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Leseprobe

Selma Lagerlöf

Liljecronas Heimat

Roman

Einzige berechtigte Übersetzung aus dem Schwedischen von
Pauline Klaiber

Albert Langen, München

Copyright 1911
by Albert Langen, Munich

Der Sturm

Am zweiten Weihnachtsfeiertag im Jahre 1800 brauste ein Sturm über den Lövseer Bezirk in Värmland hin, daß es zum Erbarmen war. Man konnte nichts anderes mehr denken, als daß alles, was auf der Erde war, mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden sollte.

Kommet nun nicht und saget, es hätten gewiß früher schon und auch später ebenso heftige Stürme gewütet, und jedenfalls saget das nicht zu einem alten Bewohner des Lövseer Bezirks, denn die haben von ihrer Kindheit an immer gehört, daß man einen ähnlichen Sturm überhaupt nicht mehr erleben könnte.

Heute noch können sie alle die Zäune aufzählen, die umgeweht, und alle die Strohdächer, die weggefegt wurden, sowie alle die eingestürzten Viehställe, unter deren Dachstühlen dann das Vieh mehrere Tage lang begraben lag. Auch können sie dir alle die Orte zeigen, wo Feuer ausbrach, dessen man in dem Sturm nicht Herr werden konnte, bis das ganze Dorf abgebrannt war. Und sie sind auch auf allen den Höhen und Berggipfeln gewesen, wo Baum an Baum herausgerissen am Boden lag, daß es dort seither gerade wie abrasiert aussieht.

Nun weiß man ja wohl, daß die Leute zu sagen pflegen: Das sei ein böser Wind, der nicht wenigstens irgend jemand etwas Gutes bringe. Aber daß dieses auch von dem Sturm am zweiten Weihnachtsfeiertag gelten könnte, das hätte doch wirklich kein Mensch gedacht, denn er richtete ja nur ein Unglück ums andere an.

Wer aber von allen Menschenkindern am wenigsten glauben wollte, daß dieser Sturm vielleicht auch etwas Gutes bringen könnte, war doch wohl die »Kleine« vom Koltorpet. Nein, sie hätte es nun und nimmer geglaubt, als sie am Morgen des zweiten Weihnachtsfeiertags dort am Waldrand stand und sah, wie Schnee, Asche, Kehricht und alles, was der Wind mit fortriß, über das Tal zu ihren Füßen wie ein Rauch hinwogte.

Niemals, in ihrem ganzen Leben nicht, und sie war doch schon dreizehn Jahre alt und ging ins vierzehnte, war ein solches Mißgeschick über die »Kleine« hereingebrochen.

Sonst gelang es ihr eigentlich immer, bei allem, was ihr widerfuhr, mochte es noch so schwer sein, ihre gute Laune aufrechtzuerhalten; dies aber war fast mehr, als sie ertragen konnte.

Ja, wahrhaftig, beinahe waren ihr die Tränen in die großen glänzenden Augen getreten und ihr über das blasse, magere Gesichtchen herabgelaufen!

Das kleine Mädchen war ein wenig vor den Waldessaum herausgetreten, wie um zu probieren, wie stark der Sturm sei; und sofort zerrte er an ihrem Kopftuch, trommelte auf ihrer kurzen, weißen Schafpelzjacke und wirbelte ihr das eigengewobene Röckchen so fest um die Beine, daß sie beinahe umgefallen wäre.

Sie war nicht allein; die Mutter und Bubi waren auch dabei. Alle beide waren genau so gekleidet wie die Kleine, in kurzen Jacken aus weißem Schaffell und in Röcken aus schwarzem steifem Fries. Und anders hätten sie auch gar nicht gekleidet sein können, denn die Kleine erbte alle ihre Kleider von Mutter, und Bubi erbte sie von der Kleinen. Der einzige Unterschied zwischen den dreien war, daß die beiden andern, obgleich sie ebenso warm angezogen waren wie die Kleine, nicht aus dem Wald herausgetreten, sondern im Schutz der Bäume stehengeblieben waren.

Die Mutter und Bubi hatten ebenso magere, abgezehrte Gesichter wie die Kleine und auch ebenso klare kluge Augen, und beide dachten auch dasselbe wie sie: daß dieser Sturm doch ein rechtes Mißgeschick sei. Auch waren sie ebenso betrübt und hätten am liebsten gleich zu weinen angefangen.

Aber die beiden drinnen im Walde sahen lange nicht so verzweifelt aus wie das kleine Mädchen.

Dieses stand gerade auf dem Berggipfel, ihr wißt, dort über dem Bäckhof im Broer Kirchspiel, und sie konnte mit den Augen den Weg verfolgen, der sich in großen Windungen bis zur Broer Kirche hinunterschlängelt.

Aber was sah sie da? Die Bauersleute, die schon im Schlitten auf dem Wege nach der Kirche waren, drehten um und fuhren wieder heimwärts. Mehr brauchte die Kleine nicht zu sehen, um zu verstehen, daß Mutter und Bubi die zwei Meilen bis nach dem Nyhof im Svartsjöer Bezirk, wohin sie zum Weihnachtsschmaus eingeladen waren, ganz unmöglich zu Fuß zurücklegen könnten.

Als die Kleine sich das klargemacht hatte, ballte sich ihre Hand in dem Handschuh ganz unwillkürlich zu einer Faust.

Ach, wenn es nur drinnen im Walde, wo sie wohnten, nicht so ruhig und still gewesen wäre! Wenn sie nur hätten ahnen können, was das für ein Wetter war, ehe sie bis hier an den Waldessaum gekommen waren! Dann wären sie überhaupt nicht von Hause fortgegangen, und das wäre ihr viel lieber gewesen!

Denn ihr müßt wissen, der Kleinen kam nichts erbärmlicher vor, als wenn sie wieder umdrehen mußte und nicht dahin kommen konnte, wohin sie wollte.

Wenn sie nur wenigstens nicht das ganze Jahr hindurch immerfort an diesen zweiten Weihnachtsfeiertag, wo sie nach Nyhof gehen durfte, gedacht hätte! Wenn nur nicht gerade in diesem Augenblick die großen dampfenden Kessel, die langen Tische mit den weißen, bis auf den Boden herabhängenden Tischtüchern und den großen Butterbrotbergen darauf vor ihr aufgetaucht wären! Wenn nur nicht sie und Bubi jedesmal, so oft die Mutter ihnen nichts zu essen geben konnte, zueinander gesagt hätten: »Wenn wir beim Oheim auf dem Nyhof zum Weihnachtsschmaus sind, dann wollen wir uns aber satt essen!«

Ach, ach! Wenn sie daran dachte, daß dort drunten jetzt süße Suppe mit Rosinen gekocht wurde, daß es da Reisbrei und Kuchen gab, und Eingemachtes und Kaffee mit mürbem Backwerk, und daß sie nichts davon bekommen sollte!

