Selma Lagerlöf
Jerusalem
II
Im Heiligen Lande
1. Buch.
Der heilige Fels und das heilige Grab.
Es war ein brennend heißer Augustmonat in Palästina. Jeden Tag stand die Sonne gerade über dem Kopf der Menschen. Da war nicht eine Wolke am Himmel, und seit dem April hatte es nicht geregnet. Es war gar nicht schlimmer, als es um diese Zeit des Jahres zu sein pflegte, aber es war trotzdem fast unerträglich. Man wußte nicht recht, was man tun sollte, um die Hitze fernzuhalten, oder wohin man fliehen sollte, um ihr zu entgehen.
Unten in Jaffa war es vielleicht noch am besten. Gerade nicht in der Stadt selbst, die mit ihren dicht zusammengedrängten Häusern auf ihrem steilen Felsen aufragte wie eine einzige große Festung, wo ein unleidlicher Geruch aus den engen Straßen und den großen Seifensiedereien aufstieg. Aber die Stadt lag dicht am Meer, und von dort kam doch etwas Kühlung. In der Umgegend konnte es sicher einigermaßen erträglich sein, denn Jaffa lag inmitten von wenigstens fünfhundert Orangenhainen, in denen die unreifen Apfelsinen unter harten, dunkelgrünen Blättern hingen, die sich ganz und gar nicht von dem Sonnenschein beeinflussen ließen.
Aber wie heiß war es nicht auch in Jaffa! Die hohen Rizinusbüsche standen mit ihren riesengroßen, verwelkten und eingeschrumpften Blättern da, nicht einmal die widerstandsfähigen Pelargonien besaßen Kräfte genug, um länger zu blühen, sondern lagen auf Steinhaufen und Sandgruben hinwelkend da, fast begraben unter Haufen von Staub. Wenn man die roten Blüten der Kaktushecken sah, kam es einem vor, als müsse das all die Wärme sein, die die dicken Stämme im Laufe des Sommers eingesogen hatten, und die nun in großen roten Flammen herausschlug. Man verstand erst so recht, wie heiß es war, wenn man sah, daß die Kinder, die über den Strand dahinliefen, um an das Meer hinauszugelangen und zu baden, die Füße hoch aufhoben und jammerten – der schöne, weiße Sand war so warm wie glühende Kohlen.
Und wenn man es nun in Jaffa nicht aushalten konnte, wohin sollte man dann fliehen? Da war es wenigstens noch besser als auf der meilenweiten Ebene von Saron, die jenseits der Stadt zwischen dem Meer und den Bergen lag. Es waren ja noch Menschen in den Dörfern und Städten, die über die Ebene zerstreut lagen, aber es war sehr schwer zu begreifen, wie sie es fertig brachten, nicht vor Hitze und Dürre zu vergehen. Sie wagten sich auch nur selten aus ihren Häusern heraus, die ohne Fenster waren, und verließen nie die Stadt, wo doch die Mauern der Häuser und einige vereinzelte Bäume ein wenig Schutz gegen die Sonne boten.
Draußen auf der offenen Ebene konnte man ebensowenig einen grünen Grashalm wie einen Menschen finden. Alle die prachtvollen roten Anemonen und Mohnblüten, all die kleinen Gänseblümchen und Nelken, die die Erde mit einem dichten rosa Teppich bedeckt hatten, waren verschwunden. Ebenso die Weizen-, Roggen- und Durraernte, die auf den bestellten Feldern in der Nähe der Stadt gewachsen war, sie war schon längst gemäht und eingefahren, und die Erntearbeiter mit ihren Ochsen und Eseln, mit ihrem Singen und Tanzen waren heimgezogen in ihre Dörfer. Die einzige Spur, die noch von der Herrlichkeit des Frühlings zurückgeblieben, waren die hohen, welken Stengel, die über dem versengten Felde aufragten, und die einstmals schöne, duftende Lilien getragen hatten.
Es gab wirklich eine ganze Menge Menschen, die behaupteten, daß sie den Sommer am allerbesten in Jerusalem ertragen könnten. Sie sagten, daß die Stadt ja freilich eng und von Menschen überfüllt sei, da sie aber auf dem Kamm des langen Bergrückens liege, der durch ganz Palästina lief, könne nicht ein Windhauch über das Land hingehen, aus welcher Himmelsrichtung er auch komme, ohne daß seine Kühle nicht die heilige Stadt erreiche.
Aber wie es sich auch mit den gepriesenen Winden und der leichten Bergluft verhalten mochte, so war doch auch in Jerusalem ausreichend Sommerhitze. Die Leute schliefen des Nachts auf den Dächern und schlossen sich des Tages ein. Sie mußten sich damit begnügen, übelriechendes Wasser zu trinken, das sich in der Winterzeit in unterirdischen Zisternen angesammelt hatte, und obendrein befürchten, daß es versiegen könne. Der geringste Windhauch wirbelte dichte Wolken von Kalkstaub auf, und ging man auf den weißen Wegen außerhalb der Stadt dahin, so versank der Fuß in dicken, seidenweichen Staub.
Aber das schlimmste war, daß die Sommerhitze die Menschen am Schlafen verhinderte. Alle schliefen schlecht, aber viele lagen Nacht für Nacht wach da. Und diese Schlaflosigkeit hatte zur Folge, daß die Einwohner von Jerusalem am Tage niedergeschlagen und reizbar waren und des Nachts beängstigende Gesichte sahen und von Angst und Verzweiflung geplagt wurden.
In einer solchen Nacht lag eine Amerikanerin in den mittleren Jahren, die schon längere Zeit in Jerusalem ansässig war, und wand und warf sich auf ihrem Lager umher, ohne einschlafen zu können. Sie trug ihr Bett aus dem Zimmer auf die offene Galerie hinaus, die rings um das Haus herumlief, sie legte kalte Umschläge auf ihren heißen Kopf, aber es half alles nichts.
Sie wohnte ungefähr fünf Minuten vor dem Damaskustor, in einem großen, palastähnlichen Hause, das ganz für sich lag. Man hätte also glauben sollen, daß die Luft dort frisch sei, aber in dieser Nacht war es ihr, als habe sich die Schwüle der großen Stadt auf ihr Haus herabgesenkt.
Es wehte ja freilich ein wenig Wind, aber der kam aus der Wüste und war heiß und scharf, als sei er voll von unsichtbarem Staub. Obendrein hatte eine Schar Straßenhunde sich auf einen Streifzug vor die Stadt begeben und erfüllte die Luft mit einem jämmerlichen, anhaltenden Gebell. Als die Amerikanerin einige Stunden wach gelegen hatte, überkam sie eine unendliche Niedergeschlagenheit. Sie versuchte, bei dem Gedanken zu verweilen, daß, seit sie infolge einer göttlichen Offenbarung nach Jerusalem gekommen war, ihr alles geglückt sei. Sie hatte eine Gemeinde gegründet und vielfache Versuchungen und Schwierigkeiten überwunden. Aber nichts konnte sie beruhigen; ihre Unruhe stieg mit jedem Augenblick.
Sie lag da und bildete sich ein, daß sie und ihre Getreuen ermordet werden, daß ihre Feinde das Haus anzünden würden, nachdem sie erst alle Ausgänge versperrt hatten. Es war ihr, als sende Jerusalem alle seine Fanatiker gegen sie aus, daß sie sie mit all dem Haß und all der Verzweiflungswut überfielen, die es innerhalb der Mauern dieser Stadt gab.
Sie bemühte sich, ihre gewohnte, frohe Zuversicht wiederzufinden. Warum sollte sie gerade jetzt verzweifeln, wo ihre Macht so große Fortschritte gemacht hatte, wo die Gordonkolonie durch fünfzig prächtige schwedische Bauern verstärkt worden war, die von Amerika herübergekommen waren, und wo man von Schweden noch gar viele dieser guten, zuverlässigen Menschen erwartete. In Wirklichkeit waren die Aussichten für ihr Unternehmen nie so licht gewesen wie gerade jetzt.
