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Leseprobe

Der grüne Gang

Auf dem Schloßboden, wo der Brandmeister Branntwein und Bier verkaufte, war ein langer, schmalschultriger Kunde die Treppe hinabgestoßen worden, und der leere Zinnkrug wurde ihm nachgeschleudert, so daß er ihm zwischen die Stiefel rollte. Seine Kammgarnstrümpfe waren gestopft und schmutzig. Das Halstuch hatte er bis über den Mund und die unrasierten Backen hinaufgebunden, und er stand immerwährend mit den Händen in den Taschen seiner Rockschöße.

»Weist den verrückten Ekeroth hinaus!« sagte der Brandmeister. »Er hat Tabakpriemchen ins Bier gepustet und Peter Maler mit einer Stopfnadel gestochen, und er ist voller Bosheit durch und durch. Dann schlagt den Klapptisch zusammen: Es ist Befehl gegeben, die Schloßtore zu schließen, denn es ist jetzt bald zu Ende mit dem Leben der Königlichen Majestät.«

Einer der Kammerdiener war Karls alter, treuer Diener Haakon. Er hatte ein friedliches Gesicht und ging so krummbeinig in seinen steifen Kleidern, daß es aussah, als sei er eben vom Pferd gestiegen. Er hob den Krug auf und steckte ihn freundlich unter Ekeroths Arm.

»Ich werde dem Herrn Konstabler folgen,« sagte er, »oder dem Herrn Leutnant, oder wie man nun sagen soll.«

»Lars Ekeroth ist Kapitän bei der Kriegsflotte der gnädigen Majestät,« antwortete Ekeroth, »und reise- und sprachkundig ist er auch. Hier auf dem Schloßboden weiß man zwischen Volk und Volk zu unterscheiden. Ich werde eine Anzeige und Klage einreichen, das werde ich. Habe ich Euch nicht gesagt, daß es bald Feuer vom Himmel regnen und jede Sparre in diesem Hause lichterloh brennen wird? Käufliche Ratgeber, ungerechte Urteile, Fluch und Jammer sind unser täglich Brot geworden, und des Herrn Zorn lastet schwer über dem Land.«

»Herr Leutnant ... oder ... Kapitän brauchen nicht noch Reden zu führen über schlimmere Unglücke, als die uns Gott bereits zu tragen gegeben hat. Auf den Hügeln ringsum hat die Feuersbrunst gewütet, und seit zehn Jahren haben wir Mißernte und Hungersnot. Eine Tonne Roggen kostet schon zwölf Reichstaler Silber. Bald wird das Futter selbst im Stall des Königlichen Hauses mangeln, und die Fahrzeuge mit dem verschriebenen Getreide liegen draußen festgefroren zwischen den Schären.«

Ekeroth ging neben ihm die Treppe hinab und sah sich um, ohne die kleinen, unruhigen Augen auf einen bestimmten Gegenstand zu heften. Mitunter blieb er stehen und nickte und sprach halblaut vor sich hin.

Durch die Luken schimmerten der Burghof in der Tiefe und die überbaute Treppe mit ihren Obelisken und die Wachen, die im Trompetergang hin und her schritten. Hinter den schneeigen Türmen und Dächern bewegten sich kleine schwarze Menschengruppen auf dem gefrorenen Mälarsee zwischen »Kungsholmslandet« und »Söder«, und der Märzabend schien quer durch einen der Säle des linken Schloßflügels, so daß es aussah, als sei der Kronleuchter angezündet worden. »Ja, ja,« murmelte Ekeroth, »das wird alles brennen, alles, alles, – – all das, was unsere Schande, all das, was unsere Größe gewesen ist. Ich habe »glänzende Männer« am Himmel gesehen, und wenn ich des Nachts mit meiner Pfeife sitze, sehe ich im Tabakrauch wunderliche Planeten, die mir deuten, daß die alte Weltordnung gestört ist. In Ungarn und Deutschland regnet es Schwärme von arabischen Heuschrecken. Die feuerspeienden Berge sprühen glühende Steine. Schon vor zwei Jahren hatten wir im Februar fingerhohes Gras im Tiergarten und hörten die Frühlingsvögel singen, aber im Mai fuhren wir Schlitten. Im August hingen die Kornähren bereift, aber im September pflückte ich Erdbeeren auf Essingen. In solchen Zeiten geschieht es, daß Gott der Herr die Augen der Auserwählten öffnet, auf daß sie sehen, was verborgen ist.«

»Um Gottes willen, redet nicht so!« stammelte Haakon.

»Sieht er seine Gesichte im Schlaf oder im Wachen?«

»Zwischen Schlaf und Wachen.«

»Ich verspreche, daß ich seiner Königlichen Majestät selbst jedes Wort berichten werde, wenn der Herr Leutnant mir ganz wahrheitsgetreu alles erzählen will, was er sah und weiß. Sieht er dort unten die zwei Fenster, deren Läden zugeschoben sind? Es ist keine halbe Stunde, seit ich da drinnen war. Dort sitzt die Königliche Majestät in einem Stuhl, in Decken und Kissen gebettet, und ist so zusammengeschrumpft und klein geworden, daß nur noch Nase und Lippen übrig sind. Und kann den Kopf nicht heben. Arme Majestät, daß er solche Qualen erdulden muß, obgleich er erst einige vierzig Jahre alt ist. Wenn er früher durch die Zimmer gehinkt kam, war ich am frohsten, wenn ich entwischen konnte, aber obgleich ich nur der geringste unter den Dienern bin, kann er mich jetzt um den Hals fassen und mich unter strömenden Tränen an sich drücken. Ich glaube nicht, daß er für seinen Sohn viel wärmer fühlt, als er es für seine Gemahlin tat. Wenn er nach ihm sendet, ist er wortkarg und sitzt meistens da und sieht ihn an. Er spricht jetzt nur vom Reich, und wieder vom Reich. Noch vor einer Woche sah ich auf seinen Knieen Papiere über Häuserbesichtigung, Oktrois und solches Zeug, aber jetzt hat er keine geheimen Ratschläge für den Sohn aufgeschrieben und den Brief in einen versiegelten Eisenschrein gelegt; und sobald jemand in die Kammer tritt, ist es, als stammelte er mit seinen fieberglänzenden Augen und seinen Worten ein beständiges: »Helft mir, helft mir das Reich aufrecht zu erhalten, meinen Sohn würdig und klug zu machen! Das Reich! Das Reich!«

Haakon fuhr mit der Hand über die Stirn, und sie gingen weiter die Treppe hinab, von Luke zu Luke.

»In dem Zimmer dort unter uns zur Linken befindet sich Ihre Majestät die Königin-Witwe. Sie hat sich die letzten Tage eingeschlossen, und nicht einmal Tessin darf mit seinen Mappen hinein. Keiner weiß recht, was sie treibt, aber ich denke, daß sie wohl die düsteren Gedanken jetzt mit einer Partie Fünfkarten und Trumpf verjagt. Da klingeln und bimmeln die Berlocken gegen die Spieltischkante, und es knistert und rauscht von Spitzen und Bändern ... und das spanische Rohr mit dem Goldknopf gleitet zu Boden ...«

»Und das schöne Fräulein Hedwig Stenbock, das hinter dem Stuhl steht, knickst und hebt ihn auf.«

»Das tut sie gewiß nicht, denn sie ist schon lange verheiratet und alt und häßlich und daheim bei sich. Herr Leutnant leben nur in dem, was gewesen ist, und in dem, was werden wird.«

»Mag sein!« Ekeroth blinzelte boshaft und deutete auf den nördlichen Schloßflügel, der neuerdings von Tessin aufgeführt worden, seitdem der alte der Erde gleichgemacht war. Einige Baugerüste standen noch da, mit Tannenzweigen auf den höchsten Mastspitzen. – »Na, wer wohnt unter dem langen Kistendeckel dort? Pfui tausend! Kein Mensch wohnt drin ... Und es wird auch keiner drin wohnen, das weiß ich. Warum konnte es nicht stehen bleiben, wie es war? Der Teufel hole die Gottorperin, die der Königlichen Majestät all die Bauereiverrücktheit in den Kopf gesetzt hat! Sieht er, Kammerdiener, gerade wie jeder Mensch seine Seele hat, hat jedes alte Haus allerhand Spukgesindel und andere Wesen der Finsternis in seinem Innern, die beängstigt und beunruhigt werden, wenn man mit Hacke und Mauerkelle kommt. Erinnert er sich des grünen Ganges, der ehemals unter dem Dachstuhl entlanglief, oberhalb der alten Schloßkirche? Dort geschah es, daß meine Augen mir zum erstenmal geöffnet wurden. Oh, ich werde schon erzählen. Ich werde dem Kammerdiener alles sagen, wenn er mit mir nach Hause kommt und dann sein Versprechen hält, jedes Wort der Königlichen Majestät selbst zu berichten.«

Sie waren jetzt zur Einfahrtswölbung herunter gekommen und gingen auf der Brücke über den Schloßgraben. Ein Kurier mit der Ledertasche auf dem Rücken war eben im Begriff, vom Pferd zu steigen, und seine Antworten auf die vielen Fragen konnte man durch das Fußgetrampel und das Kommandieren vernehmen.

»Auf sechs Meilen nördlich von Stockholm nur drei Menschen gesehen ... Sie saßen am Wegrand und nährten sich von einem verendeten Tier ... In Norrland kostete ein Pfund mehlgemischter Rinde vier Reichstaler in Silber ... Die Soldaten hungern sich zu Tode ... Die Regimenter kaum halbzählig ...«

Ekeroth nickte zustimmend, als wäre ihm das schon längst bekannt gewesen, und er ging immerwährend neben Haakon, mit dem Zinnkrug unterm Arm und den Händen in den Rockschößen.

Als sie nach seiner Bodenkammer bei Traansund hinaufgekommen waren, warf er einen mißtrauischen Seitenblick auf Haakon, und als er den Schlüssel ins Schloß steckte, untersuchte er genau, ob die Tür nicht während seiner Abwesenheit geöffnet worden wäre. Die Kammer war groß und kalt. Im Fenster stand ein Käfig mit einem Eichhörnchen, und an der einen Wand war eine Menge verschiedener Münzen reihenweise aufgenagelt. Da saßen blanke Elbinge Reichstaler und kleine und große Kupfermünzen und ein revalscher Fünfdukaten und sogar ein paar von den alten Palmstruchschen Banknoten, die schon seit dreißig Jahren wertlos waren. Ekeroth ging hin und musterte und zählte die Gelder.

»Der Tor,« sagte er, »versteckt seine Habseligkeiten so tief, daß er sie nicht selbst überwachen kann, aber ich will sie unter den Augen haben, so daß ich sie leicht in den Sack hineinzählen kann, wenn das schlimme Feuer kommt.«

Aus der einen Ecke zog Ekeroth fünf Holzscheitchen hervor, die er in den Kamin stellte und mit einem Kienspan ansteckte. Danach stopften er und Haakon ihre Pfeifen, und da es keine Stühle gab, setzten sie sich auf den Boden vor das Feuer.

