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Prolog

Langsam schlich ich an der Hauswand vorbei und hoffte, dass es hier keine Bewegungssensoren gab, die ein Licht einschalteten. Das wäre das schlimmste, was mir bei meiner Flucht passieren könnte, denn das Licht würde meinen Standort verraten. In der Ferne hörte ich Polizei Sirenen, was mich darauf schließen ließ, dass uns jemand beim Einbrechen entdeckt haben musste. Hoffentlich konnten sich Kevin und Manuel noch rechtzeitig verstecken, ging es mir durch den Kopf. Aber so wie ich sie kannte waren sie Meister im verstecken. Also machte ich mir über sie keine Gedanken mehr sondern konzentrierte mich nur auf mich.

Meine Ausbeute war für den riskanten Einbruch in ein Mehrfamilien Haus rar, fiel mir auf. Trotzdem verspürte ich noch immer das Adrenalin in meinem Blut. Dieser Kick, den man beim Einbrechen bekommt, war mein Hauptziel, dachte ich mir. Mir ging es nicht um den Wert der Gegenstände, die ich erbeutete, sondern um dieses Gefühl. Wenn man das Adrenalin im Blut fühlt, weiß man zum ersten Mal im Leben, dass man wirklich lebt. Man verlangt immer mehr nach diesem Gefühl und es wird zur Sucht. Man versucht es immer durch gewagtere Einbrüche zu steigern, aber dies gelingt nicht immer.

Ich rannte in eine kleine Seitengasse und atmete erleichtert aus. Hier würde mich so schnell bestimmt niemand finden. Ich zog meine Schwarze Maske aus, die nur einen Blick auf meine braunen Augen zuließ und löste mein Haargummi. Fast augenblicklich fielen meine blond- braunen Harre, die mir bis zu meiner Brust reichten, leicht gewellt, in mein verschwitztes Gesicht. Um meine Sachen zu verstauen löste ich meinen Rucksack, den ich immer bei Einbrüchen dabei hatte, und in dem alles nötige Werkzeug war, von meinen Schultern. Erleitert stöhnte ich auf, da das schwere Gewicht nicht mehr auf meinen Schultern lastete. Ich zog aus ihm andere Kleider hervor und zog mich im dunkeln schell um. So würde mich hundertprozentig  niemand erkennen, dachte ich überglücklich. Die Sirenen kamen näher, aber darüber machte ich mir keine Sorgen mehr.

Trotzdem bildete sich ein Kloß in meinem Hals und der Adrenalin Gehalt in meinem Blut stieg wieder an. Im nächsten Moment hörte ich Schritte, aber da hatten mich Taschenlampen schon entdeckt. Drei Polizisten kamen auf mich zugelaufen und versperren mir meinen Fluchtweg aus der Sackgasse. Wie konnte man auch so blöd sein um in eine Sackgasse zu laufen, ging es mir durch meinen Kopf. Ich ärgerte mich über meine Dummheit und gleichzeitig überkam mich Angst. In diesem Zustand war ich viel zu geschockt um wegzulaufen. Einige Meter von mir entfernt blieben die Polizisten stehen und richten ihre Waffen auf mich.

Einer von ihnen rief, dass ich den Rucksack, den ich in der Hand hielt, fallen lassen solle. Ich wusste ganz genau, dass sie nie im Leben auf mich schießen würden, denn ich war im meinem Leben schon sehr oft mit der Polizei zusammengeraten. Dieser Gedanke brachte mich auf eine Idee. Ich schluckte den Kloß in  meinem Hals herunter und spannte alle meine Muskeln an. Mit aller Kraft warf ich meinen schweren Rucksack in den Bauch eines Polizisten, der nur noch wenige Meter von mir entfernt stand und immer weiter auf mich zu kam.

Ich sprintete los. Ich wusste, dass mir in diesem Überraschungsmoment nur wenige Sekunden blieben um zu fliehen. Ich musste meinen Vorsprung weiter ausbauen und beschleunige mein Tempo. Mir schien es, als flog ich über die Erde, so schnell fühlte ich mich. Die Polizisten schienen einen Moment gebraucht zu haben um zu realisieren, dass ich am entkommen war, denn erst nach ein paar Sekunden hörte ich Stimmengewirr und schnelle Schritte hinter mir.

Nochmals zog ich mein Tempo an und bog um eine Ecke. Ich war in eine Falle getappt, schoss es mir durch meinen Kopf. Vor mir standen plötzlich 2 Polizeiautos und 5 Polizisten. Ich drehte mich um und wollte wieder zurück laufen, doch da kamen schon die Polizisten, die ich vorher abgehängt hatte. Ich war umzingelt, schoss es mir durch meinen Kopf. Jetzt begriff auch ich, dass ich keine Chance mehr hatte. Entweder würde jetzt ein Wunder geschehen oder ich musste mich wieder einmal abführen lassen.  Natürlich geschah kein Wunder und ich wurde mal wieder von der Polizei nach Hause gebracht.

Euer Ernst?

Nein oder? Das kann doch nicht euer Ernst sein, ging es mir durch den Kopf. Hatte ich mich verhört oder haben meine Eltern das wirklich gesagt? Kann mich bitte endlich mal jemand kneifen, damit ich aus dem Albtraum erwache? Ich kneife mich in meinen Oberschenkel, der unter dem Küchentisch, an dem ich sitze, versteckt ist, sodass es niemand mitbekommt - Nichts passiert. Fassungslos starre ich meine Eltern an. Ich merke wie sich ein Kloß in meinem Hals bildet, schlucke ihn aber hinunter um meine Eltern anschreien zu können. „ Das könnt ihr doch nicht machen!“, platzt es aus mir, nach einer halben Ewigkeit stille, heraus. Mein Blick wandert zu meinen Eltern, die auf den Boden blicken, als meine Mutter das Gesicht hebt und mich traurig anschaut. Irgendwie scheint sie gleichzeitig auf mich wütend zu sein aber ich bin viel zu verwirrt um mich darauf zu Konzentrieren. Sie setzt an um etwas zu sagen, wird aber dann von meinem Vater unterbrochen. „ Du hast es nicht anders verdient, Sophie. Wir haben dir oft genug mit Konsequenzen gedroht, aber du hast sie einfach ignoriert. Es tut mir leid dass es so weit kommen musste. Wir hätten früher anfangen sollen dich für deine Taten zu bestrafen.“, sagt er mit ruhiger und gelassener Stimme. Mir klappte die Kinnlade runter. War das wirklich mein Vater der da mit mir sprach? Meine Eltern hatten mir schon zu oft etwas angedroht aber es nie bis zum Ende durchgezogen. Sie waren einfach viel zu nett und hatten mir bisher immer meine Übeltaten verzeihen. Dies war aber ernst, wurde es mir nach und nach bewusst. Ich war zu weit gegangen.

 

Es schien, als hätten sich auch die letzten Menschen, die mir noch vertrauten, von mir weggewendet. Ich war allein. Niemand konnte mir jetzt helfen. Wieder bildete sich ein Kloß in meinem Hals. Ich spürte wie die ersten Tränen in mir aufstiegen und meine Augen befeuchteten. Es waren keine Tränen der Trauer, dass ich jetzt alleine war, sondern Tränen der Wut. Wut auf meine Eltern. Ich spürte Hass in mir aufkommen und hätte in diesem Moment alles in Stücke reißen können, aber ich blieb einigermaßen ruhig. Ich ballte lediglich die Hände zu Fäusten und verschränkte die Arme vor meiner Brust. Mein ganzer Körper spannte sich an, aber ich blieb ruhig. Meine Eltern schienen nichts von meinem plötzlichen keinen Wutausbruch mitbekommen haben, denn sie starten noch immer, wie vor wenigen Minuten, auf die Wand, die hinter mir lag.