Um der Angst zu entgehen, stand sie schließlich auf und warf einen langen, weißen Mantel über, um hinauszugehen. Sie öffnete eine kleine Hintertür und wanderte in der Richtung auf Jerusalem zu. Bald bog sie jedoch vom Wege ab und erstieg einen kleinen, steilen Hügel. Von dessen Gipfel konnte sie in der mondhellen Nacht die Stadt mit ihrer zackigen Mauerkrone und ihren unzähligen großen und kleinen Kuppeln sich vom Nachthimmel abheben sehen.
Obwohl sie dastand und mit Angst und Unruhe kämpfte, beachtete sie doch die feierliche Schönheit der Natur. Palästinas grünlich weißer Mondschein goß seinen Schimmer über alles aus und verlieh allem ein Gepräge von etwas Wunderbarem und Geheimnisvollem. Plötzlich kam ihr der Gedanke, daß, ebenso wie es in alten Schlössern Zimmer gibt, in denen sich die Geister aufhalten, vielleicht diese uralte Stadt und die kahlen Hügel ringsumher die Gespensterstuben der alten Welt waren, ein Ort, wo man darauf gefaßt sein mußte, entschwundene Größen von den Bergen herabsteigen und die Toten der Vergangenheit in der Dunkelheit der Nacht umherschleichen zu sehen.
Mrs. Gordon empfand keine Angst, als diese Gedanken in ihr aufstiegen. Im Gegenteil erfüllten sie sie mit froher Erwartung. Seit der Nacht, wo sie auf L'Univers Schiffbruch erlitten und Gottes Stimme zu sich hatte reden hören, war es von Zeit zu Zeit geschehen, daß sie eine Botschaft aus der anderen Welt erhalten hatte. Es war ihr, als harre ihrer in diesem Augenblick etwas Ähnliches. Sie hatte ein Gefühl, als erweitere sich ihr Herz, und die Gedanken arbeiteten mit wunderlicher Leichtigkeit und Klarheit. Ihre Sinne waren geschärft, sie merkte, daß die Nacht nicht still war, sondern voll von Stimmen und wunderbaren Lauten.
Ehe sie sich die Veränderung, die mit ihr vorgegangen war, klargemacht hatte, vernahm sie eine mächtig brausende Stimme, die aus einer sehr alten und rostigen Kehle zu kommen schien, die Worte aussprechen: »Wahrlich, ich kann mit Stolz meine Stirn über den Staub erheben, niemand ist mir gleich an Macht und Anbetung und Herrlichkeit.«
Kaum waren diese Worte ausgesprochen, als sie ein scharfes Läuten von der mächtigen Glocke in der Kirche des heiligen Grabes vernahm. Es war nur ein einziger Schlag, aber er klang stolz und scharf wie ein Widerspruch.
Die erste Stimme fuhr fort: »Bin ich es nicht, der die Stadt in der Wüste erbaut und sie bis auf den heutigen Tag erhalten hat? Bin ich es nicht, der die Welt mit Gottesfurcht erfüllt hat? Bin ich es nicht, der den Weltstrom in seinem Lauf gehemmt und ihn in ein neues Bett geleitet hat?«
Mrs. Gordon sah sich um. Die Stimme kam aus Osten, von der Seite der Stadt, wo der Tempel Salomonis einstmals gestanden hat, und wo die Omarmoschee sich jetzt scharf von dem graugrünen Nachthimmel abhob. Konnte es einer der Gebetsrufer der Moschee sein, der von einem Minarett herab auf diese Weise seinen Lobgesang in die stille Nacht hinaustönen ließ?
»Höre«, fuhr die Stimme von dem alten Tempelplatz fort, »ich erinnere mich dieser Gegend, noch ehe eine Stadt hier auf den Bergen erbaut war. Ich erinnere mich ihrer als eines steilen und unzugänglichen Bergrückens. Zu Anfang war es ein einziger zusammenhängender Felsen, aber all das Wasser, das seit der Erschaffung der Welt über ihn herabgeströmt war, zerbrach ihn und zersplitterte ihn in eine Unendlichkeit von Bergen. Einige von diesen Bergen hatten sanft gerundete Abhänge, andere waren weite Gebirgsebenen mit lotrechten Wänden, wieder andere waren so schmal und steil, daß sie kaum zu etwas anderem dienen konnten, als Brücken zwischen den verschiedenen Bergen zu bilden.«
Als die tiefe Stimme diese Schilderung beendet hatte, vernahm man abermals einige kurze Glockentöne von der Seite her, wo sich die Kuppel des heiligen Grabes erhob. Mrs. Gordon hatte ihr Öhr jetzt an die Laute gewöhnt, die durch die Nacht dahinsausten, und es ward ihr klar, daß auch dies eine Stimme war, die vernehmbare Worte aussprach. Es war ihr, als höre sie ein kurzes: »Auch ich habe dies gesehen.«
Die erste Stimme ertönte von neuem: »Ich entsinne mich, daß auf dem höchsten Punkte dieser Bergkette ein Berg dastand, der den Namen Moria trug. Er hatte ein düsteres und abstoßendes Aussehen, wie er sich mit seinem jähen Abhang und seinem scharf abgeschnittenen Gipfel aus dem tiefen, dunklen Tal erhob, in dessen Grunde wilde Flüsse brausten. Nach Osten, nach Süden und Westen zu ragte der Berg Moria lotrecht und unzugänglich auf, nur nach Norden war er durch einen breiten Landstreifen wie durch eine Brücke mit den Bergen verbunden, die sich jenseits der tiefen Täler auftürmten.«
Mrs. Gordon setzte sich auf einen kleinen Steinhaufen. Sie stützte den Kopf in die Hände und lauschte.
Sobald die erste Stimme schwieg, gleichsam ermattet vom Reden, ertönte es von der andern Seite: »Auch ich entsinne mich, wie der Berg zuerst aussah.«
»Eines Tages geschah es,« ertönte es von neuem vom Tempelplatz her, »daß einige Hirten, die mit ihren Herden die Berge durchstreiften, diesen Berg erblickten, der so gut zwischen Tälern und anderen Bergen verborgen lag, als brüte er über großen Schätzen oder wunderbaren Geheimnissen.«
Hier wurde der Sprechende plötzlich von der Stimme mit dem Glockenklang unterbrochen. »Sie fanden nichts weiter als einen Felsblock, der auf der östlichen Seite des Berges lag. Es war ein großer, runder, ziemlich flacher Stein, der von einem darunterliegenden Felsblock ein wenig über den Erdboden emporgehoben wurde und Ähnlichkeit mit dem Kopf eines Riesenpilzes hatte.«
»Aber die Hirten,« fuhr die erste Stimme fort, »die alle heiligen Sagen seit der Erschaffung der Welt kannten, wurden bei diesem Anblick von großer Freude ergriffen. ›Dies ist der große schwebende Felsblock, von dem die Alten so viel zu erzählen hatten‹, sagten sie. ›Dies ist der Stein, der der erste war, als Gott die Welt erschuf. Von hier aus spannte er die Erdfläche nach Westen, Osten, Norden und Süden aus, von hier aus erbaute er die Berge und rollte die Meere bis an das feste Himmelsgewölbe hin.‹«
Der Sprecher hielt einen Augenblick inne, als erwarte er einen Widerspruch, aber die Glockenstimme schwieg.
»Dies ist wunderbar«, dachte Mrs. Gordon. »Es können keine Menschen sein, die reden.« Aber im Grunde erschien ihr das Ganze wunderbar. Der schwüle Wind und die grünlich bleiche Nacht bewirkten, daß das Wunderbarste ganz natürlich erschien.