Sie war über die Maßen zornig und wünschte geradezu, es möchte jemand in der Nähe sein, an dem sie ihren Zorn auslassen könnte. Und sie dachte in ihrem Herzen, der Sturm hätte auch mehr Verstand haben können, als gerade an diesem Tage zu kommen. Festtag war es, da brauchten sie nicht die Mühle zu drehen, und Winter war es, da brauchten sie nicht auf dem See zu helfen, sondern waren frei von aller Arbeit. Aber was konnte es nützen, wenn sie es auch dem Sturm zurief?

Die Strecke, die sie jetzt vor sich hatten, war die schwierigste vom ganzen Wege. Von hier ging es abwärts an Helgesäter vorbei, dann über die Brobyer Hügel nach dem Lövsee und der Kirche und über die großen Felder des Pfarrhofs, weil dort offenes, unbewaldetes Land war, über das der Weg hinführte. Wenn sie nur erst dort vorbei waren und sich dann die Hedebyhügel hinaufarbeiten konnten, dann hatte es keine Gefahr mehr, denn von da an führte der Weg immer durch Wald.

Die Kleine meinte, es sehe doch gar nicht so furchtbar schlimm aus, und sie müßten wenigstens noch einen Versuch machen. Schlimmer als schlimm könnte es jedenfalls nicht ausfallen.

Sie war sogar ganz befriedigt, solang Mutter dort drüben stand und überlegte. Da war es doch immerhin noch möglich, daß sie sich zum Weitergehen entschloß. Aber o weh! jetzt eben machte Mutter eine Bewegung, wie um in den Wald zurückzugehen, und Bubi tat selbstverständlich ganz wie die Mutter.

Da ging die Kleine in der entgegengesetzten Richtung den Hügel hinunter. Zuerst ganz langsam, dann aber immer schneller, denn der Wind kam von hinten her und trieb sie eiligst vorwärts, sie mußte geradezu laufen. Sie hütete sich wohl, zurückzusehen; denn sie fürchtete, Mutter und Bubi würden ihr dann Zeichen machen, sie solle wieder umdrehen. Ja, sie war fast sicher, daß sie ihr jetzt eben riefen, um sie aufzuhalten. Aber darum brauchte sie sich nicht zu kümmern, denn jetzt, wo sie so recht in den Sturm hineingeraten war, lärmte und donnerte es um sie her, daß sie gar nichts hören konnte.

Es war nicht wahrscheinlich, daß Mutter ihr nachlaufen und sie festhalten würde, denn Mutter mußte ja Bubi an der Hand führen, damit er nicht umgeweht wurde, und so kam sie nicht rasch vorwärts.

Deshalb bekam indes das kleine Mädchen durchaus keine Lust, umzudrehen, nein, durchaus nicht; aber sie mußte sich jetzt doch gestehen, daß das Wetter viel schlimmer war, als sie geglaubt hatte.

Über ihrem Kopfe kamen große schwarze Vögel mit flatternden Schwingen dahergesaust, die der Wind vor sich her jagte und ganz zerfetzte; schließlich hatten sie weder Federn noch Körper mehr. Die Kleine dachte, so etwas Unheimliches habe sie noch nie gesehen, bis sie schließlich zu ihrer Verwunderung erkannte, daß es große Strohbüschel waren, die von irgendeinem Dach losgerissen worden waren.

So oft sie einen Schritt dem Wind entgegen machte, erhob sich dieser vor ihr wie ein sich bäumendes Pferd und wollte sie umwerfen; machte sie aber einen Schritt mit dem Wind, so stieß er sie vorwärts, und sie mußte mit krummen Knien und vorgebeugtem Rücken gehen, um ihm einigermaßen Widerstand leisten zu können. Dieses beständige Ankämpfen machte sie schrecklich müde, und schließlich hatte sie das Gefühl, als müsse sie einen vollbepackten Karren ziehen.

Und von Norden her kam der Wind und brachte eine Kälte mit, als hätte er mit Leichen getanzt. Er war überaus scharf und heftig und drang durch ihre Pelzjacke und den Friesrock mit Eiseskälte in ihren Körper hinein. Daraus machte sie sich zwar nicht viel; aber sie fühlte wohl, wie ihr die Zehen in den mit Pechdraht genähten Stiefeln erstarrten, wie ihr die Finger in den wollenen Fausthandschuhen klamm wurden, und wie sie die Ohren unter dem Kopftuch brannten; aber trotzdem ging sie weiter, bis sie den ganzen langen Hügel hinunter gekommen war. Erst als sie in der Talsenkung stand, hielt sie an und wartete auf die beiden andern.

Und als diese endlich auftauchten, ging sie ihnen entgegen.

»Es wäre wohl am besten, wenn wir wieder heimgingen,« sagte sie. »Denn den Nyhof können wir ja doch nicht erreichen.«

Aber nun war Mutter böse und Bubi auch, und sie sagten sich, dieses kleine Mädchen solle sie nicht nur so regieren und sagen dürfen, wenn sie vorwärts gehen und wenn sie umdrehen sollten.

»O nein,« sagte die Mutter, »wir drehen nicht um; nun sollst du jedenfalls zum Weihnachtsschmaus kommen, da du so sehr erpicht darauf bist.«

»Ja, du sollst so viel Wind zu schlucken bekommen, daß du für viele Wochen genug hast,« fügte Bubi hinzu.

Damit ging Mutter mit Bubi weiter, und die Kleine mußte ihnen folgen, so gut sie konnte.

Als sie den Uvhof erreicht hatten, begegneten ihnen die Wanderlotte und der Betteljon. Und diese beiden, die sich Sonntags und Werktags in der Gegend herumzutreiben pflegten und an jegliches Wetter gewöhnt waren, hielten die Hände wie eine Trompete vor den Mund und riefen den drei Daherkommenden zu, sie sollten eiligst nach Hause zurückkehren, denn weiter drunten nach dem See zu sei es eisig kalt, sie würden da erfrieren.