 

Wieder öffnete meine Mutter den Mund und begann mit einer leisen, beruhigenden aber zitternden Stimme zu sprechen. Kurze Zeit wurde ich durch ihre Stimme beruhigt, bis ich den Sinn ihrer Worte verstand. „ Wir schaffen das alles nicht mehr! Seit zwei Jahren bist du nicht mehr die, die du warst. Es ist verständlich, dass sich Menschen ändern, aber sie verändern sich nicht so wie du.“ Sie schaute mich mit ihren grün-braunen Augen an, die mittlerweile auch mit Tränen befüllt waren, die überlaufen zu drohten. Sie wendete ihren Blick wieder ab und sprach weiter, auch wenn es ihr schwer fallen zu schien. „ Wir wissen, dass du in dieser Zeit sehr viel durchmachen musstest, aber das mussten auch wir. Der Unterschied liegt nur darin, dass ich und dein Vater uns wieder gefangen haben. Oft denken wir zwar noch zurück, aber das Leben geht weiter. Seit diesem Zeitpunkt ist alles anders. Ich weiß nicht wieso, aber es ist so. Du machst nur noch Unsinn, trinkst und rauchst. Denkst du etwa wir fänden das gut? Anfangs dachten wir noch, dass diese Phase wieder aufhören würde, aber das scheint sie nicht zu tun. Denkst du deine ganzen kriminellen Vorfälle werden sich nicht auf dein späteres Leben auswirken? Allein diese Woche wurdest du dreimal mitten in der Nacht von der Polizei nach Hause gebracht, weil du erwischt wurdest, wie du eingebrochen bist. Soll so auch dein späteres Leben sein? Immer auf der Flucht vor der Polizei und ohne Familie oder Freunde. Soll das so weitergehen?“, Sie machte eine kurze Pause und schaute meinen Vater an, der wiederrum nur kurz nickte. Dann fuhr sie fort: „ Dein Vater und ich haben entschieden, dass dein Leben so nicht weiterverlaufen wird. Da du noch keine 18 bist und noch nicht die volle Verantwortung für dich übernehmen kannst, sind wir zu dem Entschluss gekommen, dass du zu deiner Großmutter nach Bayern auf das Land ziehen wirst.“

 

„Ich soll was?“ quetschte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „ Du wirst zu deiner Oma ziehen und dort…“ weiter brachte es mein Vater nicht, da ich ihn unterbrach: „Moment mal! Ich bin 15 Jahre alt und kann schon lange für mich selbst entscheiden! Ich brauche keinen Babysitter oder jemanden der auf mich aufpasst! Ich bin alt genug um das alleine zu machen. Und wieso ausgerechnet zu Oma aufs Land? Die kann mich doch eh nicht leiden und außerdem möchte ich hier in Berlin bei meinen Freunden bleiben!“ schrie ich meinen Vater zornig an. Mein Vater beugte sich ein wenig vor, damit er mir genau in die Augen gucken konnte und sagte: „ Doch das wirst du! Deine Koffer sind gepackt und alles ist abgesprochen. In einer Stunde geht es los. Es gibt keine wiederrede!“ Das konnte ich nicht glauben. Sie können doch nicht einfach über meinen Kopf hinweg über mich entscheiden! , dachte ich.

 

Wütend stand ich auf und schmiss den Stuhl um. Ich rannte aus der Küche und knallte sie Tür so laut zu, wie ich es noch nie vorher gehört hatte, zu. Ich hörte Stimmen hinter mir und eine Tür wurde aufgerissen aber ich ignorierte es. Ich flüchtete in mein Zimmer und knallte auch diese Tür zu. Gerade als ich mich sicher fühlte und den Schlüssel umdrehen wollte, um die Tür abzuschließen, merkte ich, dass diese Fehlte. Aber es war schon zu spät. Ich ließ mich mit dem Rücken an der Tür herunter gleiten, als meine Tränen zu laufen anfingen. Ich wollte stark sein aber es ging nicht. Jemand ging die Treppe hoch und klopfte zart an meine Tür. Voller Wut schrie ich, dass sie sich verpissen sollen aber dennoch wurde die Türklinke herunter gedrückt  und die Tür einen Spalt weit aufgeschoben. Schnell trocknete ich meine Augen ab und ließ den Kopf sinken, sodass meine Haare vor meinem Gesicht hingen. Sie bildeten eine Mauer, die mich beschützte. Niemand konnte hindurch, in mein Gesicht sehen, aber ich konnte alles durch sie betrachten. Die Person die eingetreten war setzte sich langsam neben mich auf den Boden und tat nichts weiter. Nach einer halben Ewigkeit rappelte sie sich auf und verließ mein Zimmer. Davor hatte sie jedoch einen Zettel neben mich gelegt, den ich zu lesen begann, als ich sicher war, dass mich niemand mehr beobachtete. Langsam klappte ich das leicht bläuliche Papier auseinander und betrachtete die wenigen Sätze die sich im inneren Verbargen:

 

Liebe Sophie,

deine Eltern haben mit ihrer Entscheidung recht. Du hast dich in den letzten Jahren verändert und zwar nicht zum Positiven. Das haben auch ich am eigenen Leib spüren müssen. Ich hoffe es wäre damals anders gekommen. Ich wünsche dir viel Glück in deinem neuen Leben und ich hoffe, dass du dich wieder zum Guten änderst.

Deine ehemalige beste Freundin.

 

Ich hatte mit allem gerechnet aber nicht damit. Erneut stiegen Tränen in mir auf und fielen einzeln auf das Blatt du färbten es dunkler. Sie war meine beste Freundin, ging es mir durch den Kopf, und ich habe einfach so den Kontakt mit ihr abgebrochen. Mir kamen Bilder von meiner Kindheit in mir hoch, auf denen wir zusammen spielten. Wir waren einfach unzertrennlich. Doch dies gehörte der Vergangenheit an. Wir sind jetzt fast erwachsen und ich hatte vor zwei Jahren selbst entschieden den Kontakt zu ihr abzubrechen. Sie war mir nun egal. Meine Gedankengänge wurden unterbrochen, als sich meine Tür erneut öffnete. Schnell klappte ich den Brief zu und versteckt ihn vor meinem Vater, der hereingekommen war. Er schaute mich an und nahm den Koffer, der in meinem Zimmer stand und der mir noch nicht aufgefallen war. Anscheinend hatte er ihn mit meiner Mutter, in der Zeit in der ich in der Schule war, gepackt. Ich wusste, dass es nun kein Zurück gab und verschwendete meinen letzten Gedanken daran, dass hoffentlich alles in dem Koffer drin ist. Von meiner Mutter verabschiedete ich nich nicht, obwohl mir nicht klar war, wann ich sie wieder sehen würde.  Ich fand mich im Auto wieder und merkte erst jetzt, dass ich müde war. Ich schloss die Augen und war nach wenigen verwirrten Gedanken eingeschlafen.

Alles so wie früher

Langsam kam ich wieder zu mir. Ich muss geschlafen haben, ging es mir durch den Kopf. Meine Augenlieder waren, obwohl ich sie geschlossen hatte schwer und durch das weiche Leder in meinem Rücken überkam mich das Verlangen wieder einzuschlafen. Jedoch hörte ich wieder die Stimme, die meinen Namen rief, und öffnete verschlafen meine Augen. Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich begriff wo ich war. Ich saß in unserem Jaguar und betrachtete die Dunkle Umgebung jenseits der Glasscheiben. Augenblicklich war mir bewusst, dass ich in Bayern, bei meiner Oma war. Sofort fühlte ich mich wieder von meinen Eltern betrogen, gleichzeitig war ich aber auch wütend auf sie. Wieder hörte ich eine Stimme und erkannte  dieses Mal, dass es die meines  Vaters war. Er murmelte, dass ich aufstehen muss, aber ich hatte keine Lust.