»Na, laß jetzt hören!« sagte Haakon.

Ekeroth erzahlte:

»Nie habe ich etwas so Grauenhaftes gesehen wie den grünen Gang. Es war zu der Zeit, da ich Konstabler bei der Kriegsflotte war. Jetzt hat man mir ja meine kleine Pension von zweihundertfünfzig Talern zugestopft. Großartig, he! Ich wurde wohl aus dem Dienst gejagt, weil man Angst hatte, daß ich sonst als Generaladmiral schließen würde. Und das wollte Hans Wachtmeister selbst sein. – –

»Der Kerl ist toll!« schrie er auf Deck, als ich ihn höflich bat, erst den Hut abzunehmen, ehe er mich ins Takelwerk hinaufkommandierte. Und dann war es aus mit mir. Der verrückte Ekeroth hieß ich schon damals, wo ich ein- und ausging. So geht es zu. Ein armer Gesell trägt einen Kameraden zu Grabe, dann trägt er seinen Meister zu Grabe und für einen Heller noch den einen und den anderen und macht sich einen Wachstuchhut und einen langen, schwarzen Mantel, und wenn er Eile hat, fallen ihm die Totenlisten aus der Tasche ... und die Kinder nehmen Reißaus und weinen und schreien: »Der Leichenträger, der Leichenträger!« Aber, obgleich man ein solches Halunkengespenst werden kann, sind wir doch ursprünglich allesamt aus demselben Teig geknetet. Berichte das nur Wort für Wort Seiner Königlichen Majestät selbst ... Nun ja, damals war ich ganz geschickt im Zeichnen und Kopieren. Einige Tage vor dem Hader mit Wachtmeister ward mir deshalb gnädig befohlen, einen anderen Konstabler mit mir zu nehmen, der Nils hieß, und mich in der Vorratskammer oberhalb der alten Papistenkirche in den Schloßturm einzustellen, der nach dem Strom zu lag. Dort sollten wir eine zerbrochene Galeonslaterne abzeichnen, nach der die Königin-Witwe eine neue für ihre Mälarschaluppe anfertigen lassen wollte. Als wir so eines Tages dort saßen und würfelten und uns mit der gesprungenen Galeonslaterne neckten, die kein Teufel hätte abzeichnen können, kam die Lust über mich, und ich rief:

»Nils, hast du jemals einen Hund mit fünf Beinen gesehen?«

Da Nils mit der Achsel zuckte, sprach ich weiter: »Ich habe neulich einen auf dem »Järntorget« gesehen. Auf vier Beinen ging er, und das fünfte hatte er im Maul.« Nils wurde mürrisch, und um ihn zu ärgern, rief ich noch lauter: »Witzig bist du nicht. Laß sehen, ob du mutig bist! Ich wette dieses Zinnmaß, mit echtem spanischen Wein gefüllt und einem Dukaten auf dem Boden, daß ich beim Abendläuten allein durch den grünen Gang gehen werde.«

Niels antwortete: »Ich weiß, wenn du dir etwas vornimmst, nützt es nichts, dich davon abbringen zu wollen, und ich will nicht, daß du mich wegen des Geschenkes für geizig halten sollst. Deshalb, lieber Ekeroth, wette ich, wie du wünschest, aber ich will nicht vor deiner alten Mutter die Verantwortung tragen, wenn es dir schlecht bekommt. Deshalb gehe ich lieber zu mir nach Hause. Bei Tag ist diese herrschaftliche Wohnung prächtig genug anzuschauen, aber bei Nacht mag es hier wunderlich zugehen, und ich schlafe lieber in der erbärmlichsten Hütte auf »Malmen«. –

Ich nannte ihn einen Hasenfuß und ließ ihn seines Weges gehen. Sobald ich allein war, merkte ich, daß es schon zu dämmern begann, und um mich zu stählen, ging ich die drei Paar Stufen der Bodentreppe hinab nach dem grünen Gang und guckte durchs Schlüsselloch.

Die grüne Bemalung war an mehreren Stellen abgefallen, so daß die alte hellrote Farbe durchschien. Den Wänden entlang stand allerhand Hausgerät, das ausgedient hatte und hier heraufgebracht war. Ich sah Schränke und Stühle und Malereien mit Hunden und Pferden, und zu hinterst stand ein Bett mit zusammengezogenen Gardinen. Auf den Seiten waren leere Winkel und Verstecke, wo es durch das undichte Dachwerk tropfte und spritzte.

Es war zur Zeit der Walpurgismesse und deshalb einigermaßen hell; das gab mir eine gewisse Sicherheit wieder, so daß ich mich unten auf die Treppe setzen konnte, aber ich wußte, daß wunderliche Wesen ihren Aufenthalt da oben unter dem Fußboden hatten. Die Lakaien nannten sie Nachthexen, weil sie erst bei der Dämmerung die morschen Dielen emporhoben und ihre Köpfe herausstreckten.

Sie waren nicht größer als ein dreijähriges Kind und ganz braun und nackt und hatten Frauenkörper. Oft konnten sie auf die Schränke klettern und da sitzen und mit den Armen winken; und der, dem es widerfuhr, an einer vorbeizustreifen, starb binnen Jahresfrist. Sie pflegten rings über den Boden zu springen, und zuweilen schrieen sie auf gewissen Orten und polterten unter dem Sitz, daß die Hoffrauenzimmer sich nicht hinzugehen getrauten, sondern lieber die ganze Nacht mit Kolik lagen.

Sobald ich das Abendläuten vernahm, stieß ich die Tür sperrangelweit auf. Ich ging einen Schritt vor, aber mein Entsetzen war so groß, daß ich mit den Händen auf dem Türpfosten stehen blieb und nur stierte. Durch einen der freien Flecke an den gekreideten Fenstern sah ich bis zum Turm auf dem Brunkeberg, und das stärkte mich, so daß ich geradeswegs in den grünen Gang hineinsprang, damit das Läuten nicht aufhörte, ehe ich zurückgekommen wäre. So lange es läutete, würden die Wesen der Finsternis nichts vermögen.

Ungefähr in der Mitte des Ganges sah ich plötzlich etwas Dunkles längs den Bettgardinen daherschreiten und sich in einen der Lehnsessel schmiegen, wie um sich zu verstecken oder zu warten. Mein linkes Knie beugte sich von selbst, und ich hörte das Echo meines Geschreis durch die Böden, von dieser Stunde an wurden meine Augen geöffnet, so daß die Menschen mich verrückt nannten. Gegen das Fenster sah ich, daß ein Mann in dem Stuhl saß. Er blieb ebenso unbeweglich wie ich. Auf einmal faßte er mich am Arm und flüsterte zwischen den Zähnen:

»Figlio di un cane! Spion? Was? Kammerdiener bei der Königin-Witwe?«

»Gelobt sei Gott!« stammelte ich, denn nun verstand ich, daß es ein Mensch und meinesgleichen war, und an der zitternden und ungeschickt tastenden Hand sah ich, daß er nicht minder erschrocken war als ich selbst. Auch bemerkte ich, daß er in bloßen Socken war und die Schuhe vorn in die Brust gesteckt hatte. Ich sammelte meine Gedanken und beschrieb meinen einfältigen Streich, und schließlich wurde mir geglaubt.

»So ein verdammtes, baufälliges, altes Nest,« brummte der Mann, um seine eigene Überraschung zu verbergen. »Es ist hier ein solches Dachgetropf, daß ich an den Füßen ganz und gar durchnäßt bin. So wahr ich lebe, soll hier ein neues Haus gebaut werden ... Mein guter Mann, kannst du den Weg finden, so hilf mir durch dieses Bodenlabyrinth hier durch nach dem Ballettsaal. Wer ich bin, ist einerlei.«

»Das ist es freilich,« antwortete ich, »obgleich ich den gnädigen Herrn Kammerherrn Tessin erkenne.«

Ich schwieg und nahm mich am Rockschoß, und so kehrte ich um und ging vor ihm her.

Ich glaube, im Grunde genommen waren wir alle beide gleich froh, daß wir einander getroffen hatten. Als wir nach dem Ballettsaal herunter kamen, befahl er mir, vor der Tür zu bleiben, aber ich hörte die Nachthexen hinter uns in der Dämmerung springen und behielt die Hand auf dem Schloß, so daß ich die Tür gleich wieder aufschieben und mich unbemerkt nachschleichen konnte. Durch die Fenster sah ich den Strom, und innen standen ringsum an den Wänden eine Menge angelehnter Kulissen, mit zugestutzten Bäumen und weißen Tempeln bemalt.

Tessin blieb mitten im Saal stehen und klatschte dreimal in die Hände.

Eine Dame erhob sich hinter den Kulissen und öffnete eine kleine Blendlaterne.

War das nicht Hedwig Stenbock, das gräfliche Hoffräulein der Königin-Witwe! Sieh mal an, dachte ich und biß mir in die Lippen, dieser ausländische Modeherr angelt schon so hoch!

»Hedwig, mein Allerliebstes auf dieser Welt!« sagte er. »Wir gehen gleich auf deine Kammer. Kein raisonnement, ma chère

Hedwig Stenbock war gegen fünfunddreißig Jahre, und sie ging ihm so starr und steif entgegen, daß ich ihr kein Herz und keine Seele zugetraut haben würde, wenn sie nicht mit einem Male ganz verwandelt worden und ihr das Blut in die Wangen gestiegen wäre, als er sie umarmte:

Da vergaß ich mich und rief halblaut: »Ja, ja, ja!«

Tessin wendete sich um, er war aber so eifrig, daß er nur die Augenbrauen zusammenzog und alle Worte darauf verschwendete, meine Gegenwart zu erklären.

»Irgendeinen Helfershelfer müssen wir haben auf alle Fälle,« sagte er, »und Ekeroth kann es ebensogut sein wie ein anderer. Wenn er zu schweigen versteht, soll er nicht ohne Lohn ausgehen.«

Sodann befahl er mir, die Blendlaterne zu nehmen und durch die leeren Ratssäle zu gehen – danke für die Gnade! – und den Weg zu weisen, den er beschrieb, bis zu dem Gang, an dem die Hofdamen der Königin-Witwe wohnten – – wünsche gute Ruhe, meine Schönsten! Sobald ich vorsichtig nachgesehen hätte, daß keine Schmeißfliege in Hofkleidern dort herumsumme, sollte ich wiederkommen und es mitteilen.

Ich hatte jedoch andres zu melden, als ich wohlbehalten zurückkam.

Ich hatte die Nachthexen an der Tür der Kunstkammer poltern hören und sie mit Feuerfunken in den Händen die Treppe hinunter nach dem Archivsaal springen sehen, wo die Reichsurkunden in den Wandschränken lagen. Zuletzt war ich in dem angegebenen Gange einem der Kammerdiener der Königin-Witwe begegnet, der über seine Handlaterne gebeugt saß und mit dem Rücken gegen die Wand schlief.