»Die Hirten eilten mit schnellen Schritten den Berg hinab,« fuhr die alte Stimme fort, »um in der ganzen Gegend zu verkünden, daß sie den Grundstein der Erde gefunden hätten. Und bald sah ich große Menschenscharen zu dem Berge Moria hinausziehen, um auf mir, dem schwebenden Felsblock, dem Herrn zu opfern und ihm für sein herrliches Schöpferwerk zu danken.«
Als dies gesagt war, erhob sich die Stimme zu etwas, das einem Gesang glich. Und mit dem hohen, gellenden Tonfall, mit dem die Derwische den Koran herzusagen pflegen, rief sie aus: »Da empfing ich zum ersten Male Anbetung und Opfer. Das Gerücht von meinem Dasein verbreitete sich nach allen Richtungen hin. Fast an jedem Tage konnte man lange Karawanen sich von den weißgrauen Bergen auf dem Wege zu dem Berge Moria hinabschlängeln sehen. Wahrlich, ich kann mit Stolz meine Stirn erheben. Durch mich hatte der schroffe Berggipfel aufgehört, einsam und verlassen dazuliegen. Um meinetwillen strömten so viel Menschen nach dem Berg Moria, daß die Kaufleute ihren Vorteil darin sahen, mit Waren hierher zu ziehen, um einen Markt abzuhalten. Um meinetwillen erhielt der Berg feste Bewohner, die davon lebten, die Opfernden mit Brennholz und Wasser, mit Feuer und Räucherwerk, mit Tauben und Lämmern zu versorgen.«
Die andere Stimme schwieg noch immer, aber Mrs. Gordon erhob überrascht den Kopf. Der, der so sprach, mußte der heilige Fels selber sein. Es war die Stimme des großen Felsblockes, der unter dem prachtvollen Mosaikgewölbe in der Omarmoschee ruhte.
Jetzt ertönte sie von neuem. »Ich bin der Erste, der Einzige, ich bin der, den anzubeten die Menschen nie aufhören werden.« Kaum war dies gesagt, als mit starken Tönen von der Kirche des heiligen Grabes her geantwortet wurde: »Du vergißt zu erzählen, daß ungefähr in der Mitte derselben Hochebene, auf der du selbst ruhtest, sich ein elender kleiner Hügel befand, der mit einem Hain von wilden Olivenbäumen bewachsen war. Und du möchtest sicher am liebsten vergessen, daß der alte Patriarch Sem, der ein Sohn Noahs, des zweiten Stammvaters der Menschen, war, eines Tages auf den Berg Moria kam. Er war so altersschwach, daß er dem Rande des Grabes nahe war, er ging langsam und mit schleppenden Schritten. Er war von zwei Dienern begleitet, die solche Werkzeuge trugen, wie man sie gebraucht, um ein Felsgrab auszuhauen.«
Jetzt schwieg die alte, heisere Stimme.
»Du tust so, als wüßtest du nicht, daß Noah, der Vater Sems, den Schädel Adams, des ersten Menschen, als ein kostbares Andenken an den Stammvater der Menschheit besessen und aufbewahrt hatte. Als Noah starb, hinterließ er den Schädel Sem und nicht einem seiner anderen Söhne, weil er voraussah, daß von Sem das höchste aller Völker abstammen sollte. Und als Sem seine letzte Stunde herannahen fühlte, beschloß er, das Heiligtum des Geschlechts auf dem Berge Moria zu begraben. Da er aber die Gabe der Prophezeiung besaß, begrub er den Schädel nicht unter dem heiligen Felsen, sondern unter dem kleinen, unansehnlichen Hügel, der mit Ölbäumen bewachsen war, und der seit jenen Tagen den Namen Golgatha oder Schädelstätte trug.«
»Ich entsinne mich wohl dieses Vorfalles,« erwiderte die heisere Stimme, »und ich entsinne mich auch, daß die, die den Steinblock anbeteten, es wunderlich fanden. Sie glaubten, daß der Patriarch, alt und todkrank, wie er war, nicht mehr recht wisse, was er tat.«
Ein einziger schriller Ton erklang von der Kirche her. Mrs. Gordon fand, daß er fast einem kurzen Hohngelächter gleiche.
»Aber was hat ein so unbedeutendes Geschehnis zu sagen?« ertönte es wieder von der Moschee her. »Der Stein nahm beständig zu an Macht und Heiligkeit. Fürsten und Völker kamen dorthin gewandert, um für ihr Glück und ihren Erfolg zu opfern. Ich entsinne mich auch des Tages, wo ein Patriarch, der größer war als Sem, den Berg besuchte. Ich habe Abraham gesehen, wie er, weißbärtig und ehrwürdig, mit seinem Sohn Israel an der Seite dahergewandert kam, und Abraham suchte nicht dich auf, o Golgatha, sondern auf der schwebenden Felsklippe errichtete er den Scheiterhaufen und band den Knaben fest.«
Es kam eine zornige Unterbrechung von der Kirche des heiligen Grabes her. »Dies soll dir natürlich immer zur Ehre angerechnet werden, vergiß aber nicht ganz, daß du die Ehre mit mir teilen mußtest. Entsinnst du dich nicht, daß, als Gottes Engel das Messer aus der Hand des Patriarchen gerissen hatte und auf dem Berg umherwanderte, um ein Opfertier zu suchen, er auf Golgatha einen Widder fand, der mit den Hörnern an einem Olivenbusch festhing.«
Mrs. Gordon lauschte noch immer mit der gespanntesten Aufmerksamkeit. Aber je mehr sie von dem Streit der beiden Heiligtümer hörte, um so mutloser dachte sie an ihre eigene Berufung. »Ach, mein Gott, warum hast du mir den Auftrag gegeben, das Gebot der Einigkeit zu verkünden? Streit und Zank sind das einzige, was seit Erschaffung der Welt von Bestand gewesen ist.«
Plötzlich begann die alte Stimme von neuem.
»Ich vergesse nichts von dem, was des Erinnerns wert ist. Ich vergesse folglich auch nicht, daß schon zu Abrahams Zeiten die Bergebene keineswegs eine Wüste war. Hier lag eine Stadt mit einem König, der der höchste Priester des heiligen Felsens war und über ein Volk von Priestern und anderen Dienern des heiligen Felsens herrschte. Dieser König war Melchisedek, er war der erste, der regelmäßig wiederkehrende Opfer und schöne heilige Handlungen einsetzte, die auf dem heiligen Felsen gefeiert werden sollten.«
Gleich darauf kam die Antwort von der andern Seite: »Auch ich erkenne Melchisedek als einen heiligen Mann und einen Propheten an. Nichts beweist besser, daß er einer von Gottes Auserwählten war, als daß er wünschte, in einer Felsengrotte unter Golgatha begraben zu werden, an derselben Stelle, wo Adams Haupt ruhte. Hast du niemals daran gedacht, welche prophetische Bedeutung darin liegt, daß der erste Sünder und der erste Höchstepriester an diesem Ort begraben wurden?«
»Ich habe gehört, daß du diesem eine große Bedeutung beilegst,« erwiderte der heilige Fels, »aber ich weiß etwas, was noch mehr zu bedeuten hat. Die Stadt auf dem Berge wuchs und entwickelte sich. Die Täler und Berge hier umher bevölkerten sich und bekamen feste Namen. Bald behielt nur noch die östliche Seite des Berges, da, wo der heilige Fels lag, den Namen Moria. Der Berg an der Südseite wurde Zion genannt, der nach Westen zu Gareb, der nach Norden zu Bezetha.«
»Es war aber noch immer nur eine kleine Stadt, dier auf dem Berge lag«, lautete die Antwort von der Kirche her. »Hier wohnten fast nur Hirten und Priester. Die Leute hatten keine Lust, in diese unfruchtbare Steinwüste hinauszuziehen.«
Hierauf wurde mit so scharfer und siegesstolzer Stimme geantwortet, daß Mrs. Gordon fast zusammenfuhr, wie sie so dasaß und lauschte.
