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Leseprobe

33. Kapitel
Mr. Ralph Nickleby wird plötzlich von dem Verkehr mit seinen Verwandten erlöst.

Newman Noggs, der in seiner Ungeduld lange vor der Zeit heimgekehrt war, saß mit Smike vor dem Kamin und horchte ängstlich auf jeden Schritt auf der Treppe und auf jedes Geräusch im Hause, aus dem sich schließen ließe, daß Nikolas heimkomme. Jedoch Stunde um Stunde verging, und immer noch war er nicht da. Bestürzt blickten sich die beiden an, sooft die Geräusche im Stiegenhause wieder verklangen, aber endlich hörten sie eine Droschke vor dem Tore halten, und Newman eilte hinaus, um Nikolas die Treppe hinauf zu leuchten. Bestürzt und wie vom Schlage gerührt blieb er stehen, als er ihn blutbefleckt und kotbespritzt vor sich sah.

»Sie brauchen nicht zu erschrecken«, beruhigte ihn Nikolas und drängte ihn in die Stube zurück. »Der Schaden wird mit einem Becken Wasser gleich wiedergutgemacht sein.«

»Sie sind verletzt!« rief Noggs und fuhr ihm hastig über Rücken und Arme, um sich zu überzeugen, ob er nichts gebrochen habe. »Sie müssen –«

»Ich weiß alles«, fiel ihm Nikolas ins Wort. »Einen Teil habe ich soeben zufällig mit angehört und das übrige erraten. Noch ehe ich mich wasche, müssen Sie mir das Ganze erzählen. Sie sehen, ich bin gefaßt, und mein Entschluß steht fest. Also sprechen Sie, lieber Freund! Es hat keinen Zweck mehr, mir die Sache länger zu verhehlen, und meinen Onkel, den alten Schurken, wird nichts mehr schützen.«

»Ihre Kleider sind zerrissen und Sie hinken; ich sehe, daß Sie Schmerzen haben müssen«, meinte Newman bedenklich. »Zuerst lassen Sie mich Ihre Verletzungen ansehen.«

»Verlohnt sich nicht der Mühe. Es sind bloß ein paar Hautaufschürfungen und eine Prellung, die Sache wird bald vorüber sein«, versetzte Nikolas und ließ sich ächzend nieder. »Aber wenn mir auch alle Knochen zerbrochen wären, ließe ich mich doch nicht verbinden, bevor Sie mir nicht alles berichtet haben, was ich wissen will und wissen muß. – Kommen Sie«, setzte er hinzu und reichte Noggs die Hand, »Sie haben mir einmal erzählt, Sie hätten auch eine Schwester gehabt, die, wie Sie sagten, starb, ehe das Unglück über Sie hereinbrach. Denken Sie jetzt an sie und erzählen Sie, Newman!«

»Ja, das will ich«, rief Mr. Noggs, »Sie sollen die ganze Wahrheit erfahren.«

Und er erzählte. – Nikolas nickte von Zeit zu Zeit mit dem Kopf, wenn er eine Bestätigung der bereits geahnten Einzelheiten hörte, blickte jedoch nicht vom Feuer auf.

Als Newman zu Ende war, bestand er darauf, daß Mr. Nickleby seinen Rock ausziehe und sich endlich seine Wunden verbinden lasse. Anfangs weigerte sich Nikolas, dann aber willigte er ein und erzählte, während ihm Noggs die Verletzungen an Armen und Schultern mit Öl, Weinessig und andern geeigneten Mitteln, die er sich in der Eile von seinen Nachbarn zusammenborgte, behandelte, wie und wo ihm der Unfall zugestoßen. Sein Bericht machte einen tiefen Eindruck auf Newmans lebhafte Einbildungskraft, und als es zu der Schilderung von dem Kampf auf dem Wagen kam, rieb er Nikolas so arg, daß dieser stöhnte wenn er auch nichts sagte, da er merkte, daß der gute Alte in diesem Augenblick Sir Mulberry Hawk unter den Händen zu haben glaubte und seine Wut an ihm ausließ.