Trotzdem gingen Mutter und Bubi weiter. Sie waren noch immer böse auf die Kleine und wollten, sie solle so recht zu schmecken bekommen, was für ein schreckliches Wetter es war.

Jetzt kam ihnen das Pferd von Erik auf Falla entgegen. Es zog einen leeren Schlitten hinter sich her, denn der Sturm hatte Erik auf Falla den Hut vom Kopf gerissen; und während er um die Zäune herumlief, über Hofmäuerchen kletterte und in den Gräben herumkroch, um seines Hutes wieder habhaft zu werden, war das Pferd des Stillestehens überdrüssig geworden und hatte sich auf den Heimweg gemacht.

Aber Mutter und Bubi sahen aus, als komme ihnen das gar nicht merkwürdig vor; sie gingen einfach weiter.

Sie hielten auch nicht an, bis sie oben auf den Brobyer Hügeln angekommen waren. Aber da gerieten sie in einen großen Haufen von Menschen, Pferden und Schlitten hinein, die hier hielten und nicht weiter konnten. Denn siehe! die große Brobyer Tanne, die so hoch gewesen war, daß man sie gerade wie den Gurlittagipfel aus weiter Ferne hatte sehen können, war vom Sturm gefällt worden und lag quer über den Weg. In der naheliegenden Brobyer Kirche aber sollten Jan von Gullåsa und Britta von Kringåsa getraut werden. Und der alte Jan Jansa von Gullåsa und die alte Mutter von Kringåsa, sowie die Nachbarn und Verwandten und der Spielmann Jöns und die schöne Gunnar von Högsjö und viele andere, die mit im Hochzeitszug gehen sollten, standen nun da und konnten nicht weiter. Sie redeten eifrig durcheinander und erklärten, sie seien schon zweimal von umgewehten Bäumen aufgehalten worden; bisher hätte man sie wegschaffen können, bei dieser Tanne hier aber wüßten sie sich nicht zu helfen.

Der alte Vater von Gullåsa ging umher und bot den Leuten Branntwein an; aber weiter konnten sie deshalb doch nicht. Die Braut war aus dem Schlitten gestiegen und weinte, weil der ganze Weg zur Kirche so voller Hindernisse war; und der Wind riß rote Tüllrosen und grünseidene Blätter aus den Borten ihres Kleides, daß die Leute, die später am Tage dieses Weges durchs Kirchspiel gezogen kamen, nichts anders glaubten, als der Sturm habe einen wilden Rosenbusch in einem Zauberwald ausfindig gemacht, dort die Blumen und Blätter mit fortgerissen und sie über die Hecken und Raine gestreut.

Aber Mutter und Bubi hielten nicht an, weil die Tanne quer über dem Weg lag; sie krochen unten durch und wanderten weiter, denn sie dachten, die Kleine werde noch eine ganze Weile nicht genug vom Sturm haben.

Und sie kamen auch wirklich bis zum Kreuzweg und bis zum Brobyer Gasthaus!

Da erblickten sie die Majorin Samzelius, die mit zwei Pferden in einem bedeckten Schlitten dahergefahren kam. Und erst als sie sahen, daß die Majorin unter Dach saß, begriffen die beiden wohl ganz, wie schrecklich das Wetter tatsächlich war; denn die Majorin gehörte sonst nicht zu denen, die sich vor etwas fürchteten. Als die Majorin aber der beiden ansichtig wurde, streckte sie die geballte Faust unter dem Schutzdach hervor, drohte ihnen und rief ihnen mit einer Stimme, die man noch durch das Brausen des Sturmes hindurch verstehen konnte, zu:

»Mach, daß du heimkommst, Marit von Koltorp! Bei so einem Wetter, wo ich sogar im verdeckten Schlitten fahren muß, darfst du nicht mit deinen Kindern draußen sein!«

Aber Mutter und Bubi dachten, für die Kleine werde es ganz gut sein, wenn sie noch eine Weile mit dem Wind kämpfen müsse.

Als sie jetzt die Brücke erreichten, die über den schmalen Sund zwischen dem oberen und dem mittleren Lövsee führte, mußten sie ganz am Brückengeländer hinkriechen. Hier brauste der Sturm schrecklicher als je zuvor, und sie wären gewiß ins offene Wasser hineingetrieben worden, wenn sie aufrecht zu gehen versucht hätten.

Als sie die Brücke glücklich hinter sich hatten, waren sie halbwegs nach dem Nyhof, und nun begann die Kleine zu glauben, daß sie wirklich noch zum Weihnachtsschmause recht kommen würden.

Aber kaum hatte sie das gedacht, als sich auch schon ein neues Hindernis einstellte. Wahrscheinlich war die heftige Kälte auf der Brücke für Bubi zu viel gewesen; der arme Kerl war kalt wie ein Eiszapfen. Er warf sich platt auf den Boden und wollte keinen Schritt mehr weiter. Die Mutter hob ihn auf, schüttelte ihn und lief mit ihm ins nächste beste Haus hinein.

Die Kleine erschrak sehr und lief eiligst hinter der Mutter her. Sie wußte nicht mehr, was sie tun sollte; denn wenn Bubi jetzt erfroren war, dann war sie schuld daran. Wenn sie nicht gewesen wäre, würden Mutter und Bubi sicher umgekehrt und nach Hause zurückgegangen sein.

Sie waren indes in ein Haus gekommen, wo unglaublich gute Leute wohnten, die sogleich sagten, ehe der Sturm sich gelegt habe, dürften die Gäste nicht vors Haus hinaus, da könne gar keine Rede davon sein. Ja, und sie sagten auch, es sei ein wahres Glück, daß sie bei ihnen eingekehrt seien; wenn sie ihren Weg noch bis zur Propstei fortgesetzt hätten, wären sie sicher alle miteinander erfroren.

Es sah aus, als sei Mutter recht froh, daß sie nun unter Dach und Fach waren. Sie saß so befriedigt da, als wisse sie ganz und gar nichts davon, daß drunten auf dem Nyhof jetzt die Bratspieße gedreht und das Fett von den großen Fleischkesseln abgeschöpft wurde.

Nachdem die Hausbewohner ihnen so recht nach Herzenslust gesagt hatten, wie gut es sei, daß die Wanderer bei ihnen eingekehrt waren, fiel es ihnen ein, zu fragen, warum sie sich denn eigentlich in dem Sturm hinausgewagt hätten, und ob sie vielleicht auf dem Weg zur Kirche gewesen seien?