»Ich habe König David gesehen, in einem roten Gewand und schimmernder Rüstung stand er da und sah über diese Stadt hinaus, ehe er den Königssitz hierher verlegte. Warum wählte er nicht das reiche, lächelnde Bethlehem? Warum nicht Jericho in dem fruchtbaren Tal? Warum machte er nicht Gilgal, nicht Hebron zu der Hauptstadt Israels? Ich sage dir, daß er diesen Ort um des schwebenden Felsen willens wählte. Er wählte ihn, weil Israels Könige auf dem Berge wohnen mußten, den meine Heiligkeit seit Jahrhunderten überschattet hatte.«
Und jetzt begann die Stimme zum zweitenmal mit langgezogenen Tönen einen Lobgesang anzustimmen:
»Ich denke an diese große Stadt mit ihren großen Mauern und Türmen. Ich denke an die Königsburg auf dem Berge Zion mit den tausend Wohnungen. Ich denke an die Kramläden und Werkstätten, an die schimmernden Mauern und die hohen Tore und Türme. Ich denke an die wimmelnden Straßen, an alle die Schönheit und Pracht in der Stadt Davids.
Und wenn ich hieran denke, muß ich wohl sagen: Hier ist deine Macht, o Fels! Aus dir ward alles dies hervorgelockt. Stolz kannst du deine Stirn erheben. Niemand ist dir gleich an Anbetung und Heiligkeit! Aber du, Golgatha, warst nur ein Fleck auf Erden, ein kahler Berggipfel außerhalb der Stadtmauer. Wer betete dich an, wer brachte dir Opfer, wer wußte etwas von deiner Ehre?«
Zur selben Zeit, als dieser Lobgesang in die Luft hinaustönte, hörte man die Stimme der Glocke zornerfüllt, aber doch ruhiger als bisher, gleichsam von Ehrfurcht gedämpft, reden: »Man merkt, daß du alt wirst, du übertreibst alles, was du in deiner Jugend gesehen hast, so wie die alten Leute es zu tun pflegen. Davids Stadt erstreckte sich nur dort, auf der südlichen Seite, dort über Zion. Sie reichte nicht einmal so weit bis zu mir, mitten auf den Berg hinauf. Es war ja ganz natürlich, daß ich außerhalb der Stadtmauern liegen bleiben mußte.«
Aber die singende Stimme fuhr fort, ohne sich unterbrechen zu lassen: »Deine größte Ehre, o Fels, erreichtest du doch unter Salomon. Der Bergrücken um dich her ward so glatt wie ein Fußboden und mit flachen Steinen belegt. Und rings um diesen Fußboden herum wurden hohe Säulengänge aufgeführt, wie um die Festhallen der Könige. In der Mitte wurde der Tempel mit dem Heiligen und dem Allerheiligsten errichtet. Und über dir, o Fels, ward der Tempel erbaut, und auf dir, der du der Grundstein der Erde bist, ruhte die Bundeslade zusammen mit den Gesetzestafeln in dem Allerheiligsten.«
Jetzt vernahm man keinen Widerspruch von der Kirche her, nur einen dumpfen Laut, der einer Klage glich.
»Und zu Salomons Zeit wurde Wasser aus der Tiefe der Täler zu den Hochebenen um Jerusalem hinaufgeleitet, denn Salomon war der weiseste unter allen Königen. Da sproßten Bäume aus dem dürren, weißgrauen Berge empor, und zwischen den Steinen wuchsen Rosen. Und im Herbst konnte man in den Lustgärten, die den Berg bedeckten, Feigen und Trauben, Granatäpfel und Oliven zur Freude Salomons pflücken. Du aber, Golgatha, warst auch jetzt noch ein nackter Berg innerhalb der Stadtmauern. Du warst so gering und unfruchtbar, daß niemand von den reichen Leuten zu Salomons Zeit dich in seine Lustgärten hinaufzog und kein armer Mann auch nur einen Weinstock auf dir pflanzte.«
Als dieser neue Angriff kam, schien es indes, als bekomme der Widersacher Mut, sich zu verteidigen.
»Du vergißt aber, daß selbst zu dieser Zeit etwas geschah, das von Golgathas künftiger Herrlichkeit wahrsagte. Denn gerade damals kam die weise Königin von Saba, um Salomon zu besuchen. Der König empfing sie in seinem Palast, der deswegen der Libanonpalast genannt wurde, well er aus den Zedern des fernen Libanon erbaut war.
Als Salomon der arabischen Königin dieses mächtige Gebäude zeigte, desgleichen sie noch nie gesehen hatte, fesselte einer der Balken in der Wand ihre Aufmerksamkeit. Er war ungewöhnlich dick, und wenn man ihn genau betrachtete, konnte man sehen, daß er aus drei zusammengewachsenen Stämmen bestand.
Das Herz der weisen Königin ergriff ein Beben, als sie sah, daß dieser Baum in den Palast des Königs gebracht war, und sie beeilte sich, ihm seine Geschichte zu erzählen. Sie erzählte ihm, daß der Engel, der das Paradies nach der Austreibung der ersten Menschen bewachte, einstmals Adams Sohn Set erlaubt hatte, in den lieblichen Garten hineinzukommen. Er durfte so weit gehen, bis er den Baum des Lebens erblickte. Als Set wieder hinausgehen wollte, schenkte ihm der Engel zum Abschied drei Samenkörner von diesem wunderlichen Baum. Diese Samenkörner legte Set auf Adams Grab auf dem Berge Libanon in die Erde, und daraus wuchsen drei Stämme hervor und bildeten einen einzigen Baum.
Es ist dieser Baum, sagte die Königin, den die Holzhauer König Herams für dich, o König, gefällt haben, und der in dein Schloß hineingebaut ist. Aber es ist prophezeit, daß an diesem Baum einstmals ein Mensch sterben soll, und wenn das geschehen ist, dann wird Jerusalem fallen, und alle Stämme Israels werden zerstreut werden. Damit eine so böse Prophezeiung nicht in Erfüllung gehen möge, riet sie dem Könige, den Baum zu zerstören, und Salomon ließ ihn aus der Wand seines Palastes herausnehmen und befahl, daß er in den Teich Bethesda geworfen werde.«
Nach dieser langen Rede wurde es still. Mrs. Gordon glaubte fast, daß sie nichts mehr hören würde.
