Selma Lagerlöf
Zacharias Topelius
Einzige berechtigte Übersetzung aus dem Schwedischen von
Pauline Klaiber-Gottschau
1. bis 5. Auflage
Albert Langen, München
1921
Alle Rechte, einschließlich des Rechtes der Übersetzung, auch für Rußland, vorbehalten
Vorwort
Vor zwei Jahren erteilte mir die schwedische Akademie, die den hundertjährigen Geburtstag des Dichters Zacharias Topelius feiern wollte, den ehrenvollen Auftrag, in einer kurzen Zusammenfassung das Leben und die Werke dieses Dichters zu schildern. Während der Fertigstellung dieser Aufgabe lernte ich die von Professor Vasenius mit außerordentlicher und größter Liebe ausgearbeitete Topeliusbiographie genau kennen und war da höchst überrascht über den Reichtum an lebenswarmen Einzelheiten, sowie von den vielen Aufklärungen über Finnlands Geschichte, die das Buch überall bot, abgesehen davon, welch sichere und vielseitige Bekanntschaft man durch dieses Buch mit dem Dichter selbst macht.
Es erschien mir indes fast unmöglich, daß eine Lebensbeschreibung, die schon drei dicke Teile umfaßt, ehe sie ihren Helden bis zu seinem sechsunddreißigsten Lebensjahr vorgeführt hat, jemals in dem Grad Eigentum der großen Menge werden könnte, wie sie es verdient. Ganz natürlicherweise entstand deshalb bei mir der Gedanke, aus dem vorliegenden Material eine kürzer gefaßte und populärer gehaltene Schilderung von Zacharias Topelius herauszuarbeiten, und ich möchte hier aussprechen, daß Professor Vasenius diesen Plan kennt und mit gewohnter Liebenswürdigkeit sein Einverständnis dazu gegeben hat.
Immerhin muß ich meine Leser davor warnen, in dieser meiner Arbeit nur allein einen Auszug, eine verkürzte Auflage der Biographie von Vasenius zu sehen. Teils habe ich noch einige andere Quellen benutzt, wie Eliel Vests »Lebensbeschreibung und Aufsätze über Topelius' Verfasserwirksamkeit« in den Jubiläumsveröffentlichungen von 1918, sowie die Finnische Zeitschrift, teils habe ich mich nicht ganz davon zurückhalten können, eigene Schlußfolgerungen zu ziehen und den gegenseitigen Zusammenhang der Geschehnisse auf eine Weise darzustellen, für die mein gewissenhafter Vorgänger wahrscheinlich die Schuld nicht auf sich nehmen möchte. Ganz besonders sollte ich wohl hervorheben, daß künftige Kritiker mich allein für alles verantwortlich zu machen haben, was ich über die Entstehung der »Geschichten des Feldschers« berichte.
Noch einen Helfer habe ich beim Schreiben dieses Buches zur Seite gehabt, nämlich den alten Dichter selbst. Daß ich viele seiner kleinen lyrischen Erzeugnisse zur Beleuchtung und Belebung meiner Darstellung benutzt habe, wird wohl niemand tadeln; aber ich habe außerdem auf eine höchst unerlaubte Weise einige seiner besten Prosaabschnitte in meinen Text hineingeflochten. Der kundige Leser wird alsbald herausfinden, daß die Einleitung des ersten Kapitels in diesem Buch aus der Sage von der Birke und dem Stern entlehnt ist und daß der historische Überblick, der das Kapitel »Zacharias Toppelius der Ältere« schmückt, beinahe wörtlich im »Frühling der Wildnis« zu lesen steht. Die Beschreibung des alten Hauses auf Alörn ist aus einer Topeliusischen Erzählung genommen und ebenso die Geschichte von »Elias Lönnrots Jugend und mühseligen Studienjahren«, wogegen die kulturhistorischen Aufklärungen, die man im Kapitel »Lyrik« findet, aus der Novelle »Vincent Wellenbrecher« geholt sind. Auch hoffe ich eines: alle, die jemals erfahren haben, wie schwer es einem fällt, auf andere Weise Beispiele von dem Prosastil eines Schriftstellers wiederzugeben, werden mir verzeihen, daß sie, anstatt freistehend vorgeführt zu sein, auf solche Weise in das Buch eingeschmuggelt sind.
Mårbacka, 27. Oktober 1920.
Selma Lagerlöf
Zacharias Toppelius
Vor ungefähr zweihundert Jahren herrschte in Finnland große Not. Weit umher war durch den Krieg alles verwüstet, Städte und Dörfer gingen in Flammen auf, die Ernte wurde niedergetreten und die Menschen gingen zu Hunderttausenden zugrunde, durchs Schwert, durch den Hunger und durch furchtbare Krankheiten, und viele, viele entflohen auch aus dem Lande. Wo man hinschaute, lauter Elend, Seufzen und Weinen, Jammer und Trauer, Asche und Blut, und die, so am längsten hofften, wußten schließlich nicht mehr, worauf sie noch hoffen könnten. Denn Gottes Geißel ging über das Reich hin und fiel auf das arme Land nieder; die Schrecken jener Zeit werden niemals vergessen werden.
Bei soviel Unglück geschah es, daß viele Familien auseinandergerissen und weit umher zerstreut wurden. Die einen wurden in Feindesland getrieben, andere entflohen in Wälder und Einöden, ja, weit in die Ferne nach Schweden; eine Gattin wußte nichts mehr von ihrem Manne, ein Bruder nichts von seiner Schwester und eine Mutter nichts von ihren Kindern; sie hatten keine Ahnung, ob die Ihrigen noch lebten oder tot waren.
Als dann endlich Frieden wurde und die Überlebenden wieder in ihre Heimat zurückkehrten, gab es nur ganz wenige Familien, die nicht einige von den Ihren vermissen oder betrauern mußten. Gleichwie wir in dem Märchen vom Ritter Blaubart lesen, daß die junge Gattin ihre Schwester auf den Turm schickte, von wo man weit umherschauen konnte, und sie dann der Ausschauhaltenden beständig zurief: »Anna, siehst du jemand kommen?« so fragte gar mancher in seiner einsamen Hütte, wo man nichts von den verlorenen Lieben gehört hatte: »Siehst du niemand kommen? Siehst du noch niemand kommen?« Und meistens lautete die Antwort: »Niemand! Niemand!«
Aber bisweilen ging es doch wie in dem Märchen vom Ritter Blaubart. Weit draußen auf dem Wege ward eine kleine Staubwolke sichtbar; die Wolke kam näher und näher herbei, und schließlich erkannte man eine Schar Flüchtlinge, die ihre Angehörigen suchte. Dann schauten die Augen von Vater und Mutter sehnsüchtig nach ihren Lieben aus, und fanden sie sie endlich nach vielen Jahren wieder, so herrschte da eine Freude, wie wenn das Leid gar nicht gewesen wäre; die Hütten wurden in aller Eile wieder aufgerichtet, die Felder trugen neue Ernte, und eine neue Zeit brach an nach all den vergangenen Sorgen.
Während des langen Krieges war ein armer Junge aus Uleåborg, Christof Toppelius, mit seiner Mutter und Schwester in eine entlegene Waldhütte in der Mohuser Einöde geflohen. Dort fristeten sie kümmerlich ihr Leben. Sie fingen Fische in einem nahe gelegenen Teich und legten Schlingen für die Tiere im Walde. Aber schließlich wurden sie auch da von dem Feinde aufgespürt. Eine Schar Kosaken kam auf dem Waldwege dahergeritten; sie ergriffen den Jungen vor den Augen der Mutter und sprengten mit ihm auf und davon.
Diese Kosaken nahmen den Jungen mit sich nach Rußland und verkauften ihn da an einen Bojaren, der ein Günstling des Zaren war und ein Gut in Ingermanland besaß. Dort wurde der Junge gut behandelt, er durfte sogar Klavierspielen lernen, und eines Tages, als der Zar Peter als Gast auf dem Gute weilte, wurde der Junge hereingerufen, um dem Herrscher etwas vorzuspielen.