»Er ist dorthin geschickt worden, nachdem ich gegangen war,« sagte Hedwig Stenbock und stand wieder ebenso steif und gerade. »Er ahnt nicht, daß der Vogel schon weggeflogen ist. Aber wie zurückkommen?«

Sie schob Tessins Arm von sich und wurde nachdenklich.

»Längst habe ich es gefürchtet und geahnt. Heute Nacht kommt der Skandal über uns. Ihre Majestät ist eifersüchtig.«

Tessin griff mit den Händen in die Luft, wie nach unsichtbaren Degen und Dolchen, und es sprühte und funkelte um seine Augen.

»Eifersüchtig? Auf mich? Sie ist vierzig Jahre und hat graue Haare, und sie ist ein wenig heiser und rauh in der Stimme wie ein Mann. Soll es denn mit diesem Gerede nie ein Ende haben! Bei wem hätte ich denn meine Pläne vorlegen und einen wohlwollenden Schutz suchen sollen, wenn nicht bei Schwedens Hedwig Eleonora! (Er verbeugte sich.) Aber fürchte dich nicht, meine Allergeliebteste, denn keine Schande soll deine Tage belasten, sondern du folgst mir von hier diese Nacht. Ein Schlitten kann wohl allzeit beschafft werden ... Und dann ... addio! In Italien habe ich Freunde.«

»Gott im Himmel muß wissen,« antwortete sie, »daß ich dir allzeit gerne folge, wohin du begehrst, und nach den Menschen frage ich gar nichts, sondern möchte dir lieber nahe sein als entsagen, aber zuerst müssen wir doch mit einem ergebenen Freund und Beschützer prüfen, was klug ist. Ich denke an Erik Lindskiöld, welcher heute abend mit Seiner Majestät sitzt und trinkt. – Ekeroth soll hinunter über den Burghof zu des Königs kleiner Treppe gehen und dort warten, bis Lindskiöld kommt, und dann soll er ihn mit vielen Entschuldigungen bitten, hier herauf zu eilen ... zu mir.«

Tessin winkte abwehrend mit der Hand, aber ich achtete des Kavaliers wenig, sondern fand ein größeres Vergnügen darin, einem so edeln Fräulein zu gehorchen.

Die Nacht war schon weit vorgerückt, als ich mit Lindskiöld zurückkam. Er fragte mich über alles genau aus. Seine Perücke schaukelte hin und her, und er fluchte freundlich und lachte hell auf und lärmte, als sei das ganze Schloß sein.

In den Ballettsaal gekommen, beugte er ein Knie, warf den Hut in die Luft und rief: »Seid ihr denn alle wahnsinnig, meine Herrschaften, wollt Liebe ihr wagen und nicht entsagen, obgleich alle nach euch jagen? Paff! Puff! Ein armer Bautenmeister, ein Glückserdreister von neugehecktem Adel nicht sonder Tadel. Rann er hoffen als Gewinn so hochgestellte Gräfin? Den Tag begann Gepolter und Heben, da Eva in Eden geschaffen war eben, und Adam ihr sagt' mit entzücktem Blick: Darf zum Geburtstag ich wünschen Glück!«

»Trallala, ganz betrunken!« murmelte Tessin beiseite seiner Dame zu. » C'est ce que l'on appelle l'esprit suédois! Lindskiöld ist bezecht.«

»Nur ein klein wenig, er ist bei günstigster Laune.«

Lindskiöld hörte sie nicht und fuhr fort, so daß es in dem weiten Saale hallte: »Ich habe das lange geargwöhnt, und das hochwohlgeborne Geschlecht wird es übelnehmen. Aber nach Italien reisen! Ah bah! Hier ist des Kammerherrn Land, das seines Genies bedarf. Seht mir ins Weiße des Auges und sagt, ob er von den Schloßzeichnungen wegreisen kann, die er auf meinem Tisch vorgelegt hat, ob irgend etwas in der Welt ihm so lieb ist wie seine Kunst?«

Tessin wurde blutrot und sah in die Flamme der Handlaterne hinunter.

»Ich habe mich entschlossen, den Kammerherrn Tessin zu heiraten,« sagte Hedwig Stenbock, »und dabei bleibt es.«

Lindskiöld legte die Hand aufs Herz.

»Gewiß, gewiß! sagt die Reichswitwe. Einen Kranz aus Blüt und Blatt will ich winden zu Lindevad. Selbst hab' ich keine Ahnen im Grabchor mit Fahnen, mein Vater war Schmied, jaha, so ging das Lied, er wurde Bürgermeister in Skenninge. Denkt, wenn der Kammerherr von Skenninge stammte! Wie würde er dann gebaut haben! Ein armes Schloß im Skenninge-Stil? Für die Stadt ein Spektakel, pfui Teufel miserabel! Sei er stolz, sei er fear, daß er das ist und nicht mehr.«

Lindskiöld faßte Tessin unterm Arm, majestätisch und drohend, und mit einer Gebärde, als hätte er plötzlich einen verschmutzten Maskeradenmantel abgeworfen.

» Calmire er sich seine aedeur einen halben Monatlauf oder so! Zum Beginn küsse jetzt der Kammerherr seiner Auserwählten die Hand, gehe drei Schritt zurück, mache seine Reverenz und folge mir sodann! Schweigt, denn ich befahl im Königssaal! Ekeroth kehre zum Kammerdiener der Reichswitwe zurück, bläst seine Laterne aus, weckt ihn mit einer gesunden und nachdrücklichen Ohrfeige und wirft ihm seine Schuhe nach, wenn er läuft, so daß er glaubt, es wären die Nachthexen. Sodann kann das gnädige Fräulein ungesehen und tranquille zu sich hereingehen. Es ist ja bestimmt, daß sie in einiger Zeit auf einer Reise nach Pommern mitgehen soll. Dort kommt ihr der Kammerherr entgegen und heiratet sie in aller Stille. Seine Majestät werde ich hier zu Hause handhaben.

Dies Gottorpsche Unglück ... ich meine die Reichswitwe ... ein verschmitztes Weib ... die kann der Teufel selbst nicht regieren, aber ich habe gehört, daß man das feindliche, hochvornehme Geschlecht am Reduktionstisch abschätzt, und die werde ich schon genau daran zu erinnern wissen, was sie wert ist. Es tagen neue Zeiten. Ach, meine Kinder, meine Kinder, wenn ihr wüßtet, wie die Brust sich weitet, wenn man am Staatsruder steht und nach entlegenen Baken steuert, deren Namen man nicht einmal vor Seiner Königlichen Majestät zu nennen wagt. Aber verlaßt euch auf mein Wort. Hier, wo wir nun stehen, soll der Kammerherr seine Unsterblichkeit aufbauen.«

Verwirrt zog Tessin seine Hand an die Lippen, und als ich meinen Auftrag bei dem Kammerdiener ausgerichtet hatte, reichte er mir mit einer hochmütigen Grimasse die beiden Palmstruchschen Banknoten, die hier an der Wand sitzen. »Hier hat er seine versprochene Belohnung, wenn er schweigt,« sagte er.

Von da an aber begannen meine Visionen und Unglücke, und wenn ich krank zu Haus in meiner Kammer saß, wurden meine Krämpfe das Gespräch des ganzen Viertels ... Gicht, Brustkrankheit, Tabakbeklemmungen, ein unbeabsichtigter Schuß ins Bein ... ein Brummen im Schädel. Und als ich die palmstruchschen Scheine vorzeigte, die der ehrvergessene Schalk mir in die Rocktaschen gesteckt hatte, erfuhr ich, daß sie schon seit vielen Jahren unseres Herrgotts allen Wert verloren hatten. Erzählt nun das der Königlichen Majestät selbst!«

Ekeroth wollte noch mehr berichten, aber es klopfte heftig an der Tür, und ein Bote rief Haakon zum König, mit dem es schlimmer geworden war.

 

Einige Tage darauf, am zweiten Osterfeiertag, erzählte sich das Volk, daß der König in den letzten Zügen liege, aber Ekeroth nickte nur in der gewöhnten Weise, als hätte er alles voraus gewußt.

Eine Menge Knechte und Mägde, denen aus Hungersnot auf dem Lande aufgesagt worden war, standen obdachlos und verzweifelt im Schnee auf den Straßen, und Ekeroth ging von einem Trupp zum andern, mit den Händen in den Rockschößen, und horchte und nickte.

Des Nachts setzte er dann Prophezeiungsbriefe auf, die er dem Oberhofprediger Wallin einhändigte. Die Unglücklichen, schrieb er, gewöhnen sich daran, in die Finsternis zu schauen, so daß sie schließlich das erkennen können, was für die lichtgeblendeten Glücklichen dunkel und verborgen ist.

An einem windigen Apriltag, als er seinen letzten Prophezeiungsbrief unter Wallins Hausflurtüre geschoben hatte und in seine Kammer heimgekommen war, setzte er sich ans Fenster und plauderte mit dem Eichhörnchen.

Von Zeit zu Zeit kaute er an einigen gedörrten Birnen, die er aus einer Schublade hervorholte, während er gerade so saß, hörte er Glockenläuten und Lärm, und als er sich zum Fenster hinauslehnte, sah er das Schloßdach in gelben Rauch gehüllt. Er wandte sich in die Stube zurück und begann die Münzen von der Wand herunter zu nehmen und sie sorgfältig in seine Tasche zu zählen.

Zitternd und zähneklappernd, mit dem Eichhornkäfig unter dem einen und dem Zinnkrug unter dem andern Arm, stolperte er die Treppe hinunter bis auf die Straße.

Er stieß gegen die Mauern der Häuser, er stand und stierte nach dem Schloß hinauf, wo dröhnende Feuerstrahlen schon unter den morschen Sparren hervorsprühten. Bald flammten alle drei Flügel auf wie große Scheiterhaufen, und das donnergleiche Getöse des Brandes übertönte Glockenschläge und Trommelwirbel.

»Seht, seht!« sagte er, »die Nachthexen mußten ans Tageslicht! Seht, wie sie in langen Reihen die Dachfirste entlang springen mit Feuer in den Händen! Jetzt klettern sie auf das Turmdach hinauf und hüpfen über den neuen Tessinflügel, der ihr Treiben stört. Sie wollen sich selbst darin verbrennen. Dies ist nur der Anfang. Es wird alles brennen, alles!«

Soldaten und Kammerdiener drängten sich auf der Schloßbrücke zwischen Wassertonnen, wandernden Stühlen, Schränken und Gemälden; und unter den beiden Löwen, die das Wappenschild unter dem Torgewölbe hielten, trat Hedwig Eleonora, die Mutter der Karlherrscher, hervor. Zwei Hofherrn stützten sie und trugen sie beinahe, denn sie sank zusammen und wollte beständig stehen bleiben und zurückschauen. Der Wind hob ihre Mantilla hoch über das silbergraue Haar und schlug sie im nächsten Augenblick wie einen dunkeln Schleier über die verweinten Augen, die stolze Adlernase und die stark geschminkten Wangen.