Endlich begann die Stimme der Glocke von neuem: »Ich denke zurück an strenge Zeiten. Ich entsinne mich, wie der Tempel zerstört und das ganze Volk in Gefangenschaft geführt wurde. Wo war da deine Ehre und dein Glanz, o Fels?« Erst eine Zeit darauf ertönte die Antwort des Felsens: »Bin ich denn allmächtig? – Aber selbst wenn ich fiel, habe ich mich immer wieder von neuem erhoben. Entsinnst du dich nicht des Glanzes, der mich zu Herodes' Zeit umstrahlte? Entsinnst du dich der drei Vorhöfe, die den Tempel umgaben. Entsinnst du dich des Feuers auf dem Brandopferaltar, das während der Nacht mit einer so hohen Flamme brannte, daß sie die Stadt erleuchtete? Entsinnst du dich der Tempeltür des Herodes, die die Schöne genannt wurde, wo er mehr als hundert Porphyrsäulen errichtete? Entsinnst du dich des Weihrauchduftes vom Tempel, der bei westlichem Winde bis nach Jericho hinab gespürt werden konnte? Entsinnst du dich des Getöses, wenn die kupfernen Tore aufgetan wurden? Entsinnst du dich, wie die Babylonier Vorhänge vor dem Allerheiligsten aufhängten, die mit Rosen aus purem Golde durchwebt waren?«
Kurz und barsch klang es von der Kirche herunter: »Alles dessen entsinne ich mich. Aber ich entsinne mich auch, daß zu jener Zeit Herodes den Teich Bethesda reinigen ließ. Ich entsinne mich, daß seine Arbeiter auf dem Grunde den Baum des Lebens fanden, der in der Wand von Salomons Schloß gesessen hatte, und daß sie den dicken Balken an das Ufer des Teiches warfen.«
»Entsinnst du dich,« fuhr die Stimme des Felsens in stolzem Jubel fort, »entsinnst du dich der glänzenden Stadt, wo die Fürsten und Völker Judas auf Zion wohnten, und wo Römer und Fremde in der Nähe von Bezetha wohnten? Entsinnst du dich der Burg Mariamne und der Burg Antonia? Entsinnst du dich der starken Tür, entsinnst du dich der turmgeschmückten Ringmauer?«
»Ich entsinne mich alles dessen«, ertönte es von der Kirche her, »aber ich entsinne mich auch, daß gerade zu jener Zeit der Ratsherr Joseph von Arimathia ein Felsengrab in seinem Garten aushauen ließ, der ganz nahe bei Golgatha lag.«
Die Stimme von der Moschee her zitterte ein wenig, aber sie fuhr unverzüglich fort:
»Entsinnst du dich der mächtigen Völkerwanderung nach Jerusalem zu den großen Festen? Entsinnst du dich, wie alle Wege Palästinas von Menschen wimmelten und die Abhänge vor der Stadt dicht mit Zelten bedeckt waren? Entsinnst du dich der Männer aus Rom, aus Athen, aus Damaskus, aus Alexandrien, die herbeiströmten, um die Herrlichkeit des Tempels und der Stadt zu sehen? Entsinnst du dich dieses stolzen Jerusalems?«
Der Glockenklang antwortete mit unerschütterlichem Ernst: »Freilich entsinne ich mich alles dessen. Aber ich habe auch nicht vergessen, daß zu dieser Zeit die Henkersknechte des Pilatus den Baum des Lebens am Ufer des Teiches Bethesda fanden und ein Kreuz daraus zimmerten, auf dem ein zum Tode verurteilter Verbrecher hingerichtet werden sollte.«
»Verachtet und übersehen bist du immer gewesen«, tönte es bitter von der Moschee her. »Aber bis dahin warst du doch nichts weiter als ein unbemerkter Fleck auf Erden. Zu dieser Zeit aber widerfuhr dir die Schmach, daß die Henkersknechte dich als Richtstätte benutzten. Ich entsinne mich dieses Tages, wo sie drei Kreuze auf dem Berge Golgatha errichteten.«
»Wahrlich verdiente ich, verworfen zu werden, könnte ich jemals des Tages vergessen«, erwiderte die Kirche in feierlichem Ton, der in die Luft hinausströmte, als sei er von lobsingenden Chören begleitet. »Und ich entsinne mich auch, daß gleichzeitig, als der Baum des Kreuzes auf Golgathas Felsen gepflanzt wurde, das große Osteropfer auf dem Berge Moria stattfand. Die Auserwählten traten, festlich gekleidet, in die säulengeschmückten Vorhöfe. Zwischen sich trugen sie lange Stangen, an denen die Opferlämmer hingen. Als die Vorhöfe so voll von Menschen waren, daß sie nicht mehr umfassen konnten, wurde die Tempelpforte geschlossen, und Trompetenstöße gaben das Zeichen, die Feier zu beginnen.
Da wurden die Tiere an Haken zwischen den Säulen aufgehängt und geschlachtet. Die Priester standen in einer langen Reihe quer über den Hof aufgestellt und reichten das Blut der Opfertiere in Schalen von Silber und Gold nach dem Brandaltar hinauf. Und so viel Blut wurde da vergossen, daß es den ganzen Hof überschwemmte. Die Priester mußten auf Schemeln stehen, damit nicht die Säume ihrer langen weißen Gewänder mit Blut getränkt wurden. Aber im selben Augenblick, als der Gekreuzigte auf Golgatha starb, wurde das große Opferfest im Tempel unterbrochen. Eine mächtige Finsternis senkte sich über das Heiligtum herab, das ganze Haus erzitterte unter dem Erdbeben, und der babylonische Vorhang zerriß von oben bis unten, als Zeichen, daß von dieser Stunde an die Macht und die Ehre und die Herrlichkeit von Moria auf Golgatha übergehen sollte.«
»Dieses Erdbeben erschütterte auch Golgatha«, fiel die alte Stimme ein. »Der ganze Berg zerbarst.«
»Ja, wahrlich«, erwiderte die Kirche in demselben tiefen, lobsingenden Tonfall. »Im Golgathaberge entstand eine tiefe Spalte, und, durch die hindurch floß das Blut des Kreuzes hinab bis an das Felsengrab in seinem Innern und verkündete dem ersten Sünder und dem ersten Höchstenpriester, daß die Versöhnung vollbracht sei.«
In diesem Augenblick ertönte ein starkes und anhaltendes Läuten von der Kirche her, und gleichzeitig stiegen von dem Minarett der Moschee die langgezogenen, klagenden Laute, die die Gläubigen zum Gebet rufen. Mrs. Gordon konnte hören, daß eine der heiligen Stunden der Nacht angebrochen war, aber dies traf so unmittelbar nach der Rede über die Kreuzigung ein, daß es auf sie wirkte, als hätten die beiden Alten die Gelegenheit ergriffen, um ihrem Stolz und ihrer Demütigung Luft zu machen.
Kaum war das starke Getöse verklungen, als die Moschee in einem feierlichen Ton begann: »Ich bin der große Fels, der ewig bestehende, was aber ist Golgatha? Ich bin der, der ich bin; niemand kann daran zweifeln, wo er mich zu suchen hat. Wo aber ist Golgatha? Wo ist der Berg, auf dem das Kreuz in den Felsgrund herabgesenkt wurde? Niemand weiß es. Wo ist das Grab, in das Christus gelegt wurde? Niemand kann mit Sicherheit die Stelle angeben.«
Sogleich ertönte die Antwort von Golgatha her: »Kommst auch du mit diesen Beschuldigungen? Du solltest es doch besser wissen, du, der du so alt bist, daß du dich entsinnen kannst, wo Golgatha gelegen hat. Du hast seit Jahrtausenden den Berg auf seinem Platz vor dem Tor der Gerechtigkeit gesehen.«
»Ach ja, wahrlich bin ich alt«, wiederholte die Moschee. »Aber du sagst ja, daß die Alten ein schlechtes Gedächtnis haben. Es lagen viele kahle Hügel vor Jerusalem, und es sind unendlich viele Gräber in den Felsen ausgehauen. Wie kann ich wissen, welches das rechte ist?«
Mrs. Gordon ward immer ungeduldiger. Sie empfand fast Lust, sich in die Unterhaltung einzumischen. Was war dies? Klangen ihr nur diese wunderlichen Stimmen ins Ohr, um ihr alte Geschichten zu erzählen, die sie schon längst gehört hatte? Sie hatte Lust, ihnen zuzurufen, daß sie ihr die tiefen Geheimnisse des Reiches Gottes offenbaren sollten, während die beiden Alten an nichts weiter dachten, als an eine elende Zänkerei darüber, wer am größten an Ehre und Macht sei.
Auch die Stimme der Glocke klang ungeduldig: »Es ist hart, wieder und wieder auf die Anschuldigung antworten zu müssen, daß ich nicht der bin, für den ich mich ausgebe. Du entsinnst dich doch, daß schon die ersten Christen mich zu besuchen pflegten, um die Erinnerung an die großen Begebenheiten aufzufrischen, die rings um Golgatha her stattgefunden hatten?«
»Ja,« antwortete die Moschee, »das alles mag ja wahr genug sein, aber ich bin fest überzeugt, daß du den Christen zwischen neuaufgeführten Straßen und Häuserreihen entschwunden bist, als sich die Stadt erweiterte und Herodes Antipas die neue Ringmauer erbaute.«
»Ich bin ihnen entschwunden,« erwiderte das heilige Grab, »sie scharten sich beständig um Golgatha, bis die Belagerung von Jerusalem begann, als sie die Stadt verließen.«
Hierauf erwiderte der heilige Fels nicht ein einziges Wort. Er schien überwältigt zu sein von den traurigen Erinnerungen, die hervorgerufen wurden.