 

Erneut betrachtete ich meine Umgebung und erkannte, dass sich vor mir ein riesiges Fachwerkhaus befand. Soweit ich es erkennen konnte, war es 3 Stockwerke hoch und am zweiten Stockwerk befand sich ein riesiger Balkon. Von ihm aus hingen wunderschöne Blumen herunter, deren Farbe ich nicht erkennen konnte. Durch die Blumen wirkte das Haus erst komplett. Wieder sagte mein Vater etwas zu mir. „ Sophie, steige jetzt bitte aus. Wir sind schon später als geplant, hier in Bayern angekommen. Es gab auf dem Weg hierher ein paar Komplikationen, die du nicht mitbekommen hast, weil du tief und fest geschlafen hast. Oma freut sich riesig dich zu sehen und sie macht sich bestimmt sorgen!“ Mit diesen Worten versuchte mein Vater mir ein schlechtes Gewissen einzureden, was bei mir nicht funktionierte. Während er dies zu mir sagte, schaute er mir die ganze Zeit fest in die Augen, bis ich meinen Blick abwänden musste. Mir ist so etwas immer sehr unangenehm, weshalb ich in Starrduellen nicht besonders gut bin. Entweder werde ich rot oder ich fange an zu lachen, was beides dazu führt, dass ich den Blickkontakt abbreche. Egal mit wem ich dieses Spiel auch spiele und egal wie schlecht derjenige ist, ich habe immer verloren.

 

Trotzig verschränkte ich die Hände vor meiner Brust und schüttelte wiederwillig den Kopf. „ Nein“, sagte ich mit fester Stimme, was mich überraschte. „ Da draußen stinkt es mir viel zu viel“, war meine Begründung. Mit der von meinem Vater, auf diese Antwort, hätte ich jedoch nicht gerechnet. Mein Vater drehte mir einfach den Rücken zu und ging auf das große Haus zu. Dabei drehte er sich noch einmal kurz um und sagte, „ du wirst deine Meinung schon noch ändern.“ Ich versuchte aus seinen Wörtern schlau zu werden, gab aber nach einer Weile auf. Plötzlich verstand ich aber den Sinn, als mich ein Brechreiz überkam. Es gab nur einen Geruch, der so etwas bei mir auslöste und diesen wiederrum gab es nur auf Bauernhöfen. Einen Moment lang wunderte ich mich wie der Gestank in das Auto gekommen war, bemerkte aber dann das offene Fenster. Schnell drückte ich den Knopf zum Fensterschließen aber nichts geschah.  Langsam dämmerte mir, was mein Vater gemeint hatte. Er hatte den Schlüssel aus der Zündung genommen, wodurch er verhindern konnte, dass ich mein Fenster, das offen stand, schließen konnte. Ich begann zu husten, als ich merkte, wie sich die bestialisch stinkende Luft einen Weg in meine Lunge suchte.

 

Sofort riss ich meine Tür auf und rannte zu meinem Vater, der noch an der Tür des Hauses stand. Ich war kurz davor mich zu übergeben, konnte aber den Brechreiz gerade noch so zurückhalten. Meinem Vater schien der Geruch nichts auszumachen, denn er schien einem Lachanfall nahe zu sein. „ Du bist wie deine Mutter“, war das Einzigste, was er grinsend zu mir sagte. Diesen Triumpf musste ich ihm gönne aber ich wusste auch, dass es sich eine Gelegenheit für Rache ergeben würde. Da war ich mir ganz sicher. Immer noch lachend beugte sich mein Vater vor und betätigte zwei Mal die Kuhglocke, die als Klingel diente.

 

Augenblicklich hörte man eine Frau aufgeregt rufen, dass sie gleich komme. Keine Minute später wurde die Tür von einer kleinen, schon etwas älteren Frau geöffnet. Ihr kurzes Haar war fast vollständig grau und ihr Gesicht schon etwas faltig. Sie war vielleicht 65 Jahre alt, schien aber für ihr Alter ziemlich gut erhalten zu sein. Das muss meine Oma sein, ging es mir durch meinen Kopf. Ich hatte sie seit meinem sechsten Lebensjahr nicht mehr gesehen. Damals wohnten wir, meine Familie und ich, auch noch hier in Bayern, nicht weit von meiner Oma entfernt, aber in einer kleinen Stadt und nicht auf dem Land. Vor meiner Einschulung mussten meine Eltern beruflich nach Berlin, wo wir bis heute gewohnt haben. Ich liebte es hier. Meist verbrachte ich meine Zeit auf einem kleinen Reiterhof, den man von hier aus, zu Fuß, erreichen konnte. Kindheitserinnerungen kamen in mir hoch. Als Kind liebte ich es hier. Es war so idyllisch, aber genau das war es, was ich jetzt verabscheute. Ich hasste es sogar, weil ich es gewohnt war, in einer Großstadt, in der immer etwas los ist, zu leben. Die Frau kam auf mich zu, sodass ich im Licht Tränen in ihren Augen glitzern sah. Sie kniff mir, wie alte Frauen es immer machen, in die Wange und nahm mich dann herzlich in ihre Arme. Sachte erwiderte ich ihre Umarmung die ewig andauern zu schien. Nach endlosen Minuten löste sie sich von mir und musterte ich von oben bis unten. Mehr wie ein „ du bist aber groß geworden“ brachte sie in diesem Moment nicht heraus. Sie schien überglücklich zu sein ihre einzige Enkelin endlich wieder bei sich zu haben, denn ein dickes Lächeln breitete sich über ihrem Gesicht aus.

 

Erst jetzt bemerkte sie meinen Vater, der neben mir stand. Auch ihn begrüßte sie überschwänglich, wobei ihr sogar eine Freudenträne über ihre Wangen rollte. Schließlich bat sie uns in ihr riesiges Haus hinein. Sofort erinnerte ich mich an meine Kindheit, in der ich oft hier war. Alles sah so aus wie damals, nur, dass ich es jetzt aus einer anderen Perspektive betrachtete. Früher musste ich immer hoch schauen um alles überblicken zu können, aber nun war es umgekehrt. Mit meinen 1,73 Meter war ich recht groß und konnte alles ohne Mühen überblicken. Meine Oma führte uns in die Küche, in der es herrlich Duftete. Sie war eine fantastische Köchin, aber sogar die Vorfreude auf das Essen konnte mich nicht aufheitern. Ich liebte es zu essen, was man mir Gott sei Dank nicht ansah. Ich war wie wild auf Süßigkeiten, wie Schokolade oder Gummibärchen aber trotzdem hatte ich die Figur eines super Models. Sie waren mein Hauptbestandteil an Nahrung, denn an sonsten aß ich noch nie viel. Von klein an war ich Vegetarierin, weil mir die Tiere zu leid taten, als dass ich sie hätte essen können. Sonst aß ich zwar alles, aber nie viel davon. Bei meiner Oma jedoch war das anders. Ich liebte ihr Essen und nahm mir jedes Mal mindestens zwei Mal Nachschlag.

 

Trotzdem war ich immer noch wütend auf meine Eltern, weil ich fort an, für unbegrenzte Zeit hier, in diesem Kaff, wohnen sollte. Trotzdem nahm ich mir an diesem Abend, so wie immer, zwei Mal Nachschlag. Meine Oma und mein Vater führten während des Essens eine Unterhaltung, der ich aber nicht folgte. Ich war viel zu müde um mich auf irgendetwas zu konzentrieren. So beschloss ich schlafen zu gehen, um am nächsten Morgen ausgeruht genug zu ein um mir einen Fluchtplan zu überlegen.