Aber mitten im Überfluß und Wohlergehen konnte der Junge doch Vater und Mutter und Heimatland nicht vergessen. Es erging ihm, wie einst den gefangenen Juden in Babylon, die ihre Harfen an die Weiden hingen und in dem fremden Lande nicht singen und spielen und nicht tanzen konnten.
Als dem Jungen dann zu Ohren kam, daß in Finnland wieder Frieden herrschte und daß alle, die konnten und wollten, dahin zurückkehren durften, wurde ihm das Heimweh übermächtig, und eines Tages, als er mit dem Abcbuch unter dem Arm in die Schule wanderte, entwich er in einen großen Wald und hielt sich da bis zum Abend verborgen. Als es Nacht war, wanderte er fort, immer in der Richtung, wo er an dem Augustabend die Sonne hatte untergehen sehen. Und auf diese Weise, bei Nacht weiter wandernd und sich bei Tage versteckt haltend, erreichte er endlich eine Landstadt im südlichen Finnland. Da lag ein Schiff zum Ausfahren nach Stockholm bereit, und der Schiffer nahm den Flüchtling mit an Bord.
Und siehe, als der Junge in Stockholm bei der großen Schiffbrücke an Land stieg, standen da einige Frauen und spülten Linnen. Eine von ihnen betrachtete den eben Angekommenen genau und fragte ihn auf finnisch: »Woher kommst du?«
»Von Uleåborg,« antwortete der Junge.
»Dann bist du mein Sohn Christof,« lautete die Antwort.
Und die Frau war in der Tat die Mutter des Jungen; wie so viele andere war sie in die Hauptstadt geflohen und verdiente sich da ihren Unterhalt im Tagelohn durch waschen und scheuern für andere Leute.
Nachdem sich nun Mutter und Sohn auf diese Weise wiedergefunden hatten, kehrten sie miteinander nach Finnland zurück. Der Sohn übernahm seines Vaters Hof an der Limingostraße und erwarb auch die Äcker und Wiesen vor der Stadt wieder, die zuvor seiner Familie gehört hatten. Er wurde Schreiber auf dem Zollamt und beschäftigte sich auch etwas mit Malen und mit Musik. In der Friedenszeit, die jetzt angebrochen war, durfte er sein Leben in ziemlichem Wohlstand verbringen, und bei seinem Heimgang hinterließ er den Seinen einen geachteten und geehrten Namen.
Michael Toppelius
Ungefähr hundert Jahre nach der Zeit, wo Christof Toppelius in russische Gefangenschaft geraten war, brach wieder Krieg zwischen Schweden und Rußland aus, und wieder hatte er, sogar unter denen, die nicht an den Schlachten teilnahmen, Not und Jammer, Pestilenz und jähe Todesfälle im Gefolge.
In Uleåborg, auf dem alten Erbgut an der Limingostraße wohnte damals Christofs Sohn, Michael Toppelius, ein froher, freundlicher, arbeitsamer und gottesfürchtiger alter Mann, der von Beruf Kirchenmaler war und in den Tagen seiner vollen Kraft viele Kirchen seines Landes mit frommen, erbaulichen Bildern geschmückt hatte. Als der Krieg ausbrach, war er schon ein alter Mann, der sich seinen Lebensunterhalt mit seiner Arbeit nicht mehr verdienen konnte und demzufolge vollständig verarmt war. Bis dahin hatte er indes der Zukunft ohne zu große Sorge entgegengesehen, weil er viele fürs Lebens wohlausgerüstete Kinder hatte, die ihn sicher nicht im Elend verkommen lassen würden, wenn sie es nur selbst soweit brachten, ihm helfen zu können.
Die größten Hoffnungen aber setzte Michael auf seinen ältesten Sohn Johan Gabriel; der schon Kaplan in Ilmola im südlichen Österbotten war.
Er war allerdings verheiratet, hatte vier Kinder und war überdies kränklich; aber der Vater hoffte, er werde bald als Propst auf einer reichen Pfründe in einem großen Pfarrhofe wohnen, dort selbst gute Tage genießen und dann gewiß imstande sein, Vater und Geschwistern eine hilfreiche Hand zu bieten.
Auch zwei andere Söhne, Zacharias und Gustaf, hatten sich für einen gelehrten Beruf entschieden. Beide befanden sich zurzeit in Schweden und studierten Medizin. Noch war keiner von ihnen fertig, aber sie waren doch schon so weit, daß sie selbst für ihren Unterhalt sorgen konnten. In der allerletzten Zeit hatten sie überdies angefangen, ihren Vater schon ein wenig zu unterstützen.
Zu Hause hatte Michael Toppelius außerdem noch einen Sohn und drei Töchter. Der Sohn war nicht viel nütze und von schwachem Charakter, aber die Töchter waren klug und unternehmungslustig, und so hatten sie einen kleinen Kramladen eröffnet, um auf diese Weise der schlimmsten Not zu steuern.
Der Krieg hatte noch nicht lange gedauert, da bekam Michael Toppelius gar traurige Nachricht von seinem ältesten Sohne. Im Kirchspiel Kauhajoki, das nahe bei Ilmola lag, war ein russischer Transport von einer Bauernschar ausgeplündert worden. Um diese Frechheit zu bestrafen, wurde eine russische Kosakentruppe nach Kauhajoki geschickt, und diese raubte nicht weniger als dreißig Höfe aus und brannte sie dann bis auf den Grund nieder. Im Hofe Knuuttila, der Johan Gabriels Schwager gehörte, wurde der Besitzer mitten in der Nacht durch Schüsse und Bajonettstiche ermordet. Sein Knecht wurde auf der Stelle erschossen, sein Schwiegervater mit Peitschen geschlagen und gefesselt in Gefangenschaft weggeführt, und seine Frau mußte mit ihren Kindern in die Wälder fliehen. Und genau ebenso war in allen den andern niedergebrannten Höfen verfahren worden.
Als diese Nachrichten Ilmola erreichten, zog Johan Gabriel mit seinen Dorfbewohnern nach Kauhajoki, um den ratlosen Flüchtlingen beizuspringen. Man führte sie nach Ilmola und nahm sie in seinen Häusern auf, jeder half nach seinem Vermögen. Zu Johan Gabriel kamen seine Schwägerin, ihre Kinder und ihre Eltern, und sie hatten so Schreckliches zu berichten, daß die Feder sich sträubt, es niederzuschreiben.
Johan Gabriel selbst war weder verwundet noch zerschlagen worden, aber seine Krankheit, ein gefährliches Lungenleiden, verschlimmerte sich nach dem grausigen Ereignis und der beständigen Angst, in der er von jetzt an leben mußte, in beängstigendem Grade.
Aus Furcht vor heranziehenden Feinden mußte er sich lange Zeit nach dem Unglück in Kauhajoki in einer Hütte im Walde verborgen halten. Da war er zwar in Sicherheit vor den Russen, aber statt dessen fand die rote Ruhr, die damals meist im Gefolge der Kriegsheere einherzog, den Weg zu seiner Freistatt; sie raubte ihm drei von seinen Töchterchen und ließ nur ein einziges Kind übrig, einen Sohn, namens Franz Michael.
Nach all diesem hörte Johan Gabriel auf, gegen den Tod anzukämpfen, und im September 1818, vierzehn Tage, nachdem seine drei Töchterchen wie Blumen von der Sichel abgemäht dahin gesunken waren, verließ auch er die Schrecknisse dieser Welt.
So hatte der Alte in Uleåborg durch den Krieg seinen Sohn verloren, auf den er als auf die beste Stütze seines Alters gerechnet hatte.
Sehr geringe Hoffnung hatte er auch in jener Zeit, seine beiden andern in Schweden studierenden Söhne jemals wiederzusehen. Beide waren mit in den Krieg gezogen. Zacharias war Arzt bei der Schärenflotte, die im Sommer und Herbst des Jahres 1809 mehrmals den Versuch machte, Truppen in Finnland zu landen. Gustaf tat Dienst auf der Korvette Camilla, die die Handelsschiffe zwischen Stockholm und Göteborg zu begleiten hatte, um sie vor dänischen Kapern zu schützen.