Da erzählte ihnen die Mutter, warum sie unterwegs waren. Sie sagte, sie hätten zu Per Jansa auf Nyhof gewollt; der sei ihr Schwager, obgleich er ebenso reich sei, wie ihr Mann arm gewesen sei. Am zweiten Weihnachtsfeiertag halte er immer einen großen Weihnachtsschmaus, und zu diesem sei sie als Schwägerin selbstverständlich eingeladen. Sie habe allerdings von Anfang an das Wetter für recht schlecht gehalten, aber es sei ja das einzige Festmahl im Jahre, bei dem sie dabei sein dürften.

Als die guten Hausbewohner das hörten, fingen sie wieder zu jammern an und sagten, die Mutter tue ihnen schrecklich leid, weil sie nun nicht zum Festmahl bei Per Jansa kommen könnte, denn dort gehe es sicher recht hoch her; aber in diesem Sturm noch einmal einen Versuch zu machen, das sei unmöglich, sie würde geradezu ihr Leben aufs Spiel setzen.

Die Mutter stimmte mit ihnen überein, und sie sah aus, als sei es gar keine Kunst für sie, hier bei diesen armen Leuten ganz ruhig sitzen zu bleiben, während es doch so viel Gutes gab, das auf sie wartete.

»Wenn Ihr die Kinder nicht bei Euch hättet, könntet Ihr Euch vielleicht schon bis zum Nyhof durcharbeiten,« setzten die Hausbewohner hinzu.

Auch darin stimmte die Mutter mit den Leuten überein. Ja, sie könnte schon noch zum Festmahl kommen, sagte sie, wenn sie die Kinder nicht bei sich hatte; diese aber wage sie bei diesem Wetter nicht mehr mit hinauszunehmen.

Nein, nein, es war nichts zu machen; darin waren alle ganz einig, aber die Mutter tat den Leuten eben doch schrecklich leid. Man sah ihnen ordentlich an, wie bekümmert sie darüber waren.

Da kam der Frau plötzlich ein guter Gedanke, über den sie sehr froh wurde.

»Ei der Tausend!« sagte sie. »Wenn Ihr selbst Lust zum Gehen hättet, könntet Ihr ja die Kinder hier bei uns lassen.«

Alle beide, die Frau und der Mann, waren ganz beglückt über diesen Einfall, und sie konnten gar nicht begreifen, warum sie nicht früher darauf gekommen waren.

Die Mutter machte zuerst etwas Umstände, gab aber bald nach. Und dann wurde ausgemacht, die Kinder sollten den Tag über und auch die Nacht da bleiben, wo sie waren, und die Mutter würde dann am nächsten Tage wiederkommen und sie abholen.

Darauf ging die Mutter, und da saß nun das kleine Mädchen.

Jetzt war also alle Hoffnung zu Ende, sie kam nicht zum Weihnachtsschmaus, das sah sie wohl ein. Aber was hätte es helfen können, wenn sie auch gesagt hätte, sie wollte mit der Mutter gehen? Diese herzensguten Leute, bei denen sie Unterkunft gefunden hatten, hätten sie doch nicht fortgelassen, auch hätte man ja Bubi nicht ganz allein zurücklassen können.

Die Hausbewohner versuchten, die Kleine zu unterhalten und sie ein bißchen aufzumuntern; aber sie brachte kein Wort heraus, ja sie drehte ihnen den Rücken, stellte sich ans Fenster und richtete ihren Blick auf zwei große Birken, die da draußen im Sturme hin und her schwankten.

Gar viele Wünsche stiegen in ihrem Herzen auf, während sie da am Fenster stand. Unter anderem wünschte sie, der Sturm sollte mit aller Gewalt auf das Haus losfahren, damit es einfiele und sie herauskommen könnte.

Aber, aber – das sah doch merkwürdig aus! Während sie so dastand und die Birken betrachtete, schienen diese mit jedem Augenblick weniger heftig hin und her zu schwanken, und zugleich war es auch, als nehme der Lärm und das Getöse ab, das mit dem Sturm daherkam, und als fliege jetzt nichts mehr, weder Stecken noch Stroh, in der Luft umher.

Die Kleine wußte kaum, ob sie ihren Augen trauen dürfte; aber jetzt war es wahrhaftig draußen so ruhig, daß die langherabhängenden Birkenzweige nur gerade noch ein wenig bebten.

Die Hausbewohner schäkerten mit Bubi und merkten nichts, bis die Kleine zu ihnen sagte, jetzt sei der Sturm vorüber.

Sie waren über die Maßen erstaunt und sagten sogleich, es sei schade, daß er sich nicht ein wenig früher gelegt hätte, dann hätten die Kinder ja auch noch zum Weihnachtsschmause kommen können. Wenn sie den ganzen Tag hier bei ihnen sitzen müßten, so sei das kein Vergnügen, das wüßten sie wohl.

Da sagte die Kleine, wenn man es ihr erlaubte, könnte sie sich jetzt gut mit Bubi auf den Weg nach Nyhof machen. Es gehe ja immer auf der Landstraße geradeaus, da könne sie durchaus nicht fehl gehen, und so mitten am Tag werde ihnen ja sicher auch nichts Böses zustoßen.

Diese Leute waren doch wirklich von Herzen gut. Sie wollten keinem Menschen die Freude verderben, und so ließen sie die beiden Kinder miteinander abziehen.

Jetzt war alles gut. Das Wetter war still und schön; es ging sich gar leicht, und es war niemand da, der der Kleinen befohlen hätte, im Zimmer zu sitzen oder umzukehren, wenn sie weiter wollte.

Aber etwas beunruhigte die Kleine doch. Es kam ihr vor, als sinke die Sonne gar so schnell dort auf der Südseite gegen den Himmelsrand herunter. Sie wußte nicht, wieviel Uhr es war; aber wie, wenn es nun schon so spät wäre, daß man auf dem Nyhof schon bei Tische saß! Und sie hatten noch eine ganze Meile zu gehen. Wie, wenn sie nun nicht früher hinkam, als bis es nur noch leere Schüsseln und abgenagte Knochen gab?

Bubi war erst sieben Jahre alt und konnte nicht sehr schnell marschieren. Auch war er nach allem, was er an diesem Tag schon durchgemacht hatte, mutlos und verzagt.

Als die Kinder in der Talmulde am Fuße des Hedebyhügels standen, hielt die Kleine an und sah nach dem Lövsee hin, der frisch gefroren mit hellem blanken Eis bedeckt vor ihr lag.