Gute alte Zeiten

Gähnend schlug ich meine noch müden Augen auf und blickte mich verwirrt um. Wo war ich? ging es mir durch meinen Kopf, bis ich mich wieder erinnerte. Ich war in Bayern, bei meiner Großmutter. Noch einmal schweifte mein Blick durch das Zimmer und ich merkte, dass alles noch so war, wie ich es, vor Jahren, verlassen hatte. Es war mein Kinderzimmer, indem ich früher gerne gespielt habe. Die Wände waren in einem zarten rosa gestrichen und in einem Meter Höhe klebte auf ihnen eine Rote Bordüre aus Rosenranken. Augenblicklich fühlte ich mich wie Dornröschen. Alleine und in einem Schloss durch Rosenhecken gefangen. Ich blickte mich weiter um, um das Gefühl wieder loszuwerden, aber es blieb.

 

  Dann entdeckte ich meine heiß geliebten Barbies. Sie waren die schönsten Spielsachen in meiner Kindheit. Es gab keinen Tag, an dem ich nicht mit ihnen gespielt hatte, bis wir nach Berlin gezogen waren. Ich erinnerte mich an den Augenblick, an dem meine Eltern mir mitteilten, dass wir keinen Platzt hätten um meine Barbies mit zu nehmen. An diesem Tag fühlte ich mich so traurig wie nie zuvor in meinem Leben, da ich sie alleine hier zurücklassen sollte und sich keiner mehr um sie kümmern konnte. Meine Eltern konnten doch nicht von mir verlangen, mein Lieblingsspielzeug, das mich durch mein Leben begleitet hatte zurückzulassen. Ich fühlte mich, als würde mein Herz zerreißen, so groß war mein Schmerz. Meine Eltern versuchten mich zu beruhigen, aber sie bekamen es nie hin. Auch als meine Oma mir versprach, dass sie sich jeden Tag um sie kümmern würde, beruhigte ich mich immer noch nicht. Meine Eltern waren an jenem Tag so verzweifelt, dass sie einen Fehler begangen, den ich ihnen bis heute noch nicht verziehen habe. Ich dachte es wäre alles gut und ich hätte durch meine Starrköpfigkeit gewonnen und könnte meine Barbies mitnehmen, aber damit lag ich falsch. Einen Tag vor unserer Abreise waren meine Barbies plötzlich verschwunden. Sie waren wie vom Erdboden verschluck und waren nirgends zu finden. So erzählten mir meine Eltern, dass in der Nacht zuvor ein Dieb bei uns eingebrochen und meine Barbies geklaut hätte. Auch an diesen Tag weinte ich durch. Ich machte mir Gedanken um meine Barbies, denn ich wollte, dass es ihnen gut geht und sie die aller schönsten Puppen sind. Für mich waren sie aber nicht nur Puppen, sondern Freunde. Sie haben mir immer beigestanden, mir zugehört und mich nie angelogen. Aber nun waren sie für immer weg. Einfach so.

 

Ein paar Jahre, nachdem wir nach Berlin gezogen waren, erzählten mir meine Eltern dann die wahre Geschichte und wieder fühlt ich mich genauso wie jetzt im Moment, ging es mir durch den Kopf. Meine Eltern scheinen mich schon immer belogen zu haben, überlegte ich weiter. Wahrscheinlich haben sie mir noch viel mehr verschwiegen, als das was ich weiß. Wütend ballte ich meine Hände zusammen. Neue Wut kochte in mir auf und drohte gleich aus mir heraus zu platzen. Deshalb drehte ich mich in meinem himmelbett auf den Bauch um und vergrub mein Gesicht in meinem Kopfkissen. So laut ich konnte schrie ich in es hinein und fühlte mich sofort besser. Durch das Kissen wurde mein Schrei so gedämpft, sodass ihn niemand hören konnte. Da ich mich besser fühlte beschloss ich das Prozedere ein paar Mal zu wiederholen. Zusätzlich schlug ich noch mit meinen Fäusten in mein Bett, bis meine Wut vollständig verflogen war. Ich sollte mir einen Box Sack kaufen, dachte ich, bevor ich mich aufsetzte.

 

Dann schaute ich aus den großen Fenstern in die Weite. Es war ein schöner und sonniger Herbst Morgen. Vielleicht war es sogar schon Mittag, dass wusste ich aber nicht genau. Noch ein wenig benommen beschloss ich aufzustehen. Also ging ich an das Fenster um erneut hinausblicken  zu können. Außer Feldern und Weiden gab es aber nicht viel zusehen. Ich wollte mich schon wieder umdrehen, als ich am Horizont ein etwas größeres Gebäude entdeckte. Sofort war mir klar, was das war: mein alter Reiterhof. Auch er war ein großer Teil meiner Kindheit gewesen. Meine Oma hatte dort zwei eigene Pferde stehen, auf denen ich manchmal reiten durfte. Das machte mir riesigen Spaß und so meinte meine Oma, dass sie mir zu meinem siebten Geburtstag ein Pferd schenken will. Ihre Idee fand ich natürlich super und so begann ich die Tage bis dahin zu zählen. Nur leider bekam ich nie ein Pferd, was natürlich wider meine Eltern schuld war. Wieder spürte ich Hass in mir aufkommen, aber unterdrückte dieses Gefühl, indem ich schnell an etwas anders dachte. Oft spielte ich auch einfach nur mit meiner besten Freundin auf dem Hof. Aber wie hieß die denn nochmal?, überlegte ich angestrengt. Es wollte mir einfach nicht einfallen und so beschloss ich mich anzuziehen und zu duschen.

 

Nachdem ich im Badezimmer geduscht hatte kehrte ich wieder in mein Zimmer zurück. Sofort entdeckte ich ein Detail, das mir zuvor entgangen war: einen Brief auf meinem Bett. Ich stürzte mich auf ihn und öffnete ihn hektisch. Nachdem ich ihn auseinander gefaltet hatte, begann ich zu lesen:

 

Liebe Sophie,

für eine Weile wirst du jetzt erst einmal bei deiner Oma bleiben. Wir hoffen, dass du dich dann erholst und wieder zu uns zurückkommen kannst. In der Zwischenzeit wird alles so weiterlaufen wie gewohnt, nach den Frühlingsferien, die am Montag um sind (heute ist Dienstag) wirst du hier auf die Schule gehen. Sie liegt direkt neben deinem Kindergarten, also weißt du wie du zu ihr hinkommst. Wir hoffen für dich, dass hier alles klappt und schick dich bei deiner Oma. Bitte Enttäusch uns nicht!

 

Deine Eltern

P.s.: Papa ist diese Nacht schon nach Hause nach Berlin gefahren.

 

Augenblicklich brach ich in Tränen aus. Meine Eltern hatten mich schon wieder verraten! Wie konnten sie nur? Immer müssen sie mich verletzten und achten bei ihren Handlungen  nicht darauf, wie es mir dabei geht. Sie sind so egoistisch und denken nur an sich und ich bin ihnen egal. Das ist bestimmt auch der Grund wieso sie mich zu Oma abgeschoben haben. Verletzt und wütend zugleich rollten Krokodils Tränen über meine Wange hinunter und tropften auf mein Beine, die ich zuvor an meinen Körper herangezogen hatte. Lange lag ich so auf meinem Bett, bis mir vor Müdigkeit erneut meine Augen zu fielen.

Es ist schwerer als gedacht über einen Schatten zu springen!

Langsam kam ich zu mir. Dieses Mal wusste ich jedoch sofort wo ich war. Ich hörte ein leises klopfen an der Tür, von dem ich vermutlich auch geweckt wurde. Noch verschlafen rief ich, ohne darüber nachzudenken, herein und schon stand meine Oma in der Tür. In ihrer Hand hielt sie ein voll bepacktes Tablett, das vermutlich für mich war. Meine Oma war einfach schon immer die beste, weil sie immer an alles dachte. Dies durfte ich mir jedoch nicht anmerken lassen, denn hätte sie das Gemerkt, wäre ich hier nie mehr weggekommen. Ich musste auf jeden Fall zurück nach Berlin, egal um welchen Preis. Ich wollte einfach wieder das Großstadtfeeling genießen und meine Freunde sehen. Dabei viel mir auch ein, dass sich Kevin und Manuel bestimmt schon fragten wo ich stecke. So beschloss ich sie bei der nächsten Gelegenheit anzurufen. Die beiden waren schon seit zwei Jahren meine besten Freunde. Sie machten jeden scheiß mit und man konnte mit ihnen sogar wortwörtlich Pferde stehlen.  