»Die Bahre brennt unter der Leiche deines Sohnes!« rief Ekeroth und deutete hinauf. »Und der Thron brennt, auf den dein Enkel gestiegen ist; und ehe du deine Augen schließt, wird Asche sein ganzes Reich begraben, weißt du nicht mehr, daß er mit Blut an den Händen geboren wurde?«

Ängstlich bahnte er sich den Weg an den Hausmauern entlang um die Ecke herum nach Traangsund. Die Funken stiegen himmelan wie Sterne, und hinter der Kirchhofmauer sah man den mächtigen Schloßturm »Drei Kronen«, der sich ganze vier Stockwerke über die höchsten Dächer erhob.

Aus jedem Stockwerk, das das Feuer eroberte, wurde der Rauch durch die Luken gestoßen wie aus Kanonen. Das sind die Nachthexen, dachte er, die, während des Wasakönigs Burg verbrennt, Viktoria schießen.

Immer und immer wieder umhüllte der Rauch das alte Reichswappen auf der Turmspitze, und immer wieder schimmerten in schwindelnder Höhe die goldenen Kronen gleich drei auf ihren Schwingen ruhenden Sturmvögeln.

Die Glöckner in der Nikolaikirche kletterten die Stiege hinauf, um die große und kleine Glocke selbst zu läuten, aber als sie hörten, wie der Schloßturm mit seinen Gewölben donnernd zusammenkrachte und die Spitze wie das Wappen im Sturz mit sich riß, wendeten sie sich um und flohen.

Von Schauder erfaßt, begannen Kinder und Frauen zu schluchzen und davon zu laufen, und sie erzählten, daß sie am »Södertor« einen verrückten Mann gesehen hätten, der sich mit einem Eichhornkäfig und einem Zinnkrug unter den Armen davongeschlichen und halblaut einen alten Bußpsalm gesungen habe.

Eine Predigt

In »Storkyrkan« erhoben sich die Zuhörer von ihren Bänken und schauten nach dem Waffenhause hin, vor dem Karl XII. aus dem Wagen stieg.

Er war ein schöner, kräftiger, aber noch nicht ausgewachsener Knabe. Der federverbrämte Hut saß drollig klein oben auf der großen Perücke, und wenn ihn der König unter den Arm steckte, waren seine Gebärden ängstlich und gezwungen. Er ging trippelnd und ein wenig krumm in den Knieen, wie es Sitte war, und sein Auge war gesenkt. Sein Trauerkleid war kostbar, mit Hermelin an den Aufschlägen und Spitzen um die Handschuhe, und auf den mit hohen Absätzen unterlegten Korduanlederschuhen hatte er Schnallen und Bandrosetten.

Verwirrt durch die neugierigen Blicke, nahm er in dem königlichen Stuhl unter der von Genien getragenen goldenen Krone Platz. Er saß steif und gegen den Altar gewandt, vermochte aber nicht, die Gedanken auf die heilige Handlung zu richten. Als zum Schluß der Pfarrer auf die Kanzel stieg und mit einem Wortspiel und einem kräftigen Schlag auf das Lesepult eingedämpftes Murmeln erweckte, errötete er heftig und fühlte sich auf frischer Tat ertappt.

Bald jedoch wurden die Gedanken rebellisch wie zuvor und gingen ihre eigenen Wege, und um seine Verlegenheit zu verbergen, begann er die schwarzen Tupfen an dem Hermelin wegzuzupfen.

»Guck nur!« sagte eine Frau in einem der untersten Stühle. »Er bedürfte noch der väterlichen Rute. Hat ihn der Teufel in die Finger gebissen?«

»Das brauchst du zu sagen, alte Schnupfhexe, die sich viel weiter vorn eingeschmuggelt hat, als sie darf!« antwortete die Nachbarin und stieß sie kopfüber in den Gang hinaus.

Der Alte mit dem Stock, der unten an der Tür stand und das Amt hatte, umherzugehen und die Zuhörer in den Nacken zu stoßen, die einschliefen, klopfte auf den Fußboden und drohte mit der Hand, aber der Lärm drang bis zu den Adelsstühlen hinauf, so daß die hohen Herren die Köpfe umdrehten, und der Prediger schob sofort folgendes Wort ein:

»Die Eintracht, sagte ich, die christliche Eintracht! Wo säumt sie mit ihrer süßen Milchsuppe? Etwa im Volkshaufen? Halte sie fest! vielleicht im Hause Gottes oder rings um Seiner Königlichen Majestät eigene Person? Proste Mahlzeit, wer sie findet! Darum sag ich euch, ihr Fürsten der Erde, befleißigt euch der Eintracht und der Liebe, und hebet nicht das Schwert, das Gott in eure Hand gelegt hat, zur Zwietracht, sondern zum Schutz eurer Untertanen!«

Bei dieser Anspielung wurde der junge König wieder blutrot und lachte verlegen.

Auch Hedwig Eleonora, die Königin-Witwe in dem Königsstuhl gerade gegenüber, nickte lächelnd, aber am allermeisten lachten die jungen Prinzessinnen an ihrer Seite. Ulrika Eleonora saß wohl ziemlich steif, aber Hedwig Sofia streckte ihren schlanken langen Hals vor. Im frohen Bewußtsein, Handschuhe zu tragen, so daß die mißgebildeten Daumen nicht zum Vorschein kamen, hielt sie das Gebetbuch vor den Mund.

Der König wurde jetzt dreister und sah sich um. In welchem seltsamen Tempel des Herrn befand er sich heute! Die ganze Kirche war mit Möbeln und Kunstgegenständen überfüllt, die vom Schloßbrande gerettet waren. Nur der mittelste Gang war frei.

In der Ecke oben am Altar standen zusammengerollt die Bilder Ehrenstrahls von der Kreuzigung und dem Jüngsten Gericht, und weiter weg am Skytteschen Grab erkannte er die Federbüsche und die grünen Gardinen von dem Bett, in dem der Vater, auf der Bettkante sitzend und von Kissen gestützt, seinen Geist aufgegeben hatte.

Die Erinnerung daran regte ihn jedoch nicht auf, denn er hatte für den Vater kaum ein andres Gefühl als das der Angst gehabt. Er sah in ihm mehr den von Gott eingesetzten Stellvertreter als einen lieben Blutsverwandten, und in seinen Gedanken wie in seiner Rede nannte er ihn am liebsten nur: den alten König.

Wie zwei suchende Bienen irrten seine Blicke über die vielen wohlbekannten Gegenstände hin und weilten schließlich lange auf einem Wappenschild an der untersten Säule.

Da ruhte unter dem Boden seit einigen Jahren sein Lehrer Nordenhjelm, der herzensgute alte Norcopensis, an dem er mit kindlicher Hingebung gehangen hatte. Er erinnerte sich der frühen Lesestunden am Wintermorgen, wenn er saß und quatuor species rechnete und mit der Lichtschere an dem Docht herumstocherte, oder wenn Nordenhjelm ihm von den Helden Roms und Griechenlands erzählte.

Seit dem Tode des alten Königs wandelte er in einem Traum. Er begriff, daß er keine Heiterkeit zeigen durfte, daß Wehklagen das einzige war, was er auch von den anderen verlangen konnte, aber daß mancher insgeheim ziemlich gefaßt war und seine Gunst zu erlangen hoffte, indem er so unbemerkt wie möglich ihn bald mit diesem, bald mit jenem Streich zu vergnügen suchte.

Selbst die Exzellenz Piper konnte auf einmal die Tränen trocknen und ihn bitten, seinen Jugendspielen nicht zu entsagen, sondern eine Partie Federball zu spielen. Die düstern, ernsten Gesichter steckten ihn mitunter an, so daß ihm selbst die Tränen in die Augen kamen, aber aus den geheimsten Tiefen seiner Knabenseele stieg ein schwindelerregender, triumphierender Siegesrausch empor.

Die grimmigen, steifnackigen alten Herren, die er vorher gefürchtet und gemieden hatte, fand er plötzlich demütig und fügsam. Mitunter, wenn sie mit ihren kummervollsten Mienen an der Tafel saßen, hatte er ihnen aus Trotz Obstkerne ins Gesicht geschnellt, um sie mit einem Mal zum Lachen zu bringen, und sie hernach wieder weggehen und sich in den traurigen Kreis der Königin-Witwe stellen sehen.

Der Schloßbrand mit seinen Abenteuern und Gefahren war für ihn ein Tag der Neugierde und der Spannung gewesen. Es war sogar beinahe der lustigste Tag, den er im Leben noch gehabt hatte, obwohl er selbst nicht so zu denken wagte. Der Schrecken der anderen und die Ohnmachten der Großmutter hatten das wilde Schauspiel nur um so seltsamer und unerhörter gemacht.

Jetzt war alles Alte zu Ende. Der alte König war tot, und seine Burg lag in Asche. All das Neue, alles, wonach Schweden sich sehnte, sollte jetzt gleich einer Feuerflamme mit ihm in die Höhe steigen – – – und da saß er, einsam und vierzehnjährig!

Es schien ihm fast, als stünde Nordenhjelm auf der Kanzel hinter dem Redner und buchstabiere ihm die Worte vor. Nur einen Augenblick hatte der Pfarrer den Schellenstab der Narretei geschüttelt, um sich mit den Zuhörern vertraut zu machen. Sodann wendete er sich angesichts der ganzen Versammlung an den König, ernst, streng, ja befehlend.

Im Namen Gottes ermahnte er ihn, sich nicht von Ohrenbläsern und Schmeichlern zu Egoismus und Hochmut verleiten zu lassen, sondern opferwillig seine Taten dem opferwilligen schwedischen Volke zu weihen, auf daß er einstmals, wenn er in späten Jahren seine müden Augen schließe, von tausend Segenswünschen begleitet werde und in die Herrlichkeit Gottes eingehe.

Die Stimme der Wahrheit sang und donnerte durch das Kirchengewölbe, und der junge König war dem Weinen nahe, von neuem versuchte er seine Gedanken auf andere, gleichgültigere Dinge zu bringen, aber jedes Wort traf sein aufrichtiges Kinderherz, und er saß mit gebeugtem Haupte.

Es war für ihn eine Erlösung, als der Wagen ihn wieder nach Karlberg führte.

Dort schloß er sich in seine Zimmer ein, und nicht einmal der bestimmte Befehl der Königin-Witwe vermochte ihn, zur Tafel zu erscheinen.

Im Vorzimmer seines Schlafgemaches lagen die Bücher, die er in den immer seltener werdenden Lesestunden benutzte. Er philosophierte bereits gern über die Rätsel des Seins und berauschte sich allzeit an Kenntnissen, aber er begann die Bücher zu verachten, ungefähr wie ein munterer und lebenskecker Troubadour. Die zu oberst liegende Arbeit handelte von der Erdkunde, und er blätterte hin und her und warf sie schließlich beiseite. Dann zog er statt dessen aufs Geratewohl und heftig das unterste Buch hervor. Mit diesem blieb er sitzen.