Und immer düsterer gestalteten sich auch die Verhältnisse in der nächsten Umgebung des alten Toppelius. In Uleåborg drehten sich die Gespräche um nichts anderes mehr, als um Einquartierungen und Aushebungen. Und mit der gewöhnlichen Not des Krieges zugleich stellte sich auch die teure Zeit ein. Wer zuvor etwas besessen hatte, wurde leicht reich, aber den Armen erging es schlimmer als je zuvor. Mit der zunehmenden Not nahm auch die Unehrlichkeit überhand. Zaunpfähle wurden als Brennholz verkauft, und wer ein Pferd besaß, mußte es wohl versteckt halten, damit es ihm nicht gestohlen wurde.
Im Spätherbst 1808 fror das Schiff, auf dem Zacharias Toppelius Dienst tat, in den Stockholmer Schären ein und konnte nicht wieder loskommen. An Bord konnte man sich nicht gegen die Kälte schützen, und als der junge Arzt endlich an Land kam, war er lebensgefährlich krank. Die Korvette Camilla war auch eingefroren, aber weiter südlich im Öresund. Nach vielen Abenteuern zündete der Kapitän das Schiff an, damit es nicht in die Hände des Feindes fallen konnte, aber die ganze Besatzung des Schiffes geriet in dänische Gefangenschaft.
Ungefähr zu derselben Zeit, da solches Unglück den Söhnen von Michael Toppelius widerfuhr, fiel ganz Finnland in Rußlands Gewalt, und die Verbindung mit Schweden wurde abgesperrt. Keinerlei Nachricht gelangte von da nach Uleåborg, und während des ganzen Jahres 1809 wurden Zacharias und Gustaf von Vater und Geschwistern als tot betrauert. Erst im Jahre 1810 erfuhr der Vater, daß seine Söhne allen Gefahren glücklich entgangen waren und sich in voller Gesundheit in Stockholm befanden. Ein paar Monate vorher war von der Kanzel der Friede verkündigt worden. Jetzt hätte man also erwarten können, daß der Alte sehr beglückt und erfreut gewesen wäre und ganz überzeugt, daß seine Sorgen und die Heimsuchung nun ihr Ende erreicht hätten.
Aber wohlgemerkt, dies war der Friedensschluß, der Michael Toppelius und alle Finnen mit ihm zu russischen Untertanen machte. So froh er darum auch war, daß die Söhne noch lebten, so konnte er doch nur mit Angst daran denken, daß die beiden, die in Schweden wohnten, sich von jetzt ab in einem fremden Lande befanden. Er konnte durchaus nicht versichert sein, daß sie nach Finnland zurückkehren wollten, um sich dadurch unter die russische Gewaltherrschaft zu begeben.
Es verging auch ein Monat nach dem andern, aber nirgends war ein Anzeichen zu erblicken, nach dem man auf die Heimkehr der Söhne hätte schließen können. Sie gaben allerlei Gründe an, sagten, sie könnten erst zurückkehren, wenn sie richtige Ärzte geworden seien, und damit mußte sich der Vater ja auch zufrieden geben. Aber eines wußte er: Je länger es dauerte, desto schwerer wurde es für die Söhne, Schweden zu verlassen, wo sie ihre Ausbildung erhalten hatten und wo eine gute Zukunft ihrer wartete.
Die Monate wurden zu Jahren. Die Gestalt des Alten wurde gebückt und neigte sich dem Grabe zu; aber von den Söhnen war weder etwas zu sehen noch zu hören. Jetzt hätte er gerne Späher ausgeschickt und gefragt: »Siehst du niemand kommen? Siehst du noch niemand, gar niemand?«
Doch siehe, im Herbst 1811 kehrte wirklich der ältere Sohn Zacharias nach Finnland zurück! Er hatte sich in Stockholm als tüchtiger und erfolgreicher Arzt schon einen Namen gemacht. Großer Erfolg und ein ausgedehntes Arbeitsfeld erwarteten ihn in Schweden; aber das Vaterland zog und zog und ließ ihn nicht los, und als ihm dann die Stelle eines Stadtarztes in Nykarleby angeboten wurde, nahm er den Ruf an.
Das war eine große Befriedigung für den Vater; aber möglicherweise war es doch auch eine Enttäuschung, weil Zacharias sich in Nykarleby niederließ, was für den, der ihn von Uleåborg besuchen wollte, eine dreißig Meilen weite Reise bedeutete. Der Alte hätte für sein Leben gern einen Sohn auf dem alten Hofe an der Limingostraße schalten und walten sehen, damit das Erbgut vor dem vollständigen Verfall bewahrt würde.
Aber dazu war wenig Aussicht vorhanden, denn daß Gustaf, der andere Sohn, auch wiederkehren werde, das wagte der alte Vater kaum zu hoffen. Zacharias war ein Mann von einfacheren Anlagen, er kannte keinen andern Ehrgeiz, als seinen Nebenmenschen zu helfen. Er befand sich überall wohl, wo er das Bewußtsein hatte, daß man ihn brauchte. Gustaf dagegen war von anderer Art. Auch er war ein tüchtiger Arzt, aber gleichzeitig ein fröhlicher Gesellschafter, der überall, wo er auch immer hinkam, geliebt und verehrt wurde. Er war nicht schwermütig, wie so viele Finnen, sondern dem Festlichen und Frohen zugeneigt.
»Er bleibt in Schweden,« sagten die Leute zu dem alten Vater, »dorthin paßt er am besten.«
Im Jahre 1815 jedoch wurde Gustaf zum Stadtarzt in Uleåborg ernannt, und da zog auch er nach Finnland hinüber.
Denn es erging diesen beiden Brüdern genau wie ihrem Großvater Christof, der sich von seiner glücklichen Gefangenschaft in Rußland unter großen Gefahren bis zu seinem zerstörten Heimathofe durchgeschlagen hatte. Auch diese beiden Nachkommen hatten das Heimweh nach dem Vaterlande nicht überwinden können; in Armut und Unglück – gerade da lockte es sie unwiderstehlicher denn je zuvor.
Zacharias Topelius, der Ältere
Wenn niedergebrannte Häuser, verheerte Äcker, zugrunde gerichteter Wohlstand, erschlagene, gemarterte oder in Gefangenschaft und Sklaverei fortgeführte Menschen, ja, wenn selbst politische Unglücksfälle, wie der Verlust von Ländern, verwüstete Provinzen und allgemeine Verarmung die einzigen Folgen eines langen, verheerenden Krieges wären, dann wäre der Anblick noch lange nicht der furchtbarste, der einem Menschenauge in den Bruderkriegen dieser Welt zuteil werden könnte. Diese Häuser können wieder aufgebaut werden, diese Felder wieder bestellt, diese Bewohner wieder heranwachsen, weil sich gemäß der weisen Einrichtungen der Natur die Fruchtbarkeit nach großen Zerstörungen verdoppelt. Aber das härteste Unglück von allem und das, was den Beschauer mit der tiefsten Trauer erfüllt, ist der Anblick der großen moralischen Erniedrigung, die gewöhnlich den Verheerungen des Krieges auf dem Fuße folgt.
Wohl ist es wahr, daß nach dem Friedensschlusse von 1809 die in Finnland herrschende Not nicht zu vergleichen war mit dem Elend des großen Krieges, das Christof Toppelius bei seiner Rückkehr von Rußland überall antraf. Jetzt besaß das Land noch unverbrannte Städte und Dörfer, die Handelsschiffe waren nicht von Freibeutern geraubt, die Felder lagen nicht unbebaut und von sich einnistenden Waldbäumen überwuchert da. Die Kosaken hatten nicht alles Vieh fortgetrieben, und man hatte die Kirchenglocken nicht auf den Meeresgrund versenken müssen, damit sie der Beschlagnahme vom Feinde entgingen. Die Bevölkerung war jetzt nicht von ihrem kostbarsten Eigentums fortgeflohen, die Bürgerschaft wohnte noch in den Städten. Bauern und Pfarrer waren noch auf den Dörfern. Im Waldesdickicht lauerten keine Räuber, und verarmte Flüchtlinge zogen nicht auf den Wegen umher und suchten nach ihren zerstörten Heimstätten. Dem Gefolge aber, das mit dem Kriege dahergezogen kommt, war das Land keineswegs entgangen, der Sittenlosigkeit, der Ungerechtigkeit, der Genußsucht sowie dem verderblichen Verlangen, mit wenig Arbeit leicht erworbenen Verdienst zu ernten.