»Denn der Tempel ward zerstört,« rief die Kirche, »der heilige Tempelgrund ward von Ruinen bedeckt, und Roms Kaiser befahl, daß diese Ruinen nicht fortgeschafft werden durften. Sechshundert Jahre lagst du, o Fels, unter Schutt und Asche begraben.«
»Was sind sechshundert Jahre für mich«, erwiderte der Fels erzürnt und stolz. »Niemand kann doch daran zweifeln, daß ich auf meinem Platz bin, aber um dich ist immer Streit gewesen.«
»Wie kann Streit um mich sein, der ich durch ein Wunder Gottes wiedergefunden wurde?« erwiderte die Kirche mit demütiger Freude. »Das war, als die Kaiserin Helena, die eine Christin und Heilige war, in einem Traum den Befehl von Gott erhielt, nach dem heiligen Lande zu ziehen und die Heiligtümer auf den erinnerungsreichen Stätten aufzubauen.«
»Ach ja, ich entsinne mich der Tage, als die Kaiserin nach Jerusalem kam. Ich entsinne mich ihres Gefolges von Fremden und gelehrten Männern. Ich entsinne mich, wie sie zu Anfang vergebens nach der Stätte spähten, wo das heilige Grab zu finden war.«
»Aber zu jener Zeit lag ungefähr mitten in der Stadt ein Venustempel, und die Kaiserin hörte, daß Kaiser Hadrian ihn an einem Ort hatte aufführen lassen, den einst die Christen heilig hielten. Sie ließ den Tempel abbrechen, und es zeigte sich, daß er über Golgatha erbaut war. Unter dem Tempelgrunde fand man, vollständig unbeschädigt und auf diese Weise der Nachwelt erhalten, sowohl das heilige Grab als auch den Felsen Golgatha mit dem Grabe Melchisedeks und die Spalte in dem Berge, aus der, wie man behauptete, noch Blut floß. Man fand auch den Salbungsstein– – –«
Jetzt unterbrach die Moschee die Rede mit einem lauten Hohngelächter. »Aber höre nun den letzten und wichtigsten Beweis,« fuhr die Kirche fort, ohne sich stören zu lassen.« Nichts wünschte die Kaiserin so sehr, als das heilige Grab wiederzufinden, aber das war vollständig verschwunden. Erst nach langem, vergeblichem Suchen kam ein alter, weiser Mann zu der Kaiserin und erzählte ihr, das Kreuz liege tief unter der Erde versteckt. Er beschrieb die Stelle, wo es zu suchen sei. Man müsse tief graben; denn die Soldaten hatten das Kreuz in einen der Wallgräben geworfen und ihn bis zum Rande mit Steinen und Erde angefüllt. Und ich kann noch die fromme Kaiserin sehen, wie sie dort am Rande des Wallgrabens saß und ihre Arbeiter ermunterte. Ich entsinne mich auch des Tages, als das heilige Kreuz auf dem Grunde des alten Grabens gefunden wurde.«
Die Kirche redete jetzt ganz allein. Sie ließ sich nicht dadurch stören, daß von der Moschee her höhnische Rufe und spöttisches Gelächter erklangen.
»Ich entsinne mich der Reihe von Wundern, die der Wiederauffindung des Kreuzes folgten. Ich glaube, selbst du wagst nicht, sie zu bestreiten. Auch du hast die Freudenrufe der Kranken gehört, die durch die heilige Reliquie geheilt wurden. Auch du entsinnst dich der Pilgrimzüge, die aus allen Ländern herbeiströmten. Du entsinnst dich der vielen frommen Männer, die sich in den Felsenschluchten Palästinas niederließen. Du entsinnst dich aller der Klöster und Kirchen, die aus der Erde emporschossen.
Oder hast du, o Fels, die herrlichen Gebäude vergessen, die Konstantin und seine Mutter über dem heiligen Grabe aufführen ließen? An der Stelle, wo das Kreuz gefunden wurde, ward eine Basilika erbaut, aber über der Felsengrotte des heiligen Grabes errichtete man eine schöne Rundkirche.
Sicherlich erinnerst du dich, o Fels, der griechischen Baumeister, die diese Gebäude mit ebenso großer Pracht aufführten, als seien es Gemächer in einem Kaiserschloß. Du entsinnst dich sicher der Karawanen, die über die Berge dahergezogen kamen, mit den kostbarsten Steinen und Gold beladen, die zu der Ausschmückung der Kirche erforderlich waren. Du erinnerst dich der Porphyrsäulen und der silbernen Kapitäle. Du entsinnst dich der Mosaikwölbung der Grabeskirche, du entsinnst dich der schmalen Fenster, durch die das Licht hineinfiel, das sich in Scheiben aus Alabaster und farbigem Glas brach, bis jeder Lichtstrahl blitzte, als ginge er von einem Diamanten aus. Du entsinnst dich des geschnitzten Gitterwerks um die Emporen, der doppelten Säulenreihe und der Kuppel, die stark und licht über dem Gebäude schwebte. Du entsinnst dich mitten in der Kirche der Grotte des heiligen Grabes, die ungeschmückt und unberührt in all dieser Pracht ruhte.
Und die Zeit nach der Errichtung dieser Gebäude! Du entsinnst dich wohl, daß alle Christen im Morgenlande Jerusalem als ihre heilige Stadt betrachteten, daß nicht nur schnell davonziehende Pilger allein sie besuchten. Entsinnst du dich nicht mehr, wie Bischöfe mit ihrem Gefolge von Priestern kamen und ihre Kirchen und Schlösser rings um die Grabeskirche bauten? Sahest du nicht den Patriarchen der Armenier ebenso wie den der Griechen und der Assyrer ihre Throne hier errichten? Und sahest du nicht Kopten aus dem alten Ägypten und Abessinier aus dem Herzen Afrikas kommen? Du sahest Jerusalem wieder aufgebaut, eine Stadt von Kirchen und Klöstern, von Gasthäusern und frommen Stiftungen. Du weißt, daß sein Glanz größer war denn je.
Aber dies alles war mein Werk, o Fels. Du lagest damals vergessen und unbeachtet auf dem Berge Moria. Du warst mit Ruinen bedeckt und unter einem Aschenhaufen verborgen, niemand erinnerte sich deines Daseins.«
Auf diese Herausforderung erwiderte die Felsenkirche:
»Was sind einige Jahre der Erniedrigung für mich?! Bin ich nicht beständig der, der ich bin? Es vergingen nur wenige Jahrhunderte, dann kam eines Nachts ein alter, ehrwürdiger Mann mit einem gestreiften Mantel eines Beduinen und dem Turban aus Kamelhaaren auf dem Kopfe zu mir. Dieser Mann war Mohammed, der Prophet Gottes. Er ward lebend in den Himmel aufgenommen, und sein Fuß ruhte auf meiner Stirn, als er von der Erde weggenommen wurde. Im selben Augenblick erhob ich mich durch eigene Kraft mehrere Fuß über der Erde, vor Sehnsucht, ihm folgen zu dürfen. Ich erhob mich aus Schutt und Asche, und ich bin der Ewige, der niemals vergehen kann.«
»Du ließest dein Volk im Stich, Verräter!« klagte die Kirche. »Du verhalfst den Gläubigen zur Macht.«
»Ich habe kein Volk, ich diene keinem, ich bin der ewige Fels. Der, der mich anbetet, den beschütze ich. Bald kam der Tag, da Omar seinen Einzug in Jerusalem hielt und der große Kalif den Tempelplatz reinigen ließ und selbst einen Korb voll Schutt auf seinen Kopf nahm und ihn forttrug. Und einige Jahre später führten Omars Anhänger auf mir das prächtigste Gebäude auf, das das Morgenland jemals gesehen hat.«
Hier unterbrach ihn die Glockenstimme mit ihrer ganzen Heftigkeit: »Ja, das Gebäude ist schön, aber weißt du nicht, woher es stammt? Meinst du, daß ich diese Mosaikgewölbe nicht kenne und diese herrliche Kuppel, diese Marmorwände, unter denen es in ungeschmückter Einfachheit ruht, wie einstmals das heilige Grab in der Rundkirche Helenas? Deine ganze Moschee ist nach dem Muster der ersten Grabeskirche gebaut.«
Mrs. Gordon wurde immer ungeduldiger. Der Streit der beiden Heiligtümer erschien ihr ärmlich und kleinlich. Nicht einen einzigen Gedanken hatten sie für die verschiedenen Religionen übrig, deren Abbild sie waren. Sie dachten nur daran, mit den Gebäuden zu prahlen, die sie bedeckten.