 

Meine Gedankengänge wurden durch meine Oma unterbrochen, dich sich neben mir niederließ. Zu gern hätt ich jetzt in ihren Armen gelegen und ihr erzählt, was mich bedrückt. Ich hätte den ganzen Abend nur geweint, und sie wäre mir keine Sekunde lang von der Seite gewichen. Sie hätte so, wie früher, meine Trauer geteilt, sodass sie für mich nicht mehr so schlimm war. Wenn ich mich dann beruhigt hätte, hätte sie mir eine heiße Schokolade gemacht und mich in den Schlaf gesungen. Am nächsten Tag hätten wir dann zusammen einen Plan geschmiedet, der unschlagbar gewesen wäre, aber ich konnte jetzt nicht schwach werden. Nicht jetzt, nicht am Anfang. Ich muss an das Denken was mir wichtig ist, schoss es mir durch den Kopf. Ich musste, um jeden Preis,  zurück nach Berlin!

 

In diesem Moment konnte ich einfach nicht über meinen Schatten springen um meine Oma an mich zu drücken und nie mehr los zu lassen. Der Drang zurück nach Berlin zu kommen zu groß war, redete ich mir ein. Außerdem wollte ich kein Risiko eingehen, wodurch mein Fluchtplan, der noch nicht bestand, gefährdet hätten werden können. Also entschied ich mich eine Gleichgültige Miene aufzusetzen und ein falsches Spiel zu spielen. Der beste Weg hieraus und wieder nach Berlin wäre, wenn ich meine Oma so lange verletzte, bis sie mich nicht mehr aushält. Aber konnte ich das überhaupt? Konnte ich sie verletzen obwohl ich sie liebte? Nein, entschied ich, dass konnte ich wahrscheinlich nicht. Also müsste ich mir einen anderen Plan einfallen lassen.

 

So beschloss ich mich einfach aufzusetzen, damit ich mich neben meine Oma sitzen konnte, als sie anfing zu reden:“ ich weiß, dass es für dich im Moment sehr schwer ist, Sophie. Ich weiß auch, dass du nicht gerne hier bist, sondern viel lieber in Berlin sein würdest. Wie du bestimmt weißt hast du in de letzten Zeit viele Fehler gemacht, aber diese möchte ich dir nicht auch noch vorhalten. Wie euch deine Eltern kenne haben sie das sicherlich schon zu genüge gemacht, denn sonst wärst du ja nicht hier.“ Sie schien mir direkt aus der Seele zu sprechen, was ich unheimlich fand. Vielleicht ist sie eine Gedankenleserin, ging es mir durch den Kopf, bevor sie fortfuhr: „ Für dich scheint es eine Strafe zu sein, hier bei mir wohnen zu müssen, aber für mich ist es einfach nur Glück. Ich habe dich, Sophie, meine einzige Enkelin, schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Die ganze Zeit über habe ich dich vermisst und an dich gedacht. Nie bist du auf die Idee gekommen, hier aufzukreuzen, aber auch das möchte ich dir nicht vorhalten, denn es gehört der Vergangenheit an und diese soll man ja bekanntlich ruhen lassen.“

Man kann nicht immer vergessen

Erst jetzt merkte ich, wie ich meine Oma, durch mein Verhalten in den letzten Jahren, unbeabsichtigt verletzt hatte. Nicht einmal hatte ich sie in all der Zeit, in der wir in Berlin gewohnt haben, besucht. Wiederwillig habe ich sie zum Geburtstag oder zu Weihnachten angerufen, aber auch nur, weil meine Eltern mich dazu gezwungen haben. Ich habe all die Jahre tolle und riesige Geschenke von ihr bekommen, mich aber nie richtig und angemessen für sie, bei ihr, bedankt, fiel es mir ein. Ich wurde traurig und war enttäuscht über mich selbst und über mein Verhalten. Meine Oma hatte es genau richtig gesagt! Man soll die Vergangenheit ruhen lassen, weil man an ihr sowieso nichts mehr ändern kann. Wahrscheinlich hatte sie mir auch nur aus diesem Grund verziehen.

 

Wenn ich so darüber nachdenke,  müsste ich eigentlich auch meinen Eltern verzeihen, dass sie mich belogen haben und meine Eltern mir im Gegenzug meine Taten auch. Aber wollte ich ihnen überhaupt verzeihen? War es dieses große Opfer überhaupt wert? Würde es dann nicht genauso weitergehen wie zuvor? Sie würden mich weiter belügen, genauso, wie ich weiter klauen würde. Nein das ganze würde keinen Sin machen. Hätte ich ihnen ihre Taten überhaupt verzeihen können?

 

 Bei diesem Gedanken begann es in meiner Brust zu schmerzen und ich fühlte eine neue Wut, die mich überkam. Es war zu viel vorgefallen, in den letzten Jahren, beschloss ich. Vor zwei Jahren war es besonders hart für mich. Nach dem Vorfall waren wir alle am Boden zerstört. In keinem von und blühte noch ein Funken Lebenskraft und wir alle wollten nicht mehr leben. In dieser Zeit hatte ich oft Selbstmordgedanken, die mich heute zu dem Menschen machen, der ich bin. Durch einen Selbstmord wäre alles besser geworden. Ich wäre endlich erlöst, aber ich würde meine Familie alleine zurücklassen. Aber das konnte ich nicht.

 

Ach was denk ich da überhaupt? Ich war einfach zu feige um den letzten Schritt zu machen. Meine Familie, besonders meine Eltern, waren mir, seit dem Vorfall, scheiß egal, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Sie haben sich ab diesem Zeitpunkt nicht mehr um mich gekümmert oder gesorgt, was sie heutzutage immer noch nicht machen. Ich habe mich einfach nie getraut mich umzubringen. Oft hatte ich das Messer an meiner kehle aber schaffte es nie mehr als einen winzigen Schnitt, in die Haut, hineinzuschneiden, der immer wieder verheilte. Nach einer Zeit versuchte ich es dann an der Pulsschlagader, aber sobald das erste Blut kam, fiel ich immer in Ohnmacht. So habe ich es nie geschafft mich umzubringen, was ich heutzutage noch manchmal bereue.

 

Aus diesem Grund bin ich auch an Kevin und Manuel geraten. Da ich mich nicht dazu überwinden konnte mich umzubringen, wurde ich mit der Zeit gezwungen, mir ein neues Hobby zu suchen, bei dem ich spüren konnte, dass ich lebe. Seit ich die beiden Jungs in meiner Kindheit bei einem Einbruch entdeckt hatte, gingen sie mir nicht mehr aus dem Kopf.

 

Damals war ich Zehn Jahre alt und wachte mitten in einer schwülen Sommernacht, durch ein seltsames Geräusch, auf. Leise schlich ich in Richtung Garten, von wo ich dachte, dass Geräusch gehört zu haben. Genauso leise schob ich auch, keine zwei Minuten später, unsere großen Gartenscheibe auf, um zu schauen, wer oder was dort war. Damals war ich keines Weges ängstlich, was ich, heutzutage, zum Teil, durch dieses Ereignis aber geworden bin. Ich wollte immer alles erforschen und genau wissen. Ich war immer die, die den anderen die Angst nahm, und alles ausprobierte. Auf jeden Fall ging ich dann ein paar Schritte in den Garten, um genau zu schauen, ob ich richtig gehört hatte. Und Tatsache raschelte es in einem der Büche. Ich ging ein paar Schritte weiter auf ihn zu, als sich plötzlich, von hinten Hände über meinen Mund legten.