Es war an den Ecken eingerissen und sehr abgenutzt, und es enthielt nur wenige beschriebene Blätter mit dem Abendgebet, das er als Kind hatte aufsagen lernen.

Mehrere Sätze und Worte waren schon seinem Gedächtnis entschwunden, aber als er jetzt die wohlbekannten Zeilen vor sich sah, brauchte er sie nur ein paarmal durchzulesen, um sie wieder auswendig zu können.

Am Abend verzehrte er nur eine Tasse Biersuppe, und die Bedienten begannen sodann, ihn zu entkleiden. Er verbarg seine heftige Gemütsbewegung so geschickt, daß sie ihn nur für müde hielten, und als sie ihm die Perücke von dem kurzgeschorenen, dunkelbraunen und etwas gewellten Haar hoben und er in seinem Hemd in das große Bett stieg, sah er aus wie ein kleines Mädchen.

Der Hund Pompe kroch zu seinen Füßen hinauf, und unten ans Bettende wurde ein angezündetes Licht in ein mit Wasser gefülltes, silbernes Waschgefäß gestellt.

Der König fürchtete sich im Dunkeln, und es war daher Brauch geworden, daß die Türe nach dem äußeren Zimmer offen gelassen wurde, und daß ein Page oder Spielkamerad die Nacht dort zubrachte, diesen Abend befahl jedoch der König mit Bestimmtheit, daß die Türe von jetzt ab geschlossen werden solle. Erst als die Diener dies hörten, begannen sie sich zu wundern und zu beunruhigen, und merkten, daß er in erregter Stimmung war.

»Ah bah!« brummte der alte Haakon, der treue Diener, der schon bei seinem Vater gedient hatte und eigensinnig fortfuhr, den König wie ein Kind zu behandeln. »Wozu soll das jetzt dienen?«

»Es bleibt bei dem, was ich gesagt habe,« antwortete der König. »Und von morgen an ist auch das Nachtlicht nicht mehr nötig.«

Die Diener verbeugten sich und gingen rückwärts aus dem Schlafgemach, aber als Haakon die Tür schloß, setzte er sich draußen auf die Schwelle. Er hörte, wie der König sich in seinem Bett hin und her drehte und warf, und als er sich schließlich zum Schlüsselloch emporreckte, sah er undeutlich beim Schein des Nachtlichtes, daß sein junger Herr aufrecht im Bett saß.

Der Nachtwind brauste und tobte draußen auf der Schloßterrasse und in den Linden des Karlberg-Parkes, aber drinnen im Hause war es schon still und ruhig.

Dennoch däuchte es Haakon zu seiner Verwunderung, als vernähme er eine gedämpfte, beinahe flüsternde Menschenstimme und sogar vereinzelte Worte. Er wurde aufmerksam und horchte.

Da hörte er, daß der König mit halblauter Stimme das Gebet hersagte, das er in seiner frühesten Kinderzeit hatte beten lernen.

»Lehre mich, daß ich mich selbst beherrsche, und daß ich nicht durch schmeichlerische Reden zu Übermut und Eigensinn verleitet werde und dadurch wider die Achtung fehle, die ich Gott und den Menschen schuldig bin.«

Der alte Haakon beugte die Kniee und faltete die Hände zum Gebet, und durch die Stille und das leise Rauschen des Windes hörte er immerfort des Königs Worte:

»Wiewohl ich Königssohn und Erbfürst eines mächtigen Reiches bin, will ich doch demütig allzeit eingedenk sein, daß dies eine besondere Gnade und Wohltat Gottes ist, weshalb ich mich aller christlichen Tugenden und Kenntnisse befleißigen muß, auf daß ich einer so hohen Berufung tauglich und würdig werden möge. Allmächtiger Gott, der du Könige einsetzest und entthronest, lehre mich allzeit deinem Gebot gehorchen, auf daß ich nicht zu eigenem Verderben oder zur Unterdrückung anderer die Macht gebrauche, die du mir verliehest. Um deines heiligen Namens willen. Amen.«

Der Thronerbe

Wie langweilig war es! wie die Tage lang wurden an dem kleinen Hofe, wo die in Trauer gekleideten Reichsräte in den Lehnsesseln gähnten und vor sich hinstierten, als ob sie darüber grübelten, wie es käme, daß sie gleiche Schuhe an beiden Füßen hatten und nicht Stulpenstiefel auf dem einen und Seidenschuhe auf dem anderen. Und dann gähnten sie wieder – und draußen auf der Treppe gähnten die Kammerdiener, und unten in der Küche versuchten die Küchenjungen mit dem Finger den Teig und sagten zueinander: »Ist er jetzt säuerlich genug, damit die hohen Herrschaften hinreichend saure Grimassen schneiden?«

Vor den schwarzen Karossen sattelten die Kutscher ihre Pferde, mit schwarzen Federn und Schleifen. Schwarze Stoffe wurden auf allen Tischen zugeschnitten oder genäht. In der Kirche zu Graamunkholm, wo der alte König beigesetzt worden war, hingen noch die schwarzen Baldachine und Tapeten, und das Königsgeläut war von der Stadt aus weit hinaus ins Land zu hören. Als schließlich der Krönungszug über die beschneiten Straßen daherschritt, gingen alle in Trauer, nur der junge König trug seinen Purpur.

Der Widerhall der letzten Freudensalven war kaum über die »Tyskbagarberge« hinweggerollt, als dieselbe unerträgliche Langeweile sich in den düstern Weihnachtstagen wieder am Tore niederließ.

An einem trüben Mittag stampfte der Küchenmeister der Königin auf den Boden. In den Händen hielt er eine Büchse mit eingemachten Tomaten.

»Ach du lieber ...! Heute gibt es was zu tun. Seine Durchlaucht, der Herzog von Holstein, der bald hier zu erwarten sein soll, hat da eine köstliche Gabe geschickt! Ihre Majestät und Fräulein Greta Wrangel haben schon die Früchte gekostet, und Tessin, der weitgereist ist, kommt selber herunter in die Küche, um uns beim Anrichten zu helfen. Steht nicht und gafft, ihr Jungen! Mit den Lumpen an die Kasserollen! Putzt und reibt!«

Der kleine abgelegene Hof im äußersten Winkel der Welt hatte an diesem Tage etwas zu denken bekommen. Bei der Tafel wurde von nichts anderm als von den Tomaten gesprochen, und jeder hatte etwas über ihren Geruch und Geschmack zu sagen. Währenddessen wurde pokuliert, und die eingeladenen alten Reichsräte vergaßen ihre Launen und sagten einander drollige Liebenswürdigkeiten.

Nach der Mahlzeit faßte der König Reichsrat Lars Wallenstedt am Rockknopf und führte ihn wie einen pustenden, umstellten Bären in die Fensternische.

»Sage mir,« fragte der König ernst, »wie soll ein Fürst sich für sein Volk opfern? Jene Predigt im letzten Frühjahr geht mir nie aus dem Sinn.«

Wallenstedt hatte die Gewohnheit, wenn er redete, die Lippen aufzublasen, als ob er zu sagen dächte: Puh! An die frühreifen scharfsinnigen Fragen des Königs gewöhnt, antwortete er: »Ein Fürst soll alle kleinen Bedenklichkeiten opfern, alle Mächte um sich sammeln und seines Volkes Urbild und Wille werden. Wohl war es eine fromme Rede, die wir damals in der Kirche hörten; aber sagte nicht Seine Hochwürden Spegel, daß die Untertanen wie die Sklaven ihres Herrn sein sollen? Die Ratsherren und der Adel streiten jetzt nach dem Tode Eurer Majestät hochseligen Herrn Vaters nur um ihren Anteil an der Macht. Und Oxenstjerna und Gyllenstjerna und ... Na, – – – man horcht! Aber deshalb habe ich mich erdreistet, Euer Majestät Willen zu unterstützen, schon bei so jungen Jahren die schwere Regierungslast von den Schultern Ihrer Majestät der Königin-Witwe zu nehmen.«

Als Cronhjelm, der Lehrer des Königs, der in der Fensternische stand, die Worte von der Regierungslast hörte, schrieb er mit dem Finger an das angelaufene Fenster: Das Joch dünkte der Alten ebenso schön wie die Fontange.

»Ja, ja, lieber Wallenstedt,« antwortete indessen der König. »In mir habe ich auch allzeit gefühlt, daß mein Wille dazu mahnte. Auf Atlands Throne muß ein Mann sitzen. Das wollen ist ein wunderlich peinigendes Ding, was ist es? Heute fühlte ich, daß ich nach Kungsör reiten und Bären jagen will. Aber warum? Ich könnte ja gerade so gut etwas anderes wollen? Der Wille ist mir eine Fessel, eine fest um die Brust gezogene Kette, aus der ich mich nicht losringen kann. Sie ist der Herr, und ich bin der Knecht.«

Die Wachslichter waren schon angesteckt, als er in sein Wohngemach trat.

Auf dem Tisch stand der versiegelte eiserne Schrein, in den der alte König seine letzten geheimen und väterlichen Ratschläge niedergelegt hatte. Mehrere Tage waren verflossen, seitdem die verabschiedeten Reichsvormünder ihn aus ihren Händen gegeben hatten, aber er hatte sich nicht dazu entschließen können, sie zu öffnen. Wohl hatte er eines Nachts das Siegel heftig aufgerissen, dann aber von neuem geschaudert. Jetzt, heute Abend fühlte er, daß der Wille gekommen war.

Als er aber den Schlüssel in das rasselnde Eisen steckte, überfiel ihn wieder die alte Angst vor der Dunkelheit. Er sah des alten Königs zinnernen Sarg vor sich, der neulich seine Schaufeln Erde bekommen hatte, und es war ihm, als ob er jetzt Auge in Auge mit dem Toten stehen solle. Er rief Haakon herein und bat ihn, Holz in den Kamin zu tun. Unterdessen drehte er den Schlüssel um und schlug den Deckel zurück und wickelte mit eisigem Schauder das dicht beschriebene Papier auf.

»Nimm die Macht in eigene Hand,« stand da, »und hüte dich vor den großen Herren, die um dich sind, und von denen viele französische Mägen haben. Die am eifrigsten tuscheln, trachten nur nach eigenem Gewinn, und die besten stehen oft schweigend an ihrem Gartenbeet.«

Als er die ängstlichen und mißtrauischen Warnungen des Entschlafenen zu Ende gelesen, merkte er nicht, daß Haakon die Kammer bereits verlassen hatte.