Sie fragte Bubi, an welchem Abend es doch gewesen sei, wo Mutter heimgekommen war und gesagt hatte, der Lövsee sei zugefroren. Mutter sei sehr überrascht gewesen, daß der See schon vor Weihnachten zugefroren war, und sie habe den ganzen Abend davon gesprochen.

»Ja, das ist am Tag vor dem heiligen Abend gewesen,« sagte Bubi. »Ich weiß es ganz gewiß.«

»Dann ist der See ja schon seit vier Tagen gefroren,« entgegnete die Kleine, »da ist das Eis gewiß stark genug, uns zu tragen.«

Ha, nun kam neues Leben in den Jungen, sobald er begriffen hatte, daß die Schwester den Weg über den See nehmen wollte!

»Ja, ja, komm, wir schlittern bis zum Nyhof über den See!« rief er vergnügt.

»Ja, es ist am einfachsten, wenn wir diesen Weg nehmen, da der Nyhof am See liegt,« sagte die Kleine.

Sie war indes doch etwas bedenklich; aber jetzt war Bubi der, der darauf drang. Vom Weitergehen auf der Landstraße wollte er gar nichts mehr wissen. Nein, nein, die Schwester sollte sofort mit an den See hinunter!

»Dann mußt du zu Mutter sagen, du habest es gewollt, denn über dich wird sie nicht böse,« sagte die Kleine.

Es war nicht weit zum See, und die beiden Kinder standen bald draußen auf dem Eis, das glatt wie ein Aal und spiegelblank war, es hatte gar nicht blanker sein können. Die Kinder faßten einander bei der Hand und schlitterten nun quer über den See.

Ei, das war besser als das Gehen auf der Landstraße! Auf diese Weise kamen sie sicher nach Nyhof, ehe das Festmahl zu Ende war.

Aber dann hörte die Kleine plötzlich ein Brausen und ein Donnern hinter sich, das sie nur zu leicht wieder erkannte. Sie brauchte sich gar nicht erst umzudrehen, um zu sehen, was es war, sie fühlte es schon im Nacken. Der Sturm war es, der sich wieder aufgemacht hatte.

Es war gerade, als hätte er sich ruhig verhalten, nur um die Kinder aufs Eis hinauszulocken; jetzt aber brauste er daher, fuhr auf sie los und warf sie um.

Nein, es war unmöglich, sie konnten auf dem Eise nicht weiter; seit der Sturm wieder losgebrochen war, konnten sie sich nicht mehr aufrecht auf den Füßen halten, und so blieb ihnen nichts anderes übrig, als ans Ufer zurückzukriechen.

Jetzt hätte man eigentlich glauben sollen, der Kleinen wäre aller Mut vergangen; sie war ja mit dem Brüderchen in einer verzweifelten Lage. Wie sollten sie nur wieder zu Menschen gelangen? Auf dem See konnten sie nicht weiter, und da, wo sie jetzt an Land kamen, fand sich nur ein steiler Berg und dichter Wald, aber kein Weg.

Ach! und Bubi war so müde und verdrießlich über alles, er weinte nur noch.

Die Kleine blieb eine Weile am Ufer stehen und sah ganz ratlos aus.

Aber plötzlich fiel ihr ein, wie sie und Bubi daheim oben von ihrem Berge herunterzufahren pflegten, wenn er ganz mit Eis bedeckt war, und sofort begann sie Tannenzweige abzubrechen und sie auf zwei Haufen zu schichten. Dann setzte sie Bubi auf den einen, ließ sich selbst auf die Knie nieder und schob nun Bubi mitsamt den beiden Haufen aufs Eis hinaus.

Als sie da draußen so recht im stärksten Blasewind drinnen waren, setzte sie sich auf den anderen Tannenzweighaufen, jedes von den Kindern nahm einen großen Tannenzweig in die Hand und hielt ihn gegen den Wind.

Und hui! sagte der Sturm, und hei! sagte der Sturm. Er schüttelte sie und stieß sie auf die Seite, wie wenn er probieren wollte, was er mit ihnen anfangen könnte.

Dann faßte er hart zu, und sie fuhren davon. Und es ging, es ging! Ja, hurtig wie der Wind ging es, und nun fühlten die Kinder den Sturm gar nicht mehr. Wenn nicht die Ufer an ihnen vorbeigeflogen wären, hätten sie fast glauben können, sie säßen ganz stille.

Bubi schrie aus vollem Halse vor lauter Vergnügen; aber die Kleine saß auf ihrem Haufen mit fest zusammengepreßten Lippen und spähte eifrig umher, ob nicht ein neues Hindernis daherkomme, das sich zwischen sie und den Weihnachtsschmaus stellen wollte.

Das war die schnellste Fahrt, die die Kinder je in ihrem Leben gemacht hatten. Es dauerte nicht viele Minuten, da hatten sie die Landspitze vor sich, wo die großen Gebäude des Nyhofs aufragten.

Auf dem Hofe wollte man sich eben zu Tische setzen, als die Kinder auf dem Eise draußen auftauchten. Da liefen alle eiligst hinaus, um zu sehen, was denn da Merkwürdiges über den gefrorenen See dahergefahren kam.

Und man kann sich wohl denken, wie sehr sich alle verwunderten, als sie die Kinder erkannten. Ja alle miteinander, Per Jansa und Per Jansas Frau und der Pfarrer und alle anderen Gäste verwunderten sich über die Maßen.

Die einzige, die nicht gar so sehr überrascht aussah, war die Mutter.

»Dieses Mädchen gibt nicht nach, bis es so geht, wie sie es haben will,« sagte sie. »Ich hatte eigentlich schon die ganze Zeit erwartet, sie auf einem Besenstiel durch die Luft daherreiten zu sehen.«

Aber von wem die Leute den ganzen Abend sprachen, und wen sie lobten, und zu wem sie sagten, es werde einmal eine tüchtige Hausfrau aus ihr werden, das war die Kleine.

Die Mutter mußte sich eine ganze Weile neben die Pfarrfrau aufs Sofa setzen und ihr von der Kleinen erzählen.

Und die Mutter berichtete, so klein sie auch noch sei, so könne sie doch schon ganz nett spinnen, und Wolle karden könne sie auch, und den ganzen letzten Sommer hindurch habe sie Beeren gesammelt und nach Helgesäter verkauft. Und der Kapitän habe ihr ein Abc-Buch geschenkt, eines von den Fräulein auf Helgesäter habe ihr dann etwas nachgeholfen, und nun könne sie lesen und auch schreiben.