Wenn man dazu den Umschwung aller Verhältnisse bedenkt, den die Trennung von Schweden herbeiführen mußte, dann kann man wohl sagen, daß das Land zu keiner andern Zeit charakterfeste, uneigennützige und tüchtige Männer so bitter nötig gehabt hätte, Männer, die einen Damm gegen die Sittenverderbnis hätten aufrichten können und dem Volke die Leitung zuteil werden lassen könnten, die es unter der Umwälzung so notwendig brauchte. Unternehmend und scharfsichtig mußten diese Männer auch sein, denn jetzt galt es, nicht nur am Alten festzuhalten, sondern auch das Land auf jedem Gebiet vorwärtszubringen, nun handelte es sich darum, ob Finnland zu einem Gouvernement wie jedes andere in einem stillstehenden Rußland herabsinken wollte, oder ob die Finnen auch ferner zu dem fortschreitenden, freien Volk des Westlandes gezählt werden durften.
Und wahrlich, glücklich dürfen sich die Finnen schätzen, daß in jener Zeit ihr hart bedrängtes, sich selbst überlassenes Volk solcher Männer mit solchen hervorragenden Eigenschaften niemals ermangelte, Männer, von denen jeder an seinem Ort die Führerschaft übernahm. Bald war es ein Universitätsprofessor, bald ein Pfarrer, bald ein einfacher Bauer, der sich an die Spitze stellte und die Erneuerung beschleunigte. Und diese Männer der neuen Zeit scheinen sich auch überall gefunden zu haben gleich einer über das ganze Land ausgebreiteten Bruderschaft.
Mit einem aus dieser Schar werden wir jetzt bekannt werden.
Ganz nahe bei der hübschen Stadt Nykarleby im südlichen Österbotten lag ein kleiner Herrenhof namens Kuddnäs. Vielleicht kann sich der eine oder andere aus jener Gegend noch an das behagliche einstöckige Wohnhaus erinnern, wie es sich damals ausnahm mit seinen weißen Wänden, seinem gegliederten Dach und dem kleinen eigenartigen Vordergiebel dicht über dem Dachrand. Rings um das Wohnhaus her zog sich der Garten mit Blumenrabatten, Erdbeer- und Küchenkräuterbeeten und einer großen Menge Johannisbeersträuchern. Hinter dem Garten lag ein kleines Wäldchen mit himmelhohen Erlen, vor dem Garten schlängelte sich ein kristallhelles Flüßchen dahin, und vom Hofe her bis zur Straße nach Nykarleby führte eine stattliche Allee.
Dagegen kann man nicht verlangen, daß sich irgend jemand jetzt noch an jenes Leben und die Betriebsamkeit erinnerte, die vor hundert Jahren auf diesem Hofe herrschten. Das Anwesen gehörte seit dem Jahre 1813 dem kurze Zeit vorher von Schweden zurückgekehrten Arzte Zacharias Topelius, der wegen seiner großen Geschicklichkeit in ganz Finnland berühmt geworden war und sich eine ganz bedeutende Praxis erworben hatte. Ein Fuhrwerk ums andere brachte Kranke nach dem Hofe, oftmals von recht weit abgelegenen Orten her, Leute, die den Doktor zu sich holen wollten, warteten vor dem Hofe mit ihrem Wagen, Kranke, die längere Zeit der Pflege bedurften und in dem Gesindehaus auf Kuddnäs oder in den umliegenden Höfen Aufnahme gefunden hatten, wanderten nach der Wohnung des Doktors, um sich von ihm behandeln zu lassen.
Immerhin waren es nicht nur Kranke und Hilfesuchende, die auf dem Hofe aus und ein gingen. Der berühmte Arzt war zugleich auch ein eifriger Vaterlandsfreund, der sein Eigentum zu einem Musterhofe und den ganzen Bezirk ringsum zu einem nutzbringenden Vorbild machen wollte. Bei ihm waren Arbeiter angestellt, die große Gartenanlagen einrichteten, Zimmerleute verbesserten und erweiterten die Wirtschaftsgebäude; an einem Bach, der im Frühjahr und Herbst gar reißend daherrauschte, wurde eine Schmiede und eine Mühle gebaut, und draußen auf den Äckern wurden neue Arbeitsmethoden geprüft und neue Ackerbaugerätschaften ausprobiert.
Immer neue Gesichter zeigten sich auf dem kleinen Hofe. Bald kam ein Bauer, um sich die neuen »Moden« des Doktors anzusehen, bald war es ein vornehmer Durchreisender, der sich in Nykarleby aufhielt und nicht abreisen wollte, ohne die merkwürdigen Anlagen auf Kuddnäs gesehen und dem Besitzer für seine eifrige Vaterlandsliebe gedankt zu haben. Bald kam der alte Kirchenmaler, der nach der Heimkehr des Sohnes zu neuem Leben erwacht war, mitsamt seinen ganzen Malgerätschaften von Uleåborg dahergefahren, um monatelang das nach Süden gelegene Giebelzimmer zu bewohnen. Bald sah man da auch des verstorbenen Kaplans von Ilmola einzigen Sohn Franz Michael, dem der Doktor seine väterliche Fürsorge zuteil werden ließ und den er oft in den Ferien nach Kuddnäs einlud.
Unter anderen, die Kuddnäs besuchten, zeigten sich auch ein seltenes Mal arme alte Männer von wildem, sonderbarem Aussehen; sie hatten eine dunkle Hautfarbe, das Haar hing ihnen auf die Schultern herab, und sie trugen lange, fast bis auf den Boden reichende Kaftane.
Diese umherziehenden Männer waren in der ganzen Umgegend gefürchtet, weil man sie für gefährliche Hexenmeister und Zauberer aus dem entfernten Finnenbezirk hielt. Auf Kuddnäs dagegen wurden sie warm willkommen geheißen. Der Doktor schloß sich mit ihnen in sein Studierzimmer ein und unterhielt sich da stundenlang mit ihnen. Er war nämlich während seiner Tätigkeit als Arzt wiederholt mit alten Männern und Frauen in Streit geraten, die die verschiedensten Krankheiten durch Aufsagen altertümlicher Gedichte in finnischer Sprache heilten. Zu all den vielen verschiedenen Gebieten, die ihn anzogen und seine Zeit ausfüllten, war da die Lust in ihm erwacht, sich von diesen seinen armen Nebenbuhlern eine Sammlung ihrer heilkräftigen Runen zu verschaffen, und so begrüßte er hocherfreut jeden, der ihm einen Beitrag dazu liefern konnte, gleichsam vorausschauend, daß sich unter diesen merkwürdigen dichterischen Erzeugnissen Schönes und Wertvolles finden würde, was von andern Forschern bisher übersehen worden war.
Kurz nach seiner Rückkehr in das Vaterland hatte sich Doktor Topelius mit Sofie Calamnius verheiratet, deren Familie zu den reichsten und vornehmsten in Nykarleby zählte, und er und seine Frau luden immer von Zeit zu Zeit Freunde und Verwandte aus der Stadt zu einem frohen Mittagsmahle ein. Bei solchen Gelegenheiten legte der ernste Doktor alle Kümmernisse auf die Seite und war dann ein außerordentlich angenehmer Gastgeber. Er lud seine Gäste nicht nur zu reichlicher Verpflegung an Wein und Speisen ein, sondern auch zu interessanten Geschichten aus der eben erst überstandenen Kriegszeit und zu Berichten über das, was die vaterlandsfreundlichen Männer taten, um den Mängeln in Finnlands Literatur und allgemeiner Bildung abzuhelfen. Viele Tischreden wurden gehalten, vom Hausherrn und der Hausfrau wurden Lieder vorgetragen, wobei die ganze Gesellschaft in den Kehrreim taktfest mit einstimmte. Wenn nach einem solchen Feste die Gäste Kuddnäs verließen, waren alle darüber einig, daß das Haus des Doktors nicht nur das vornehmste und gebildetste der ganzen Umgegend sei, sondern auch der Ort, wo man so recht von Herzen froh und vergnügt sein konnte, wie sonst nirgends.