Nun war er Herr über ganz Schwedenland! Die hohen Herren hatten sich vor seine Tür gedrängt, um ihn als mündig erklären zu dürfen. Wußten sie selbst, wann ihre Worte der Hoffnung auf Gnadenbeweise, wann sie rein ehrlicher Absicht entsprängen? Liebten sie ihn denn nicht mehr als den eigenen Sohn oder Bruder! Aber dennoch konnte er nicht vertraulich mit diesen Greisen reden, die ihre Worte wägten und überlegten. Und konnte er vertraulich mit seinen Altersgenossen, einem Haufen ängstlich höflicher Spielbrüder, reden, die nichts von den Geschäften des Tages kannten? Einsam ging er wie zuvor, und einsam wollte er das Zepter des alten Königs emporhalten. Nichts dürfte ihm über Schweden stehen, und von allen Königen Schwedens wollte er der größte und beste werden. Hatte er nicht aus den Händen des allmächtigen Gottes ein Zeichen dafür empfangen, da er schon so jung zum Fürsten erhoben ward, die vielen Jahre eines langen Lebens vor Augen? Das Alte, was sich den Zorn Gottes zugezogen hatte, war jetzt vorbei. Es sang in der Höhe, es jubelte von Trommeln und Trompeten. Er stand auf, und die Hand sank mit einem leichten Schlag gegen die Tischkante. Piper hatte recht. Piper hatte gesagt, Schweden sei ein großes Reich mit einem kleinstädtischen Hof am Ende der Welt. Damit sollte es ein Ende haben. Er hatte sich die Krone selbst aufs Haupt gesetzt und war mit ihr nach der Kirche geritten. Hatte er sie nicht schon von Gott in seiner Geburtsstunde empfangen, an jenem Junimorgen, da der helle Stern, das Löwenherz, sich über den östlichen Horizont erhob! Die Teppiche auf der Straße, in die die Hufeisen Löcher geschlagen, hatte er den Hauern geschenkt, daß sie sich damit schmückten, der Adel aber hatte zu Fuß gehen müssen, und die Ratsherren selber hatten die Baldachine getragen und ihn an der Tafel wie Lakaien bedient, warum sollte er heucheln, warum sollte er den Männern Ehre erweisen, die er nicht in seinem Innern ehrte? Hatte er denn überhaupt ein Manifest gegeben! Die Stände, aber nicht er, hatten zu schwören. Seinen Königseid hatte er im stillen nur Gott geschworen, als er vorm Altar stand. Jetzt war er Herr über ganz Schwedenland! Er ging an den Wandspiegel und prüfte zufrieden die kleinen Pockennarben in seiner Mädchenhaut und drückte mit den Fingern die Stirn in tiefe Falten. Darauf zeigte er in die Luft, setzte sich rittlings auf einen Stuhl und galoppierte durchs Zimmer.

»Vorwärts, ihr Jungen, vorwärts für euren König! Hopp, Brillant, hopp, hopp!« Er bildete sich ein, daß er über eine Wiese gegen den Feind reite und Hunderte von Kugeln gegen seine Brust schlügen, aber plattgedrückt ins Gras fielen. Rings auf den Höhen standen noch die Zuschauer, und in der Ferne kam selbst der König von Frankreich auf einem weißen Pferd und schwenkte den Hut.

Im Saale darunter standen noch die alten Großherren im Gespräch. Als sie den Lärm hörten, schwiegen sie einen Augenblick und horchten auf, Cronhjelm aber zeichnete am angelaufenen Fenster und brummte halblaut:

»Es ist nur Seine Majestät, die mit Regierungsangelegenheiten beschäftigt ist. Er denkt an die Gnadenbeweise für uns bei der Mündigsprechung.«

Wallenstedt blies die Lippen auf und gab ihm einen wütenden Blick. Als der König rund um das ganze Wohngemach galoppiert war, fiel ihm plötzlich etwas ein, und er ging zur Tür:

»Klinkowström!« rief er, »Klinkowström, kannst du mir sagen, weshalb ich gerade jetzt solch eine Lust bekommen habe, zur Bärenjagd nach Kungsör zu reiten?«

Klinkowström, ein muntrer Page mit roten Backen und lockrer Zunge, antwortete: »Weil es pechdunkel und ein vermaledeites Wetter, weil kein Bär aufgetrieben und somit die Jagd unmöglich ist. Soll ich wegen der Pferde und Fackelreiter Befehl geben?«

»Hast du irgendeinen besseren Vorschlag?«

»Alle anderen Vorschläge sind besser, aber ...«

»Nein, du hast recht. Wir müssen nach Kungsör reiten, gerade weil es unmöglich scheint und weil wir es wollen.«

Als nun der König eine Stunde später die Königinstraße hinaufritt, kam er dicht an einem Garten vorbei, der sich hinunter nach dem Friedhof der heiligen Klara erstreckte, bis zu einem gelb bemalten Haus. Eine alte Witwe, die Mutter Malin genannt, hielt da eine Herberge. Der Garten war mit einem Bretterzaun eingehegt, auf den die Schloßbaugesellen, wenn sie im Sommer ihren Becher bei Mutter Malin leerten, Triumphbogen und Obelisken und tanzende Italiener gemalt hatten. In der einen Ecke lag ein Gartenhäuschen mit Herd und Schornstein und mit einem Fenster nach der Königinstraße; das andere ging nach den Pflaumenbäumen und den beschneiten Blumenbeeten. Seit einigen Wochen hatte Mutter Malin täglich Essen nach dem Gartenhause getragen, aber keiner von ihren alten Kunden wußte mit Bestimmtheit etwas über den Gast, den sie da drinnen beherbergte. Auf einer Versteigerung in einer adeligen Familie, die von der Reduktion zu Boden gedrückt war, hatte sie für ihren Gast ein Klavier erstanden, und abends hörte man hinter den geschlossenen Läden fremde Melodieen spielen, von einer spröden, schwachen Stimme begleitet.

Als nun die Fackelträger des Königs nahten, stand gerade Mutter Malin an einer Ritze im Bretterzaun und guckte auf die finstere Straße hinaus.

»Er ist es selbst!« rief sie und pochte an die Gartenhaustür. »Der König kommt. Mach das Licht aus und guck durch das Herz im Fensterladen.«

Im gleichen Augenblick jagte der König im wilden Galopp vorbei.

»Wie schön er um die Wangen ist, der gnädige, junge Herr!« sagte sie und ging zurück nach der Herberge. »Und rein und heilig ist ja sein Leben. Aber warum mußte er Gott versuchen und mit eigenen Händen die Krone auf den Kopf setzen? Deshalb glitt sie ihm auch unterwegs vom Kopfe herab, und in der Kirche kollerte das Salbungshorn zu Boden.«

So verstrich die Nacht und ein Monat nach dem anderen, und in dem Garten grünten wieder die Kastanien und die Pflaumenbäume hinter Berberitz- und Johannisbeersträuchern, der Maibaum wurde aufgepflanzt, und der Hof zog vorbei nach Karberg

Neben dem König saß der Herzog von Holstein, der gekommen war, um dessen Schwester, die Prinzessin Hedwig Sofia, zu ehelichen und der unerträglichen Langeweile ein Ende zu machen. Als er am Gartenhaus vorbeizog, warf er zufällig einen Blick durch das weit offenstehende Fenster.

Am Abend kam ein Mann mit aufgestülptem Kragen und pochte behutsam an der Herberge, aber Mutter Malin betrachtete ihn mißtrauisch. – »Geh Er zum Teufel mit Seinem Kragen!« sagte sie.

Er lachte laut auf und sprach gebrochenes Schwedisch:

»Ich liege hier auf einer der deutschen Galeeren und will nur einen Schoppen Beerensaft bei dir haben! Schnell!«

Er steckte ihr einige Münzen in die Hand und puffte sie zur Seite, und sie war nahe daran, ihm einen Hieb zu versetzen, als sie aber die Silberstücke zählte, überlegte sie sich's. Sie stellte den Schoppen Saft auf die Erdbank im Hof und setzte sich selbst hinter einige der halbgeschlossenen Fensterläden, um den neuen Runden im Auge zu behalten. Er nippte ein wenig an dem Saft und zeichnete mit dem Absatz in den Sand und blickte sich um. Als er eine Weile so gesessen hatte und sich unbemerkt glaubte, stand er auf und schlug den Kragen nieder. Es war ein junger, schöner Herr von kühnem, munterem Aussehen, und langsam beschritt er den Gang.

»So eine Erzkanaille!« brummte Mutter Malin. – »Ich glaube, er stellt sich hin und poltert an die Gartenhaustür!«

Da die Tür verschlossen blieb, wich er einige Schritte zur Seite ans offene Fenster und schob ritterlicherweise den Hut unter den Arm. Danach setzte er sich aufs Fensterbrett und sprach leise und eifrig.

Da riß Mutter Malin die Geduld, und sie kam heraus. Sie betrat den Gang, drehte ein Garnende um die Finger und hielt den Kopf argwöhnisch gebeugt. Derweile grübelte sie über die Grobheiten, die sie sagen wollte. Aber als sie ein kleines Stückchen gegangen war, flog der junge Herr aus der Berberitzenhecke hervor und schrie im wildesten Zorn:

»Ja, altes Weib, marsch! Ich bin der Herzog von Holstein. Aber nie ein Wort davon!«

Mutter Malin war so verblüfft, daß sie sich nur nach allen Seiten drehte und sich auf die Kniee schlug. Noch als sie ins Haus zurückkam, schlug sie sich auf die Kniee und konnte nicht fassen, daß gerade sie in ihrer geringen Hütte so etwas Großes und Seltsames erleben sollte.

Hiernach geschah es oft an hellen Sommerabenden, wenn kein Windhauch in den Kastanien wehte, daß der Herzog nach dem Garten kam. Die Gartenhaustür wurde niemals geöffnet, wie zart er auch zu klopfen wußte, aber er saß auf dem Fensterbrett, und Mutter Malin, die dann und wann einen blanken Dukaten in die Rocktasche gesteckt bekam, tischte Wein und Saft auf und einmal sogar Rosinenkuchen, auf den sie mit Eiweiß geschrieben hatte: Prinzen Deinesgleichen gibt's in keinen Reichen.

Gerade diesen Abend blieb der Herzog länger als sonst, und aus dem Gartenhäuschen tönte das Klavier. Als er schließlich aufstand, um zu gehen, sagte er: »Macht, Macht! Nun ja, danach rufen alle, warum solltest du allein schweigen? Kannst du was dafür, daß dein Vater seinen letzten Sovereign verspielte! Ade, ade! verfehlst du den Löwen, so versprich, daß du hiernach dem Wolfe die Tür offen hältst!«

Der Herzog stand vor dem Fenster. Alles war lautlos und still, denn unten in der Herberge waren alle schon zu Bett.

»Du antwortest nicht,« fuhr er fort. »Ist das Bescheidenheit? Antworte mit einem Zeichen! Am Schlag auf dem Klavier bedeutet ›ja‹, aber schnippst du mit den kleinen Fingerspitzen, so bedeutet es ›nein‹, unwiderruflich ›nein‹.«

Zögernd ging er den Gang hinunter. Der Nachthimmel war hell und der Boden ohne Schatten, und er tastete in einem Stachelbeerstrauch, ohne irgendeine Frucht zu finden. Da klang leise ein Akkord vom Klavier.

Er drückte den Hut auf den Kopf, schlug den Mantel um sich und eilte mit muntern Schritten aus dem Garten hinaus.