Die Moschee fuhr fort: »Ich erinnere mich an gar manches, nicht aber, daß ich die schöne Grabeskirche gesehen habe, von der du sprichst.«
»Wahrlich ragte sie hier auf Golgatha auf, aber sie wurde bald von Feinden zerstört. Sie wurde wieder aufgebaut und abermals zerstört.«
»Dahingegen entsinne ich mich,« sagte die Felskirche, »daß auf Golgatha eine Menge kleiner und großer Gebäude standen, die für heilig gehalten wurden. Sie waren elend und verfallen, der Regen tropfte durch das Dach.«
»Ja, das ist wahr,« erwiderte die Kirche, »das war deine Zeit und die Zeit deiner Finsternis. Aber ich kann wie du sagen: Was haben einige Jahre der Erniedrigung zu bedeuten? Ich habe gesehen, wie sich das ganze Abendland erhob, um mir zu helfen. Ich habe gesehen, wie Jerusalem von vielen eisenbekleideten Männern aus Europa erobert wurde, die um meinetwillen ausgezogen waren. Ich habe deine Moschee in eine christliche Kirche verwandeln sehen, und die Kreuzfahrer haben auf dir, o Fels, einen Altar errichtet. Ich habe Kreuzritter ihre Pferde in die Gewölbe unter dem Tempelplatz ziehen sehen.«
Der alte Fels erhob seine Stimme und sang, wie ein Derwisch in der Wüste singen würde.
Die Kirche ließ sich aber nicht in ihrem Wortschwall unterbrechen: »Ich entsinne mich, wie die Ritter des Abendlandes ihre eisernen Rüstungen ablegten und zu Axt und Mauerkelle griffen, um die Kirche des heiligen Grabes wieder aufzubauen. Ich entsinne mich, daß sie das Gebäude so groß machten, daß es all die heiligen Stätten umfassen konnte. Ich entsinne mich, wie sie das graue Felsgrab mit weißem Marmor von außen wie von innen bekleideten.«
Die alte Stimme unterbrach: »Was nützt es dir, daß du von Kreuzfahrern erbaut bist, du bist ja doch verfallen!«
»Ich bin voll von Erinnerungen und heiligen Stätten«, rief die Grabeskirche in lautem Tone. »Innerhalb meiner Mauern kann ich auf den Ölberg zeigen, wo Abraham den Widder fand, und auf die Kapelle, wo Adams Schädel begraben wurde. Ich kann auf Golgatha zeigen, und auf das Grab und den Stein, wo der Engel saß, als die Frauen kamen, um über den Toten zu weinen. Innerhalb meiner Mauern liegt der Ort, wo die Kaiserin Helena umherzugehen und die Arbeiter zu ermuntern pflegte, und der Ort, an dem das Kreuz gefunden wurde. Ich besitze die Säule, an der der Gekreuzigte saß, als man ihn mit Dornen krönte, und den Salbungsstein und das Grab Melchisedeks. Ich besitze das Schwert Gottfried von Bouillons. Ich werde noch immer von Kopten und Abessiniern, von Armeniern und Jakobiten, von Griechen und Römern verehrt. In mir wimmelt es von Pilgern – – –«
Die alte Felskirche unterbrach sie: »Woran denkst du nur, du Felsblock, du Grab, dessen Stätten niemand kennt, willst du dich in bezug auf Bedeutung mit dem ewigen Felsen messen? Bin ich es nicht, auf den man Jehovas heiligen, unaussprechlichen Namen eingeschrieben hat, den kein anderer als Jesus hat deuten können? Soll nicht in meinen Tempelhof Mohammed am jüngsten Tage herabsteigen?«
Als der Streit zwischen den Kirchen so an Heftigkeit zunahm, erhob sich Mrs. Gordon. Sie vergaß, daß ihre Stimme nicht die Kraft besaß, sich zugleich mit den beiden mächtigen Stimmen Gehör zu verschaffen. »Wehe euch, wehe euch,« rief sie, »was seid ihr für Heiligtümer? Ihr streitet und zankt miteinander, und durch eure Uneinigkeit wird die Welt mit Unfrieden und Haß und Verfolgung erfüllt. Aber Gottes letztes Gebot heißt Einigkeit, hört das! Gottes letztes Gebot, das ich empfangen habe, heißt Einigkeit!«
Als diese Worte gesagt waren, schwieg sowohl das heilige Grab als auch der heilige Fels. Mrs. Gordon glaubte einen Augenblick fast, daß ihre Worte die Macht besessen hatten, den Streit zu unterbrechen. Da aber sah sie, daß alle Kreuze und Halbmonde, die sich über dem großen Kuppelgebäude der heiligen Stadt erhoben, nach und nach vergoldet wurden und schimmerten. Die Sonne ging über dem Ölberge auf, und alle Stimmen der Nacht mußten verstummen.
Bo Ingmar Maansson.
Unter denen, die zu Hellgums Gemeinde ln Amerika gehört hatten, und mit ihm nach Jerusalem gezogen waren, befanden sich drei, die zu dem alten Ingmarsgeschlecht gehörten. Es waren die beiden Töchter des großen Ingmar, die bald nach dem Tode des Vaters nach Chicago gereist waren, sowie ihr Vetter Bo Ingmar Maansson, ein junger Mann, der sich nur zwei oder drei Jahre in den Vereinigten Staaten aufgehalten hatte.
Bo war gut gewachsen, hatte blondes Haar und blonde Augenbrauen, war rotwangig und von gutmütigem Aussehen. Es war nicht viel in seinen Zügen, das an das alte Geschlecht erinnerte, aber die Ähnlichkeit trat hervor, wenn er eine schwierige Arbeit vorhatte oder in Gemütserregung geriet.
Als Bo heranwuchs und in Storms Schule ging, war er ein träger, schlaffer Junge gewesen. Der Schulmeister hatte sich oft darüber gewundert, daß einem aus einer so klugen Familie das Lernen so schwer werden konnte. Aber die Schlaffheit verschwand indessen ganz, als Bo nach Amerika kam. Er war schnell und aufgeweckt geworden, im Rat wie in der Tat; aber er hatte in seiner Kindheit so oft hören müssen, daß er dumm war, und daher hatte er noch immer ein starkes Mißtrauen zu seinen eigenen Fähigkeiten.
Die Leute im Kirchsprengel waren nicht wenig überrascht, als Bo nach Amerika reiste. Die Eltern besaßen einen großen Hof und waren wohlhabende Leute. Sie hätten den Sohn gern zu Hause behalten.
Es ging zwar das Gerücht, daß Bo Schulmeisters Gertrud liebe, und daß er fortgereist sei, um sie zu vergessen, aber niemand wußte so recht Bescheid, wie sich die Sache verhielt. Bo hatte niemals einen anderen Vertrauten gehabt, als seine Mutter, und die war nicht umsonst die Schwester des großen Ingmar. Sie konnte man nicht dazu verleiten, mehr zu sagen, als sie Lust hatte.
An dem Tage, als Bo seine Heimat verließ, kam seine Mutter mit einem Gürtel zu ihm, den sie ihn bat, auf dem bloßen Leibe zu tragen. Als Bo ihn nahm, fühlte er, daß er schwer war; die Mutter hatte Geld hineingenäht. »Du mußt mir versprechen, daß du dich nur von diesem Gürtel trennst, wenn du in Not kommst«, sagte die Mutter; »es ist keine große Summe, nur so viel, daß du heimkehren kannst, falls es dir schlecht ergehen sollte.«
Bo versprach, das Geld nur in der größten Not aus dem Gürtel zu nehmen, und er hielt treulich dies Versprechen. Er war nun freilich noch nie sehr in Versuchung gekommen, es zu brechen, da es ihm in Amerika fast immer gut ergangen war; aber ein paarmal war er doch so arm gewesen, daß es ihm an Obdach und Essen gefehlt hatte. Trotzdem hatte er immer einen Ausweg gefunden, so daß er das Geschenk der Mutter nicht hatte in Anspruch zu nehmen brauchen.