Auf diesem Kuddnäs, wo man so überaus fleißig war, wo man so viel Gutes tat und wo man es verstand, der ganzen Umgebung Freude zu spenden, war man indes durchaus nicht ohne Sorgen und Kummer gewesen. Zwei Söhnlein hatten nur ein paar Monate gelebt; am 14. Januar 1818 wurde ihnen indes noch ein dritter Sohn geboren. Er kam am Felixtage selbst auf die Welt, und ein achtzigjähriger Gärtner, der etwas von Astrologie verstand, stellte ihm das Horoskop. Er fand heraus, daß das Kindlein einstmals einen berühmten Namen bekommen werde. Auf so etwas legten indes die Eltern wenig Gewicht. Sie verlangten nichts weiter, als daß das Kind gesund und kräftig sei, damit es am Leben bleiben könnte und ihnen nicht wie die beiden Brüderchen wieder entrissen würde.
Zwei Jahre später stellte sich auch noch ein Töchterchen ein, und diese beiden Kinder blieben am Leben und gediehen prächtig heran. Nun hatte ihnen das Glück die ersehnten Kinder beschert, und man konnte sich wohl fragen, was es danach noch alles für sie in Bereitschaft haben werde.
Alles ringsumher war im Aufstieg begriffen. Die Anstrengungen des tüchtigen Arztes wurden mit Erfolg gekrönt. Sein Besitztum besserte sich nach jeder Richtung. Er und seine Frau lebten in der glücklichsten Ehe zusammen. Von dieser Welt Güter hatten sie mehr als genug; nicht nur der Not seines Vaters und der seiner Geschwister konnte der Doktor steuern, er konnte auch noch den Nahrungssorgen bei vielen andern abhelfen.
Doch im Jahr 1820 traf ihn ein großes Unglück. Auf einer Amtsreise fuhr Doktor Topelius über einen zugefrorenen See, und da brach das Eis unter ihm ein. Er geriet in eine Wake, wurde zwar gerettet, zog sich aber eine schwere Erkältung zu. Bei seiner Heimkehr fühlte er sich so krank, daß er sich gleich zu Bett legen mußte. Dann lag er unter großen Schmerzen Monat um Monat auf seinem Lager, und er selbst und andere glaubten nicht mehr an sein Aufkommen. Der Tod verschonte ihn dann freilich, aber seine Gesundheit kehrte nicht wieder. Die Beine blieben gelähmt, das Gehör geschwächt, und er litt oft an schmerzhaften Krämpfen. Jetzt mußte er selbst ärztliche Hilfe suchen. Sein Bruder kam als sein Stellvertreter, er selbst reiste nach Kopenhagen und nach Åbo und befragte die berühmtesten Kollegen; aber eine Besserung seines Zustandes war nicht zu erlangen.
Nun verstummte allmählich das brausende Leben auf Kuddnäs. Die Kranken hörten zwar nie ganz auf, den berühmten Arzt um Rat zu fragen, aber notwendigerweise waren sie von da an doch sehr in der Minderzahl. Keine neuen Gebäude erstanden mehr auf dem Gute, kein Einkauf von neuen Hufen Lands wurde mehr gemacht, keine Erweiterung des Gartens vorgenommen. Was schon getan war, suchte man instand zu halten, aber das Leben fiel nun in denselben ruhigen Gang wie auf einem gewöhnlichen Hofe.
Der Kranke selbst verbrachte seine Tage in einem Lehnstuhle sitzend mit einem Schreibebrett vor sich. Sein Kopf war klar, die Hände konnte er bewegen, aber die Fähigkeit zu energischer Arbeit war dahin, Er behandelte die Kranken, die zu ihm kamen, er las, er schrieb, er besorgte seinen Briefwechsel, er sammelte finnische Runen, er interessierte sich für alles, was mit Finnlands Wiederaufbau zusammenhing, er beschäftigte sich auch mit der Erziehung seiner Kinder; aber trotzdem erkannte er selbst und erkannten alle andern, daß seine Rolle auf dieser Welt ausgespielt war.
Aber eines bleibt bestehen: wenn ein Mann, der unter schweren Zeiten mit uneigennützigem Eifer sich für das Wohl seines Landes eingesetzt hat, plötzlich davon abgeschnitten wird, ihm noch weiter zu helfen, dann scheint damit auch sein Lebensnerv dahinzusiechen. Keine andere Tätigkeit befriedigt ihn mehr, er will weder Trost suchen noch annehmen, und eine unüberwindliche Mutlosigkeit zehrt an seiner Seele. Er fühlt sich nicht als der Stein, der, obzwar von den Bauleuten verworfen, trotzdem noch zum Eckstein ward, sondern als ein Pfeiler, der dazu bestimmt, das Gebäude zu tragen, als baufällig, unzulänglich und schwach erfunden und vom höchsten Baumeister verworfen worden ist.
So war ganz gewiß die Gemütsstimmung, die den kranken Arzt beherrschte, obgleich er mit unerhörter Geisteskraft es zu vermeiden suchte, seine Umgebung mit in sein Leid hineinzuziehen und die Luft im Hause schwer und drückend werden zu lassen.
Vor seiner Gattin, die zugleich seine Pflegerin war, konnte er wohl kaum seine Verzweiflung verbergen, aber seine Kinder durften ihrem Alter gemäß sorglos, frisch und glücklich heranwachsen.
Kuddnäs
Jetzt habe ich von dem kleinen Jungen zu berichten, der am 14. Januar 1818 geboren wurde und bei der Taufe seines Vaters Namen erhielt, so daß nun also ein neuer Zacharias Topelius[1] da war.
Nicht umsonst war das Kind am Felixtage auf die Welt gekommen. Dieser Zacharias war tatsächlich der glücklichste Junge, der in sieben Königreichen aufzutreiben gewesen wäre. Kein noch so vornehmer Prinz hätte es besser haben können.
Gleich zu Anfang seiner irdischen Laufbahn wurde er von nicht weniger als drei Dienerinnen zärtlich geliebt und aufs sorgfältigste umhegt; diese drei taten alles, was in ihren Kräften stand, das Kind gründlich zu verwöhnen. Zwei davon waren aus der Gegend von Nykarleby und sprachen schwedisch wie der Hausherr und die Hausfrau auf Kuddnäs auch, aber die dritte war aus dem finnischen Bezirk der Uleåborger Gegend. Dieses Mädchen hatten die Eltern nur deshalb kommen lassen, damit der Junge bei ihr finnisch sprechen lerne, was der Vater für durchaus notwendig hielt in diesem Lande, wo der größte Teil der Landbevölkerung diese Sprache redete; aber der Kleine zog es vor, sein Kindermädchen seine Sprache zu lehren, und erreichte das, was er wollte. Insofern war der Unterricht der finnischen Brita ein Mißerfolg; aber auf um so besseres Erdreich fiel all das, was sie ihm von Hexenmeistern und Trollen, vom Trollberg Rustekais, vom Trollrenntier mit den vergoldeten Hörnern und von Hiisi, dem furchtbaren Bergkönig zu berichten wußte.
Als der Junge soweit herangewachsen war, daß er sich außer dem Hause frei bewegen durfte, nahmen ihn die Knechte und die dem Hause Unterstehenden sehr oft mit zu ihrer Hantierung. Er wurde nicht auf die Seite geschoben wie andere kleine Kinder, weil er ihnen in den Weg lief und sie hinderte, im Gegenteil! Da sich sein Vater niemals unter seinen Leuten sehen ließ, wurde der Junge gleich von Anfang an als der »kleine Herr« behandelt. Der Müller begrüßte ihn freundlich in seiner Mühle, der Schmied in seiner Schmiede, der Knecht in seinem Stalle, der Bauer in seiner Scheune. Er durfte Pferde auf die Weide treiben, durfte mit ins Heuen fahren, ja, er durfte es sogar mit dem Dreschflegel und der Axt probieren. Alles, was auf dem Hofe geschah, interessierte den kleinen Mann aufs lebhafteste, und die Leute, die das sahen, gaben ihm im Scherz den Beinamen Hofvogt. Das ließ er sich gerne gefallen; aber noch stolzer wurde er an einem Herbstabend, wo ihn die Fischer, die im Flusse Felchen fingen, zu ihrem Netzkönig ernannten. Denn viel höher als Heueinfahren oder Kartoffellegen schätzte er von seiner frühesten Kindheit an alles, was zu dem edlen Fischerhandwerk gehörte.