 

Die Hände waren angenehm warm und erstickten meinen Schrei. Sie verstärkten ihren Druck auf meinen Mund, als ich versuchte in sie zu beißen, sie aber nicht erwischte. Meine Hände wurden gerade zusammengebunden, als ich es erneut Rascheln hörte. Meine Muskeln spannten sich an, als plötzlich ein junger Mann aus dem Gebüsch hervor trat. Damals hatte ich ihn 18 Jahre alt geschätzt, was sich dann später bewahrheitete. Er war groß und schien viele Muskeln zu haben, die sich unter seinem schwarzen, engen t-Shirt erahnen ließen. Er hatte schwarzes, ein wenig längeres Haar, das zerzaust auf seinem Kopf thronte. Hätte ich mich nicht in dieser Situation befunden, hätte ich sicherlich meinem Drang nachgehen müssen, ihm durch die Haare zu wuscheln. Verdutzt sah er erst mich und dann, ich vermutete den Mann, der mich festhielt, an.

 

„ Was soll das denn, Manuel?“ Ich hatte also recht und der, der mich festhielt, war ein Mann. Der Unbekannte fuhr fort: „Willst du sie etwa mitnehmen und als Geisel halten? Ich dachte wir hätten dieses Thema schon durch!“ „ Hast du nicht mitbekommen was passiert ist? Sie hat uns entdeckt! Da blieb mir nichts anderes übrig als sie fest zu halten. Außerdem werden wir bald auch noch von anderen entdeckt, wenn du so weiterschreist, Kevin!“, flüsterte Manuel zurück. Es herrschte eine kurze Funkstille zwischen den beiden, die ich für meine Flucht nutzen wollte.

 

Also trat ich Manuel mit voller Wucht gegen sein Schienbein, aber nichts geschah. Ich wiederholte dieses Vorgehen noch ein paar Mal, bis ich aufgab und Manuel und Kevin in ein leises Lachen einstimmten. „Hör zu Kleine. Wenn du mitarbeitest wird dir nichts passieren. Hast du das verstanden?“, fragte mich Kevin. Der Druck auf meinen Mund wurde schwächer, wodurch ich die Möglichkeit hatte zu nicken, was sich auch gleich machte. Ich wollte die beiden nicht verärgern, damit sie meiner Familie auch ja nichts antun würden.

Ich liebte sie so sehr und wollte sie niemals in meinem Leben verlieren. Ich würde sogar mich opfern, damit sie verschont bleiben, ging es mir damals durch meinen Kopf. Heute würde ich diesen Gedanken nicht mehr denken.

 

In jener Nacht entlockten mir die beiden Jungen das Versprechen, dass ich niemandem je etwas von unserer Begegnung erzählen würde und ich hielt es. Um dies auch überprüfen zu können sagten sie mir, dass sie mindestens einmal im Monat vorbei kommen würden und mit mir reden wollen. Im Gegenzug würden sie mich freilassen und meine Familie verschonen. Erleichtert, über das Kompromiss, nahm ich den Vorschlag an. So kamen sie jeden Monat vorbei und erkundigten sich bei mir, ob ich dicht gehalten hatte.

 

Vor fast genau zwei Jahren erzählte ich den beiden dann von meinen Selbstmord Gedanken. Daraufhin meinten sie, dass ich einfach mal mit ihnen auf Raubzüge gehen sollte, da man erst dabei merken würde, dass man richtig lebt. Sie beschrieben mir das Gefühl, dass dabei in ihnen freigesetzt wurde, und faszinierten mich damit. So beschloss ich ihr Angebot anzunehmen, um diese Gefühl einmal selbst auskosten zu können.

 

Nach meinem ersten Raubzug fühlte ich mich gleich besser. Ich wusste ab diesem Zeitpunkt, dass ich doch noch leben wollte und versuchte mein Leben voll auszukosten. Fast jeden Tag streiften wir drei nachts durch die Straßen der Stadt, immer auf der Suche nach einem größeren Adrenalin Kick. Manchmal erwischte uns auch die Polizei, da wir aber sauber arbeiteten, konnten sie uns bislang noch nichts nachweisen, wodurch wir immer wieder freigelassen werden mussten.

Neue Ansichten

Während ich so in meinen Gedanken vertieft war, hatte ich nicht mitbekommen, dass meine Oma gegangen war. Nachdem ich meine Gedankengänge beendet hatte, schaute ich auf, um meiner  Oma in ihr Gesicht schauen zu können. Als ich sie nicht neben mir entdecken konnte, schweifte mein Blick, noch einmal, durch das Zimmer. Meine Oma war tatsächlich gegangen. Sie hatte nur ihr, mit Essen, vollbeladenes Tablett, auf meinem Nachttisch, zurückgelassen, ohne ein Wort zu sagen. Zu gerne hätte ich sie in meine Arme geschlossen, aber diese Gelegenheit war nun verstrichen.

 

Mittlerweile bereute ich sogar mein vorrausgegangenes Verhalten. Ich wollt meine Oma noch nie absichtlich traurig machen oder verletzen, aber ich hatte es trotzdem damals, indem ich sie ignoriert hatte, geschafft. Erst jetzt begriff ich, was sie in den ganzen Jahren gefühlt haben musste und welche Trauer sie jeden Tag, tief in ihrem Herzen, mit sich herumgetragen hatte. Ich fühlte, dass sich meine Augen mit Tränen füllten und schließlich überliefen. Leise rollten sie über meine Wangen hinab zu meinem Kinn, von dem  aus sie fast lautlos auf meine Jeans tropften. Auch ich gab dabei keinen laut von mir, sondern ließ die Tränen einfach laufen. Ich wollte nicht, dass mich jemand weinen hörte und in mein Zimmer herein kam. Niemand sollte mich in diesem Zustand je sehen, dachte ich. Ich wollte nicht, dass sie sahen, wie elend es mir eigentlich ging, und wie zart und gefühlsvoll ich doch eigentlich war.

 

Nein, ich war mir sicher, dass ich hart bleiben wollte. Jahrelang hatte ich mir mühsam eine Festung aufgebaut, in der ich mich verbarg. Ich war mir sicher, dass ich sie nicht einfach so hätte abreißen können. Ohne meine Fassade, als taffes und

selbstbewusstes Girl, hätte ich mich nur noch angreiflicher gemacht, als ich ohnehin schon war. Keiner wusste, wie ich wirklich fühlte. Nicht meine Eltern und auch nicht meine besten Freunde Kevin und Manuel. Noch nie in meinem Leben hatte ich es jemandem erzählt und so würde es auch bleiben. Es war mein Geheimnis, das ich, wie mein Leben, hüten wollte.

 

Zudem war es viel zu viel Arbeit die Mauer zu errichten und außerdem fühlte ich mich durch sie geborgen. Sie war für mich wie ein Schutzwall. Hinter ihr konnte ich mich jederzeit vor Angreifern verstecken und mich vor ihnen verbergen. Mit der Zeit wurde mein Schutzwall so dick, sodass er fast unüberwindbar wurde. Allein ich schafft es gelegentlich aus ihm hervorzukriechen, denn zu groß war meine Angst vor Enttäuschungen und Schmerz. Ich bildete mir ein, dass durch die riesige Mauer einfach alles besser wäre, aber dennoch blieb der Schmerz nicht hinter der Grenze zurück. Egal wie dick ich mich einmauerte, ich wurde immer wieder von im erfasst und konnte nichts dagegen tun. So wie auch vor zwei Jahren. Nach dem Vorfall war es besonders schlimm und meine Mauer war noch  niemals zuvor so dick. Ich schirmte mich in dieser Zeit fast komplett von der Außenwelt ab und ließ keinen mehr an mich heran. Gefühle und Liebe waren seitdem ein Fremdwort für mich, aber vor ein paar Minuten meinte ich so etwas für meine Großmutter empfunden zu haben.