Der Pfarrer von Svartsjö war viele Jahre lang Witwer gewesen, aber im vergangenen Sommer hatte er wieder geheiratet. Die neue Pfarrfrau war klein von Gestalt und hatte schlohweißes Haar; aber ihr Gesicht war von zarter Farbe und ganz ohne Runzeln, niemand hätte ihr Alter festzustellen gewagt. Sie stand in dem Ruf, eine unglaublich tüchtige Hausfrau zu sein; die Leute sagten auch von ihr, wenn sie einen Menschen nur einmal sehe, wisse sie gleich, was er wert sei.

Diese neue Pfarrfrau sagte zu der Mutter, sie habe schon länger die Absicht, ein junges Mädchen ins Haus zu nehmen, die ihre Stieftochter bedienen sollte, damit das Zimmermädchen mehr ans Weben komme, und dann fragte sie, ob die Mutter etwas dagegen hätte, wenn die Kleine im nächsten Herbst ins Pfarrhaus käme.

Ob die Mutter etwas dagegen hätte? War das eine Frage! Sie konnte sich kein größeres Glück für ihre Kleine wünschen, als auf Lövdala in Dienst zu kommen.

Den ganzen Abend hindurch folgte die Pfarrfrau der Kleinen mit den Augen; es war, als könne sie an niemand anders mehr denken.

Und nach einer Weile rief sie die Mutter wieder zu sich.

»Ist es wahr, daß das Mädchen schreiben und lesen kann?« fragte sie.

Und die Mutter versicherte hoch und teuer, ja, es sei ganz wahr.

»Nun, dann machen wir aus, daß sie gleich mit nach Lövdala kommt,« sagte die Pfarrfrau. »Ihr könnt ja den Weg über Lövdala nehmen, wenn ihr von hier wieder heimgeht, und dann kann sie gleich dableiben.«

Und so wurde es auch beschlossen.

Aber auch nachher beobachtete die Pfarrfrau die Kleine noch immer gerade wie zuvor, wie wenn sie sich nicht satt an ihr sehen könnte.

Und wieder nach einer Weile wollte sie abermals mit Marit von Koltorp sprechen.

»Wie heißt denn deine Kleine?« fragte sie.

»Sie heißt Eleonora, aber wir nennen sie nur Nora.«

»Und es ist wirklich wahr und nicht nur Großtuerei, daß sie lesen und schreiben kann?« fragte die Pfarrfrau wieder.

»Nein, nein,« versicherte die Mutter, »es ist die reine Wahrheit.«

»Ich habe mir überlegt, daß sie gleich heute abend in unserem Schlitten mit uns nach Lövdala fahren könnte,« sagte nun die Pfarrfrau. »Es fehlt uns jetzt eben an einem kleinen Mägdlein, deshalb könnte sie ihren Dienst ebensogut gleich antreten.«

Und wie die Pfarrfrau es wünschte, so geschah's natürlich. Sie gehörte zu den Menschen, denen man nicht gerne widerspricht.

Die Spinnrocken

Die große Kastenuhr aus Dalarna, die in der Stube neben der Küche, der sogenannten Küchenkammer, stand, schlug sechs Uhr mit einem Gerassel, als wollten die schweren Gewichte bis in die Unterwelt hinunterstürzen. Daran erwachte die Kleine, die da auf drei zusammengestellten Stühlen schlief, einem sehr unsicheren Bett, das nach der Ankunft in später Nacht eiligst für sie hergerichtet worden war.

Die Kleine sprang mit einem Schrei von ihrem Lager auf und hielt nicht an, bis sie mitten im Zimmer stand. Es hatte ihr geträumt, sie liege in einem Sarg und sollte begraben werden, und die Kirchenglocken läuteten ihr zu Grabe. Aber als sie mit den Füßen auf dem kalten Boden stand, wurde sie sofort hell wach.

Hoffentlich hatte sie doch niemand schreien hören! Wenn nun jemand hier im Zimmer mit ihr schliefe! Das wäre schrecklich! Wie würden die Pfarrmägde sie auslachen, wenn sie erführen, daß sie sich vor der Wanduhr gefürchtet hatte! Sie begriff gar nicht, warum sie eigentlich so erschrocken war. Daheim in Koltorp hatten sie allerdings keine Uhr, aber auf dem Nyhof waren große Schlaguhren im Saal und auch in der kleinen Wohnstube; die Kleine wußte also wohl, wie es war, wenn eine Uhr schlug.

Es war nicht ganz dunkel in der Küchenkammer. Auf der Feuerstelle in der Ecke brannten ein paar Holzscheite, bei deren Schein die Kleine sich umschauen konnte. Nein, außer ihr war niemand im Zimmer. Das schmale hölzerne Kanapee, wo die Pfarrerstochter, Mamsell Maja Lisa, gelegen hatte, als die Kleine in der Nacht angekommen war, stand leer und war überdies auch schon für den Tag zurechtgemacht.

Aber wenn Mamsell Maja Lisa aufgestanden war, dann war es wohl auch für die Kleine Zeit, sich anzuziehen.

Sie wollte noch ein Scheit Holz aufs Feuer legen. Wenn sie bei dessen Schein nur ihre Strümpfe und Schuhe und die andern Kleidungsstücke finden konnte, würde sie bald fertig sein.

Aber sonderbar war es doch! Hier war sie in der Küchenkammer des Pfarrhauses und zog sich an, und zwar gerade in demselben Lövdaler Pfarrhaus, wo ihre Mutter einst Kindermädchen gewesen war, ehe sie sich mit Vater verheiratet hatte. Würde sie, die Tochter, wohl ebenso gerne hier sein wie einst die Mutter?

Auf der ganzen weiten Welt gab es nichts, Bubi ausgenommen natürlich, was die Mutter so lieb gehabt hätte wie die Pfarrerstochter. Wenn sie von dieser sprach, war es immer, als redete sie von einer Prinzessin.

Was hatte Mutter alles erzählt! Die Pfarrerstochter war wunderschön; wenn sie auf der Straße dahergefahren kam, liefen die Leute von ihrer Arbeit weg und stellten sich an die Zäune, nur um sie zu sehen.