In allem und jedem war der Herrenhof Kuddnäs ein herrlicher Boden, auf dem Kinder heranwachsen konnten. Da gab es keine Staatszimmer, die die Kinder nicht betreten durften; frei und ungebunden konnten sie sich in allen sechs Zimmern des Erdgeschosses, sowie in den zwei Giebelzimmern eine Treppe hoch bewegen. Am besten aber hatten sie es doch auf dem großen Bodenraum, wo sie umhertollen und tun und treiben durften, was sie nur immer wollten, Versteck spielen oder Puppenhochzeiten feiern und Theater spielen. Da oben gab es ein paar dunkle Gespensterecken, denen man nie ohne Angst und Schauder nahe kam, aber doch immer ein gewisses Wohlbehagen dabei empfand.
Auch an Spielplätzen im Freien war hier kein Mangel. Da war der große Hofraum, wo man sich im Sommer an den herrlichsten Fangspielen ergötzte, im Winter aber Gänge im Schnee aushob und sich ganze Schneehäuser baute. Da war auch der Garten mit seinen Erdbeeren und Stachelbeeren. Da war außerdem der wolkenhohe Himmelberg, den man im Winter auf dem Schlitten schwindelnder Eile hinabsauste. Und vor allem war da der Fluß Lappo, und der übertraf wahrlich die andern Spielplätze.
Wohlverstanden, das beste am Flusse war, daß er so veränderlich und lebendig war. Er war gut und böse zugleich. Er trug im Sommer des Jungen Rindenschiffchen und winzige Boote aus Schotenhülsen auf seinen Wassern, und im Herbst schenkte er wohl fünfzig bis sechzig Felchen auf einen Fischzug, im Winter breitete er sich als eine spiegelglatte Eisfläche aus, herrlich geeignet zum Schlittschuhlaufen; aber dann im Frühjahr – ja, da war es aus mit seiner Gutmütigkeit! Und woher kam das? Er war vielleicht des langen Liegens unter einer festen Eisdecke überdrüssig geworden. Er hörte vielleicht, daß es von den Dächern tropfte und daß die Stare zwitscherten, und da wußte er, nun war der Frühling ins Land gezogen, er selbst aber lag in der Gewalt des Winters noch vergessen da! Als er endlich frei wurde, o, da war nicht gut mit ihm umgehen! Wild schäumend und brausend brach er los, riß Stege weg, nahm kleine Heuschuppen mit fort und stieg drohend über seine Ufer. Und während er also raste, war der Junge ganz außer sich vor Glück über das große Ereignis. Nicht eine Minute konnte er sich vom Ufer losreißen, er mußte den Fluß beobachten, mußte sehen, was geschehen würde.
Eines gehörte mit zu des kleinen Jungen Vorrechten: er war nicht darauf angewiesen, nur immer im Freien in Hof und Feld zu spielen und allein da seine Erfahrungen zu machen, o nein, der ganze Ort Nykarleby stand zu seiner Verfügung! Dort wohnte ja der Großvater Turdin, der seines Mütterchens Stiefvater war, mit der Großmutter Turdin, einer herzlieben alten Dame. Da wohnte sein Onkel, der Kaufmann Calamnius und der Ratsherr Lithén, der mit der Tante Christina, der Schwester seines Mütterchens, verheiratet war. In Nykarleby waren überdies die Basen Rosalie und Mathilda Lithén, sowie deren Bruder, der Vetter Alexander, die alle drei seine besten Freunde und liebsten Spielgefährten waren. Auch noch viele andere Onkel und Tanten und entferntere Verwandte wohnten dort. O ja, für den kleinen Zacharias war das gar nicht so übel, daß er mit der ganzen Stadt ein wenig verwandt war.
Infolgedessen standen ihm denn auch die alten Kaufmannshäuser jederzeit offen, von dem kleinen Kramladen im Erdgeschoß mit seinen Schubladen voll Rosinen und dem Sirupfaß an bis zu der großen Festwohnung im ersten Stock, wohin Zacharias zum Weihnachtsschmause geladen wurde. Er durfte sehen, was sich in den Schlitten der alten Bauern befand, wenn sie auf den großen von Ställen, Scheunen und Lagerhäusern umgebenen Hofplätzen abgeladen wurden. Im Frühjahr sah er, wie die mit Teertonnen, Lachsfässern und Butterkübeln schwerbeladenen Schiffe nach Schweden abfuhren, im Herbst, wenn die Auslandsfahrer zurückkehrten, war er dabei, sie mit Schüssen aus Drehbassen und lautem Hurrarufen zu begrüßen.
Auch in einer andern Beziehung erging es dem kleinen Zacharias Topelius vortrefflich: seine Eltern waren nicht übertrieben besorgt um ihn, sondern ließen ihn, solange er nur nichts Unrechtes tat, ungehindert spielen, wo er am liebsten wollte und was er am liebsten wollte, sowie auch mit wem er am liebsten wollte. Spielgefährten gab es genug. Außer den Lithénschen Kindern waren die Jungen des Apothekers Svahn da, ebenso Küster Finnströms Buben, sowie des Schmieds Josua. Und wenn diese nicht mitkommen konnten, so hatte er ja immer noch seine Schwester Sofie. Diese war allerdings zwei Jahre jünger als Zacharias und wurde deshalb als Spielgefährtin im allgemeinen noch für zu klein erachtet, aber sie war eine ausgezeichnete Vertraute und eine unverbrüchlich ergebene Untertanin.
Man kann sich wahrlich nur darüber verwundern, wieviel Freundliches und Gutes den kleinen Jungen überall umgab, wie merkwürdig viel Glück und frisches, frohes Leben und lehrreiche Vorkommnisse auf ihn einwirkten. Ganz besonders war es das Leben im Elternhause, das ihm nur edle und gute Vorbilder gab. Keinen Fluch hörte er daheim, und zwischen Vater und Mutter wurde nie ein böses Wort gewechselt. Wahrlich, wenn er ein Königskind aus einem Märchen gewesen wäre, das, um mit der Schlechtigkeit der Welt nicht in Berührung zu kommen, in einem von hohen Mauern umgebenen Lustgarten heranwächst, er hätte nicht mehr und nicht besser beschützt sein können, als er es in dem freundlichen Winkel von Finnland, wo er seine Kindheit verbrachte, war.
In den allerersten Kinderjahren war es natürlich die Mutter, der seine ganze Liebe galt. Sie war es ja, die ihm half und ihn erzog. Im übrigen war sie auch geradeso, wie eine Mutter sein soll, damit ihre Kinder sich bei ihr glücklich fühlen und sie über alles lieben können. Sie war zeit ihres Lebens keine Schönheit gewesen, sah aber sehr gut und gütig aus, und warmherzig und klug, fleißig und tüchtig war sie von Charakter. Von ihr strömte die Fröhlichkeit und die Sicherheit aus, die das ganze Haus erfüllte und das Leben für ihre Kinderlein so leicht machte.
Die junge Frau Doktor Topelius auf Kuddnäs war eine ausgezeichnete Hausfrau, aber sie gehörte zu denen, die mehr können, als Essen kochen und Strümpfe stopfen. Sie sang ihren Kleinen Franzéns Kinderlieder vor, schnitt ihnen Papierpuppen aus, half ihnen Sirupbonbons kochen und den zerbrochenen alten Vater Noah wieder heil machen. An den Winterabenden, wenn sie beim flackernden Ofenfeuer saßen, erzählte sie ihnen, wie sie in ihrer Jugend mit ihrer Großmutter auf den Jahrmarkt gegangen und da selbst in der Marktbuden gestanden hatte, weil die Kaufmannsfrauen damals, wenn sie auch sehr vermögend waren, überall selbst mit Hand anlegten. Von Stockholm, Finnlands früherer Hauptstadt, wußte sie auch allerlei zu erzählen. Sie war ja zwei Jahre dort in Pension gewesen. Und vom letzten Krieg konnte sie sich auch noch an vieles erinnern. Im Hause ihres Stiefvaters, das damals das größte in ganz Nykarleby gewesen war, hatte sie sowohl die berühmtesten Männer jener Zeit, Adlerkreutz und Döbeln, Kulneff und Demidoff, gesehen; ja, sie hatte überdies geholfen, ein Festessen für das Leckermaul Klingspor zu bereiten.