Seit der Nacht wartete Mutter Malin vergebens in der Dämmerung, um dem hohen Herrn das Tor zu öffnen. In ihrem Unmut begann sie schließlich aus der Rocktasche die Dukaten heraufzuholen und zu zählen, und sie fluchte sich selbst, weil sie es nicht rechtzeitig verstanden hatte, noch mehr davon herauszulocken.

Nun war unterdessen eines Abends eine Barbierwitwe auf dem Friedhof der heiligen Klara beerdigt worden, und nachdem die letzten Fackelträger gegangen waren, blieben zwei Gesellen zurück, um Wache zu halten. Sie saßen auf den Brettern am Grabe und sprachen schlecht über das Trauerhaus.

»Strafe müßte sie zahlen! Die alte Schachtel lag im Sarg in einer Mütze aus Kammertuch mit langen Florbändern, gerade wie eine Adlige. Gewürze und Eingemachtes standen auf dem Tisch, aber uns haben sie nicht einmal einen Schoppen Dünnbier hergeschickt.«

»Ich sehe über die Mauer, daß es aus dem Herzen der Fensterläden bei Mutter Malin leuchtet. Wenn wir dahingingen und anklopften?«

Sie gingen hinaus auf die Straße, an das gelbe Holzhaus heran und pochten an das Blech.

Mutter Malin öffnete die eine Luke ein klein wenig.

»Ihr kommt gerade zu rechter Zeit, ihr Buben,« sagte sie, als sie die Gesellen erkannte. »Für Traktamente hat jetzt keiner Zeit, aber ein hübsches Stück Geld könnt ihr euch verdienen.«

Sie schob den Laden höher und sprach noch leiser:

»Hier habt ihr jeder einen Karolin. Ja, dreht ihn nur rund um, ihr Lausbuben, der hält's schon aus. Hier drinnen steht ein königlicher Page, der bald zu euch kommt. Beim Morgengrauen pflegen die Nachtvögel vom Hofe hier vorbeizureiten. Da macht ihr, als ob ihr den jungen Herrn umwerfen und prügeln wolltet, hernach nehmt ihr Reißaus. Das ist das Ganze.«

»Meinetwegen,« sagten die Gesellen und fingerten an den Münzen, »das Schlimmste wird sein, nicht im Eifer so darauf los zu hauen, daß es beißt.«

Sie kehrten zur Friedhofspforte zurück und warteten, und sie hörten Mutter Malin oben in der Kammer mit dem Pagen tuscheln.

Die Zeit wurde lang. Ein Stern funkelte in der Sommernacht über dem Leichenhause, der Nachtwächter rief auf dem »Brunkeberg«, und der Tag war nahe. Da knarrte und ächzte es auf Mutter Malins Treppe, und der Page, der mit den Knieen etwas einwärts ging und seine Rockknöpfe ordnete, kam zu den Gesellen herunter.

In einer Quergasse der Königinstraße hörte man Lärm und Pferdegetrappel. Zuvorderst ritt Klinkowström, der so betrunken war, daß er sich an der Mähne festhalten mußte. Hinter ihm waren der König und der Herzog von Holstein und etwa zehn Reiter sichtbar. Alle hatten den Degen in der Hand, und alle außer dem König waren im bloßen Hemd. Er war toll vor Trunkenheit und stieß mit dem Degen die Fensterscheiben ein, hob die Schilder ab und hieb auf die Holztüren ein. Jetzt gab es in der ganzen, weiten Welt keinen, dem er gehorchen mußte! Nun konnte er machen, was er wollte, was ihm nur einfiel, und niemand würde ein einziges Wort des Vorwurfs haben. Man sollte es nur wagen! Beim Abendessen hatte er die Schüsseln aus den Händen der Pagen geschlagen und die Croquantplätzchen auf die Anzüge der Kameraden geworfen, so daß sie wie von Schneebällen weiße Tupfen hatten. Jetzt war das Alte, Unerträgliche vorbei, die Greise konnten ja nach Belieben gähnen und sich bei ihren Schnupftabaksbüchsen räuspern. Sie hatten doch weiter nichts mehr zu bestellen als Narren zu sein. Dem Jugendmut und der Freude weihte er sein altes Bärenreich. Ganz Europa sollte staunen! Jetzt war er Herr über ganz Schwedenland! Inzwischen hatte sich der unbekannte Page an der Friedhofspforte auf den Boden gelegt, und die Gesellen kniffen und hieben nach Herzenslust und griffen ihm nach der Kehle.

»Wer da?« rief der König und setzte den Gesellen nach, die gleich zwischen Grabsteinen und Kreuzen dahinflohen. Er war ihnen dicht auf den Fersen und stach den einen mehrere Male in den linken Arm, so daß das Blut tropfte. Schließlich hoben sie zur Gegenwehr eine der Planken vom halbgedeckten Grab der Barbierwitwe. Da drehte der König lachend um und ritt zur Pforte zurück.

»Einer der Unsrigen? Was?« fragte er den Unbekannten, der wieder aufgestanden war. »Bist du so betrunken, daß du nicht einmal unsere Losung kennst: Schnupftabak auf die Perücken! Schadet nichts. Sitz auf bei unserm Freund Klinckan und halt ihn fest auf seinem Wallach, vorwärts!«

Singend und schreiend jagte die hemdbekleidete Schar weiter, Straßen und Hügel bergauf, und sie winkten und drehten den verschlafenen Menschen, die an die Türen kamen, eine Nase. Als die Scheiben beim Oberstmarschall Stenbock klirrten, ging der hochwürdige Alte selbst im Schlafrock ans Fenster und begann, sich verbeugend, darüber zu klagen, wie er schließlich dazu gezwungen werde, aus dem Reich zu fliehen. Aber der König riß ihm die Perücke ab und hieb sie mit dem Degen in zwei Stücke. »Das nenne ich leben!« rief der Herzog von Holstein. »Die Hüte in die Luft! Hebt euch in den Steigbügeln und pissiliert über die Pferdeköpfe hinweg! So ist's recht! Der Teufel hol' euch! Vivat Carolus rex succorum et scandalorum!«

Die Hemden blähten sich auf, die Hüte, die Perücken und die Handschuhe lagen auf der Straße, die Hufeisen sprühten Feuer, und die Pferde rasten dahin wie der Blitz.

Als die wilden Reiter zum Schloß zurückkamen, sprangen sie aus dem Sattel und ließen die Pferde laufen, wie sie Lust hatten. Oben auf der Treppe brachen sie den Leuchter entzwei und feuerten Pistolenschüsse auf eine Marmorvenus ab. »Vorwärts!« rief der König und stürmte mit seinem ganzen Gefolge in die Schloßkapelle hinein und hieb auf die Bänke los. Hier sollen sie mir am Sonntag Splitter in die Hosen bekommen!«

Der Herzog stieß auf den Boden und gebot Schweigen, und Klinckowström, der sich zum Würfeln auf die Altarbrüstung gesetzt hatte, hielt sich den Mund, um schweigen zu können.

»Liebe Zuhörer!« begann der Herzog. »Nichts würde dieses ernste Fest feierlicher machen, als wenn mein hoher und vielgeliebter Schwager in dieser Morgenstunde uns, seinen getreuen Dienern, einen Wink über die Wahl seines Herzens geben wollte. Laßt uns von den Freierinnen reden! Laßt uns an das Frauenzimmer von Bewern denken, das sich bis hier herauf rütteln ließ mit ihrem Mütterchen, obwohl nach dem Schloßbrand kaum Logement zu haben war. Uhu! sagt der Uhu. Nur acht kleine tulpenrote Sommer älter als Eure Majestät. Oder an die Prinzessin von Württemberg, die ihre Neigung schon dadurch zeigte, daß sie um Eurer Majestät hochseligen Herrn Vater warb, und die brustkrank ist. Nicht husten bei der Trauung! Oder an die Fürstin von Mecklenburg-Grabow, die, wie man sagt, auch mit ihrer Mutter im Reisewagen herbeieilt. Oder an die preußische Prinzessin, die nur so zwei ganz kleine Zuckerkörnchen-Jahre älter ist als die dänische Prinzessin, das tutelitukleine Goldvögelchen, das nur fünf kleine rosige Jahre älter ist. Alle sind sie ja daran, zu freien und ihre Konterfeis aufzufrischen und zu verschönen, sintemalen ihre Liebe ihnen schwere Qualen bereitet.«

Der König wurde verlegen und antwortete:

»Habe ich nicht immer gesagt, daß man vorm vierzigsten Jahre wohl nicht ans Heiraten zu denken braucht.«

Als der Herzog seine Verlegenheit merkte, blinzelte er mit dem Auge dem Pagen der Herberge zu und stieß wiederum auf den Boden.

»Wohlan! Der Schweden Majestät will seine gloire und die Liebe seiner Untertanen nicht mit anderen als mit Mannesmut und Freude teilen. Schnupftabak auf die Perücken! Wäre ich der Schweden Fürst, ich würde den Greisen einen Schrecken versetzen, indem ich auch die schönsten Jungfrauen und Dirnen zu meinen Gelagen beföhle. Potzausend! Sie müßten vor uns im Sattel sitzen und mit uns sein, bis der Hahn zum dritten Male krähte. Nein, ich kann nicht länger reden. Stemmt das Knie gegen die Bänke. Zerhaut und zerhackt! zerknickt und zerknackt! Stampft in den Boden! Herr Gott, bringt Wasser! Der König ist krank. Wasser oder Wein, nur Wein – Wein!«

Der König war blaß geworden und fuhr mit der Hand über die Stirn. Es machte ihm nichts, daß die anderen rot waren und wackelten. Im Grunde genommen liebte er vielleicht innerlich keinen von ihnen, was hatte das zu sagen, wenn sie sich gegenseitig betrunken nannten, nur sollte man niemals so etwas von ihm sagen dürfen, dem von Gott Erkorenen.

»Jetzt ist es genug, ihr Jungen!« sagte er und versuchte den Degen in die Scheide zu stecken, dann merkte er aber, daß er diese verloren hatte. Daher steckte er statt dessen die Waffe ruhig quer durch den Rockschoß und ging mit bestimmten Schritten der Tür zu.

Der Herzog kniff den unbekannten Pagen in den Arm und flüsterte und machte ein Zeichen mit der Hand. Der Page eilte sogleich dem König nach, öffnete ihm die Tür und folgte ihm die Treppe hinauf.

Ob ich wohl je wieder Wein kosten soll, – dachte der König. – Ich würde es nicht ertragen können, wenn man erzählte, daß ich mit der Zunge gelallt und die Pagen umarmt hätte. Weshalb würde ich dann wohl mehr geachtet werden als sie? Und der Wein schmeckt nicht so viel besser als Dünnbier. Es kommt auf die Gewohnheit an. Ein braver Weiser trinkt Wasser.

Sie gingen durch Treppen und Gänge und kamen schließlich zu seinem Schlafgemach. Hier warteten schon Wallenstedt und ein paar andere Herren. Wallenstedt blies seine Lippen auf.