 

Über meinen kleinen, aber plötzlichen Gefühlsausbruch, war ich überrascht, aber gleichzeitig auch erleichtert. Erleichtert darüber, dass auch ich so etwas, einer Person gegenüber fühlen konnte. Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals wieder zu Gefühlen fähig sein konnte, aber es schien zu funktionieren. Auch wenn sie noch nicht stark war, gab es schon jetzt eine Verbindung, zwischen mir und meiner Oma, die auf Gefühlen basierte. Ich konnte sie sogar spüren, obwohl sie noch sehr schwach war, aber trotzdem existierte sie. In einem auf dem anderen Moment war mir bewusst, dass ich mein Leben, um meine Großmutter zu retten, jederzeit riskiert hätte. Egal ob jetzt oder vor dieser Erkenntnis.

 

Meine Gefühle waren schon immer da, bemerkte ich, nur hatte ich sie nie in den Vordergrund gelassen. Immer waren sie weit hinter meiner Mauer verborgen gewesen, wo ich sie nach der Zeit vergessen hatte. Aber jetzt waren sie wieder da, fiel es mir glücklich ein und meine letzten Tränen versiegten. Zwar wollte ich immer noch zurück nach Berlin, nur erschien es mir jetzt sinnvoller zuerst noch Zeit mit meiner Oma zu verbringen. Es tat mir leid, dass ich ihr in den letzten Jahren so viel Schmerz zugefügt hatte. Daraufhin beschloss ich, dass ich noch mindestens eine Woche hierbleiben würde, um meiner Oma einen Gefallen zu tun. Danach würde ich meinen Fluchtplan, der noch nicht existierte, in die Tat umsetzten müssen.

 

Auf jeden Fall begriff ich jetzt, wie glücklich meine Oma war mich zu sehen und schwor mir, sie nie wieder so tief zu verletzen. Dennoch wollte ich meinen Schutzwall aufrecht erhalten und mich gefühlskalt geben, schallte es in meinem Kopf, bevor ich meine Zimmertür öffnete und die Stufen zur Küche hinunter lief.

Nichts als Felder

Es war schon stockdunkel draußen, fiel mir auf, als ich die Treppe herunterlief. Ich schaute durch das große Fenster, das vor mir lag, konnte jedoch nichts erkennen. Bestimmt war es schon nach 21 Uhr, ging es mir durch meinen Kopf. Ich wendete mich von dem Fenster ab und machte mich auf zur Küche. Vor der Küchentür blieb ich noch einmal kurz stehen und überlegte ob ich anklopfen sollte oder nicht. Letzten Endes entschied ich mich dagegen und trat ein.

 

Die Küche war hell beleuchtet und auch hier war alles noch so, wie zuvor. Nichts schien sich in meiner Abwesenheit in diesem Haus verändert zu haben. Noch immer stand der alte Feuerofen an seinem Platz und sah nicht gerade besser, als früher, aus. Schon damals war er leicht beschmutzt und für meinen Geschmack nicht gerade schön.  Meine Oma meinte aber  immer nur, dass er nur seinen Zweck erfüllen soll, mehr nicht.  Deshalb brannte auch jetzt in ihm ein Holzfeuer und erfüllte den Raum mit angenehmer wärme. Meine Oma saß am Küchentisch und blickte, über ihre Hornbrille, zu mir herüber. Sie war leicht über ein Rätselhelft gebeugt. Ein Lächeln bildete sich auf ihrem Gesicht und ich konnte nicht anders, als zurück zu lächeln.

 

„Schön das du zu mir runtergekommen bist, Sophie“, sagte sie immer noch lächelnd. „Ich dachte schon, dass du keinen Hunger hast und mir noch verhungerst.“ Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: „ Komm her Kindchen und setzt dich zu mir.“ Ich schloss die Küchentür, die die ganze Zeit offen war, und ging zum Küchentisch. Ich zog den Stuhl links, von meiner Oma, unter dem Tisch, hervor und setzte mich neben sie. „So meine Liebe, jetzt musst du mir nur noch sagen, was du essen willst!“  Erst jetzt merkte ich, wie hungrig ich eigentlich war und sofort begann mein Bauch, wie auf Kommando, zu knurren. Eigentlich hätte sich meine Oma ihre Frage selbst beantworten können, denn sie wusste was ich am liebsten aß.

 

„ Ein Nutella Brot wäre toll“, antwortete ich trotzdem. Nutella war einfach das Beste, was es zu essen gab. Das war einfach schon mein ganzes Leben so und das würde sich wahrscheinlich auch nie ändern. Ich liebte den Geschmack von Schokolade und Haselnüssen gemischt und hätte mich auch von nichts anderem, außer Nutella, ernähren können. In der Woche verputzte ich meist ein ganzes Glas von dem Zeug. Am liebsten aß ich es auf Brötchen oder einfach pur, was man mir nicht ansah.

 

Auf dem Gesicht meiner Oma breitete sich wieder ein Lächeln aus. „ Du magst dieses Zeug also immer noch genauso wie früher?“, fragte sie mich. Es war eigentlich keine richtige Frage, sondern eher eine Feststellung, weshalb ich eine Antwort unter den Tisch fielen ließ. Meine Oma machte mir genauso wie früher ein Brot und ich hatte es in wenigen Minuten verputzt. Ein wohliges Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus, da dieser endlich wieder etwas zum arbeiten hatte. Glücklich ließ ich mich in den Stuhl fallen und verspürte Müdigkeit in mir aufkommen.

In diesem Moment läutete die Kuckucks Uhr und ich erschrak im ersten Moment ein wenig. Ich blickte zu ihr herauf, und sah, wie ein Kuckuck aus der Uhr heraussprang, nur im nächsten Moment wieder zu verschwinden. Dies wiederholte sich ein paar Mal, bis wieder Stille war. Ich stellte fest, dass es erst 22 Uhr war und beschloss trotzdem mich meiner Müdigkeit zu ergeben und schlafen zu gehen.

 

Sonst ging ich nie so früh schlafen, auch nicht, wenn Schule war. Meinst schlief ich auch dann erst um 1 Uhr in der Nacht oder bleib sogar noch länger auf. Wenn ich mit Kevin und Manuel auf Streifzüge ging, war meinst sogar die ganze Nacht wach. Oft machte ich mit ihnen auch die Nächte durch, um Party zu machen und zu feiern. Aus meiner Erfahrung wusste ich, dass die Stimmung, je später es wurde, immer ausgelassener und besser wurde.

 

Deshalb wunderte mich meine Müdigkeit, die ich sonst nie verspürte. Ich verabschiedete mich von meiner Oma und wünschte ihr eine gute Nacht. Leise stieg ich die Treppenstufen zu meinem Zimmer empor und legte mich direkt in mein Bett. Ich konnte gerade noch das Licht ausschalten, bevor mir meine Augen zufielen.

 

Am nächsten Morgen wurde ich durch helle Sonnenstrahlen, die auf mein Gesicht fielen wach. Langsam öffnete ich meine Augen und erblickte einen wunderschönen Frühlingsmorgen. Die Bäume, die vor dem Haus standen, hatten schon kleine grüne Knospen an ihren Ästen und ich vermutete, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis die Bäume wieder eine dichte, grüne Baumkrone hätten. Ich blieb noch ein bisschen in meinem Bett liegen, um den schönen Anblick zu genießen. Danach zog ich mich an und machte mich auf den Weg in die Küche, wo meine Oma, mit einem Frühstück schon auf mich wartete.

 

Nach dem Frühstück ging ich in mein Zimmer und kramte mein Handy hervor, um Kevin und Manuel anzurufen. Vergeblich versuchte ich Empfang zu finden. Ich stellte mich sogar auf mein Bett und lief im ganzen Haus herum. Ich sah bestimmt wie ein Idiot aus, wie ich mein Handy immer in die Höhe streckte. Ich gab auf und beschloss, dass die Jungs auch ohne mich auskommen würden. In der Schule hätte ich bestimmt Empfang und könnte sie von dort aus anrufen.