Ach ja, das war sicher und gewiß, die Kinderlein waren während der langen Krankheit des Gatten für die junge Frau ihr bester Trost und ihre Zuflucht, und ebenso war es auch bei den Kindern!
Bei alledem entwickelte sich natürlich der kleine Junge schnell und wurde ein energischer und tüchtiger kleiner Mann. Mit sechs Jahren war sein Wissen geradezu erstaunlich, wie man gleich hören wird.
Lesen konnte er zwar noch nicht, aber dafür konnte er vieles andere. Er konnte das Hüpfhäschenspiel, konnte auf dem Kopfe stehen, Purzelbäume schlagen, mit den Fingern schnalzen, Schlittenfahren, Schneeballen werfen, Kickeriki schreien und den Hofhahn damit ärgern, Wiegenpferd reiten, belegte Butterbrote essen und Buttermilch trinken.
Aber wie es bei Märchenprinzen zu gehen pflegt, die in mauerumgrenzten Gärten aufwachsen, so ging es auch mit dem kleinen Jungen auf Kuddnäs. Er fing an zu glauben, die ganze Welt sei nur seinetwegen da und er könne sich genau so aufführen, wie es seiner kleinen Herrlichkeit beliebte, ohne an andere denken zu müssen.
Aber seinem lieben Mütterchen war das gar nicht recht, daß er sich als ein solcher anmaßender kleiner Kerl zeigte, und sie züchtigte ihn, so gut sie konnte; doch war es gar nicht leicht für sie, ihn zu bändigen und folgsam zu machen. Dabei darf man indes eines nicht vergessen: sie wollte ihren Mann mit solchen Kleinigkeiten, die sie ihrer Ansicht nach allein bewältigen sollte, nicht beunruhigen. Dem Vater waren seine Kinder ganz gewiß außerordentlich wichtig: er hatte vorgeschrieben, daß sie durch kalte Übergießungen abgehärtet, an einfache Kost gewöhnt, ordentlich und folgsam sein sollten und sich niemals einer Lüge schuldig machen dürften; aber das konnte die Mutter doch nicht erwarten, daß er zu einer Zeit, wo er von seinem eigenen Unglück selbst noch wie gelähmt war, die Kraft habe, auch noch einen unartigen Jungen zu erziehen.
Doch siehe, eines Tages vermißte der Vater ein Petschaft, das sonst immer seinen ganz bestimmten Platz auf seinem Schreibtisch hatte. Beinah gleichzeitig merkte die Mutter, daß ihr ein silberner Fingerhut fehlte, und Schwester Sofie konnte ihr Bernsteinherz nicht wiederfinden. Ach, was war das ein eifriges, aber erfolgloses Suchen! Dann wichtige Beratung, wie es möglich gewesen sei, daß sich ein Dieb ins Haus geschlichen hatte. Zum Schluß wurde auch der kleine Zacharias ausgefragt, und da kamen die Sachen sehr bald zum Vorschein. Sie wurden aus einem Schneehaufen im Hofe herausgegraben, wo der Junge sich seine geheime Schatzkammer angelegt hatte.
Kein Gedanke beunruhigte ihn, daß er etwas Ungehöriges getan habe. Er hatte eben an dem Tag »Räuber« gespielt, und ein Räuber mußte sich doch anderer Menschen Eigentum holen und es verstecken.
Er kam mit einer Vermahnung davon und mußte versprechen, so etwas nie wieder zu tun. Aber von dem Augenblick an verwunderte sich der Vater immer wieder darüber, daß sich sein Junge seiner Phantasie so zügellos überlassen konnte.
Bald gab es wegen des Jungen neue Aufregung. Er war seiner Mutter ungehorsam gewesen, und sie hatte ihn zur Strafe dafür in eine dunkle Speisekammer gesperrt. Damit war es nun nicht gefährlich, etwas anderes war viel schlimmer: Während der Kleine da im Dunkeln saß, konnte er die Marmeladentöpfe und Kuchenkasten auf den Regalen unterscheiden, und da bildete er sich ganz plötzlich ein, er sei der Hans, der zu der Hexe im Pfefferkuchenhäuschen kam und dem alles mögliche Leckere und Gute angeboten wurde. Und als Folge davon zeigte es sich, als der Junge aus dem Arrest herauskam, daß er einen Marmeladentopf von dem Brett heruntergenommen und ihn ratzekahl ausgegessen hatte.
Ja, da gab es einen neuen Arrest an einem sichern Platz, und diesmal erschien der Mutter die Sache überaus ernst; sie mußte dem Vater mitgeteilt werden. Dieser erkannte darin dieselbe Lust, sich irgendeinem Einfall ohne jegliche Überlegung hinzugeben, und mit immer größerem Interesse suchte der Vater zu ergründen, was in der jungen Seele wohnte.
Beim Eisgang hatte der Junge eines Tages wie gewöhnlich am Ufer gestanden, um den Fluß zu bewundern, und zum Mittagessen war er mit tropfnassen Füßen nach Hause gekommen. Man wechselte ihm Strümpfe und Schuhe, und mit vielen Ermahnungen, nicht wieder so weit ans Ufer heranzugehen, daß er aufs neue naß würde, durfte er wieder hinaus. Aber der Fluß und die Eisschollen waren zu verführerisch, und als der kleine Zacharias zum Abendbrot wiederkehrte, waren seine Strümpfe und Schuhe noch nässer als am Vormittag.
Da wurde Zacharias' Mutter sehr böse; sie schlug ihn mit dem nassen Strumpf um die Ohren und sagte, sie sei tief betrübt, weil man sich nie auf ihn verlassen könne.
Der Vater hörte den Auftritt, rief den Jungen zu sich und fragte ihn, warum er ungehorsam gewesen sei. Ach, er habe ja gemeint, er selbst sei ein Fluß, und da habe er doch über den Uferrand hinausgehen und Grasbüschel und Erdschollen mit sich fortreißen dürfen.
Der Kranke hörte ihm ruhig und auch recht ernst zu, aber seine Frau merkte wohl, daß ihn des Sohnes Seitensprung nicht eigentlich beunruhigte; ja, es kam ihr fast vor, als ob er sich darüber freute.
Meistens waren es auch nicht gewöhnliche Bubenunarten, die den Sechsjährigen anfochten, sondern er litt an einem Übermaß von Phantasie. Aber das war für seine Umgebung fast noch beschwerlicher. Denn wenn er das eine Mal ein Lappenmann auf der Wolfjagd war, das andere Mal Klein-Karin, die in der mit Nägeln gespickten Tonne den Abhang hinunterrollen mußte, oder wieder ein anderes Mal ein Entdeckungsreisender, der sich in die hohen Schneewehen des Zuckerlandes begab, so konnte man vor irgend etwas Unerwartetem und höchst Überraschendem nie ganz sicher sein.
Der Doktor griff nach dem gewöhnlichen Heilmittel gegen die überfließende Einbildungskraft: er schickte seinen kleinen Jungen in die Schule zu Tante Sahlbom in Nykarleby, denn er wußte, daß die Wissenschaften die besten Zügel für die Phantasie sind.
Eines Tages war die Mutter bei einem Begräbnis gewesen, und als sie heimkam, brachte sie eine prächtige große Safranbrezel mit, die die Kinder unter sich teilen sollten. Die Brezel war wunderschön, mit vielen Korinthen darin, und sobald sie geteilt war, dachten die Kinder an nichts anderes, als den Leckerbissen zu versuchen. Aber ehe sie die Brezel zum Munde führen konnten, fragte sie der Vater, ob sie mit dem Aufessen nicht lieber bis zum nächsten Tage warten wollten.