Als Bo sich den Hellgumianern anschloß, war er erst ein wenig in Verlegenheit, was er mit dem Gürtel tun sollte. Seine neuen Kameraden bestrebten sich ja, den ersten Christen nachzueifern; sie teilten all ihr Hab und Gut untereinander, und gaben alles, was sie erwarben, in die gemeinsame Kasse. Bo gab auch alles, was er besaß, ausgenommen das, was im Gürtel war. Er konnte sich nicht recht klar darüber werden, was in diesem Fall Recht oder Unrecht war, aber er fühlte bei sich selbst, daß er dies Geld behalten müsse. Und er war ganz sicher, daß der liebe Gott wohl verstehen werde, daß er es nicht aus Geiz behielt, sondern, weil er das Versprechen halten wußte, das er seiner Mutter gegeben hatte.
B« behielt auch den Gürtel, nachdem er sich den Gordonisten angeschlossen hatte. Da aber begann er eine gewisse Unruhe zu spüren, wenn er daran dachte. Er merkte bald, daß Mrs. Gordon und mehrere von ihren Anhängern hervorragende Persönlichkeiten waren, und er empfand eine tiefe Ehrfurcht vor ihnen. Es schauderte ihm davor, was diese fehlerlosen Menschen wohl von ihm denken würden, wenn es einmal entdeckt wurde, daß er verborgenes Geld bei sich trug, obwohl er heilig und teuer versichert hatte, daß er alles, was er besaß, der Gemeinde übergeben habe.
Hellgum und seine Gemeinde waren im Mai, gerade um dieselbe Zeit, als die Bauern daheim im Kirchsprengel Auktion über ihre Höfe hielten, nach Jerusalem gekommen. Im Juni kam ein Brief nach Jerusalem, der meldete, daß der Ingmarshof verkauft sei, und daß Ingmar Ingmarsson mit Gertrud gebrochen habe, um den Hof seines Vaters wiederzugewinnen.
Er hatte sich bis dahin wohl in Jerusalem gefühlt und oft davon geredet, wie froh er über die Umsiedlung sei. Aber von dem Tage an, als er hörte, daß Gertrud frei war, wurde er finster und wortkarg.
Niemand in der Kolonie konnte verstehen, was Bo so schwermütig machte. Mehrere versuchten, ihn zu veranlassen, ihnen seinen Kummer anzuvertrauen, aber Bo wollte ihnen nicht sagen, worüber er nachgrübelte. Er konnte nicht erwarten, daß die Kolonisten sonderliches Mitleid mit Herzenskummer haben würden. Sie predigten immer, daß es um der Einigkeit willen notwendig sei, nicht mehr von dem einen Menschen zu halten als von dem andern, und sie behaupteten, daß sie selber alle Menschen gleich innig liebten. Sie alle – auch Bo – hatten versprochen und geschworen, daß sie niemals in den Ehestand treten, sondern in Keuschheit wie die Mönche und Nonnen leben wollten.
Bo dachte nicht mehr eine Sekunde an das Gelübde, nachdem er erfahren hatte, daß Gertrud frei war. Er wollte sich sogleich von der Kolonie trennen, um heimzureisen und sie zu gewinnen. Jetzt war er sehr froh darüber, daß er den Gürtel behalten hatte und seiner Wege gehen konnte, sobald er Lust hatte.
Während der ersten Tage ging er umher wie in einem Rausch, und dachte nur daran, sich Bescheid darüber zu verschaffen, wann ein Schiff von Jaffa abgehe. Aber es ging in den Tagen gerade kein Schiff, und Bo fing bald an einzusehen, daß es besser aussehen würde, wenn er eine Zeitlang mit der Reise wartete. Kam er jetzt sogleich nach Hause, so würde das ganze Kirchspiel verstehen, daß er um Gertruds willen kam, und gelang es ihm dann nicht, sie zu gewinnen, so würde er von allen Menschen ausgelacht werden.
Bo hatte gerade zu dieser Zeit eine Arbeit für die Kolonie übernommen. Die alten Gordonisten hatten nämlich bisher in Jerusalem selbst gewohnt. Das große Haus vor dem Damaskustor hatten sie in Veranlassung der großen Zunahme der Kolonie durch die schwedischen Auswanderer gemietet, und sie waren jetzt eifrig damit beschäftigt, sich dort einzurichten. Man hatte es Bo übertragen, einen Backofen in dem neuen Hause aufzuführen; er beschloß, sich in Geduld zu fassen und nicht abzureisen, ehe er seine Arbeit ausgeführt hatte. Indessen sehnte er sich so heftig, daß ganz Jerusalem ihm nicht besser vorkam als ein Gefängnis. Des Nachts ließ er oft den Gürtel durch die Hände gleiten, und lag da, und befühlte die Münzen, die da hineingenäht waren. Er wurde ganz vergnügt, wenn er die kleinen, runden Gegenstände zwischen seinen Fingern fühlte. Er sah Gertrud vor sich, vergaß, daß sie nie etwas hatte von ihm wissen wollen, und war überzeugt, daß er nur nach Hause zu kommen brauchte, um sie zur Frau zu bekommen.
Wenn sich Ingmar so falsch erwiesen hatte, mußte Gertrud doch Bo endlich schätzen lernen, der sein ganzes Leben hindurch nur sie geliebt hatte.
Es ging indessen schrecklich langsam mit dem Bau des Backofens. Entweder war Bo kein tüchtiger Maurer, oder auch er hatte schlechtes Material bekommen. Schließlich war er nahe daran zu glauben, daß der Ofen niemals fertig werden würde. Einmal stürzte die Wölbung ein, und ein andermal war der Ofen so verkehrt gemauert, daß der Rauch in die Backstube hineinschlug.
Auf diese Weise schob sich Bos Abreise bis in den August hinaus. Währenddes sah er so viel von dem Leben der Gordonisten, daß es ihm besser und besser gefiel. Niemals hatte er Menschen auf diese Weise so ausschließlich dafür leben sehen, Kranken, Armen und Betrübten zu helfen. Und sie sehnten sich nicht wieder zurück in die Welt, obwohl einige von ihnen so reich an Gütern dieser Welt waren, daß sie sich alles hätten anschaffen können, was sie wünschten, und andere so reich an Kenntnissen waren, daß es nichts zwischen Himmel und Erde gab, worüber sie nicht Bescheid wußten. Jeden Tag hielten sie die schönsten Betstunden ab, in denen sie ihre Lehre den Neuangekommenen darlegten, und wenn Bo sie reden hörte, war es ihm, daß es etwas Großes sei, mit Teil daran zu haben, das wahre Christentum wieder aufzuerwecken, das an die zweitausend Jahre vergessen und begraben gelegen hatte, daß er sich fast nicht entschließen konnte, Jerusalem zu verlassen.
Aber in der Nacht nahm Bo den Gürtel zwischen die Hände, und wenn er das tat, traten ihm Tränen der Sehnsucht nach Gertrud in die Augen. Und wenn er daran dachte, daß er nun nicht teilhaben könne an der Wiedererweckung des einzig wahren Christentums, dann sagte er sich selbst, daß da so viele seien, die würdiger waren als er. Es würde wohl keinen großen Schaden tun, wenn so ein dummer und einfältiger armer Mensch, wie er, die Kolonie verließ.
Es graute Bo aber vor dem Augenblick, wo er in der Gemeinde aufstehen und sagen mußte, daß er heimreisen wolle. Es ging ein Schaudern durch seinen Korper, wenn er daran dachte, daß Mrs. Gordon und die alte Miß Hoggs und die schöne Miß Joung und Hellgum und die Kinder seiner Schwester – daß alle
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Tag der Veröffentlichung: 08.02.2015
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