 

Den Rest des Tages verbrachte ich mit Spielen, die ich auf meinem Smartphone hatte und ließ mich, bei meiner Oma, nur noch zum Mittag- und Abendessen blicken. So verlief auch der nächste Tag und langsam begann ich mich zu langweilen. Hier auf dem Land gab es nicht viel, was man machen konnte. Es gab einfach nur Felder weit und breit. Die Nächste Stadt war ein Stück entfernt und mit dem Bus würde es ewig dauern dorthin zu fahren. Diesen ewigen Weg konnte ich mir auch sparen, dachte ich ...vorerst…

Alte Versprechen

Auch der nächste Tag fing so wie die vorherigen an. Da ich nicht mehr wusste, was ich noch machen sollte, langweilte ich mich zu Tode. Ich hatte sämtliche Spiele auf meinem Handy durchgespielt und da ich keinen Internet Empfang hatte, konnte ich mir auch keine neuen herunterladen. In diesem Moment war ich entschlossener denn je dieses Kaff zu verlassen.

 

Ich hatte einfach keine Lust mehr meine Zeit hier zu verbringen. Es war einfach sinnlos. Schon am Anfang hatte ich nicht verstanden was meine Eltern überhaupt mit dem Besuch bei meiner Oma bezwecken wollten. Vielleicht wollten sie mir einfach nur den Kontakt zu den anderen Jugendlichen abschneiden, damit ich nicht mehr so viel Blödsinn machte aber sie wussten ja selbst, dass ich fast keine Freunde hatte. Ihre Aktion war einfach nur unnötig und bewirkte auf jeden Fall das Gegenteil von dem, was sie bezwecken wollten.

 

Auf meine Eltern war ich noch viel wütender als zuvor und wenn ich nach Hause kommen würde, würden sie ihr blaues Wunder erleben, so viel war sicher. Was dachten sie sich eigentlich dabei mich in so ein Kaff zu stecken, ohne mich auch nur im Geringsten vorzuwarnen? Denken sie, dass das keine Konsequenzen für sie haben wird? Wenn ja dann haben sie sich aber gewaltig geirrt, denn ich werde ihnen ihr Leben zur Hölle machen. Vielleicht würde ihnen dann eine mal klarer werden wie ich mich fühlte. Sie sollten den gleichen Schmerz erleiden wie ich und spüren, was ich erlitten hatte.

 

Mit diesen Gedanken wurde mir auch klarer, dass es an der Zeit war sich einen Plan zu überlegen, denn desto länger ich warten würde, umso mehr würde ich meine liebe Oma bei meiner Abreise verletzen. Fieberhaft überlegte ich noch ein paar Minuten, aber da mir schließlich nichts einfiel beschloss ich etwas zu essen, da ich großen Hunger verspürte. Also machte ich mich auf den Weg in die Küche.

 

In der Küche stand meine, für ihr Alter noch ziemlich gutaussehende, Oma. Sie war gerade dabei Kartoffeln zu schälen, als ich eintrat. So wie immer legte sich ihr, sofort als sie mich sah, ein Lächeln aufs Gesicht. Ich konnte nicht anders als zurückzulächeln und trat neben sie. Um ein Messer zu nehmen, öffnete ich die Schublade links von mir, und begann auch Kartoffeln zu schälen.

 

Meine Oma schaute mich zuerst verwundert an, sagte dann aber nichts weiter. Also konzentrierte ich mich wieder auf den Berg von Kartoffeln, der sich vor mir auftürmte und schälte weiter. Nach kurzer Zeit hatten wir den riesigen Berg gemeinsam geschält und ich war noch immer in meinen Gedanken versunken. Meine Gedanken kreisten um Gott und die Welt und schweiften immer weiter ab. Ich überlegte gerade was der Sinn des Lebens sei, als ich von meiner Oma aus den Gedanken gerissen wurde.

 

„… damit hätte ich nun aber nicht gerechnet!“, begann sie und ich schaute sie nur verdutzt an. „Das ist das erste Mal in tausend Jahren, dass ich erlebe, dass du mir freiwillig hilfst!“, fuhr sie lachend fort. „ Dir muss aber ganz schön langweilig sein, dass du das machst!“, meinte sie anschließend noch. Ich nickte nur kurz, da ich gerade ein Nutellabrot, das ich mir geschmiert hatte, am Essen war. „ Also ich hätte eine gute Idee gegen deine Langweile! Weißt du noch wo du früher am liebsten warst? Kannst du dich noch daran erinnern?“ Ich brauchte einen Moment bis ich da hinter kam, was sie meinte, aber dann wurde es mir auf einen Schlag klar. „ Auf dem Reiterhof“, hieß meine Antwort und Augenblicklich fingen meine Augen zu leuchten an.

 

Da hätte ich Dummerchen auch selber draufkommen können! Erst vor ein paar Tagen stand ich am Fenster und blickte über die Landschaft. Schon damals fiel mir der Reiterhof auf, aber ich machte mir darüber keine Gedanken. Wider schossen mir Bilder von meiner Kindheit durch den Kopf, die ich größtenteils dort verbrachte. Schon von klein auf liebte ich alle Tiere und besonders Pferde. Sie waren einfach so schöne und elegante Wesen und ich konnte ihnen schon immer stundenlang zuschauen. Ich liebte sie und sie liebten mich. Es war einfach eine Verbindung zwischen den Lebewesen und  mir, die ich mir bis heute nicht erklären konnte.

 

 Für mich gab es nichts schöneres, als auf ihrem Rücken zu sitzen und die Landschaft an mir vorbeifliegen zu sehen. Dann breitete ich oft meine Hände aus und versuchte wie ein Vogel zu fliegen. Das Gefühl war einfach herrlich! Manchmal umklammerte ich auch einfach nur den Pferdehals und verkroch mich ganz in der Mähne, sodass ich eins mit dem Pferd wurde. So flogen wir über die Wiesen und Felder und ich sah alles an mir Vorbeifliegen. Ich liebte und genoss dieses Gefühl, bis wir nach Berlin zogen und es in der Nähe keinen Reiterhof mehr gab. Das Gefühl eins mit dem Pferd zu sein vermisste ich in dieser Zeit stark. Meine treuen Begleiter waren auf einfach nicht mehr da, obwohl ich es mir so stark wünschte.

 

Und jetzt hatte ich endlich wieder die lang ersehnte Gelegenheit auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen und alles um mich herum zu vergessen. Bei diesem Gedanke hellte sich meine Mime nochmals auf, was meine Oma zu bemerken schien. „ Ich glaube du weißt, was du von nun an machen wirst. Bevor ich es vergesse: dein eigenes, versprochenes Pferd steht immer noch auf dem Hof und wartet auf dich!“, meinte meine Oma lächelnd. Hatte ich mich da eben verhört oder war das, was sie gesagt hat wahr? Oder war es doch nur ein Traum? In meinem Kopf begann es zu rattern und letzten Endes kam ich zu dem Schluss, dass meine Oma genau das gesagt haben musste, was sie meinte.

 

In diesem Moment konnte ich mein Glück gar nicht fassen. Mein grinsen wurde immer breiter und breiter und ich muss wie eine Sonne gestrahlt haben, denn der Raum erhellte sich augenblicklich. Ohne Vorwarnung rannte ich auf meine Oma zu und nahm sie so in die Arme, wie ich es schon lange tun wollte. Vor lauter Glück, was mich überkam, rannten mir sogar ein paar Tränen über mein Gesicht. Die Welt schien in diesem Moment einfach perfekt zu sein, aber auch das sollte sich bald wieder ändern.

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Tag der Veröffentlichung: 14.04.2013

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