Diese Frage war für die Kinder eine höchst unangenehme Überraschung, das sah der Vater wohl, und so fügte er rasch hinzu, daß die Brezel ihr Eigentum sei und sie es damit halten dürften, wie sie selbst wollten, aber er meine doch, es wäre nett, wenn sie sie bis zum nächsten Tag aufheben würden. Da legte Schwester Sofie ihren Teil sofort weg, und Zacharias sagte, er wolle es auch so machen, vorher aber möchte er doch ein paar von den Korinthen herauszupfen, um zu sehen, wie sie schmeckten. Aber o weh, als er die Korinthen gekostet hatte, legte er die Brezel nicht mehr weg. Er kostete und kostete und hörte nicht auf, bis auch die letzte Brosame verkostet war.
Der Vater saß daneben, sah zu, und ein etwas betrübtes Lächeln zog über sein Gesicht, aber er sagte kein Wort.
Einige Zeit nachher an einem kalten Wintertag wollte der kleine Zacharias ausgehen. Er lief im Zimmer umher und suchte eifrig nach seinem Mantel und seinen Fausthandschuhen.
»Kannst du nicht ohne sie ausgehen?« fragte der Vater. »Aus einem verzärtelten Jungen wird nie ein rechter Mann, das weißt du wohl?«
Und wohlverstanden, diesmal ging es nicht wie mit der Safranbrezel. Der Junge ging seiner Wege, ohne weiter nach Mantel und Fäustlingen zu suchen, und er kam auch nicht wieder zurück, um sie zu holen. Er fuhr Schlitten und blieb tapfer draußen, obgleich ihm die blaugefrorenen Finger sicherlich tüchtig weh taten.
Der Vater verwunderte sich vielleicht doch mehr darüber, als er zuerst gedacht hatte. Der Junge kam ihm eigentlich gar nicht stark vor. Er war ziemlich groß für sein Alter, hatte aber zarte, feine Glieder. Er mußte also zäher und ausdauernder sein, als man von ihm erwartet hätte.
Doktor Topelius stellte seinen Kleinen wieder und wieder auf die Probe. Bisweilen gelang es dem Jungen, ein Vergnügen aufzugeben oder sich einen Leckerbissen zu versagen, aber bisweilen fiel die Probe auch jämmerlich schlecht aus.
»Überwinde dich selbst!« sagte der Vater zu ihm. Er hatte eine große Vorliebe für Sinnsprüche und wendete sie sowohl zu seinem eigenen Trost als zur Aufmunterung anderer sehr häufig an. Die Regel, die er seinem Sohne fester als jede andere einprägen wollte, damit sie ihm ein geistiges Testament werde und ein unerschütterliches Erbe bleibe, war gerade der Ausspruch: »Überwinde dich selbst!«
Eines Tages war Wettschlittenfahren auf dem Himmelsberg. Schmieds Josua auf seinem Rodelschlitten Flink und Zacharias auf seinem ausgezeichneten, heißgeliebten Moppe wollten um die Wette rodeln. Josua fuhr zuerst, aber Moppe war hurtiger als der andere Schlitten. Er holte Flink in der Mitte des Hügels ein, als er gerade eine gefährliche Biegung nach dem steilen Abhang zu machte. Moppe fuhr geradeswegs auf seinen Nebenbuhler, und Flink und Josua rollten den Abhang hinunter. Flinks Kufen gingen entzwei, Josua selbst brach einen Arm und verstauchte sich einen Fuß. Aber er war ein guter Freund und machte Zacharias keine Vorwürfe, sondern entschuldigte ihn und lobte den Schlitten Moppe, weil er seinen Flink eingeholt hatte.
Das Ganze war wirklich schon schlimm genug für Zacharias, aber als er dem Vater das Ereignis mitteilte, wurde es noch schlimmer für ihn.
»Und jetzt liegt Flink mit zerbrochenen Kufen da,« sagte der Vater. »Woher soll Josua nun einen neuen Schlitten bekommen?«
In des Knaben Herz begann es zu arbeiten, denn er verstand wohl, was der Vater meinte. Aber Moppe war sein Stolz, seine Liebe, sein alles; Moppes Verdienst war es ja, daß er sich allen anderen Jungen überlegen fühlte. Ein harter Kampf entspann sich in des Knaben Seele; aber nach drei Tagen erhielt Josua den Schlitten zum Trost, weil er mit seinem gebrochenen Arm zu Bett liegen mußte.
Und als dies geschah, war der Vater so glücklich, daß ihm die Tränen in die Augen traten. Jetzt brauchte er sich um die Zukunft seines Sohnes keine Sorgen mehr zu machen. Er wußte, sein lebhaftes, phantasiereiches, hochbegabtes Kind würde ein guter Mensch werden und seinen Namen mit Ehren tragen, weil er die Kraft hatte, sich selbst zu besiegen.
Ein immer größeres Interesse fühlte der kranke Vater für diesen seinen einzigen Sohn. Man kann ja sehr wohl begreifen, daß ein Mann, dessen eigene glänzende Laufbahn plötzlich abgebrochen worden ist, einen jungen Sohn mit ganz andern Augen betrachtet als ein Vater, der selbst in einem tätigen Beruf steht. Für den gebrochenen Arzt auf Kuddnäs wurde die Ausbildung der jungen Seele das Hauptinteresse seines Lebens. Wenn er seinen Sohn ansah, dachte er sicherlich:
»Du mußt werden, was ich selbst nicht habe werden können. Du mußt erreichen, was ich nicht erreicht habe!«
Der Vater war es auch, der ausgezeichnete Erzieher nach Kuddnäs berief: zuerst den Sohn seines Bruders Franz Michael und später den Studenten Blank von Wasa. Der Vater selbst richtete den Unterricht im Geiste Porthans, des berühmten finnischen Gelehrten und Historikers ein, nicht nach dem alten Schlendrian, sondern lebendig und anschaulich.
Aber zugleich lehrte er seinem Sohn das Höchste von allem: selbst an seiner Ausbildung zu arbeiten. Sehr frühzeitig schon kam der Kleine zu dem Verständnis, daß in seinem Innern eine hungernde Seele wohnte, die unerbittlich gesättigt werden mußte. Der Vater weckte des Kindes Beobachtungskraft, indem er ihn daran gewöhnte, ein Tagebuch zu führen und Aufzeichnungen zu machen. Dadurch wurde der Junge ein fürsorglicher Sammler, ja ein Konservator im eigentlichen Sinne des Wortes, nicht nur von Insekten und Vogeleiern, sondern von kostbaren geistigen Gütern. Erfahrungen, Auftritte, kleine Erlebnisse, Einfälle, der Inhalt von Büchern, kurz gesagt, alles, was das Leben mit sich bringt, wurde aufbewahrt und gut gehütet. Wohl waren die ersten Versuche äußerst kindlich und einfach, aber der Anfang wurde gemacht, der Same ausgesät.
Unter dieser Arbeit mit seinem Sohne war, ohne daß er sich das vorher überlegt hatte, dem Vater selbst ein großer Trost geworden. Sein eigener Geist war aus der Lähmung herausgerissen worden, in die ihn sein Unglück versetzt hatte. Jetzt war er kein toter und geschlagener Mann mehr. Er lebte, er hatte einen Sohn, der seinen Mantel aufheben würde, der an seiner Statt der große Arzt werden sollte, dem das Volk zujubeln würde, der große Ackerbauer, der dem Volke das Brot gab. Sein Werk würde leben, mit Finnland ging es aufwärts! Ob dies durch ihn geschah oder durch seinen Sohn, das war gleichgültig.
Uleåborg
In den alten schwedischen Landstädten gibt es noch heute Gehöfte von recht altertümlicher Bauart, die aber doch keinen besonders wohnlichen und zweckdienlichen Eindruck machen. Rings um einen freien Platz herum, der aber manchmal so groß sein kann wie ein Marktplatz, läuft ein hoher Bretterzaun mit einem breiten Tor nach der Straße. Auf jeder Seite des Tores, das meist mit Schnitzwerk und mit eisernen Beschlägen geschmückt ist, steht ein kleines Haus, das nicht höher als der Plankenzaun ist und ganz niedrige Fenster, nur eine oder allerhöchstens zwei Stuben, einen Flur und eine Eingangsveranda hat. In diesen kleinen Torhäuschen wohnt die Familie, während der große Platz entweder ganz unbebaut ist oder auch nur
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 08.02.2015
ISBN: 978-3-7368-7682-8
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