»Um sechs Uhr morgens pflegt die Zeit zu sein,« begann er, »da wir Regierungsgeschäfte vortragen.«

»Wenn es Kriminalsachen gilt, ja,« antwortet der König, »aber sonst will ich keine Ratschläge bekommen, sondern tue und beschließe, wie mir recht scheint.«

Er griff nicht nach der Feuergabel wie sein Vater. Er war auf seine Würde ebenso wachsam bedacht wie eine edelgeborene Jungfrau auf höfische Sitte. Lächelnd und sich verbeugend, ging er gerade auf die Herren zu, so daß sie, rückwärts gehend, die Kammer verlassen mußten.

»Das ist unser Lohn dafür, daß wir ein Kind auf den Thron setzten,« bliesen sie schadenfroh Wallenstedt in die Ohren.

Der Page hatte inzwischen die Tür mit einem demütigenden Knall hinter ihnen zugeworfen. Dies gefiel dem König. Er stand an den Giebel des Himmelbetts angelehnt, neben dem Schrein, in dem der Vater Juwelen und Kostbarkeiten aller Art gesammelt hatte, und der jetzt aus dem Schatzgewölbe »der Elefant« heraufgeholt worden war.

»Wie heißt du?« fragte er den Pagen. – »Warum gibst du keine Antwort?«

Der Page atmete heftig und zottelte und zupfte an seiner Kleidung.

»Na, so antworte doch, Junge! Du weißt doch deinen eigenen Namen. Du drehst mir ja beinahe den Rücken, so daß ich dich nicht sehen kann.« Jetzt trat der Page in die Mitte der Kammer und hob die Perücke vom Kopf, warf sie auf den Nachttisch und antwortete:

»Ich heiße Rhoda ... Rhoda d'Elleville.« –

Der König sah, daß sie ein ganz junges Weib war, mit schwarzgepinselten Augenbrauen, das gelbe Haar war lockig und mit einer Zange gekräuselt, und eine leichte Schatten werfende Falte zitterte um ihren Mund.

Sie stürzte hervor und warf die Arme um seinen Hals und küßte heftig seine linke Wange.

Zum ersten Male entwich dem Sechzehnjährigen die Selbstbeherrschung. Es flammte vor seinen Augen, die Backen wurden grauweiß, und die Hände hingen willenlos. Er sah nur, daß der Pagenrock über der Brust offen war, so daß die Spitzen heraushingen. Sie hielt ihn noch fest in ihren Armen und drückte einen langen Kuß auf seinen Mund.

Er beantwortete ihn weder, noch wehrte er sich. Erst allmählich hob er die Hände und nahm ihre Arme wie einen Ring über seinen Kopf zurück. Danach ging er stotternd und sich tief und zierlich verbeugend zur Seite.

»Pardon, Mademoiselle!« – Er scharrte mit dem Fuß und schlug die Hacken zusammen und verbeugte sich bei jedem Schritt und ging weiter und weiter weg. – »Pardon, Mademoiselle, pardon!«

Wie genau hatte sie sich nicht vorher jedes Wort einstudiert, das sie ihm sagen wollte. Jetzt aber erinnerte sie sich an nichts. Sie redete ins Blaue hinein, ohne selbst zu wissen, was sie sagte.

»Gnade, Sire! Der liebe Gott ist excusiert, wenn er eine Vermessenheit wie die meine bestraft!«

Sie fiel auf ihre Kniee.

»Ich habe Sie à cheval gesehen, Sire – – – ich habe Sie von meinem Fenster aus gesehen. En rèvant habe ich Sie gesehen, ehe ich den langen Weg hier herauf antrat, als meinen héros, meinen Alexander!«

Er ging sofort auf sie zu und faßte sie unter dem Ellbogen und führte sie etwas altklug chevaleresk an einen Stuhl.

»Nicht so, nicht so! Sitzen, sitzen!«

Sie hielt seine Hand fest und runzelte die Stirn ein wenig und sah ihm klar in die Augen – – – und dann brach sie in ein klingendes, erleichtertes Lachen aus. »Na, Sie sind doch Mensch, Sire. Nicht eine Spur von Prediger. Sie sind von den Schweden, die ich getroffen habe, der erste, der versteht, daß die Jugend die Augen nach innen hat und nicht böswillig nach anderen schielt. Ihre Günstlinge trinken und würfeln und machen den Frauenzimmern ihre Aufwartung, ohne daß Sie etwas darüber sagen. Sie beachten es ja kaum. Lassen Sie uns von der Tugend reden, Sire.«

Ihre Parfüms, der Geruch ihres Haares, des Weibes ekelte ihn so heftig an, daß er nahe daran war, sich übel zu fühlen. Die Berührung ihrer warmen Hand ekelte ihn wie das Anstreifen an eine Ratte oder eine Leiche. Er kam sich beleidigt und gekränkt vor, sowohl als einsamer von Gott erkorener König wie als Mensch, dadurch, daß ein Fremder seine Kleider, sein Gesicht und seine Hände berührte. Ein anderer, sei es auch ein Weib, hatte ihn ergriffen wie eine Beute, wie einen eroberten Gefangenen, wer ihn anrührte, wurde ihm gleich zum Feind, mit dem er am liebsten gefochten, den er zur Strafe für die Majestätsbeleidigung zu Boden gestreckt hätte.

»Als ich noch ein Kind war,« fuhr sie fort, »verliebte sich mein Beichtvater in mich. Er rang die Hände und stritt mit sich selbst und plapperte Gebete, und ich spielte mit dem Narren und hielt ihn zum besten. Sire, wie anders sind Sie gegen ihn! Sie streiten niemals mit sich selbst. Sie sind einfach gleichgültig, Sire. Das ist das Ganze. Die Tugend ist bei Ihnen angeboren, so daß ich kaum weiß (sie lachte spielend), ob ich es überhaupt Tugend nennen soll.«

Er versuchte seine Hand freizumachen und wendete mehr und mehr Kraft an. Wie viel hatten nicht während der letzten Wochen der Herzog und die Pagen und die Kammerdiener ihm in die Ohren getutet von Freierinnen und schönen Mamsellen. War auch jetzt dieses Spiel hinter seinem Rücken? Konnte er denn gar keinen Frieden finden?

»Pardon, Mademoiselle!«

»Ich weiß, Sire, daß Sie ganze Stunden dasitzen und in den Tessinschen Kupferstichen blättern können, und daß Sie besonders Darstellungen mit hochgewachsenen Jungfrauen betrachten. Es ist vielleicht nur der estime für die Künste, den Sie von Ihrer Frau Großmutter geerbt haben, aber werden Sie immer so bleiben? Ich bin keine tote Darstellung, Sire.«

Während er sich immerfort verbeugte, riß er sich jetzt mit solcher Heftigkeit los, daß er gleichzeitig Rhoda d'Elville vom Stuhle riß.

»Nein, Sie sind ein lebendiger Page, Mademoiselle, und dem Pagen befehle ich in die Schloßkirche hinunter zu gehen und die Kameraden in das östliche Wohngemach zu schicken«

Sie sah mit einem Male, daß das Spiel hoffnungslos verloren war, und der schattende Zug um den Mund wurde tiefer und müder.

»Der Page hat zu gehorchen,« antwortete sie.

Als der König allein war, wurde er wieder ruhig. Nur dann und wann durchflammte seine Gedanken ein Flimmern des Grames. Das unerwartete Abenteuer hatte den Weindunst aus seinem Kopf gejagt, und er wollte nach den Begebnissen der Nacht nicht wie ein Weichling zur Ruhe gehen, sondern die Nacht durchwachen.

Er warf den Rock ab. In Hemdsärmeln, den Degen in der Hand, ging er zu den Kameraden in das östliche Wohngemach.

Es war mit getrocknetem Blut überspritzt. Die Dielen am Fußende waren braun von Blutlachen durchtränkt, und an den Porträts der Wände, denen die Augen ausgestochen waren, hingen Haufen von Haaren und altem geronnenen Blut.

Außerhalb der Kammer hörte man blöken. Ein Kalb wurde hereingeführt und mitten ins Zimmer gestellt.

Der König biß sich auf die Unterlippe, so daß sie weiß wurde, und mit einem einzigen sausenden Hieb schlug er dem Kalbe den Kopf ab. Mit blutunterlaufenen Nägeln warf er dann den Kopf durch das zerschmetterte Fenster hinunter auf die Vorbeigehenden.

Draußen vor der Tür flüsterte der Herzog indessen eifrig mit Rhoda d'Elville.

»Meinen hohen Schwager scheint also niemand aus seiner Halsstarrigkeit zu bringen. Der alte Hjärne – ›drollig ins Gesicht‹ – spricht davon, einen Liebestrunk zu brauen, aber der wird wenig helfen. Hätte er nicht die Kälte des Vaters geerbt, so würde er mit seinem Trotz Schwedens Borgia werden. Wird er nicht bald ein Halbgott, so wird er ein Teufel. Wenn so ein Vogel nicht Spielraum für seine Flügel findet, stößt er die Wände des eigenen Nestes um. Pst! Es kommt jemand. Vergiß nicht! Heute abend um neun Uhr bei Mutter Malin! Halte etwas Feigen und Rosinen in Bereitschaft!« Hinter ihnen auf der Treppe kam der alte Diener Haakon und führte zwei Ziegen. Er blieb plötzlich stehen und schlug die Hände in der Luft zusammen und seufzte voll Angst:

»Wozu haben sie meinen jungen Herrn gemacht! Niemals wurde solches im schwedischen Königsheim gesehen. Allmächtiger Gott, erbarme dich und sende nicht noch größeres Unglück als das bisherige, denn die Stille, die jetzt gekommen ist, können weder die Schweden ertragen noch ein solcher Fürst!«

Das Hochsommerspiel

Im Hag standen die kleinen Mädchen mit einem Sieb, und daneben saß auf einem moosigen Stein, faul und halbschlafend, ihr Bruder, Axel Friedrich, der heute zwanzig Jahre wurde. Seine Verlobte, die schüchterne kleine Ulrike, die zu Besuch auf den Hof gekommen war, bog den Wacholderbusch über das Sieb und hackte mit der Sichel. Die kleinen Mädchen streckten die Hände vor, um die Zweige zu halten und dabei zu helfen, und schmelzender Schnee tropfte von Birken und Erlengebüsch.

»Ach, ach! Selbst der Großvater ist bei diesem göttlichen Wetter herausgekommen«, sagte Ulrike und zeigte nach dem großen Hause hinunter.

Da begannen die kleinen Mädchen zu rufen und zu hüpfen und nahmen das Sieb zwischen sich und zogen nach dem großen Haus hinunter, wobei sie das Sieb im Takt schwenkten und trällerten:

Des Lenzes Vögel singen so schön.
Komm, Ziegenmagd, komm!
Heut abend gibt's Tanz und frohes Getön.

Auf der anderen Seite des Zauns, wo die Tannen anfingen, fuhr der Hofknecht Elias mit dem letzten Fuder Holz aus den Wäldern herunter. Das

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 20.01.2015
ISBN: 978-3-7368-7261-5

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