Der Pfarrer hatte große Macht im Kirchspiel; aber er pflegte zu sagen, im Vergleich zu seiner Tochter fragten die Leute recht wenig nach ihm. Er sei nur ein Dahergelaufener, sie aber stamme aus dem alten Pfarrergeschlecht, das seit hundert Jahren im Kirchspiel ansässig sei, und sie werde ja auch Lövdala und das ganze Kirchspiel erben.

Die Kleine war manchmal fast ein wenig ärgerlich gewesen, weil sie immer und immer von der Pfarrerstochter hatte reden hören, gerade wie wenn andere Leute ganz und gar nicht mitzählten, wenn von ihr die Rede war; aber nun freute sie sich doch sehr darauf, diese Pfarrerstochter zu sehen.

Wenn sie nur begreifen könnte, dachte sie, was das für ein Getöse war, das, so lange sie sich ankleidete, immerfort an ihr Ohr drang. Es konnte doch wahrhaftig nicht der Sturm von gestern sein, der ihr noch in den Ohren brauste! Oder vielleicht hatte es von neuem zu stürmen angefangen? Aber eigentlich klang das, was sie hörte, gar nicht so recht wie Sturm, viel eher wie das gleichmäßige Tosen einer Mühle.

Endlich war sie angezogen, und nun machte sie die Küchentüre auf.

Ja, da war es ihr nicht mehr verwunderlich, woher der Lärm kam. Die ganze Küche war voller Spinnrocken und Spinnerinnen; ein Spinnrädchen hinter dem andern, eine Spinnerin hinter der andern – die Kleine konnte das Ende der Reihe gar nicht absehen.

Sie mußte auf der Schwelle stehen bleiben, denn es wurde ihr plötzlich ganz schwindlig zumut. Drei Spinnrädchen in ein und demselben Raum im Gang, das war das höchste, was sie bisher gesehen hatte. Aber wie viele waren hier? Sie fragte sich unwillkürlich, ob sie wohl überhaupt so weit zählen könnte.

Es war ziemlich dunkel in der Küche, deshalb war es gar nicht leicht für die Kleine, sich zurechtzufinden. Auf einem Rost, der auf einer langen eisernen Stange am Herd angebracht war, brannten ein paar harzreiche Knorren von einem Wacholderstumpf; das war die ganze Beleuchtung. Aber abgesehen von dieser dürftigen Helle konnte man auch deshalb schlecht sehen, weil die Spinnrädchen und Spinnerinnen in eine wahre Staubwolke eingehüllt waren, die vom Spinnen aufgewirbelt wurde.

Doch wie es auch sein mochte, so etwas hatte die Kleine jedenfalls noch nie gesehen. Wahrend sie da auf der Schwelle stand und nach den Spinnrädchen, den Trittbrettern und Spindeln, sowie auf die flinken Hände und Finger der Spinnerinnen sah, wurde ihr immer schwindliger zumute. Um nun über den Schwindel Herr zu werden, fing sie an, sich selbst Fragen vorzulegen; denn das solle man tun, hatte die Mutter gesagt.

»Wie viele Stränge werden hier in der Küche nur an einem einzigen Morgen gesponnen? Und wie viele Bündel Stränge mögen sie schon droben in der Vorratskammer unter dem Dach hängen haben? Und wie viele Webstühle müssen sie im Frühjahr in Gang setzen, um all dieses Garn zu verweben? Und wie viele Ballen Tuch müssen sie dann auf die Bleiche hinauslegen? Und wie viele – –«

So jetzt war der Schwindel vorüber, und sie konnte sich zwischen die Spinnrädchen hineinwagen. Es waren gar nicht so unbegreiflich viele, wie sie zuerst gemeint hatte, aber doch auch nicht nur ein paar. In einer langen gebogenen Reihe standen sie vom Herd an ganz bis zur Ausgangstüre hin.

Dicht beim Herd und beim Feuerschein saß die Pfarrfrau vor einem gelbgebeizten Spinnrädchen und spann feine weiße Baumwolle. Hinter der Pfarrfrau kam, so weit die Kleine erraten konnte, die alte Haushälterin, von der Mutter gesprochen hatte, und die spann Wolle an einem grün und rot angestrichenen Rad. Hinter dieser saßen fünf junge Mägde, die Köchin und das Zimmermädchen, die Kleinmagd, die Wäscherin und die Stallmagd, und diese alle spannen feinen Flachs an gewöhnlichen unangestrichenen Rädchen. Noch weiter hinten saß eine alte bucklige »Einliegerin« Gemeindearme. In früheren Zeiten, ehe man in Schweden die großen Armenhäuser hatte, die jetzt auf dem Lande ganz allgemein sind, wurden die Armen einer Gemeinde den Höfen zugeteilt. Sie wohnten eine bestimmte Anzahl Wochen auf einem Hofe, dann auf einem zweiten und so fort, bis sie wieder auf dem ersten ankamen. Wenn der »Einlieger« oder die »Einliegerin« noch kräftig genug waren, halfen sie bei der Arbeit auf dem Hofe. Bisweilen wurden sie krank oder bettlägerig, wurden aber trotzdem, wenn ihre Zeit um war, nach dem nächsten Hofe gefahren. und spann Werg an einem alten schlechten Rad. Und ganz zuletzt, dicht neben der Küchentüre in dem kalten Zug vom Flur her und fast vollständig im Dunkeln, saß noch eine Person und spann. Sie hatte ein Spinnrad vor sich, an dem drei Speichen ausgebrochen, die Treibschnur oft zusammengeknüpft und das Trittbrett ganz ausgeleiert waren, und spann das ganz grobe Werg, das so klumpig und so voller Spelzen war, daß man sich anderswo nicht die Mühe gegeben hätte, es noch auf einen Wocken zu binden. Aber die Spinnerin, die an diesem Rad saß, schien das grobe Werg ebenso leicht und gewandt zu spinnen, wie die andern den seinen Flachs spannen.

Wer dies sein mochte, konnte sich die Kleine durchaus nicht denken, schließlich meinte sie, es sei Wohl ein Mädchen, das zum Spinnenlernen im Pfarrhaus sei.

»Du Arme,« dachte sie. »Dir geht es nicht gut. Du stehst offenbar bei der Pfarrfrau nicht hoch in Gunst.«

Außer diesen eben Aufgezählten war niemand in der Küche, und jetzt wußte die Kleine gar nicht mehr, wie sie sich zuerst hatte einbilden können, es seien so unendlich viele.

Alle miteinander spannen und spannen. Wenn Mutter spann, dann sang sie dazu, oder sie erzählte Geschichten, hier aber waren alle mäuschenstill.

