebäude befand. Ich könnte mir vorstellen, das sie an ihren Garten dachte. Am liebsten wäre sie mit einem Eimer und einer Harke in der Hand drauf losgezogen und dann gib ihn wie damals nach dem Krieg, aber die Zeiten sind vorbei. Ohne lang zu zögern stand ich auf. Ich machte mir keine Gedanken. Es ging alles wie von selbst. Es war wie als ob plötzlich eine fremde Macht meinen Körper steuerte.  Ich holte den Rollstuhl, der im  Wartezimmer stand und zog Oma ihre Strickjacke an. Die Luft war rein und wir verschwanden im Fahrstuhl.


Draußen angekommen rollten wir einfach drauf los. An einem Parkteich fütterte eine Mutter mit ihrer Tochter die Enten. Oma hatte uns auch öfters mitgenommen zum Enten füttern. Heute weiß ich das es Ratten anlockt. Dennoch was es für mich eine besondere Erinnerung. Damals dachten wir, wir würden den Enten was Gutes tun und sie vor dem Verhungern retten. Achteten drauf, dass jede etwas bekommen und keiner leer ausging hatte sie immer gesagt. Wir fingen mit den Kleinen und Schwachen an.  Dahinten hebt ein Hund an einem Kletterbaum sein Bein. Auf einer Bank saß ein Mann mit Hut und lass die Tageszeitung. Jogger zogen an uns vorbei und verschwanden wieder. Plötzlich passierte es. Es kam aus dem nichts ein Zeichen. Ein Regenbogen tat sich hinter den Bäumen auf, so groß und schön wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Wir folgten seiner Spur und wie durch ein Wunder zeigte er direkt auf ein goldenes M.

Da stand ein Mac Donalds. Als Kinder bevorzugten wir oft McDonald's gegenüber Omas Hausmannskost, weil es für uns etwas Besonderes war und wir es nicht täglich hatten.. Heutzutage würde ich für Omas Essen immer bevorzugen. Oma hatte noch nie in ihren Leben eins betreten und dieses Mal würde sie es nicht tun, denn ich rollte sie ja. Ich vergaß die Diät und wir bestellten von meinen ersten Lehrlingsgehalt die Karte rauf und runter. Oma bekam kaum einen Bissen runter, doch sie kostete alles. Ich band einen roten Luftballon an ihren Rollstuhl und ich war froh als wir das Krankenzimmer wieder erreichten. Dieser Ausflug blieb unser Geheimnis und wir erzählten niemand davon. 

  

 

 

Eine Woche später starb Oma. Ich will nicht ausschließen das, das Essen Mac Donald seinen Beitrag geleistet hat.  Aber die Gewissheit, das ihr Essen uns doch besser schmeckt, ließ sie seelenruhig einschlafen. Ich versuchte noch ein paar Mal die Kohlsuppe nach zu kochen, nachdem ich die altdeutsche Schrift in ihrem handschriftlich geführten Kochbuch entziffert hatte. Doch genauso gut schmeckte es nie. Omas Gefühl für die richtige Würze nahm sie mit ins Grab, doch das Kochbuch steht immer noch bei uns im Küchenregal und duftet nach wie vor nach ihr.       

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 22.07.2020

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /