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Leseprobe

Tom Sawyers Abenteuer und Streiche

Erstes Kapitel.
Tom und die Tante. – Ein Zweikampf.

»Tom!«

Keine Antwort.

»Tom!«

Tiefes Schweigen.

»Wo der Junge nun wieder steckt, möcht' ich wissen, Du – Tom!«

Die alte Dame zog ihre Brille gegen die Nasenspitze herunter und starrte drüber weg im Zimmer herum, dann schob sie sie rasch wieder empor und spähte drunterher nach allen Seiten aus. Nun und nimmer würde sie dieselbe so entweiht haben, daß sie durch die geheiligten Gläser hindurch nach solchem geringfügigen Gegenstand geschaut hätte, wie ein kleiner Junge einer ist. War es doch ihre Staatsbrille, der Stolz ihres Herzens, welche sie sich nur der Zierde und Würde halber zugelegt, keineswegs zur Benutzung, – ebenso gut hätte sie durch ein paar Kochherdringe sehen können. Einen Moment lang schien sie verblüfft, da sie nichts entdecken konnte, dann ertönte wiederum ihre Stimme, nicht gerade ärgerlich, aber doch laut genug, um von der Umgebung, dem Zimmergerät nämlich, gehört zu werden: »Wart, wenn ich dich kriege, ich – –«

Sie beendete den Satz nicht, denn sie war inzwischen ans Bett herangetreten, unter welchem sie energisch mit dem Besen herumstöberte, was ihre ganze Kraft, all ihren Atem in Anspruch nahm. Trotz der Anstrengung förderte sie jedoch nichts zutage, als die alte Katze, die ob der Störung sehr entrüstet schien.

»So was wie den Jungen gibt's nicht wieder!«

Sie trat unter die offene Haustüre und ließ den Blick über die Tomaten und Kartoffeln schweifen, welche den Garten vorstellten. Kein Tom zu sehen! Jetzt erhob sich ihre Stimme zu einem Schall, der für eine ziemlich beträchtliche Entfernung berechnet war:

»Holla – du – To – om!«

Ein schwaches Geräusch hinter ihr veranlaßte sie, sich umzudrehen und zwar eben noch zu rechter Zeit, um einen kleinen, schmächtigen Jungen mit raschem Griff am Zipfel seiner Jacke zu erwischen und eine offenbar geplante Flucht zu verhindern.

»Na, natürlich! An die Speisekammer hätte ich denken müssen! Was hast du drinnen wieder angestellt?«

»Nichts.«

»Nichts? Na, seh' mal einer! Betracht' mal deine Hände, he, und was klebt denn da um deinen Mund?«

»Das weiß ich doch nicht, Tante!«

»So, aber ich weiß es. Marmelade ist's, du Schlingel, und gar nichts anderes. Hab' ich dir nicht schon hundertmal gesagt, wenn du mir die nicht in Ruhe ließest, wollt' ich dich ordentlich gerben? Was? Hast du's vergessen? Reich' mir mal das Stöckchen da!«

Schon schwebte die Gerte in der Luft, die Gefahr war dringend.

»Himmel, sieh doch mal hinter dich, Tante!«

Die alte Dame fuhr herum, wie von der Tarantel gestochen und packte instinktiv ihre Röcke, um sie in Sicherheit zu bringen. Gleichzeitig war der Junge mit einem Satz aus ihrem Bereich, kletterte wie ein Eichkätzchen über den hohen Bretterzaun und war im nächsten Moment verschwunden. Tante Polly sah ihm einen Augenblick verdutzt, wortlos nach, dann brach sie in ein leises Lachen aus.

»Hol' den Jungen der und jener! Kann ich denn nie gescheit werden? Hat er mir nicht schon Streiche genug gespielt, daß ich mich endlich einmal vor ihm in acht nehmen könnte! Aber, wahr ist's, alte Narren sind die schlimmsten, die's gebt, und ein alter Pudel lernt keine neuen Kunststückchen mehr, heißt's schon im Sprichwort. Wie soll man aber auch wissen, was der Junge im Schild führt, wenn's jeden Tag was andres ist! Weiß der Bengel doch genau, wie weit er bei mir gehen kann, bis ich wild werde, und ebenso gut weiß er, daß, wenn er mich durch irgendeinen Kniff dazu bringen kann, eine Minute zu zögern, ehe ich zuhaue, oder wenn ich gar lachen muß, es aus und vorbei ist mit den Prügeln. Weiß Gott, ich tu' meine Pflicht nicht an dem Jungen. ›Wer sein Kind lieb hat, der züchtiget es‹, heißt's in der Bibel. Ich aber, ich – Sünde und Schande wird über uns kommen, über meinen Tom und mich, ich seh's voraus, Herr, du mein Gott, ich seh's kommen! Er steckt voller Satanspossen, aber, lieber Gott, er ist meiner toten Schwester einziger Junge und ich hab' nicht das Herz, ihn zu hauen. Jedesmal, wenn ich ihn durchlasse, zwickt mich mein Gewissen ganz grimmig, und hab' ich ihn einmal tüchtig vorgenommen, dann – ja dann will mir das alte, dumme Herz beinahe brechen. Ja, ja, der vom Weibe geborene Mensch ist arm und schwach, kurz nur währen seine Tage und sind voll Müh und Trübsal, so sagt die hl. Schrift und wahrhaftig, es ist so! Heut wird sich der Bengel nun wohl nicht mehr blicken lassen, wird die Schule schwänzen, denk' ich, und ich werd' ihm wohl für morgen irgendeine Strafarbeit geben müssen. Ihn am Sonnabend[1], wenn alle Jungen frei haben, arbeiten zu lassen, ist fürchterlich hart, namentlich für Tom, der die Arbeit mehr scheut, als irgendwas sonst, aber ich muß meine Pflicht tun an dem Jungen, wenigstens einigermaßen, ich muß, sonst bin ich sein Verderben!«

Tom, der, wie Tante Polly sehr richtig geraten, die Schule schwänzte, ließ sich am Nachmittag nicht mehr blicken, sondern trieb sich draußen herum und vergnügte sich königlich dabei. Gegen Abend erschien er dann wieder, kaum zur rechten Zeit vor dem Abendessen, um Jim, dem kleinen Niggerjungen, helfen zu können, das nötige Holz für den nächsten Tag klein zu machen. Dabei blieb ihm aber Zeit genug, Jim sein Abenteuer zu erzählen, während dieser neun Zehntel der Arbeit tat. Toms jüngerer Bruder, oder besser Halbbruder, Sid[2], hatte seinen Teil am Werke, das Zusammenlesen der Holzspäne, schon besorgt. Er war ein fleißiger, ruhiger Junge, nicht so unbändig und abenteuerlustig wie Tom. Während dieser sich das Abendessen schmecken ließ und dazwischen bei günstiger Gelegenheit Zuckerstückchen stibitzte, stellte Tante Polly ein, wie sie glaubte, äußerst schlaues und scharfes Kreuzverhör mit ihm an, um ihn zu verderbenbringenden Geständnissen zu verlocken. Wie so manche andere arglos-schlichte Seele glaubte sie an ihr Talent für die schwarze, geheimnisvolle Kunst der Diplomatie. Es war der stolzeste Traum ihres kindlichen Herzens, und die allerdurchsichtigsten kleinen Kniffe, deren sie sich bediente, schienen ihr wahre Wunder an Schlauheit und List. So fragte sie jetzt: »Tom, es war wohl ziemlich warm in der Schule?«

»Ja, Tante.«

»Sehr warm, nicht?«

»Ja, Tante.«

»Hast du nicht Lust gehabt, schwimmen zu gehen?«

Wie ein warnender Blitz durchzuckte es Tom, – hatte sie Verdacht? Er suchte in ihrem Gesichte zu lesen, das verriet nichts. So sagte er:

»N – nein. Tante – das heißt nicht viel.«

Die alte Dame streckte die Hand nach Toms Hemdkragen aus, befühlte den und meinte:

»Jetzt ist dir's doch nicht mehr zu warm, oder?«

Und dabei bildete sie sich ein, bildete sich wirklich und wahrhaftig ein, sie habe den trockenen Zustand besagten Hemdes entdeckt, ohne daß eine menschliche Seele ahne, worauf sie ziele. Tom aber wußte genau, woher der Wind wehte, so kam er der mutmaßlich nächsten Wendung zuvor.

»Ein paar von uns haben die Köpfe unter die Pumpe gehalten – meiner ist noch naß, sieh!«

Tante Polly empfand es sehr unangenehm, daß sie diesen belastenden Beweis übersehen und sich so im voraus aus dem Felde hatte schlagen lassen. Ihr kam eine neue Eingebung.

»Tom, du hast doch wohl nicht deinen Hemdkragen abnehmen müssen, den ich dir angenäht habe, um dir auf den Kopf pumpen zu lassen, oder? Knöpf doch mal deine Jacke auf!«

Aus Toms Antlitz war jede Spur von Sorge verschwunden. Er öffnete die Jacke, der Kragen war fest und sicher angenäht.

»Daß dich! Na, mach' dich fort. Ich hätte Gift drauf genommen, daß du heut mittag schwimmen gegangen bist. Wollens gut sein lassen. Dir geht's diesmal wie der verbrühten Katze, du bist besser, als du aussiehst – aber nur diesmal, Tom, nur diesmal!«

Halb war's ihr leid, daß alle ihre angewandte Schlauheit so ganz umsonst gewesen, und halb freute sie sich, daß Tom doch einmal wenigstens, gleichsam unversehens, in den Gehorsam hineingestolpert war.

Da sagte Sidney:

»Ja aber, Tante, hast du denn den Kragen mit schwarzem Zwirn aufgenäht?«

»Schwarz? Nein, er war weiß, soviel ich mich erinnere, Tom!«

Tom aber wartete das Ende der Unterredung nicht ab. Wie der Wind war er an der Türe, rief beim Abgehen Sid noch ein freundschaftliches »wart', das sollst du mir büßen« zu und war verschwunden.

An sicherem Orte untersuchte er drauf zwei eingefädelte Nähnadeln, die er in das Futter seiner Jacke gesteckt trug, die eine mit weißem, die andre mit schwarzem Zwirn, und brummte vor sich hin:

»Sie hätt's nie gemerkt, wenn's der dumme Kerl, der Sid, nicht verraten hätte. Zum Kuckuck! Einmal nimmt sie weißen und einmal schwarzen Zwirn, wer kann das behalten. Aber Sid soll seine Keile schon kriegen; der soll mir nur kommen!«

Tom war mit nichten der Musterjunge seines Heimatortes, – es gab aber einen solchen und Tom kannte und verabscheute ihn rechtschaffen.

Zwei Minuten später, oder in noch kürzerer Zeit, hatte er alle seine Sorgen vergessen. Nicht, daß sie weniger schwer waren oder weniger auf ihm lasteten, wie eines Mannes Sorgen auf eines Mannes Schultern, nein durchaus nicht, aber ein neues mächtiges Interesse zog seine Gedanken ab, gerade wie ein Mann die alte Last und Not in der Erregung eines neuen Unternehmens vergessen kann. Dieses starke und mächtige Interesse war eine eben errungene, neue Methode im Pfeifen, die ihm ein befreundeter Nigger kürzlich beigebracht hatte, und die er nun ungestört üben wollte. Die Kunst bestand darin, daß man einen hellen, schmetternden Vogeltriller hervorzubringen sucht, indem man in kurzen Zwischenpausen während des Pfeifens mit der Zunge den Gaumen berührt. Wer von den Lesern jemals ein Junge gewesen ist, wird genau wissen, was ich meine, Tom hatte sich mit Fleiß und Aufmerksamkeit das Ding baldigst zu eigen gemacht und schritt nun die Hauptstraße hinunter, den Mund voll tönenden Wohllauts, die Seele voll stolzer Genugtuung. Ihm war ungefähr zumute, wie einem Astronomen, der einen neuen Stern entdeckt hat, doch glaube ich kaum, daß die Freude des glücklichen Entdeckers der seinen an Größe, Tiefe und ungetrübter Reinheit gleichkommt.

Die Sommerabende waren lang. Noch war's nicht dunkel geworden. Toms Pfeifen verstummte plötzlich. Ein Fremder stand vor ihm, ein Junge, nur vielleicht einen Zoll größer als er selbst. Die Erscheinung eines Fremden irgendwelchen Alters oder Geschlechtes war ein Ereignis in dem armen, kleinen Städtchen St. Petersburg. Und dieser Junge war noch dazu sauber gekleidet, – sauber gekleidet an einem Wochentage! Das war einfach geradezu unfaßlich, überwältigend! Seine Mütze war ein niedliches, zierliches Ding, seine dunkelblaue, dicht zugeknöpfte Tuchjacke nett und tadellos: auch die Hosen waren ohne Flecken. Schuhe hatte er an, Schuhe, und es war doch heute erst Freitag, noch zwei ganze Tage bis zum Sonntag! Um den Hals trug er ein seidenes Tuch geschlungen. Er hatte so etwas Zivilisiertes, so etwas Städtisches an sich, das Tom in die innerste Seele schnitt. Je mehr er dieses Wunder von Eleganz anstarrte, je mehr er die Nase rümpfte über den »erbärmlichen Schwindel«, wie er sich innerlich ausdrückte, desto schäbiger und ruppiger dünkte ihn seine eigene Ausstattung. Keiner der Jungen sprach. Wenn der eine sich bewegte, bewegte sich auch der andere, aber immer nur seitwärts im Kreise herum. So standen sie einander gegenüber, Angesicht zu Angesicht, Auge in Auge. Schließlich sagt Tom:

»Ich kann dich unterkriegen!«

»Probier's einmal!«

»N – ja, ich kann.«

»Nein, du kannst nicht.«

»Und doch!«

»Und doch nicht!«

»Ich kann's.«

»Du kannst's nicht.«

»Kann's.«

»Kannst's nicht.«

Ungemütliche Pause. Dann fängt Tom wieder an:

»Wie heißt du?«

»Geht dich nichts an.«

»Will dir schon zeigen, daß mich's angeht.«

»Nun, so zeig's doch.«

»Wenn du noch viel sagst, tu' ich's.«

»Viel – viel – viel! Da! Nun komm 'ran!«

»Ach, du hältst dich wohl für furchtbar gescheit, gelt du? Du Putzaff'! Ich könnt' dich ja unterkriegen mit einer Hand, auf den Rücken gebunden, – wenn ich nur wollt'!«

»Na, warum tust du's denn nicht? Du sagst's doch immer nur!« »Wart, ich tu's, wenn du dich mausig machst!«

»Ja, ja, sagen kann das jeder, aber tun – tun ist was andres.«

»Aff' du! Gelt du meinst, du seist was Rechtes? – Puh, was für ein Hut!«

»Guck' wo anders hin, wenn er dir nicht gefällt. Schlag' ihn doch runter! Der aber, der 's tut, wird den Himmel für 'ne Baßgeig' ansehen!«

»Lügner, Prahlhans!«

»Selber!«

»Maulheld! Gelt, du willst dir die Hände schonen?«

»Oh – geh heim!«

»Wart, wenn du noch mehr von deinem Blödsinn verzapfst, so nehm' ich einen Stein und schmeiß ihn dir an deinem Kopf entzwei.«

»Ei, natürlich, – schmeiß nur!«

»Ja, ich tu's!«

»Na, warum denn nicht gleich? Warum wartst du denn noch? Warum tust du 's nicht? Ätsch, du hast Angst!«

»Ich Hab' keine Angst.«

»Doch, doch!«

»Nein, ich hab' keine.«

»Du hast welche!«

Erneute Pause, verstärktes Anstarren und langsames Umkreisen. Plötzlich stehen sie Schulter an Schulter. Tom sagt:

»Mach' dich weg von hier!«

»Mach' dich selber weg!«

»Ich nicht!«

»Ich gewiß nicht!«

So stehen sie nun fest gegeneinander gepreßt, jeder als Stütze ein Bein im Winkel vor sich gegen den Boden stemmend, und schieben, stoßen und drängen sich gegenseitig mit aller Gewalt, einander mit wutschnaubenden, haßerfüllten Augen anstarrend. Keiner aber vermag dem andern einen Vorteil abzugewinnen. Nachdem sie so schweigend gerungen, bis beide ganz heiß und glühendrot geworden, lassen sie wie auf Verabredung langsam und vorsichtig nach und Tom sagt:

»Du bist ein Feigling und ein Aff' dazu. Ich sag's meinem großen Bruder, der haut dich mit seinem kleinen Finger krumm und lahm, wart nur!«

»Was liegt mir an deinem großen Bruder! Meiner ist noch viel größer, wenn der ihn nur anbläst, fliegt er über den Zaun, ohne daß er weiß wie!« (Beide Brüder existierten nur in der Einbildung,)

»Das ist gelogen!«

»Was weißt denn du?«

Tom zieht nun mit seiner großen Zehe eine Linie in den Staub und sagt:

»Da spring' rüber und ich hau dich, daß du deinen Vater nicht von einem Kirchturm unterscheiden kannst!«

Der neue Junge springt sofort, ohne sich zu besinnen, hinüber und ruft:

»Jetzt komm endlich 'ran und tu's und hau', aber prahl' nicht länger!«

»Reiz' mich nicht, nimm dich in acht!«

»Na, nun mach aber, jetzt bin ich's müde! Warum kommst du nicht!«

»Weiß Gott, jetzt tu' ich's für zwei Pfennig!«

Flink zieht der fremde Junge zwei Pfennige aus der Tasche und hält sie Tom herausfordernd unter die Nase.

Tom schlägt sie zu Boden.

Im nächsten Moment wälzen sich die Jungen fest umschlungen im Staube, krallen einander wie Katzen, reißen und zerren sich an den Haaren und Kleidern, bläuen und zerkratzen sich die Gesichter und Nasen und bedecken sich mit Schmutz und Ruhm. Nach ein paar Minuten etwa nimmt der sich wälzende Klumpen Gestalt an und in dem Staub des Kampfes wird Tom sichtbar, der rittlings auf dem neuen Jungen sitzt und denselben mit den Fäusten bearbeitet.

»Schrei ›genug‹«, mahnte er.

Der Junge ringt nur stumm, sich zu befreien, er weint vor Zorn und Wut.

»Schrei ›genug‹«, mahnt Tom noch einmal und drischt lustig weiter.

Endlich stößt der Fremde ein halb ersticktes »genug« hervor, Tom läßt ihn alsbald los und sagt: »Jetzt hast du's, das nächstemal paß auf, mit wem du anbindst!«

Der fremde Junge rannte heulend davon, sich den Staub von den Kleidern klopfend. Gelegentlich sah er sich um, ballte wütend die Faust und drohte, was er Tom alles tun wolle, »wenn er ihn wieder erwische«. Tom antwortete darauf nur mit Hohngelächter und machte sich, wonnetrunken ob der vollbrachten Heldentat, in entgegengesetzter Richtung auf. Sobald er aber den Rücken gewandt hatte, hob der besiegte Junge einen Stein, schleuderte ihn Tom nach und traf ihn gerade zwischen den Schultern, dann gab er schleunigst Fersengeld und lief davon wie ein Hase. Tom wandte sich und setzte hinter dem Verräter her, bis zu dessen Hause, wodurch er herausfand, wo dieser wohnte. Er pflanzte sich vor das Gitter hin und forderte den Feind auf, herauszukommen und den Streit aufzunehmen, der aber weigerte sich und schnitt ihm nur Grimassen durch das Fenster. Endlich kam die Mutter des Feindes zum Vorschein, schalt Tom einen bösen, ungezogenen, gemeinen Buben und hieß ihn sich fortmachen. Tom trollte sich also, brummte aber, er wollte es dem Affen schon noch zeigen.

Erst sehr spät kam er nach Hause, und als er vorsichtig zum Fenster hineinklettern wollte, stieß er auf einen Hinterhalt in Gestalt der Tante. Als diese dann den Zustand seiner Kleider gewahrte, gedieh ihr Entschluß, seinen freien Sonnabend in einen Sträflingstag bei harter Arbeit zu verwandeln, zu eiserner Festigkeit.

Zweites Kapitel.
Tom streicht einen Zaun.

Der Sonnabend Morgen tagte, die ganze sommerliche Welt draußen war sonnig und klar, sprudelnd von Leben und Bewegung. In jedem Herzen schien's zu klingen und zu singen, und wenn das Herz jung war, trat der Klang unversehens auf die Lippen. Freude und Lust malte sich in jedem Antlitz, jeder Schritt war beflügelt. Die Akazien blühten und erfüllten mit ihrem köstlichen Duft rings alle Lüfte.

Tom erschien auf der Bildfläche mit einem Eimer voll Tünche und einem langstieligen Pinsel. Er stand vor dem Zaun, besah sich das zukünftige Feld seiner Tätigkeit und es war ihm, als schwände mit einem Schlage alle Freude aus der Natur. Eine tiefe Schwermut bemächtigte sich seines ahnungsvollen Geistes. Dreißig Meter lang und neun Fuß hoch war der unglückliche Zaun! Das Leben schien ihm öde, das Dasein eine Last. Seufzend tauchte er den Pinsel ein und fuhr damit über die oberste Planke, wiederholte das Manöver einmal und noch einmal. Dann verglich er die unbedeutende übertünchte Strecke mit der Riesenausdehnung des noch ungetünchten Zaunes und ließ sich entmutigt auf ein paar knorrigen Baumwurzeln nieder. Jim, der kleine Nigger, trat singend und springend aus dem Hoftor mit einem Holzeimer in der Hand. Wasser an der Dorfpumpe holen zu müssen, war Tom bis jetzt immer gründlich verhaßt gewesen, in diesem Augenblick dünkte es ihn die höchste Wonne. Er erinnerte sich, daß man dort immer Gesellschaft traf; Weiße, Mulatten und Niggerjungen und Mädchen waren da stets zu finden, die warteten, bis die Reihe an sie kam und sich inzwischen ausruhten, mit allerlei handelten oder tauschten, sich zankten, rauften, prügelten und dergleichen Kurzweil trieben. Auch durfte man Jim mit seinem Eimer Wasser nie vor Ablauf einer Stunde zurückerwarten, obgleich die Pumpe kaum einige hundert Schritte vom Haus entfernt war und selbst dann mußte gewöhnlich noch nach ihm geschickt werden. Ruft also Tom:

»Hör', Jim, ich will das Wasser holen, streich' du hier ein bißchen an.«

Jim schüttelte den Dickkopf und sagte:

»Nix das können, junge Herr Tom, Alte Tante sagen, Jim sollen nix tun andres als Wasser holen, sollen ja nix anstreichen. Sie sagen, junge Herr Tom wohl werden fragen Jim, ob er wollen anstreichen, aber er nix sollen es tun – ja nix sollen es tun.«

»Ach was, Jim, laß dir nichts weismachen, so redet sie immer. Her mit dem Eimer, ich bin gleich wieder da. Sie merkt's noch gar nicht.«

»Jim sein so bange, er's nix wollen tun. Alte Tante sagen, sie ihm reißen Kopf ab, wenn er's tun.«

»Sie! O Herr Jemine, die kann ja gar niemand ordentlich durchhauen, – die fährt einem ja nur mit der Hand über den Kopf, als ob sie streicheln wollte, und ich möcht' wissen, wer sich daraus was macht. Ja, schwatzen tut sie von durchhauen und allem, aber schwatzen tut nicht weh, – das heißt, solang sie nicht weint dazu. Jim, da, ich schenk dir auch 'ne große Murmel, – da und noch 'nen Gummi dazu!«

Jim schwankte.

»'nen Gummi, Jim, und was für ein Stück, sieh mal her!«

»O, du meine alles! Sein das prachtvoll Stück Gummi. Aber, junge Herr Tom, Jim sein so ganz furchtbar bange vor alte Tante!«

Jim aber war auch nur ein schwacher Mensch, – diese Versuchung erwies sich als zu stark für ihn. Er stellte seinen Eimer hin und streckte die Hand nach dem verlockenden Gummi aus. Im nächsten Moment flog er jedoch, laut aufheulend, samt seinem Eimer die Straße hinunter, Tom tünchte mit Todesverachtung drauflos und Tante Polly zog sich stolz vom Schlachtfeld zurück, Pantoffel in der Hand, Triumph im Auge.

Toms Eifer hielt nicht lange an. Ihm fiel all das Schöne ein, das er für diesen Tag geplant, und sein Kummer wuchs immer mehr. Bald würden sie vorüber schwärmen, die glücklichen Jungen, die heute frei waren, auf die Berge, in den Wald, zum Fluß, überall hin, wo's schön und herrlich war. Und wie würden sie ihn höhnen und auslachen und verspotten, daß er dableiben und arbeiten mußte, – schon der Gedanke allein brannte ihn wie Feuer. Er leerte seine Taschen und musterte seine weltlichen Güter, – alte Federn, Glas- und Steinkugeln, Marken und sonst allerlei Kram. Da war wohl genug, um sich dafür einen Arbeitstausch zu verschaffen, aber keineswegs genug, um sich auch nur eine knappe halbe Stunde voller Freiheit zu erkaufen. Seufzend wanderten die beschränkten Mittel wieder in die Tasche zurück und Tom mußte wohl oder übel die Idee fahren lassen, einen oder den andern der Jungen zur Beihilfe zu bestechen. In diesem dunkeln, hoffnungslosen Moment kam ihm eine Eingebung! Eine große, eine herrliche Eingebung! Er nahm seinen Pinsel wieder auf und machte sich still und emsig an die Arbeit. Da tauchte Ben Rogers in der Entfernung auf, Ben Rogers, dessen Spott er von allen gerade am meisten gefürchtet hatte. Ben's Gang, als er so daherkam, war ein springender, hüpfender kurzer Trab, Beweis genug, daß sein Herz leicht und seine Erwartungen hochgespannt waren. Er biß lustig in einen Apfel und ließ dazu in kurzen Zwischenpausen ein langes, melodisches Geheul ertönen, dem allemal ein tiefes gezogenes ding–dong–dang, ding–dong–dang folgte. Er stellte nämlich einen Dampfer vor. Als er sich Tom näherte, gab er Halbdampf, hielt sich in der Mitte der Straße, wandte sich stark nach Steuerbord und glitt drauf in stolzem Bogen dem Ufer zu, mit allem Aufwand von Pomp und Umständlichkeit, denn er stellte nichts Geringeres vor als den »Großen Missouri« mit neun Fuß Tiefgang. Er war Schiff, Kapitän, Mannschaft, Dampfmaschine, Glocke, alles in allem, stand also auf seiner eigenen Schiffsbrücke, erteilte Befehle und führte sie aus.

»Halt, stoppen! Klinge–linge–ling.« Der Hauptweg war zu Ende und der Dampfer wandte sich langsam dem Seitenweg zu. »Wenden! Klingelingeling!« Steif ließ er die Arme an den Seiten niederfallen. »Wenden, Steuerbord! Klingelingeling! Tschu! tsch – tschu – u – tschu!«

Nun beschrieb der rechte Arm große Kreise, denn er stellte ein vierzig Fuß großes Rad vor. »Zurück, Backbord! Klingelingeling! Tschu–tsch–tschu–u–sch!« Der linke Arm begann nun Kreise zu beschreiben. »Steuerbord stoppen! Lustig, Jungens! Anker auf – nieder! Klingeling! Tsch–tschuu–tschtu! Los! Maschine stoppen! He, Sie da! Scht–sch–tscht!« (Ausströmen des Dampfes.)

Tom tünchte währenddessen und ließ den Dampfer Dampfer sein, Ben starrte ihn einen Augenblick an und grinste dann:

»Hi–hi! Festgenagelt – äh?«

Keine Antwort, Tom schien seinen letzten Strich mit dem Auge eines Künstlers zu prüfen, dann fuhr er zart mit dem Pinsel noch einmal drüber und übersah das Resultat in derselben kritischen Weise wie zuvor. Ben marschierte nun neben ihm auf. Toms Mund wässerte nach dem Apfel, er hielt sich aber tapfer an die Arbeit. Sagt Ben:

»Hallo, alter Junge, Strafarbeit, ja?«

»Ach, du bist's, Ben, ich hab' gar nicht aufgepaßt!«

»Hör du, ich geh schwimmen, willst du vielleicht mit? Aber gelt, du arbeitst lieber, natürlich, du bleibst viel lieber da, gelt?«

Tom maß ihn erstaunt von oben bis unten.

»Was nennst du eigentlich arbeiten?«

»W–was? Ist das keine Arbeit?«

Tom tauchte seinen Pinsel wieder ein und bemerkte gleichgültig:

»Vielleicht – vielleicht auch nicht! Ich weiß nur soviel, daß das dem Tom Sawyer paßt.«

»Na, du willst mir doch nicht weismachen, daß du's zum Vergnügen tust?«

Der Pinsel strich und strich.

»Zum Vergnügen? Na, seh' nicht ein, warum nicht. Kann unsereiner denn alle Tag 'nen Zaun anstreichen?«

Das warf nun ein neues Licht auf die Sache. Ben überlegte und knupperte an seinem Apfel. Tom fuhr sachte mit seinem Pinsel hin und her, trat dann zurück, um die Wirkung zu prüfen, besserte hier und da noch etwas nach, prüfte wieder, alles ohne sich im geringsten um Ben zu kümmern. Dieser verfolgte jede Bewegung, eifriger und eifriger mit steigendem Interesse. Sagt er plötzlich:

»Du, Tom, laß mich ein bißchen streichen!«

Tom überlegte, schien nachgeben zu wollen, gab aber diese Absicht wieder auf: »Nein, nein, das würde nicht gehen, Ben, wahrhaftig nicht. Weißt du, Tante Polly nimmt's besonders genau mit diesem Zaun, so dicht bei der Straße, siehst du. Ja, wenn's irgendwo dahinten wär', da lag nichts dran, – mir nicht und ihr nicht – so aber! Ja, sie nimmt's ganz ungeheuer genau mit diesem Zaun, der muß ganz besonders vorsichtig gestrichen werden, – einer von hundert Jungen vielleicht, oder noch weniger, kann's so machen, wie's gemacht werden muß.«

»Nein, wirklich? Na, komm, Tom, laß mich's probieren, nur ein ganz klein bißchen. Ich ließ dich auch dran, Tom, wenn ich's zu tun hätte!«

»Ben, wahrhaftig, ich tät's ja gern, aber Tante Polly – Jim hat's tun wollen und Sid, aber die haben's beide nicht gedurft. Siehst du nicht, wie ich in der Klemme stecke? Wenn du nun anstreichst und 's passiert was und der Zaun ist verdorben, dann–«

»Ach, Unsinn, ich will's schon rechtmachen. Na, gib her, – wart', du kriegst auch den Rest von meinem Apfel; 's ist freilich nur noch der Butzen, aber etwas Fleisch sitzt doch noch drum.«

»Na, denn los! Nein, Ben, doch nicht, ich hab' Angst, du –«

»Da hast du noch 'nen ganzen Apfel dazu!« Tom gab nun den Pinsel ab. Widerstreben im Antlitz, Freude im Herzen. Und während der frühere Dampfer »Großer Missouri« im Schweiße seines Angesichts drauflos strich, saß der zurückgetretene Künstler auf einem Fäßchen im Schatten dicht dabei, baumelte mit den Beinen, verschlang seinen Apfel und brütete über dem Gedanken, wie er noch mehr Opfer in sein Netz zöge. An Material dazu war kein Mangel. Jungen kamen in Menge vorüber. Sie kamen, um zu spotten und blieben, um zu tünchen! Als Ben müde war, hatte Tom schon Kontrakt gemacht mit Billy Fischer, der ihm einen fast neuen, nur wenig geflickten Drachen bot. Dann trat Johnny Miller gegen eine tote Ratte ein, die an einer Schnur zum Hin- und Herschwingen befestigt war und so weiter und so weiter, Stunde um Stunde. Und als der Nachmittag zur Hälfte verstrichen, war aus Tom, dem mit Armut geschlagenen Jungen mit leeren Taschen und leeren Händen, ein im Reichtum förmlich schwelgender Glücklicher geworden. Er besaß außer den Dingen, die ich oben angeführt, noch zwölf Steinkugeln, eine freilich schon etwas stark beschädigte Mundharmonika, ein Stück blaues Glas, um die Welt dadurch zu betrachten, ein halbes Blasrohr, einen alten Schlüssel und nichts damit aufzuschließen, ein Stück Kreide, einen halb zerbrochenen Glasstöpsel von einer Wasserflasche, einen Bleisoldaten, ein Stück Seil, sechs Zündhütchen, ein junges Kätzchen mit nur einem Auge, einen alten messingnen Türgriff, ein Hundehalsband ohne Hund, eine Messerklinge, vier Orangenschalen und ein altes, wackeliges Stück Fensterrahmen, Dazu war er lustig und guter Dinge, brauchte sich gar nicht weiter anzustrengen die ganze Zeit über und hatte mehr Gesellschaft beinahe, als ihm lieb war. Der Zaun wurde nicht weniger als dreimal vollständig überpinselt, und wenn die Tünche im Eimer nicht ausgegangen wäre, hätte er zum Schluß noch jeden einzelnen Jungen des Dorfes bankrott gemacht.

Unserm Tom kam die Welt gar nicht mehr so traurig und öde vor. Ohne es zu wissen, hatte er ein tief in der menschlichen Natur wurzelndes Gesetz entdeckt, die Triebfeder zu vielen, vielen Handlungen. Um das Begehren eines Menschen, sei er nun erwachsen oder nicht, – das Alter macht in dem Fall keinen Unterschied – also, um eines Menschen Begehren nach irgend etwas zu erwecken, braucht man ihm nur das Erlangen dieses »etwas« schwierig erscheinen zu lassen. Wäre Tom ein gewiegter, ein großer Philosoph gewesen, wie zum Beispiel der Schreiber dieses Buches, er hatte daraus gelernt, wie der Begriff von Arbeit einfach darin besteht, daß man etwas tun muß, daß dagegen Vergnügen das ist, was man freiwillig tut. Er würde verstanden haben, warum künstliche Blumen machen oder in einer Tretmühle gehen »Arbeit« heißt, während Kegelschieben im Schweiße des Angesichts oder den Montblanc erklettern lediglich als Vergnügen gilt. Ja, ja, wer erklärt diese Widersprüche in der menschlichen Natur!

Drittes Kapitel.
Tom verliebt sich.

Tom erschien vor Tante Polly, die am offenen Fenster eines Hinterzimmers saß, das Schlaf-, Wohn-, Eßzimmer, Bibliothek, alles in sich vereinigte. Die balsamische Sommerluft, die friedliche Ruhe, der Blumenduft, das einschläfernde Summen der Bienen, alles hatte seine Wirkung auf sie ausgeübt, – sie war über ihrem Strickstrumpf eingenickt in Gesellschaft der Katze, die auf ihrem Schoße friedlich schlummerte. Die Brille war zur Sicherheit ganz auf den alten, grauen Kopf geschoben. Sie war fest überzeugt gewesen, daß Tom längst durchgebrannt sei und wunderte sich nun nicht wenig, als er sich jetzt so furchtlos ihrer Macht überlieferte.

»Darf ich jetzt gehen und spielen, Tante?« fragte er.

»Was – schon? Ei, wie weit bist du denn?«

»Fertig, Tante.«

»Tom, schwindle nicht, du weißt, das kann ich nicht vertragen.«

»Gewiß und wahrhaftig, Tante, ich bin fertig.«

Tante Polly schien nur wenig Zutrauen zu der Angabe zu hegen, denn sie erhob sich, um selbst nachzusehen; sie wäre froh und dankbar gewesen, hätte sie nur zwanzig Prozent von Toms Aussage bestätigt gefunden. Als sie aber nun den ganzen Zaun getüncht fand und nicht nur so einmal leicht überstrichen, sondern sorgsam mit einer festen, tadellosen Lage Tünche versehen, da kannte ihr Erstaunen, ihre freudige Ver- und Bewunderung keine Grenzen.

»Na, so was!« stieß sie fast atemlos hervor. »Arbeiten kannst du, wenn du willst, Tom, das muß dir dein Feind lassen. Selten genug freilich willst du einmal«, schwächte sie ihr Kompliment ab. »Aber nun geh und spiel, mach dich flink fort. Daß du mir aber vor Ablauf einer Woche wiederkommst, hörst du, sonst gerb ich dir das Fell doch noch durch!«

Sie war aber so gerührt von seiner Heldentat, daß sie ihn zuerst noch mit in die Speisekammer nahm und einen herrlichen, dicken, rotbackigen Apfel auslas, den sie ihm einhändigte, daran den salbungsvollen Hinweis knüpfend, wie Verdienst und ehrliche Anstrengung den Genuß einer Gabe erhöhe, die man als Lohn der Tugend erworben, nicht durch sündige Tücke. Und während sie die Predigt mit einer ebenso passend als glücklich gewählten Schriftstelle schloß, hatte Tom hinterrücks ein Stückchen Kuchen stibitzt, um sich den Lohn der Tugend wie der Errungenschaft sündiger Tücke ganz gleich gutschmecken zu lassen.

Dann schlüpfte er hinaus und sah gerade, wie Sid die Außentreppe, die zu dem Hinterzimmer des zweiten Stocks führte, hinaufhuschte, Erdklumpen waren zur Hand und im Moment war die Luft voll davon. Sie flogen um Sid wie ein Hagelwetter, und ehe noch Tante Polly ihre überraschten Lebensgeister sammelte oder zu Hilfe kommen konnte, hatten sechs oder sieben ihr Ziel getroffen, Sid brüllte und Tom war über den Zaun gesetzt und verschwunden. Es gab freilich auch ein Tor, aber für gewöhnlich konnte es Tom aus Mangel an Zeit nicht benutzen. Nun hatte seine Seele Ruhe, jetzt hatte er abgerechnet mit Sid und ihm die Verräterei mit dem schwarzen Zwirn heimgezahlt. Der würde ihn nicht so bald wieder in Ungelegenheiten zu bringen wagen!

Tom schlich auf Umwegen hinter dem Stalle, um Haus und Hof herum, bis er außer dem Bereich der Gefangennahme und Abstrafung war, dann setzte er sich eiligst nach dem Hauptplatz des Dorfes in Trab, wo der Verabredung gemäß zwei feindliche Heere sich eine Schlacht liefern sollten. Tom war General der einen Armee, Joe Harper, sein Busenfreund, General der zweiten. Die beiden ruhmgekrönten, großen Anführer ließen sich aber nicht zum Fechten in Person herbei; bewahre, ganz nach berühmten Mustern sahen sie nur von ferne zu, von irgendeiner Erhöhung herab und leiteten die Bewegungen der kämpfenden Heere durch Befehle, welche Adjutanten überbringen mußten. Nach langem, heißem Kampfe trug Toms Schar den Sieg davon. Nun wurden die Toten gezählt, Gefangene ausgetauscht, die Bedingungen zum nächsten Streit vereinbart und der Tag für die daraus notwendig sich ergebende Schlacht festgesetzt, die Armeen lösten sich auf und Tom marschierte allein heimwärts.

Als er am Hause des Bürgermeisters vorüberkam, sah er ein fremdes kleines Mädchen im Garten, ein liebliches, zartes, blauäugiges Geschöpf mit langen gelben, in zwei dicke Schwänze geflochtenen Haaren, weißem Sommerkleid und gestickten Höschen. Der ruhmgekrönte Held fiel ohne Schuß und Streich. Eine gewisse Anny Lorenz verschwand aus seinem Herzen, ohne auch nur einen Schatten ihrer selbst zurückzulassen. Tom hatte seine Liebe zu besagter Anny für verzehrende Feuersglut gehalten und nun war es nur noch ein leise flackerndes, verlöschendes Flämmchen, Monate lang hatte er um sie geworben, vor einer Woche erst hatte sie ihm ihre Gegenliebe gestanden, sieben Tage lang war er der stolzeste, glücklichste Junge des Städtchens gewesen und jetzt – im Umdrehen hatte sie sich empfohlen aus seinem Herzen, wie irgendein fremder Besuch, dessen Zeit um ist.

Mit verstohlenen Blicken verfolgte Tom den neu auftauchenden Engel, bis er bemerkte, daß sie ihn entdeckt hatte. Jetzt tat er, als ob er sie gar nicht sähe und begann nach echter Jungenart »sich zu zeigen«, in der Absicht, ihre Bewunderung zu erringen. Eine Zeitlang trieb er es so fort, aber mitten in irgendeiner halsbrecherischen, gymnastischen Leistung schielte er seitwärts und bemerkte, daß die Holde sich dem Hause zuwandte. Er brach ab und sprang auf den Zaun zu, voller Bedauern und in Hoffnung, daß sie doch noch ein wenig länger verweilen werde. Einen Moment blieb sie auf den Stufen stehen, näherte sich dann aber schnell der Türe. Tom stieß einen schweren, schallenden Seufzer aus, als ihr Fuß die Schwelle berührte, im selben Moment aber erhellte sich sein melancholisches Antlitz, – sie hatte ein Stiefmütterchen über den Zaun geworfen im Augenblick, da sie verschwand. Der Junge rannte drauflos, blieb aber einen oder zwei Fuß von der Blume entfernt stehen, beschattete die Augen mit der Hand und tat, als habe er, weit da unten in der Straße, etwas von großem Interesse entdeckt. Gleich danach raffte er einen Strohhalm vom Boden auf, um ihn auf der Nase zu balancieren, indem er den Kopf weit zurückwarf, und als er sich dabei hin und her bewegte, rückte er der Blume immer naher. Schließlich berührte er sie mit seinem nackten Fuße, seine geschmeidigen Zehen umschlossen dieselbe, auf einem Bein hüpfte er fort mit dem eroberten Schatze und verschwand um die nächste Ecke. Aber nur für eine Minute, – nur bis er die Blume an seinem Herzen geborgen hatte oder auch an seinem Magen vielleicht, – Tom war nicht sehr bewandert in der Anatomie und jedenfalls nicht allzu kritisch.

Jetzt kehrte er zu seinem früheren Standorte zurück und trieb sich am Zaun herum, bis die Nacht hereinbrach, immer von Zeit zu Zeit seine Kunststücke loslassend. Nie blonde Schöne aber zeigte sich nicht wieder und Tom tröstete sich mit dem Gedanken, daß sie sicher hinter irgendeinem der Fenster gestanden habe und seine Aufmerksamkeiten also nicht auf dürren Boden gefallen seien. Endlich bequemte er sich widerstrebend zum Abzug, Kopf und Sinn voll wunderbarer Visionen.

Wahrend des ganzen Abendessens war er in solch gehobener Stimmung, daß seine Tante nicht klug daraus wurde, »was zum Kuckuck in den Jungen gefahren sei!« Nen Ausputzer, den er für Sids Beschießung mit Erdklumpen erhielt, nahm er mit Lammesgeduld entgegen und schüttelte ihn ebenso schnell wieder ab. Er probierte, der Tante vor der Nase weg Zucker zu stibitzen, und kriegte dafür ordentlich auf die Pfoten. Vorwurfsvoll meinte er:

»Tante, du klopfst doch den Sid nicht, wenn er Zucker nascht.«

»Der quält mich auch nicht so wie du. Was, ei wenn ich dir nicht aufpaßte, du stecktest den ganzen Tag in der Zuckerdose!«

Gleich danach wollte sie in der Küche etwas holen und ging hinaus. Sid, im Gefühl seiner Unstrafbarkeit, langte nach der Zuckerdose mit einer Überhebung, die Tom unerträglich dünkte. Aber weh! – Sids Hand zitterte, die Dose entglitt den haltenden Fingern, fiel zu Boden und zerbrach. Tom triumphierte, – triumphierte so, daß er sich bezwang, seine Zunge im Zaum hielt und atemlos, erwartungsvoll schwieg. Er gelobte sich innerlich, kein Wort zu sagen, selbst wenn die Tante wieder hereinkäme, sondern sich ganz stille zu verhalten, bis sie frage, wer das Unheil angestellt, dann würde er berichten, und welche Wonne, wenn der geliebte »Musterjunge« auch einmal was Ordentliches abkriegte. Er platzte beinahe vor Ungeduld und konnte sich kaum auf dem Stuhl halten, als nun die alte Dame hereintrat und sprachlos, Wutblitze unter ihrer Brille hervorschleudernd, vor den Trümmern stand. »Jetzt kommt's, jetzt geht's los«, frohlockte er. Im nächsten Moment fühlte er sich gepackt, zu Boden geworfen und schon hob sich die strafende Faust zum zweiten- und drittenmal über seinem südlichen Rückenende, ehe er, sprachlos vor Überraschung und Entrüstung, Worte fand:

»Laß los, Tante, was haust du mich denn? Sid hat's ja getan!«

Tante Pollys erhobene Faust sank noch einmal mechanisch mit klatschendem Schlag, dann hielt sie ein, erstaunt, verwirrt, während Tom, eines Ausbruchs tröstenden, selbstanklagenden Mitleids gewärtig, vorwurfsvoll zu ihr emporstarrte. Aber alles, was sie sagte, als sie zu Atem kam, war:

»Na, Gott weiß, an dir ist kein Schlag verloren, das ist mein Trost. Nimm's einstweilen als Abschlagszahlung, hörst du!«

Danach aber empfand sie doch Gewissensbisse und ihr gutes, weiches Herz sehnte sich, den armen, unschuldig Gezüchtigten ein liebevolles Wort zu sagen. Aus Rücksichten der Disziplin aber enthielt sie sich jeder Zusprache, die ihr doch nur als ein Eingeständnis des Unrechts ausgelegt worden wäre. So schwieg sie denn und ging bekümmerten Herzens ihrer Arbeit nach. Tom schmollte in einem Winkel und steigerte seine Leiden ins Unendliche. Er wußte, daß die Tante innerlich vor ihm auf den Knien lag und dies Bewußtsein tat ihm wohl bis in die kleine Zehe. Er wollte sich um niemanden, niemanden mehr kümmern. Er fühlte, wie ihn von Zeit zu Zeit ein sehnsüchtiger, tränenverschleierter Blick traf, er aber tat, als merke er nichts und brüte nur stumm vor sich hin. Er sah sich krank, sterbend auf seinem Bette hingestreckt. Die Tante beugte sich über ihn und flehte händeringend um ein einziges, kleines, armes Wort der Vergebung. Er aber wandte das Gesicht ab, stumm, tränenlos und starb, – starb und das Wort der Vergebung blieb ungesagt. Was würde sie dann tun? – Oder er sah sich, wie man ihn vom Fluß zurückbrachte, tot, mit triefenden Haaren, blassem, stillem Antlitz, endlich Ruhe und Frieden im armen, gequälten Herzen – für immer. Wie würde sie sich über ihn werfen, wie würden ihre Tränen stromweise fließen und sie Gott anrufen, ihren armen Jungen wieder lebendig zu machen, den sie auch nie, nie wieder mißhandeln wolle. Er aber läge da, kalt und still, ein armer Märtyrer, dessen Leiden zu Ende. – So arbeitete er sich dermaßen in Jammer und Elend hinein, daß er beinahe in Schluchzen ausgebrochen wäre und am Zurückdrängen desselben fast erstickte, Tränen standen in seinen Augen und alles erschien ihm in einem wässerigen Nebel. Wenn er mit den Augen zwinkerte, kamen die Tropfen langsam die Nase herab und träufelten von der Spitze hernieder. Dabei fühlte er sich so wohl in seinem Schmerz, daß er denselben ängstlich vor der profanen Lust, dem lärmenden Getriebe der Welt da draußen behütete. Als sein Bäschen Mary, die acht Tage auf dem Lande zu Besuch gewesen war, glückselig nach der »langen Abwesenheit« zur einen Tür hereintanzte, wie lauter Licht und Sonnenschein, entschlüpfte Tom in Nebel und Wolken gehüllt durch die andere. Weit in die Einsamkeit wanderte er hinweg. Ein Floß lockte ihn; er setzte sich darauf und starrte in die Wellen des Stromes. Wenn er nur auf einmal tot und ertrunken sein könnte, ohne etwas davon zu wissen, ohne erst all das viele Wasser zu schlucken! Dann dachte er an seine Blume, entnahm sie seinem Busen, verwelkt, zerknittert und ihr Anblick erhöhte noch sein wonniges Schmerzgefühl. Ob sie ihn wohl bemitleiden würde, wenn sie es wüßte? Oder würde auch sie sich abwenden wie die übrige schnöde Welt? Wieder verlor er sich in einem Labyrinth von Träumen und erhob sich zuletzt seufzend, um in die Dunkelheit hineinzuwandern. Um zehn, halb elf schlich er die stille Straße hinunter, in der die vergötterte Unbekannte wohnte. An ihrer Tür hielt er an. Kein Laut traf sein lauschendes Ohr, nur aus einem Fenster des zweiten Stockes kam der trübe Schein eines einsamen Talglichts. War dort der geheiligte Raum, der sie umschloß? Er kletterte über den Zaun und stahl sich lautlos bis unter jenes Fenster. Voll Rührung schaute er hinan, dann streckte er sich der Länge lang auf den Boden aus, die Hände, welche die verwelkte Blume umschlossen, auf der Brust faltend. So wollte er sterben, – draußen in der kalten Welt, kein Dach über seinem heimatlosen Haupte, keine Freundeshand, die ihm den Todesschweiß von der Stirne wischte, kein liebendes Antlitz, das sich mitleidsvoll über ihn beugte, wenn der letzte, große Kampf nahte. So sollte sie ihn sehen, wenn sie das Fenster öffnete, um dem jungen Morgen zuzulächeln und ach – würde sie wohl dem Toten eine Träne weihen, einen Seufzer hauchen über den leblosen stillen Rest, der alles war, was von dem frohen, jugendfrischen, vor der Zeit in der Wurzel geknickten, jungen Leben geblieben?

Das Fenster öffnete sich. Die schrille Stimme einer Magd entweihte die geheiligte Stille und eine Sündflut von Wasser durchtränkte die Gebeine des dahingestreckten Märtyrers.

Prustend und keuchend sprang unser Held auf und schüttelte sich heftig. Ein Wurfgeschoß durchschwirrte die Luft, untermischt mit einem halblauten Fluche, worauf ein klirrendes Splittern von Glas folgte. Eine kleine, undeutliche Gestalt kletterte eiligst über den Zaun und schoß in die Dunkelheit hinein.

Nicht lange danach, als Tom beim Schein eines Lichtstümpchens seine durchnäßten Kleider besichtigte, erwachte Sid. Wenn der nun vorher die Absicht gehabt hatte, allerlei unliebsame Anspielungen zu machen, so besann er sich jetzt wohlweislich eines besseren und hielt Frieden, – es blitzte Gefahr in Toms Auge. Dieser aber kroch ins Bett ohne weitere unangenehme Förmlichkeiten wie Waschen oder Beten, wovon sich Sid im Geiste getreulich Notiz machte, und die Stille der Nacht umfing das Brüderpaar.

Viertes Kapitel.
Schulfreuden und -Leiden

Die Sonne ging auf über der sonntäglich ruhigen Welt und strahlte nieder auf das friedliche Städtchen, wie ein Segen von oben. Als das Frühstück vorüber war, hielt Tante Polly Familienandacht. Sie begann mit einem Gebete, das sich ganz und gar aus festen Schichten biblischer Kraftstellen auferbaute, die nur durch einen dünnen, spärlichen Mörtel eigener Gedanken zusammengehalten wurden. Auf den Zinnen dieses stolzen Baues angelangt, krönte sie das Ganze mit einem dräuenden Kapitel des mosaischen Gesetzes, als stünde sie auf dem Berge Sinai selber.

Danach gürtete Tom seine Lenden sozusagen und ging ans Werk, sich die Bibelsprüche »einzupauken«. Sid, der Musterknabe, hatte seine Lektion schon vor mehreren Tagen gelernt. Tom warf sich mit ganzer Energie auf die Erlernung von fünf Versen und wählte dieselben aus der Bergpredigt, da er keine kürzeren finden konnte.

Nach Verlauf einer halben Stunde hatte er denn auch glücklich einen schwachen, allgemeinen Begriff von seiner Lektion, aber nichts weiter, denn seine Gedanken reisten dabei mit Blitzesschnelle durch die ganze weite, unbegrenzte Welt, die im engen Hirne schlummert, und seine Finger waren rastlos tätig in allerhand angenehmen, ablenkenden Zerstreuungen. Endlich erbarmte sich Bäschen Mary seiner und nahm das Buch, um ihn zu überhören, während er sich durch den die Sprüche verhüllenden Nebel mühsam seinen Weg zu bahnen suchte.

»Selig sind die – ä – ä –«

»Da geistig –«

»Richtig – die da geistig ä – ä –«

»Arm –«

»Arm sind. Selig sind, die da geistig arm sind, denn sie sollen – sollen –«

»Denn ihrer –«

»Ja so! Selig sind, die da geistig arm sind, denn ihrer ist das Himmelreich. Selig sind, die da Leid tragen, denn sie – sie –«

»S –«

»Denn sie – ä –«

»S – o –«

»Denn sie s – s –, weiß der Kuckuck, wie das heißt!«

»Sollen!«

»Ach so – sollen! Denn sie sollen – denn sie sollen – ä – ä – sollen Leid tragen. Selig sind, die da sollen – die da sollen – a – Leid tragen, denn sie sollen – ä – sollen was? Warum hilfst du mir denn nicht, Mary, schäm dich, so schlecht zu sein und am Sonntag noch dazu!«

»O, Tom, armer, dummer, dickköpfiger Kerl, ich will dich ja nicht necken, Gott behüte. Ich mein's nur gut mit dir. Geh und lern's noch einmal und verlier den Mut nicht, du wirst's schon in den Kopf kriegen und dann, Tom, dann schenk ich dir auch was Schönes! Geh und sei ein guter Junge!«

»Schon recht. Aber was ist's, Mary, sag mir erst, was es ist.«

»Das brauchst du nicht vorher zu wissen, Tom, du weißt, wenn ich sag, es ist schön, so ist's wirklich was Schönes.«

»Ja, das weiß ich. Also vorwärts, gib das Buch wieder her, Mary, wollen's schon kriegen.«

Und er »kriegte« es wirklich und zwar mit Glanz unter dem Doppeldruck von Neugierde und voraussichtlichem Gewinn.

Mary gab ihm nach bestandener Probe ein funkelnagelneues Taschenmesser, das mindestens eine Mark wert war unter Brüdern. Eine feine Damaszenerklinge hatte es ja wohl nicht, auch keinen schon verzierten eingelegten Griff von Elfenbein, aber um den Tisch anzuschnitzen war's gerade recht, was Tom sofort probierte, und als er sich darauf seelenvergnügt eben an den Schrank machen wollte, wurde er abgerufen, um sich zur Sonntagsschule in den Staat zu werfen.

Mary reichte ihm eine Blechschüssel mit Wasser und ein Stück Seife, womit er sich in den Hof begab. Hier stellte er die Schüssel auf eine Bank, tauchte die Seife ins Wasser, legte solche dann zur Seite, goß das Wasser aus, stülpte die Ärmel auf und kam wieder zur Küche herein, um sich eiligst sein trockenes Gesicht am Handtuch hinter der Türe abzuwischen, Mary aber riß ihm das Tuch weg und sagte:

»Schämst du dich nicht, Tom? Das heiß ich betrügen! Wasser wird dir nichts schaden!«

Tom war ein wenig aus der Fassung gebracht. Die Schüssel wurde wieder gefüllt und diesmal stand er eine kleine Weile davor, um sich Mut zu machen, schöpfte dann tief Atem und begann das große Werk der wöchentlichen Reinigung. Wie er nun zum zweitenmal die Küche betrat, sich mit krampfhaft geschlossenen Augen und ausgestreckten Händen nach dem Tuche hintastend, bewiesen Seifenschaum und Wasser, die von seinem Antlitz niederströmten, seine Ehrlichkeit glänzend. Als er dann aber hinter dem Tuche hervortauchte, war die schwere Prozedur noch nicht zur Zufriedenheit ausgefallen. Das reine Gebiet erstreckte sich nur bis zum Rande der Kinnlade, wo es ein Ende hatte, gleich einer Maske. Außerhalb dieser Linie zeigte sich die ganze Partie um Hals und Ohren in unberührt schwärzlichem Zustand. Nun legte Mary Hand an, und als sie fertig war, bot Tom das Bild eines reinlichen, ehrlichen Christenmenschen, ohne Unterschied der Farbe. Sein feuchtes Haar war schön gebürstet und die sonst so widerspenstigen Locken kräuselten sich in ordentlich rührender Ergebung. Diese Locken waren Toms Qual, er hielt sie für weibisch, schämte sich ihrer und tat sein möglichstes, sie mit Hilfe von Fett und Wasser fest am Kopfe anzukleben. Daß ihm dies nur teilweise und unbefriedigend gelang, erfüllte sein Herz mit Bitternis. Jetzt holte Mary seinen Sonntagsanzug, den er während zweier Jahre nur an diesem geheiligten Tage getragen. Man sprach davon einfach nur als von »den anderen Kleidern«, und daraus läßt sich leicht auf den Umfang von Toms Garderobe schließen. Als er sich dann hineingestreckt in diese »anderen Kleider«, legte Mary die letzte verbessernde Hand an, knöpfte die Jacke zu, zog ihm den riesigen, weißen Kragen an, bürstete ihn aus und krönte das Ganze mit einem braunen, gelb gefleckten Strohhut. Tom sah nun ungemein ehrbar und unbehaglich aus und fühlte sich auch nicht minder unbehaglich, als er aussah. Für ihn lag ein fast unerträglicher Zwang in ganzen und sauberen Kleidern, ein Zwang, der ihn fortwährend reizte. Er hoffte, Mary würde wenigstens seine Schuhe vergessen, aber diese Hoffnung erwies sich als trügerisch; ehe er sich's versah, standen die Marterwerkzeuge, ordentlich mit Talg eingeschmiert, wie es so Sitte war, lieblich lockend vor ihm. Jetzt verlor er völlig die Geduld und schalt und brummte, er solle immer alles tun, was er absolut nicht möge. Mary aber bat und schmeichelte:

»Bitte, Tom, sei so gut, bitte!«

So fuhr er denn brummend hinein in die schwarzen Plagegeister, blieb aber bei sehr gereizter, übler Laune. Mary war auch bald fertig und die drei Kinder machten sich zusammen auf nach der Sonntagsschule, einem Ort, den Tom ebensosehr haßte, wie ihn Sid und Mary liebten.

Die Sonntagsschule dauerte von neun bis halb elf, danach kam noch der Gottesdienst, Bei diesem blieben immer zwei unserer kleinen Freunde freiwillig zugegen, der dritte auch, aber ihn lockte etwas anderes als die Predigt. Die Kirche selbst war klein und schmucklos, sie mochte in ihren geraden, hochlehnigen Bänken vielleicht dreihundert Menschen fassen. An der Tür zögerte Tom und ließ die anderen vorgehen, während er einen sonntäglich herausgeputzten Kameraden anredete:

»Sag' mal, Bill, hast du 'nen gelben Zettel?«

»Ja!«

»Was willst du dafür haben?«

»Was gibst du mir?«

»Ein Stück Süßholz und einen Angelhaken.«

»Zeig mal her.«

Tom zeigte her, Bill prüfte und fand das Gebotene des Zettels wert, so tauschten sie das Eigentum. Danach handelte Tom noch drei rote und zwei blaue Zettel gegen einige ähnliche kostbare Artikel ein. Zehn, fünfzehn Minuten lang fuhr er in dieser Beschäftigung fort, jagte allen möglichen Jungen Zettel in allen möglichen Farben ab und hatte nach Verlauf dieser Zeit eine recht stattliche Anzahl zusammen, die er schmunzelnd in die Tasche schob. Nun endlich betrat er inmitten eines Schwarms sonntäglich gesäuberter, aber etwas geräuschvoller Jungen und Mädchen die Kirche, setzte sich auf seinen Platz und begann sofort mit dem ersten besten Streit. Der Lehrer, ein ernster, gutmütig aussehender Herr, trat dazwischen, wandte dann aber für einen Moment den Rücken, was Tom sofort dazu benutzte, einem Jungen auf der vorderen Bank in die Haare zu fahren und einem anderen mit einer Nadel in den Arm zu stechen. Der Getroffene fuhr drauf mit einem zornigen »autsch« herum, was ihm, da Tom mit Unschuldsmiene in sein Buch starrte, einen strengen Verweis des Lehrers zuzog. Toms ganze Klasse schien nach seinem Muster zugeschnitten – unruhig, unaufmerksam, voller Tollheiten. Als sie ans Aufsagen kamen, wußte nicht einer seine Verse vollständig, doch stolperten sie durch mit Hängen und Würgen, so gut es eben ging. Die Belohnung für zwei fehlerlos aufgesagte Verse bestand in einem kleinen, blauen Zettel, auf den ein Bibelvers gedruckt war. Zehn blaue Zettel konnten für einen roten eingetauscht werden, zehn rote wiederum für einen gelben. Für zehn gelbe erhielt man dann vom Herrn Vikar eine kleine, sehr einfach gebundene Bibel, die unter Brüdern vielleicht vierzig Cents wert war. Wer unter meinen Lesern besäße wohl den Fleiß und die Ausdauer, zweitausend Bibelverse auswendig zu lernen und wenn man ihm eine Prachtbibel von Dors böte? Und doch hatte sich Mary zwei solcher Bibeln erobert, es war die geduldige, mühsame Arbeit zweier Jahre. Nur die älteren, vernünftigen und ernsten Schüler brachten es fertig, ihre Zettel zu sammeln und dieses langwierige und langweilige Werk so lange durchzuführen, bis sie eine Bibel erhalten konnten. Eben durch dies mühsame Erringen aber wurde die Auslieferung des hohen Preises jedesmal zu einer feierlichen, denkwürdigen Begebenheit. Der also Gefeierte erschien so groß und erhaben an einem solchen Ehrentage, daß sich beim Anblick seiner Größe in der Brust jeglichen Zuschauers ein heiliger Eifer und Ehrgeiz entzündete, der oftmals sogar viele Wochen anhielt. Auch Toms glühendster Wunsch war es, einmal auf diese Weise ausgezeichnet zu werden; nicht der Bibel halber, bewahre, ihm ging's um die Ehre und den Ruhm, den Glanz, der die ganze Zeremonie umstrahlte.

Nun trat der Herr Vikar, der die Sonntagsschule leitete, vor, ein kleines Testament zugeklappt in der Hand haltend, zwischen dessen Blättern sich der eine Zeigefinger barg, und bat um Aufmerksamkeit. Wenn ein Sonntagsschulvikar seine herkömmliche kleine Ansprache hält, so ist ihm ein Testament in der Hand so notwendig, wie das unvermeidliche Notenblatt dem Sänger, der das Podium betritt, um das Konzertpublikum mit einem Solo zu beglücken, – das Warum bleibt freilich ein Rätsel, denn weder Testament, noch Notenblatt wird von dem betreffenden Dulder je eines Blicks gewürdigt werden. Dieser Herr Vikar nun war eine etwas schmächtige, überschlanke Figur von etwa fünfundzwanzig Jahren, mit sandgelbem Bocksbart und sandgelben Haaren. Seine Miene war ernst, und feierlich war auch der Tom seiner Stimme, als er nach dem Muster der gewöhnlichen Sonntagsschulredner begann:

»Jetzt, Kinder, paßt auf; setzt euch alle so gerade und ruhig, wie ihr könnt und hört mir einmal ein paar Minuten lang recht aufmerksam zu. So, jetzt ist's recht! So müssen 's gute, kleine Knaben und Mädchen machen! Da sehe ich noch ein kleines Mädchen, das zum Fenster hinausguckt. Kleine, du denkst wohl, ich säße dort auf dem Baum und wolle den kleinen Vögelein da draußen etwas von unserem lieben Heiland erzählen, was? (Unterdrücktes Kichern.) Zuerst also möchte ich euch sagen, wie wohl es mir tut, so viele saubere, frohe kleine Gesichter an einem Ort, wie diesem, versammelt zu sehen, an dem sie lernen sollen, gut und brav zu sein und das Rechte zu tun.«

Und so weiter und so fort. Den Rest der Rede zu verzeichnen ist nicht nötig, sie hielt sich ganz an bekannte Muster, die jeder von uns schon tausendfältig gehört hat.

Das letzte Drittel der rednerischen Leistung wurde etwas gestört durch Wiederaufnahme der Püffe und Stöße und anderen Zeitvertreibs unter den schwarzen Schafen der kleinen Gemeinde. Ein Raunen und Flüstern begann, das sich mehr und mehr ausbreitete, ja selbst die Grundfesten solch unerschütterlicher Felsen wie Sid und Mary zu umspielen versuchte. Mit dem schlußandeutenden Sinken des Tons in des Redners Stimme ließ auch das Summen nach und der Schluß selbst wurde mit dem Ausbruch allgemeinsten, dankbaren Schweigens begrüßt.

Ein großer Teil der Unruhe war durch einen ebenso erstaunlichen als seltenen Zwischenfall verursacht worden – es waren Fremde gekommen! Der Bürgermeister erschien, begleitet von zwei Herren, einem alten, schwächlich aussehenden und einem jüngeren, stattlichen mit schon stark ergrauten Haaren. Voran ging eine Dame, offenbar die Frau des letzteren, die ein Mädchen an der Hand führte. Tom war bis dahin rastlos und unruhig gewesen, er hatte Gewissensbisse, und konnte Anny Lorenz nicht ansehen, deren Auge mit liebendem Blick das seine suchte. Als er nun aber die Kleine erscheinen sah, fühlte er sich wie trunken vor Wonne. Im nächsten Augenblick begann er mit Macht »sich zu zeigen«, – puffte seine Nachbarn, riß sie an den Haaren, schnitt Gesichter, kurz bediente sich aller jener Künste, die imstande sind, ein kleines Schulmädchenherz zu bezaubern und ihm Beifall abzugewinnen. Seiner Wonne wurde nur ein Dämpfer aufgesetzt durch den Gedanken an die Demütigung, welche er in jenes Engels Garten hatte erdulden müssen, aber die Erinnerung hieran war doch nur in den Sand verzeichnet, den schon jetzt die hochgehenden Wogen des Glücks, die seine Seele überfluteten, wegzuschwemmen begannen. Den Fremden wurde der beste Ehrenplatz angewiesen, und als des Vikars Rede zu Ende war, stellte sich heraus, wer sie seien. Der stattliche, ergraute Herr in mittleren Jahren entpuppte sich als eine große Persönlichkeit. Er war nichts mehr und nichts weniger als der oberste Richter des Kreises, das erhabenste Produkt der Schöpfung, das die Kinder je geschaut, und sie sannen drüber nach, aus welchem Stoff der wohl gemacht sein möge; halb sehnten sie sich danach, seine Donnerstimme zu vernehmen, und halb fürchteten sie sich davor. Er war aus Konstantinopel, zwölf Meilen flußabwärts, also ein weitgereister Mann, der die Welt kannte. Was der wohl alles schon gesehen hatte? Am Ende gar Washington und das »Weiße Haus«, das sich die Kinder wie eine blendende, leuchtende, flimmernde Masse von Eis und Schnee vorstellten, so weiß und so glänzend. Die durch solche Gedanken erweckte ehrfurchtsvolle Scheu prägte sich in dem atemlosen Schweigen, in den großen, runden, erstaunt drein starrenden Augen aus. Das also war der große, gewaltige Kreisrichter Thatcher, der Bruder ihres eigenen Bürgermeisters, der Onkel von Willy Thatcher, der da eben vortrat aus ihren Reihen und dem großen Mann die Hand bot, als sei das nichts. Hätte Willy gewußt, was das Flüstern bedeutete, das sich erhob, es hätte ihm wie Sphärenmusik in den Ohren geklungen!

»Sieh doch, Jim, Tom sieh doch! Er geht ja wahrhaftig hin und gibt ihm die Hand! Und der schüttelt sie. Weiß Gott, ich gab drei Steinkugeln drum, wenn ich der Willy wäre!«

Der Vikar begann sich nun »zu zeigen«, rannte hier hin, dort hin, erteilte Befehl, Lob, Tadel, wie's gerade kam und wo er nur irgendwas anbringen konnte. Der Bücherausteiler »zeigte sich« in übermäßigem Wichtigtun und Amtseifer, indem er mit den Armen voll Bücher hin und her rannte. Die jungen Damen, welche die verschiedenen Klassen unterrichteten, wollten gleichfalls nicht zurückbleiben, süß lächelnd neigten sie sich über kleine Schülerinnen, die sie kurz zuvor gescholten, hoben lieblich drohende Fingerlein gegen schlimme, kleine Jungen und streichelten andere zärtlich und milde. Die jungen Herren, welche als Lehrer wirkten, »zeigten sich« in kleinen, ernsten Strafreden, die sie ihren betreffenden Klassen hielten, und anderen ähnlichen Beweisen ihrer Autorität. Dabei hatten fast alle jugendlichen Lehrer beiderlei Geschlechts ganz erstaunlich viel mit Bücherwechseln zu tun in der Nähe der Kanzel, irrten sich erstaunlich oft in dem, was sie holten, mußten wieder und wieder gehen, zwei-, dreimal und schienen sich gewaltig drüber zu ärgern. Auch die kleinen Mädchen »zeigten sich« auf die verschiedenste Weise und die kleinen Jungen »zeigten sich« in ihrer Art, indem sie sich heimlich schubsten und die Luft mit emporgeschleuderten Papierpfropfen erfüllten. Und über dem allem thronte majestätisch der große Mann, ließ die Sonne seines Lächelns erstrahlen und wärmte sich an seiner eigenen Größe, denn er selbst, – er »zeigte sich« erst recht. Eines nur fehlte, um des Herrn Vikars Glück vollständig zu machen in dieser erhabenen Stunde, und das war die Möglichkeit der Erteilung eines Bibelpreises. Einige Schüler konnten ein paar gelbe Zettel aufweisen, keiner aber hatte die genügende Zahl, wie er sich bei einem Umfragen unter den ersten »Gestirnen« leider überzeugen mußte.

Da, im letzten Moment, als er schon jede Hoffnung fahren ließ, trat Tom Sawyer vor mit neun gelben, neun roten und zehn blauen Zetteln, – trat vor und verlangte eine Bibel! Das war ein Blitzschlag aus heiterem Himmel! Der Herr Vikar hatte auf ein solches Ansinnen aus dieser Himmelsrichtung jede Hoffnung aufgegeben gehabt, für die nächsten zwanzig Jahre mindestens. Aber die unglaubliche Tatsache ließ sich nicht wegleugnen, – hier stand Tom und da waren die Zettel und sie stimmten aufs Haar. Tom wurde also nach dem Ehrenplatze geleitet zu dem Kreisrichter und den anderen Auserlesenen und die erstaunliche Tatsache allen kund und zu wissen getan. Das wirkte nun förmlich versteinernd, war die außerordentlichste Begebenheit des Jahrzehnts, und so nachhaltig und tief war der Eindruck derselben, daß er den neuen Helden noch beinahe über den alten erhob und die Schule nun zwei Wunder statt des einen zu bestaunen hatte. Die Jungen verzehrten sich in Neid, zumeist aber diejenigen, die sich nun zu spät klarmachten, daß sie selbst zu diesem verhaßten Ruhme beigetragen, indem sie ihre Zettel an Tom verhandelten für die Reichtümer, die er durch zeitweilige Ablassung seiner Tünchungsprivilegien aufgerafft. Sie verachteten und verdammten sich selbst als überlistete Opfer eines schwarzen Betrügers, einer kriechenden, verräterischen Schlange.

Inzwischen wurde der Preis an Tom ausgeliefert mit so viel Pomp, als der Vikar nur irgend bei der Gelegenheit anbringen konnte. Der volle richtige Schwung aber schien doch dabei zu fehlen; ihm sagte der Instinkt, daß hier ein Geheimnis verborgen liege, welches das Licht nicht vertrage, ja es scheuen müsse. Es war einfach ein Ding der Unmöglichkeit, daß dieser Junge zweitausend Körner der Schriftweisheit in die Scheunen seines Geistes eingeheimst haben sollte, dieser Junge, dessen Fähigkeiten nicht hinreichend schienen, sich auch nur ein Nutzend solch köstlicher Früchte zu eigen zu machen, Anny Lorenz war stolz und glücklich und bemühte sich, es Vom in ihren Augen lesen zu lassen, der aber wollte nicht hersehen. Sie verwunderte und grämte sich darüber; dann faßte sie Verdacht und paßte auf; ein verstohlener Blick, den sie auffing, sagte ihr Welten und brach ihr armes Herz. Sie war eifersüchtig, zornig, Tränen kamen, sie haßte alle Welt, Tom aber zu allermeist, in ihrem Herzen.

Tom wurde dem Kreisrichter vorgestellt, aber die Junge schien ihm wie gelähmt, sein Atem stockte, sein Herz klopfte zum Zerspringen, teils wegen der furchterregenden Größe des gewaltigen Mannes, hauptsächlich aber, weil er ihr Vater war. Er wäre gerne vor ihm niedergesunken, wenn's nur dunkel gewesen wäre. Der große Mann legte die Hand auf Toms Haupt, nannte ihn einen tüchtigen, kleinen Burschen und fragte ihn, wie er heiße. Der Junge stammelte, stotterte und stieß endlich hervor:

»Tom.«

»Nun, doch nicht nur Tom, sondern –«

»Thomas.«

»So ist's recht, ich dachte mir wohl, es gehöre noch etwas dazu. Du hast aber doch wohl noch einen anderen Namen, denke ich, und den wirst du mir doch auch sagen, nicht?«

»Nenne dem Herrn deinen vollen Namen, Thomas,« mahnte der Vikar, »und sage auch ›mein Herr‹, oder ›Herr Kreisrichter‹, du mußt doch wissen, was sich schickt!«

»Thomas Sawyer – Herr Kreisrichter!«

»So, so ist's recht, das nenn' ich einen guten Jungen. Prächtiger Bursche! Wirklich prächtiger Kerl! Zweitausend Verse ist viel, – sehr viel! Aber, mein Kleiner, du wirst es gewiß nie bereuen, daß du dir so viel Mühe drum gegeben. Wissen ist mehr wert, als alles in der Welt, lernen und etwas wissen macht die großen und die guten Männer im Leben. Auch du wirst wohl einmal ein guter, vielleicht ein großer Mann, Thomas, und dann wirst du auf die Tage deiner Kindheit zurücksehen und sagen: das alles verdanke ich den unbezahlbaren Wohltaten, die ich durch die Sonntagsschule genossen, verdanke es meinen guten Lehrern, die mich zum Lernen anhielten, dem Herrn Vikar, der mich anfeuerte, mich leitete, mir die schöne Bibel schenkte, eine wundervolle, sein gebundene Bibel, die ich behalten durfte und ganz für mich allein besitzen, – alles, alles verdanke ich meiner guten, ausgezeichneten Erziehung. So wirst du sprechen, Thomas, und du ließest dir dann für kein Geld der Welt diese zweitausend Verse abkaufen, – für kein Geld der Welt, niemals! Und jetzt wirst du gewiß dieser Dame und mir etwas mitteilen, was du weißt, was du gelernt hast, nicht wahr? Denn sieh, wir sind stolz auf kleine Jungen, die etwas wissen. Ohne Zweifel kannst du uns doch die Namen der Jünger des Herrn sagen? Du kennst sie gewiß alle zwölf. Sag' uns einmal, wer waren die zwei ersten, die ihm nachfolgten?«

Tom hatte währenddessen immerzu an einem Knopf seiner Jacke herumgedreht und möglichst dumm und einfältig dazu ausgesehen. Jetzt wurde er glühend rot und bohrte die Augen beinahe in den Boden. Dem Vikar sank das Herz in die Stiefel, Er wußte, daß der Junge unmöglich die allereinfachste Frage beantworten konnte, warum auch mußte der Herr Kreislichter ihn fragen! Trotzdem fühlte er sich gedrungen, gleichsam ermunternd zu sagen:

»Antworte dem Herrn, Thomas, – fürchte dich doch nicht!«

Tom tat nichts als rot und röter werden.

»Mir wirst du's doch sagen,« begann nun auch die Dame; »also die Namen der beiden ersten Jünger waren –«

» David und Goliath

Laßt uns den Schleier christlicher Barmherzigkeit über den Rest der Szene breiten. Auch was Tante Polly später zu der Bibel sagte und wie sie sich drüber freute, erwähnen wir besser nicht.

Fünftes Kapitel.
Eine Zahnoperation. – Toms Freund. – Ein Mittel gegen Warzen. – Ein Strafgericht und Fortschritte in der Liebe.

Der Montagmorgen fand Tom sehr niedergeschlagen. Das war eigentlich an jedem Montagmorgen der Fall, denn damit begann ja eine neue Woche der Plage und des Leidens in der Schule. Gewöhnlich begrüßte er diesen Tag mit dem Wunsche, daß es lieber gar keine Feiertage geben möchte, denn das machte die nun wieder aufzunehmenden Ketten der Sklaverei nur um so drückender und fühlbarer.

Tom lag da und dachte nach. Plötzlich kam ihm die leuchtende Idee: wenn er nun krank wäre, dann brauchte er doch nicht zur Schule, Was war die einzige Möglichkeit, Er untersuchte und prüfte sein ganzes Körpersystem, Nirgends fand sich auch nur das geringste Schadhafte, Von neuem prüfte er. Diesmal meinte er leise Anzeichen von kolikartigen Schmerzen zu verspüren, die er mit rasch aufkeimender Hoffnung liebend zu beobachten begann. Trotzdem verringerten sich dieselben aber bei näherer Betrachtung mehr und mehr und waren bald gänzlich verschwunden. Wieder überlegte Tom. Plötzlich entdeckte er etwas. Einer seiner oberen Zähne wackelte bedenklich, Er frohlockte. Schon begann er sich zu einem tiefen Stöhnen vorzubereiten, das er als Einleitung vorausschicken wollte, als ihm noch zur richtigen Zeit der Gedanke kam, daß, wenn er diesen Beweis von Krankheit ins Feld führe, die Tante ihm einfach den Zahn ausreißen würde, und das tat weh. Damit wollte er also nur im Notfall herausrücken und jetzt erst noch ein bißchen weiterherum denken. Eine Weile war alles Sinnen umsonst, dann erinnerte er sich, wie der Doktor einmal von einem Manne erzählt hatte, dem irgend etwas, Tom wußte nicht mehr genau was, etwas wie kalter Brand oder dergleichen, bei einem schlimmen Finger hinzugetreten sei, daß derselbe zwei bis drei Wochen damit zu tun gehabt und schließlich beinahe den Finger verloren habe. Zum Glück war Tom imstande, eine schlimme Zehe aufzuweisen, die er sich vor ein paar Tagen einmal irgendwo verletzt hatte. Die zog er nun eiligst unter der Decke vor, um sie aufs eingehendste zu prüfen. Damit ließ sich was machen! Leider kannte er die nötigen Symptome nicht, über die er sich beklagen mußte, aber probieren wollte er's doch auf jeden Fall und so begann er denn laut und tief aufzustöhnen.

Sid aber schlief ruhig und sorglos weiter.

Tom stöhnte lauter und meinte auf einmal wirklich Schmerz in der Zehe zu spüren.

Sid gab kein Zeichen.

Tom leuchte schon förmlich vor Anstrengung. Einen Moment sammelte er neue Kraft, hielt den Atem an und stieß dann eine ordentlich fortlaufende Tonleiter von wunderbar echtem Stöhnen aus.

Sid schnarchte weiter.

Nun wurde Tom ärgerlich. Er begann den hartnäckigen Schläfer zu rütteln und »Sid, Sid« zu rufen. Das wirkte besser und nun begann das Stöhnen von neuem. Sid gähnte, streckte sich, stützte sich dann mit einem letzten Schnarcher auf seinen Ellbogen und starrte nach Tom hin. Tom stöhnte weiter. Endlich ruft Sid:

»Tom, so hör' doch, Tom!«

Keine Antwort.

»Nu, Tom, Tom, was ist los?« und er rüttelte ihn und starrte ihm voll Angst ins Gesicht.

Tom stöhnte:

»Ach, Sid, laß los, du tust mir weh!«

»Herr Gott, was gibt's, Tom? Ich muß die Tante rufen.«

»Nein, laß sein. Es wird schon vorübergehen. Ruf' niemand.«

»Doch, natürlich, das muß ich. Stöhn' doch nicht so, Tom, das ist ja schrecklich. Wie lang tut dir's denn schon weh?«

»Ach, stundenlang. Autsch, autsch! Sei doch still, Sid, und laß mich in Ruhe.«

»Warum hast du mich denn nicht früher geweckt? Herr Gott, Tom, hör' auf, es macht einen ja elend, dich so stöhnen zu hören. Wo tut dir's denn weh?«

»Ich verzeih' dir alles, Sid, was du mir je getan hast, (Stöhnen.) Alles, alles, Sid! Wenn ich tot bin –«

»O, Tom, du wirst doch nicht sterben? Sag nein, Tom, komm, sag nein. Vielleicht –«

»Ich vergebe allen Menschen, Sid. (Tiefes Stöhnen.) Sag's allen. Und, Sid, gib du die schöne gelbe Türklinke, die ich habe, und die einäugige Katze dem Mädchen, das neulich erst gekommen ist und sag ihr –«

Aber Sid hatte schon seine Kleider aufgerafft und war verschwunden. Tom litt nun in Wahrheit, so lebhaft arbeitete seine Einbildungskraft und sein Stöhnen fing an erschreckend natürlich zu klingen.

Sid flog die Treppe hinunter und rief atemlos:

»Tante Polly, Tante Polly, komm schnell, Tom stirbt!«

»Stirbt?«

»Ja, ja, eil' dich doch, frag' nicht lang.«

»Dummheiten! Ich glaub's nicht.«

Trotzdem aber stürzte sie die Treppe hinauf, so schnell sie ihre alten Beine tragen wollten und Mary hinter ihr her. Blaß war auch sie geworden und ihre Lippen zitterten. Am Bett angelangt, keuchte sie nur so:

»Tom, Tom, was gibt's, was ist los?«

»Ach, Tante, ich –«

»Was gibt's – was ist's, Kind, was fehlt dir?«

»Ach, Tante, ich – ich hab' furchtbare Schmerzen da an meiner Zehe, – ich hab' – ja ich hab', glaub' ich – den kalten Brand!«

Erleichtert aufseufzend sank jetzt die arme Tante auf einen Stuhl, lachte ein wenig, weinte ein wenig, tat dann beides zusammen, was sie wieder so weit herstellte, daß sie Worte fand:

»Tom, Bengel, wie hast du mich erschreckt! Jetzt hör' aber auf mit dem Unsinn und mach', daß du ans dem Bett kommst. Es ist Zeit zum Aufstehen! Vorwärts – oder ich geb' dir was, um deinen kalten Brand zu wärmen!«

Das Stöhnen hörte auf und der Schmerz verschwand aus der Zehe. Kleinlaut und niedergedrückt ob des verunglückten Experiments meinte der Junge:

»Tante, wahrhaftig, ich glaubte, es müsse der kalte Brand sein, es tat so furchtbar weh, daß ich gar nicht mehr an meinen Zahn dachte.«

»An deinen Zahn? Was ist denn mit dem Zahn los?«

»Ach, der wackelt und tut gar schrecklich weh.«

»Na, na, nur nicht wieder stöhnen, ist ganz unnötig! Mund auf! Ja, der wackelt richtig, daran stirbst du aber noch lange nicht! Mary, gib mir einen Seidenfaden und hol' ein Stück glühende Kohle aus der Küche!«

Eiligst rief Tom, der plötzlich ganz munter wurde: »Bitte, bitte, Tantchen, zieh' ihn mir nicht aus, er tut schon gar nicht mehr weh. Ei, ich will des Todes sein, wenn ich noch das geringste spüre! Bitte, bitte, nicht, Tantchen, ich will ja doch wahrhaftig nicht zu Hause und von der Schule wegbleiben.«

»So, du willst nicht zu Hause bleiben, mein Junge, willst durchaus nicht, was? Also deshalb all der Lärm! Wärst wohl gern aus der Schule geblieben und dafür fischen gegangen, gelt? Na, ich kenn' dich, Tom, durch und durch, mir machst du keine Flausen vor, du Bengel! Tom, Tom, und ich hab' dich doch so lieb und du, – du denkst nur dran, wie du deiner alten Tante das Herz brechen kannst. Geh, schäm' dich in deine schwarze Seele hinein!«

Mittlerweile waren die zahnärztlichen Instrumente zur Stelle geschafft worden. Ein Ende des Seidenfadens befestigte die Tante mit einer Schlinge an Toms Zahn, während sie das andere um den Bettpfosten schlang, so daß der Faden straff angespannt war. Dann ergriff sie mit einer Zange die glühende Kohle und fuhr damit geschwind auf Toms Gesicht los. Ein Ruck – und der Zahn hing baumelnd am Bettpfosten.

Wie aber jede überstandene Prüfung ihren Lohn in sich trägt, so auch diese. Als sich Tom später mit der neuerworbenen Zahnlücke auf der Straße zeigte, war er ein Gegenstand des Neides für alle Kameraden, denn keiner von ihnen war imstande, auf solch neue, noch nie dagewesene Weise auszuspucken, wie es nun Tom, durch die Lücke in der Zahnreihe, tat. Er zog ein ganzes Gefolge von Bewunderern hinter sich her, die sich für die Schaustellung interessierten, und ein anderer Junge, der bis dahin, wegen eines verletzten Fingers, der Mittelpunkt der Verehrung und Bewunderung gewesen, sah sich plötzlich all seines Ruhmes beraubt, er mußte ohne Erbarmen dem neu aufstrahlenden Gestirne weichen und zurücktreten in den Schatten des Nichts. Sein Herz war ihm drob schwer, und eine Verachtung heuchelnd, die ihm fern lag, meinte er: das sei auch was Rechtes, so auszuspucken, wie Tom Sawyer. Da schallte ihm ein höhnendes: saure Trauben, saure Trauben! entgegen und beschämt schlich er zur Seite, ein entthronter Held.

Auf dem Wege zur Schule traf Tom den jugendlichen Paria des Ortes, Huckleberry Finn, den Sohn des bekanntesten Stadt-Trunkenboldes. Huckleberry war der Gegenstand des Abscheus und Hasses aller Mütter der Stadt, die ihn fürchteten wie die Pest, weil er faul und zuchtlos, roh und böse war, wie sie dachten, und weil – ihre eigenen Jungen ihn anstaunten und vergötterten, sich förmlich um seine verbotene Gesellschaft rissen und alles drum gegeben haben würden, wenn sie hätten sein dürfen, wie er. Tom, wie alle die anderen »ordentlichen, anständigen Jungen«, beneidete Huckleberry um seine verlockende Existenz, und es war ihm streng untersagt worden, je mit dem »schlechten Kerl« zu spielen. Gerade darum tat er es denn auch gewissenhaft, wenn sich nur irgend Gelegenheit dazu fand – und tat es mit Wonne, Huckleberry steckte immer in alten, abgelegten Kleidern von Erwachsenen, deren Fetzen und Lumpen nur so um ihn herumhingen. Sein Hut war nur die Ruine einer vormaligen Kopfbedeckung, deren Rand zerfetzt auf die Schultern niederbaumelte. Sein Rock, wenn er überhaupt einen trug, hing ihm bis auf die Füße und zeigte die hinteren Knöpfe etwa in der Gegend der Kniekehlen. Nur ein Träger hielt seine Hose an Ort und Stelle, Hosen, deren geräumige Sitzpartie zu leer war und sich nur zuweilen im Winde blähte, während die ausgefransten Enden im Schmutz nachschleiften, wenn sie nicht zufällig aufgekrempelt waren. Huckleberry kam und ging, wie es ihm beliebte. Bei schönem Wetter schlief er auf Treppenstufen oder sonstwo, bei schlechtem in leeren Fässern, alten Kisten, oder wo er eben unterkriechen konnte, wählerisch war er keineswegs. Er brauchte nicht zur Schule, nicht zur Kirche, brauchte niemanden als Herrn anzuerkennen, brauchte keiner lebenden Seele zu gehorchen. Er konnte schwimmen und fischen gehen, wann und wo er wollte, konnte bleiben, solang' es ihm behagte. Niemand verbot ihm, sich mit anderen zu prügeln, und abends konnte er aufbleiben bis Mitternacht und länger, ihn zankte keiner. Er war der erste, der barfuß lief im Frühling und der letzte, der im Herbste wieder in das lästige Leder kroch. Zu waschen brauchte er sich nie, zu kämmen auch nicht, noch frische Wäsche anzuziehen, und fluchen konnte er wie ein Alter, wundervoll. Mit einem Wort, alles, alles, was das Leben schön und angenehm macht, besaß dieser beneidete Huckleberry im reichsten Maße. So dachte und fühlte jeder einzelne der armen, geplagten, »anständigen« Jungen in St. Petersburg. Tom rief also natürlich diesen für ihn romantischsten aller Helden sofort an:

»Holla, Huckleberry!«

»Holla, du selber!«

»Was hast du da?«

»Tote Katze.«

»Zeig her, Huck. Herrgott, wie steif! Woher hast du's?«

»Gekauft von 'nem Jungen.«

»Was hast du dafür gegeben?«

»'ne Schweinsblase und 'nen blauen Zettel.«

»Woher war denn der blaue Zettel?«

»Von Ben Rogers, dem hab ich vor vierzehn Tagen 'ne prachtvolle Gerte dafür gegeben.«

»Zu was kann man denn tote Katzen brauchen, Huck?«

»Zu was? Ei, um Warzen zu vertreiben.«

»Nein! Wahrhaftig? Ich weiß noch was Besseres.«

»Du? Wird was Recht's sein! Was denn?«

»Wasser aus faulem Holz!«

»Wasser aus faulem Holz! Ist den Kuckuck nix wert.«

»Nichts wert? Hast du's probiert?«

»Ich nicht, aber Bob Tanner.«

»Wer hat dir's gesagt?«

»Wer? Ei er hat's dem Willy Thatcher gesagt und der dem Johnny Baker und der dem Jim Hollis und der dem Ben und der Ben 'nem alten Nigger und der mir. Na, nun weißt du's!«

»Na und was weiter? 's ist ja doch nur gelogen! Die lügen alle miteinander, bis auf den Nigger, den kenn' ich nicht. Aber ich kenn auch keinen Nigger, der nicht lügt, oder du? Jetzt aber erzähl', wie's der Bob Tanner gemacht hat mit den Warzen, Huck!«

»Na, der hat seine Hand in 'nen alten Baumstumpf gesteckt, in dem Regenwasser war.«

»Am Tag?«

»Natürlich.«

»Mit dem Gesicht nach dem Baum zu?«

»Gewiß, ich glaub' wenigstens.«

»Hat er was dazu gesagt?«

»Was weiß ich? – Wahrscheinlich nicht!«

»Aha! Da haben wir's! Und dann will der Kerl Warzen mit faulem Wasser kurieren und stellt sich so an! Da kann's natürlich nichts nützen. Ich will dir sagen, wie man's macht. Erst geht man ganz mutterseelenallein mitten in den Wald, wo man einen alten Baumstumpf mit Wasser weiß und dann, wenn's Mitternacht ist, stellt man sich mit dem Rücken nach dem Stumpf zu, tunkt die Hand ins Wasser und sagt:

Schreit die Eule, quakt der Frosch, scheint der Mond darauf,
Faules Wasser, Zauberwasser zehr' die Warzen auf!

Danach tritt man rasch mit geschlossenen Augen elf Schritt vor, dreht sich dreimal um sich selbst und geht heim, ohne mit jemand ein Wort zu reden. Denn wenn man das tut, ist der Zauber gebrochen!«

»Na, das läßt sich hören, so aber hat's der Bob nicht gemacht, das weiß ich gewiß!«

»Ja, da hast du wahrlich recht, denn der ist jetzt noch der warzigste Jung' in der Schule, und wenn er sich mit dem faulen Wasser nicht dumm angestellt hätte, so brauchte er keine einzige mehr zu haben. Ich bin so schon über tausend Warzen los geworden, Huck. Ich greif' so viele Frösche an, daß ich immer ein paar Dutzend Warzen an den Händen habe. Manchmal nehm' ich auch eine Bohne.«

»Ja, Bohnen sind gut. Das hab ich schon selbst probiert.«

»Wirklich? Wie machst du's?«

»Ei, ich nehm die Bohne und schneid sie in zwei Stücke, ritz dann die Warze blutig und tröpfle das Blut auf das eine Stück der Bohne und vergrab das um Mitternacht beim Vollmond am Kreuzweg. Das andere Stück wird verbrannt. Jetzt zieht und zieht das blutige Stück und will das andere nachziehen, und das Blut zieht mit und zieht, bis die Warze fort ist. So mach ich's.«

»Und das ist auch ganz richtig, Huck, nur hilft's noch mehr, wenn du beim Vergraben sagst: ›Fort die Bohne, Warze fort, komm nicht mehr zum alten Ort.‹ Das ist ausgezeichnet, sag ich dir. So macht's Joe Harper und der war schon beinahe in Cronville und fast überall. Aber das mit der toten Katze, das weiß ich nicht.«

»Na, das ist einfach. Du nimmst die tote Katze und gehst auf den Kirchhof, so um Mitternacht herum, auf das Grab von irgendeinem schlechten Kerl. Schlag zwölf kommt dann der Teufel, vielleicht auch zwei oder drei, man sieht sie nur nicht und hören tut man nur so was wie Wind. Und wenn sie dann den Kerl mit sich fortnehmen, schmeißt man ihnen die Katze nach und ruft:

Will der Deubel sich versehn,
Muß die Katze noch drein gehn,
Warze fliegt auch hinterdrein,
Werd' alle drei los dann sein!

Das vertreibt dir jede Warze noch vor der Geburt.«

»Klingt nicht übel. Hast du's mal probiert, Huck?«

»Nee, aber die alte Mutter Josephine hat's mir gesagt.«

»Na, die muß es wissen, das soll ja 'ne Hexe sein.«

»Soll sein! Ist's, Tom, ist's, das weiß ich genau. Die hat meinen Alten behext, das sagt der immer. Wie der einmal an ihr vorbeigegangen ist, hat er grad' gesehen, wie sie ihn behext hat, und da hat er einen Stein genommen und den nach ihr geschmissen; wenn die sich nicht gebückt hätt', war' sie längst keine Hex' mehr. Na und in derselbigen Nacht ist mein Alter von einer Mauer gefallen, auf der er gelegen hat und geschlafen, weil er betrunken war und hat den Arm gebrochen.«

»Puh, das ist ja gräßlich! Woran hat er denn gemerkt, daß sie ihn behext?«

»Woran? Ei, das weiß mein Alter ganz genau. Er sagt, wenn sie einen immerzu anstarren und was dazu brummen, dann behexen sie einen, besonders wenn sie brummen und was vor sich hinmurmeln. Dann sagen sie das Vaterunser rückwärts.«

»Sag mal. Huck, wann willst du denn das mit der Katze probieren?«

»Heut nacht. Ich denk, da werden sie den alten Williams holen kommen.«

»Der ist aber schon am Sonnabend begraben worden, Huck, warum haben sie ihn da nicht schon in der Nacht geholt?«

»Na, du redst auch, wie du's verstehst! Sonnabend Mitternacht ist doch schon Sonntag und da hat kein Teufel mehr was zu suchen hier oben. Der wird sich schwer hüten, sich am Sonntag blicken zu lassen.«

»Daran hab ich freilich nicht gedacht. Wahrhaftig, so ist's. Darf ich mitgehen?«

»Meinethalben, wenn du dich nicht fürchtest.«

»Fürchten? Na, auch noch! Wirst du miauen vor unserem Haus, wenn's Zeit ist?«

»Ja, wenn du mich nicht warten läßt. Das letztemal hab ich so lang miauen müssen, bis euer alter Nachbar mit Steinen nach mir warf und auf den Kater fluchte, der ihm keine leibliche Ruhe lasse. Zum Dank hab ich ihm 'nen Backstein durchs Fenster geschmissen, der wird an den Kater denken! Aber verrat' du mich nicht.«

»Wo werd' ich! Damals hab ich nicht kommen können, weil mir die Tante immer auf den Hacken saß. Heut aber komm' ich und wenn's Feuer und Pech regnet. – Was ist denn das, Huck?«

»Ach, nur 'ne Baumwanze.«

»Woher denn?«

»Aus dem Wald.«

»Was willst du dafür?«

»Ich – ich weiß nicht, ich geb's gar nicht her.«

»Gut, 's ist auch nur 'ne ganz lumpig kleine Wanze.«

»Na, das kann jeder sagen, der keine hat. Mir ist sie groß genug, mir ist sie lang gut.«

»Pah, ist auch was Rares! Ich könnt' tausend haben, wenn ich nur wollte.«

»Na, warum willst du nicht? Gelt, du weißt warum, Alterchen! Die Baumwanze hier ist was Seltenes, denn 's ist noch früh für Baumwanzen, Wenigstens ist's die erste, die ich dies Jahr sehe!«

»Hör' du, Huck, ich geb dir meinen schönen Zahn dafür.«

»Zeig her.«

Tom zog ein Stückchen Papier hervor, das er sorgfältig aufrollte. Huck sah prüfend hinein. Die Versuchung war groß. Zuletzt fragte er:

»Ist der auch echt?«

Ohne jede weitere Beteuerung öffnete Tom den Mund, um die Lücke zu zeigen.

»Na, gut,« meinte Huck, »also abgemacht, schlag ein!«

Tom barg die Wanze vorsichtig in einer kleinen Schachtel, die ähnlichem Gewürm schon öfter zum Gefängnis gedient und immer für vorkommende Fälle in Toms Tasche bereit war. Huck sackte den Zahn ein und beide Jungen trennten sich, jeder in dem erhebenden Bewußtsein, einen sehr guten Tausch gemacht zu haben.

Als Tom das kleine, einzeln gelegene Schulhaus erreichte, öffnete er hastig die Türe und eilte auf seinen Platz, als käme er eben mit größtmöglicher Geschwindigkeit direkt von Hause angestürzt. Geschäftig hing er seinen Hut an den Nagel, warf die Bücher auf den Tisch, sich selbst auf die Bank und machte Miene, sich Hals über Kopf in die Arbeit zu stürzen. Der Lehrer, der hoch oben hinter dem Katheder auf einem hochlehnigen Rohrsessel thronte, und der bei der Stille, die das eifrige Summen der lernenden Kinder nur noch einschläfernder machte, ein klein wenig eingenickt war, erwachte von der Unterbrechung:

»Thomas Sawyer!«

Als Tom diesen seinen Namen in unverkürzter Schönheit an sein Ohr schlagen hörte, wußte er, daß es nichts Gutes bedeute.

»Herr Lehrer!«

»Komm einmal hierher zu mir. Warum bist du wie gewöhnlich wieder zu spät dran?«

Eben wollte Tom irgendeine kleine Notlüge zu Hilfe nehmen, als er zwei lange, blonde Schwänze gewahrte, die an einem Rücken niederbaumelten, den er sofort mit dem elektrischen Instinkt der Liebe erkannte. Und neben jenem Rücken war der einzige leere Platz, bei den Mädchen drüben. Schnell gefaßt sagte er daher:

»Ich mußte noch etwas mit Huckleberry Finn verabreden!«

Dem Lehrer stand der Atem still, hilflos, ungewiß starrte er den kecken Sünder an. Das Summen der Lernenden verstummte, die Kinder trauten ihren Ohren nicht ob dieser offenen Sprache, dachten, Tom müsse verrückt geworden sein. Endlich, nach atemloser Pause, fand der Lehrer Worte:

»Was – was hast du gesagt?«

»Mußte noch etwas mit Huckleberry Finn verabreden,« wiederholte Tom sorglos.

Ein Mißverständnis war hier nicht möglich.

»Thomas Sawyer, auf dieses ganz außerordentlich erstaunliche Bekenntnis kann nur die Rute antworten, Jacke herunter!«

Und nun tanzte des Lehrers Rute auf Toms Rücken, bis Hand und Arm fast lahm waren und die Rute sich in Wohlgefallen auflöste. Dann folgte der Befehl:

»Jetzt gehst du und setzest dich zur Strafe zu den Mädchen! Und laß dir das als Warnung dienen! Marsch!«

Das Kichern, welches nun das Zimmer durchlief, schien den Jungen sehr verlegen zu machen, in Wahrheit war es aber nur das Bewußtsein, erreicht zu haben, wonach er gestrebt, nämlich sich seiner Gottheit nahen zu dürfen. Standhaft wie ein Märtyrer, hatte er die Prügel ertragen, die gleichsam die dunkle Pforte bildeten, durch die er nun zu seinem Paradiese eingehen sollte. Vorsichtig ließ er sich ganz am äußersten Ende der Bank nieder. Mit einem verächtlichen Zurückwerfen des Kopfes rückte das Mädchen soweit als möglich von ihm weg. Das Flüstern, Köpfezusammenstecken, Kichern und das bedeutungsvolle Anstarren des armen Sünders dauerte noch eine Weile fort, Tom aber schien keine Notiz davon zu nehmen. Still saß er da, hatte die Arme über den Tisch gelegt und sah mit großer Aufmerksamkeit in sein geöffnetes Buch. Allmählich hörte er auf, der Gegenstand der allgemeinen Beachtung und Heiterkeit zu sein, und wieder füllte das gewöhnliche Summen der Schule die sommerlich stille Luft. Jetzt begann Tom verstohlene Blicke nach seiner Göttin zu werfen. Sie bemerkte es, rümpfte das Näschen und wandte eine volle Minute lang den Kopf ab. Als sie verstohlen wieder nach ihrem Banknachbar hinblinzelte, lag ein Pfirsich vor ihr. Sie stieß ihn weg, Tom legte ihn sorgsam wieder vor sie; wieder stieß sie ihn fort, aber schon mit weniger Heftigkeit. Geduldig schob Tom ihn zurück, da ließ sie ihn liegen. Jetzt kritzelte Tom auf seine Tafel: »Bitte, behalt ihn – ich habe noch mehr.« Sie las die Worte, gab aber kein Zeichen von sich, weder zustimmend, noch verneinend. Jetzt begann der Junge etwas auf seine Tafel zu zeichnen, das er mit der linken Hand vor ihren Blicken barg. Eine Weile lang schien sie sich gar nicht darum zu kümmern, bald aber begann sich menschliche Neugier in ihr zu regen, die sich in allerlei kaum bemerkbaren Zeichen kundgab, Tom zeichnete weiter, anscheinend ganz in sein Werk versunken. Das Mädchen suchte auf unverfängliche Art sich einen Blick auf die Zeichnung zu verschaffen, der Junge aber verriet mit keiner Miene, daß er dies bemerkte. Endlich gab sie nach und flüsterte zögernd:

»Du, laß mich doch mal sehen!«

Tom enthüllte nun das traurige Zerrbild eines Hauses mit zwei windschiefen Giebeln, aus dessen Schornstein ein korkzieherartiges Rauchwölkchen ausschwebte. Jetzt war des Mädchens ganzes Interesse wach, und alles darüber vergessend, folgte sie mit Eifer der Vollendung des Meisterwerks. Als es fertig war, bestaunte sie es einen Moment und flüsterte dann: »Wundervoll – jetzt noch 'nen Mann!«

Der Künstler stellte einen Mann in den Vordergrund, lang wie ein Mastbaum; mit einem Schritt hätte er über das Haus wegsteigen können. Die Zuschauerin aber war nicht kritisch, ihr gefiel das Ungetüm und sie wisperte:

»Der Mann ist prächtig – nun mach' mich, wie ich daherkomme!«

Tom malte eine Art Achter mit einem kreisrunden Vollmond oben und vier dünnen Streifen als Arme und Beine. Die sich weit aufspreizenden Finger bedachte er mit einem ungeheuren Fächer. Das Original des Gemäldes fühlte sich geschmeichelt und meinte:

»Nein, wie nett – wenn ich doch zeichnen könnte!«

»Das ist leicht,« flüsterte Tom, »ich will dich's lehren!«

»O, willst du? Wann?«

»Am Mittag. Gehst du zum Essen heim?«

»Wenn du bleibst, bleib ich auch.«

»Gut, das ist also abgemacht. Wie heißt du?«

»Becky Thatcher. Und du? Ach, ich weiß, Thomas Sawyer.«

»So heiß ich nur, wenn ich Schelte oder Prügel krieg, sonst heiß ich Tom. Du rufst mich Tom, gelt?«

»Ja.«

Jetzt kritzelt Tom was auf die Tafel, mit der linken Hand das Geschriebene zuhaltend. Diesmal wollte sie's gleich sehen. Tom sagte:

»O, 's ist nichts.«

»Doch, doch.«

»Nein, 's ist nichts, es liegt dir gar nichts dran, ob du's siehst.«

»Doch, nein wirklich, bitte, laß mich sehen.«

»Du wirst's weiter sagen.«

»Nein, nein und dreimal nein, gewiß und wahrhaftig nicht.«

»Wirst du's aber auch keinem Menschen sagen, solang du lebst?«

»Nie im Leben, niemand! Nun zeig aber auch.«

»Ach, dir liegt ja doch nichts dran!«

»Jetzt, wenn du so bist, Tom, da muß ich's sehen –« und sie legte ihre kleine Hand auf die seine, worauf sich ein kleiner Kampf entspann, Tom schien im Ernst widerstreben zu wollen, zog aber seine Hand allmählich doch so weit zurück, daß die Worte sichtbar wurden: »Ich liebe dich.«

»O, du Abscheulicher!« Und sie gab ihm einen tüchtigen Klaps auf die Hand, wurde aber rot und schien gar nicht ungehalten.

Im selben Moment fühlte der Junge einen schicksalsschweren Griff an seinem Ohr, dazu einen unwiderstehlich nach oben ziehenden Drang, und ehe er wußte wie, befand er sich an seinem eigenen Platz, unter dem Feuer gewaltiger Lachsalven der ganzen Schule. Unerbittlich, wie das Schicksal, starrte der Lehrer noch während einiger schrecklicher Momente auf ihn nieder, begab sich aber dann schließlich feierlich zurück nach seinem Thron, ohne ein Wort zu sagen. Und obgleich Toms Ohr brannte, triumphierte sein Herz.

Als der Sturm in der Schule sich wieder gelegt hatte, machte Tom den ernsten Versuch, zu lernen, aber der Sturm in seinem Innern war zu gewaltig. Jetzt sollte er lesen, die Reihe war an ihm, er brachte aber vor Stammeln und Stottern keinen Satz zusammen; dann kam die Geographiestunde, Bei Tom wurden Seen zu Bergen, Berge zu Flüssen und Flüsse zu Inseln, bis das Chaos wieder über die Welt hereingebrochen zu sein schien. Beim Diktatschreiben, in dem er sonst einer der Besten war, stolperte er über die kinderleichtesten Wörter, hatte in einem Diktat von zehn Linien fünfzig Fehler und mußte die bleierne Verdienstmedaille, die er bis dahin für diese seine erste und einzige Kunst mit soviel Stolz getragen, ohne alle Gnade einer würdigeren Brust überliefern.

Sechstes Kapitel.
Wanzendressur und Liebeserklärungen.

Je eifriger Tom sich bemühte, seine Gedanken fest auf das Buch zu heften, um so rastloser schweiften sie rings in der Weite herum. So gab er es denn zuletzt mit einem Seufzer und einem Gähnen auf. Ihm schien die erlösende Mittagsstunde heute niemals schlagen zu wollen. Die Luft draußen war vollständig regungslos, nicht der kleinste Hauch belebte die Stille. Es war der schläfrigste aller schläfrigen Tage. Das eintönige Gemurmel der fünfundzwanzig eifrig studierenden Schüler umspann die Seele mit demselben einschläfernden Zauber, der in dem Gesumm der Bienen liegt. Hoch oben am blauen Sommerhimmel schwebten zwei Vögel auf trägen Schwingen, sonst war draußen kein lebendes Wesen zu erblicken, außer einigen Kühen, welche schliefen.

Toms Herz sehnte sich nach Freiheit, oder doch wenigstens danach, irgend etwas von Interesse zu haben, das ihm die schreckliche Langeweile vertreiben helfe. Mechanisch wanderte seine Hand zur Tasche und, siehe da, sein Antlitz erhellte ein Strahl dankbarer Rührung. Verstohlen kam die kleine Schachtel zum Vorschein, die Baumwanze wurde befreit und auf den langen, schmalen Schultisch gesetzt. Die unvernünftige Kreatur erglühte in diesem Augenblick Wohl gleichfalls in tiefster Dankbarkeit, doch diese Wonne kam verfrüht, denn kaum hatte sie sich jubelnden Herzens marschfertig gemacht, als das grausame Schicksal, in Gestalt einer Stecknadel in Toms Hand, ihrem Laufe eine andere Richtung gab.

Toms Busenfreund saß neben ihm, leidend, wie dieser soeben noch gelitten, und zeigte sich augenblicklich von tiefstem, dankbarstem Interesse erfüllt für die neue Unterhaltung. Dieser Busenfreund war Joe Harper. Die ganze Woche hindurch waren die beiden Jungen geschworene Freunde, der Sonnabend nur sah sie regelmäßig als Gegner auf dem Schlachtfelde. Joe zog sofort eine Stecknadel aus seinem Jackenfutter und begann sich mit Lust und Liebe am Einexerzieren der gefangenen Wanze zu beteiligen. Von Minute zu Minute nahm die Sache an Interesse zu. Bald meinte Tom, daß sie sich gegenseitig nur hinderten und somit keiner den vollen Genuß an der Wanze haben könne. So nahm er denn Joes Tafel vor sich hin auf den Tisch und zog von oben bis unten eine Linie genau durch die Mitte derselben.

»Jetzt,« sagte er, »paß auf! Solang die Wanze auf deiner Seite ist, darfst du sie treiben mit der Nadel und ich laß sie in Ruhe. Brennt sie dir aber durch und kommt zu mir herüber, dann siehst du zu, so lang, bis sie mir wieder durchgeht. Hast du verstanden?«

»Schon gut, nur vorwärts,« trieb der ungeduldige Joe, – »kitzle sie 'mal ein bißchen!«

Die Wanze entwischte Tom schleunigst und passierte die Linie, nun war die Reihe des »Kitzelns« an Joe, gleich danach hatte sie wiederum den Äquator gekreuzt. Dieser Wechsel wiederholte sich des öfteren. Während nun der eine Junge die unglückselige Baumwanze mit der Nadel anspornte, in nimmer erlahmendem Eifer, schaute der andere in atemloser Spannung zu, die beiden Köpfe waren tief über die Tafel gebeugt, die beiden Seelen schienen der ganzen übrigen Welt wie abgestorben. Endlich wollte sich das launenhafte Glück für Joe entscheiden, an seine Fersen heften. Die Wanze versuchte auf allen möglichen Wegen zu entwischen und wurde bei der Jagd so lebhaft und erregt, wie die Jungen selber. Aber wieder und wieder, gerade als sie den Sieg schon sozusagen in Händen hielt und Toms Finger juckten und zappelten vor Begier, in die Aktion eingreifen zu können, gerade im entscheidenden Moment lenkte Joes Nadel geschickt den Flüchtling nach seiner Seite zurück und wahrte sich den Besitz dieses köstlichen Gutes. Endlich konnte es Tom nicht länger aushalten, die Versuchung war zu groß. So streckte er denn die Hand aus und begann mit seiner Nadel nachzuhelfen. Da aber wurde Joe zornig und rief drohend:

»Tom, laß das bleiben!«

»Ich will dir ja nur ein klein bißchen helfen, Joe.«

»Ach was, helfen! Brauch dich nicht, laß bleiben, sag ich.«

»Kuckuck noch einmal. Ich werd' doch auch ein bißchen helfen, dürfen!«

»Laß bleiben, sag ich dir!«

»Ich will aber nicht.«

»Du mußt – die Wanze ist auf meiner Seite.«

»Hör mal zu, Joe Harper. Wem gehört die Wanze denn eigentlich, dir oder mir?«

»Das ist mir ganz einerlei. Eben ist sie auf meiner Seite der Linie und du sollst sie nicht anrühren, oder –«

»Na, wettst du, daß ich's tu'? Die Wanze ist mein und ich kann mit ihr machen, was ich will – hol' mich der und jener! Her damit, sag ich!«

Ein saftiger Hieb sauste hernieder auf Toms Schultern, ein Zwillingsbruder desselben traf Joes Rücken; zwei Minuten lang waren die Jungen in eine Staubwolke gehüllt, die aus ihren Jacken aufwirbelte, zum ungeheuren Gaudium der ganzen Schule. Die beiden Sünder waren zu versunken gewesen in ihre Beschäftigung, um das verhängnisvolle Schweigen zu bemerken, das eingetreten war, als der Lehrer auf den Fußspitzen nach ihnen hinschlich und dann hinter ihnen stehen blieb. Er hatte eine hübsche Weile der seltenen Beschäftigung zugeschaut, ehe er sich erlaubte, seinen Teil zur Mehrung des Vergnügens beizutragen.

Als die Schule dann um Mittag aus war, flog Tom auf Becky Thatcher zu und wisperte ihr ins Ohr:

»Setz deinen Hut auf und tu', als ob du heim wolltest. Wenn du an der Ecke bist, laß die andern laufen und komm durchs Heckengäßchen zurück. Ich mach's grad' auch so.«

So ging also jedes der beiden mit einem andern Haufen Kinder ab, am Ende des Heckenpfades trafen sie einander, und als sie dann zusammen die Schule erreichten, hatten sie dieselbe ganz für sich allein. Sie setzten sich nebeneinander, nahmen eine Tafel vor und Tom führte Beckys mit dem Griffel bewaffnete Hand sorgsam mit der seinen und schuf ein neues erstaunliches Wunder von Haus. Als das Interesse an der Kunst etwas zu erlahmen begann, machten sich die zwei ans Plaudern. Tom schwamm in einem Meer von Wonne. Jetzt fragte er:

»Magst du Ratten?«

»Puh nein, ich kann sie nicht ausstehen.«

»Ich auch nicht – lebendige wenigstens. Aber tote, mein' ich, die man an eine Schnur bindet und um seinen Kopf schwingt.«

»Nee, ich mach mir überhaupt nicht viel aus Ratten, so oder so. Was ich gern mag, ist Süßholz!«

»Das glaub' ich. Wollt', ich hätt' ein Stück!«

»Wirklich? Ich hab eins. Da, du kannst ein bißchen dran kauen, mußt mir's aber dann wiedergeben, gelt?«

Das war nun eine wundervolle Beschäftigung. So kauten sie denn abwechselnd und baumelten dazu mit den Beinen gegen die Bank im Übermaß wonnigsten Behagens.

»Warst du schon einmal im Zirkus?« fragte Tom.

»Ja, und ich darf wieder hin, hat Papa versprochen, wenn ich sehr brav bin.«

»Ich war schon drei- oder viermal – nee noch viel, viel öfter dort. Die Kirche ist gar nichts dagegen! Im Zirkus ist immer was los. Wenn ich mal groß bin, werd' ich Hanswurst!«

»Wahrhaftig? Das wird reizend! Die sind immer so wunderhübsch gefleckt, Hosen und Jacke und alles.«

»Das ist wahr. Und sie verdienen Haufen von Geld – beinahe 'nen Dollar im Tag, meint Ben Rogers, Sag mal, Becky, warst du schon mal verlobt?«

»Was ist denn das?«

»Na, verlobt – wenn man sich heiraten will.«

»Nein, nie.«

»Möchtest du's gern?«

»Vielleicht, ich weiß nicht. Wie ist's denn ungefähr?«

»Wie's ist? Ja, wie gar nichts eigentlich. Du brauchst nur 'nem Jungen zu sagen, du wolltest keinen andern haben als ihn, nie, nie und nimmer, dann gibst du ihm 'nen Kuß und die Geschichte ist fertig. Das kann doch ein kleines Kind – nicht?«

»'nen Kuß? Warum denn den?«

»Ja, das muß man, weil, – kurz sie tun's eben alle, das gehört dazu.«

»Alle tun's?«

»Ja, alle die ineinander verliebt sind. Weißt du noch, was ich dir auf die Tafel geschrieben habe?«

»J–ja.«

»Was denn?«

»Ich sag's nicht.«

»Soll ich's sagen?«

»J–ja – aber ein andermal.«

»Nein, jetzt.«

»Nein, nicht jetzt – morgen.«

»Ach nein, jetzt, bitte, bitte, Becky. Ich will's auch nur ganz, ganz leise sagen. Soll ich?«

Da Becky zögerte, nahm Tom ihr Schweigen für Zustimmung, schlang den Arm um sie, legte den Mund dicht an ihr Ohr und flüsterte ihr leise,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 14.12.2014
ISBN: 978-3-7368-6442-9

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