Jetzt winkte die Pfarrfrau die Kleine zu sich heran. Sie sollte ihr aus einem Korbe, der auf dem Boden stand, gekardete Baumwolle reichen, damit sie sich nicht mehr zu bücken brauchte.

Damit mußte die Kleine unendlich lang fortmachen; die Räder schnurrten um sie her, die Trittbretter gingen auf und nieder, und die Spindeln schwirrten im Kreise herum; es wurde der Kleinen allmählich wieder schwindlig, und um sich des Schwindelgefühls zu entschlagen, mußte sie sich wieder nützliche Fragen stellen.

»Wie viele Stränge Garn können hier an einem einzigen Morgen gesponnen werden? Und wie viele Bündel Garnstränge mögen sie schon droben hängen haben –«

Aber wie, sie hatte ja die Pfarrerstochter gar nicht gesehen! Diese hätte doch eigentlich ebensogut wie die Pfarrfrau hier sitzen und spinnen sollen! Aber es war vielleicht dumm, wenn sie glaubte, Mamsell Maja Lisa sitze hier und spinne mitten unter den Mägden; dazu war sie natürlich zu vornehm. So ein kleines Prinzeßchen wie diese Pfarrerstochter!

Sie sollte ja Lövdala und das ganze Kirchspiel erben. Ja, die saß wohl auf dem Sofa in der guten Stube und stickte seidene Blumen auf Seidenbrokat.

Aber was war denn das? Jetzt hatte sicher eine von den Spinnerinnen etwas Ungeschicktes gemacht. Die Pfarrfrau drehte ein Mal ums andere den Kopf nach der Tür.

Indessen war ziemlich viel Zeit vergangen, und der Tag begann zu grauen. Ein blasses Morgenlicht drang durch die kleinen Fensterscheiben herein. Sogar ganz drinnen in der Küche, da, wo die Kleine stand, konnte man jetzt sehen, daß die Spinnerin, die ganz außen an der Türe saß, zu arbeiten aufgehört hatte. Sie schlief nicht, sondern saß mit der Hand auf dem Rad und starrte geradeaus; aber dabei war es doch, als sähe sie von dem, was in der Küche war, gar nichts.

Und so viel war sicher, sie wußte nicht, daß die Pfarrfrau aufmerksam darauf geworden war, daß sie ihr Rädchen stillstehen ließ.

Diese Spinnerin hatte ein besonders sanftes, liebes Gesicht und ein paar große ernste blaue Augen. Sie sah nicht aus, als hätte sie aus Nachlässigkeit in ihrer Arbeit innegehalten, sondern weil sie eine Weile stillsitzen und nachdenken mußte.

Aber mit jeder Minute, die so verging, kniff die Pfarrfrau die Lippen fester zusammen. Sie sah allmählich ganz hart aus, man konnte sich ordentlich vor ihr fürchten.

Jetzt hielt sie ihr Spinnrad an und stand auf. Die andere aber, die noch immer still dasaß, merkte gar nicht, daß die Pfarrfrau zwischen den Spinnrädern hindurch auf die Türe zukam. Sie rührte sich nicht, bis die Pfarrfrau vor ihr stand und ihr die Hand auf den Nacken gelegt hatte.

Da stieß sie einen kleinen Schrei aus und versuchte sich mit der Hand freizumachen. Aber die Pfarrfrau hielt den schlanken Hals fest umfaßt; mit der einen Hand hob sie der Spinnerin den Kopf auf, mit der andern riß sie eine Handvoll Werg aus dem Wocken, drückte dieses auf das Gesicht der Spinnerin und fuhr ihr damit rund im Gesicht herum, wieder und wieder.

»Arbeiten wir nicht etwa alle miteinander nur für dich?« sagte sie mit rauher, harter Stimme. »Und dann sitzest du hier und schläfst!«

Beinahe hätte die Kleine einen Schrei ausgestoßen. Nein, nein, das war unmöglich! War das die Pfarrerstochter? Aber es konnte ja nicht anders sein, für jemand anders konnte hier doch nicht gearbeitet werden!

Schließlich schüttelte sie die Pfarrfrau noch einmal heftig, warf dann das Wergbündel auf den Boden und kehrte wieder an ihren Platz zurück.

Aber in diesem Augenblick stand die Haushälterin und mit ihr die fünf Mägde und die Einliegerin von ihren Stühlen auf und schoben die Spinnräder zurück.

Da wendete sich die Pfarrfrau an die alte Haushälterin und sah sie verdutzt an.

»Ich denke, die Frau Pfarrer weiß, daß das Gesinde während der Weihnachtsfeiertage nicht zu spinnen pflegt,« sagte die Haushälterin. »Da pflegen wir frei zu haben und dürfen für uns selbst arbeiten. Und die Frau Pfarrer weiß auch, wenn wir zum Herrn Pfarrer gehen und ihn fragen, so sagt er, wir sollen es so haben, wie es früher gewesen ist. Jetzt haben wir den ganzen Morgen gesponnen, weil Mamsell Maja Lisa uns gebeten hatte, der Frau Pfarrer zu Willen zu sein; aber nun hören wir auf, weil wir sehen, daß die Frau Pfarrer trotzdem gerade wie sonst gegen sie ist.«

Als dies gesagt war, hoben die Haushälterin und alle fünf Mägde und die Einliegerin ihre Spinnrocken auf, um sie aus der Küche hinauszutragen.

Aber die Pfarrfrau sprang auf und stellte sich vor die Küchentür.

»Mit meinem Willen kommt kein einziges Spinnrad zur Küche hinaus,« sagte sie.

Doch die alte Haushälterin fühlte, daß sie das Recht auf ihrer Seite hatte; ohne Zögern trat sie auf die Pfarrfrau zu, und es sah aus, als sollte sich im nächsten Augenblick etwas Schreckliches ereignen.

Aber siehe! statt dessen geschah etwas ganz Unerwartetes.

Die Pfarrfrau ließ ihre Augen umherlaufen, wie um zu entdecken, ob ihr jemand zu helfen gewillt sei, und da fiel ihr Blick auf die Kleine. Aber als sie sah, daß das Mädchen sie ganz entsetzt anstarrte, wie wenn sie eine Hexe sähe, war sie plötzlich wie umgewandelt.

Sie trat von der Türe zurück, gerade in dem Augenblick, wo die Haushälterin nur noch einen Schritt von

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 08.02.2015
ISBN: 978-3-7368-7676-7

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