Als das Martyrium endlich glücklich vorüber war, beschloß Nikolas mit Mr. Noggs, daß schon am nächsten Morgen alle Vorkehrungen getroffen werden sollten, um Mrs. Nickleby so bald wie möglich aus ihrer gegenwärtigen Wohnung zu entfernen und Miss La Creevy vorerst zu diesem Zweck zu ihr zu senden. Dann hüllte er sich in Smikes Mantel und kehrte mit ihm zu seinem Wirtshause zurück, wo er über Nacht bleiben, zuvor aber noch einige Zeilen an Ralph schreiben wollte, die Newman am Morgen abgeben sollte.

Man sagt, daß Betrunkene in Abgründe stürzen können, ohne irgendwelche Schmerzen zu empfinden, wenn sie wieder zu Bewußtsein kommen. Nikolas ging es ähnlich. Als er am nächsten Tag Schlag sieben Uhr aus dem Bette sprang, fühlte er sich so munter und wohl, als ob ihm gar nichts passiert wäre. Er warf einen Blick in Smikes Schlafzimmer, sagte ihm, Newman Noggs werde wohl bald kommen, ging dann auf die Straße hinunter, nahm eine Droschke und fuhr nach Mrs. Wititterlys Wohnung.

Bereits um dreiviertel auf acht am Cadogan Place angelangt, fing er schon an zu fürchten, daß um diese frühe Stunde noch niemand auf sein werde, als seine Besorgnis durch eine Dienstmagd zerstreut wurde, die gerade die Vortreppe scheuerte. Sie verwies ihn an den Pagen mit den wirren Haaren, der auf ihren Ruf mit einem so roten und glänzenden Gesicht herausgestürzt kam, wie es eben nur ein Page, der gerade aus den Federn geschlüpft ist, haben kann.

Durch ihn erfuhr er, daß Miss Nickleby soeben ihren Morgenspaziergang in dem Garten neben dem Hause mache. Auf die Frage, ob man sie nicht benachrichtigen könne, machte der Page ein zweifelhaftes Gesicht und glaubte, es sei nicht gut möglich; durch einen Schilling jedoch aufgemuntert, wurde er augenblicklich sanguinisch und hoffte das Beste.

»Sagen Sie Miss Nickleby, ihr Bruder sei hier und brenne darauf, sie zu sehen«, trug ihm Nikolas auf.

Die silberplattierten Knöpfe verschwanden mit einer ungewohnten Lebhaftigkeit, und Nikolas schritt, fieberhaft erregt und die Sekunden zählend, ungeduldig im Hausflur auf und nieder. Gleich darauf hörte er jedoch einen wohlbekannten leichten Schritt, und ehe er seiner Schwester noch entgegengehen konnte, lag sie bereits an seiner Brust und brach in Tränen aus.

»Meine liebe, liebe Kate!« rief Nikolas und umarmte sie. »Wie blaß du aussiehst!«

»Ich bin hier so unglücklich gewesen, lieber Bruder«, schluchzte die arme Kate, »unaussprechlich elend. Laß mich nicht hier, lieber Nikolas, sonst bricht mir noch das Herz.«

»Du darfst und sollst nicht hierbleiben«, tröstete sie Nikolas. »Ich werde dich nie wieder verlassen, Kate.«

Tief ergriffen drückte er sie an seine Brust. »Du weißt, ich habe nur in der besten Absicht gehandelt, indem ich dich ohne Schutz zurückließ, und ich schied nur von dir, weil ich fürchtete, Unglück über dich zu bringen. Meine Prüfungen waren nicht weniger schmerzlich als die deinen, und wenn ich unrecht getan habe, so geschah es unabsichtlich und nur infolge meiner Weltunkenntnis.«

»Wie kannst du nur glauben, daß ich etwas anderes dächte«, rief Kate. »Nikolas, lieber Nikolas, wie kannst du nur solchen Gedanken Raum geben!«

»Ach, es ist ein so bitterer Vorwurf für mich, hören zu müssen, daß du soviel gelitten hast«, seufzte Nikolas – »dich so verändert zu sehen und doch so sanft und geduldig. O Gott«, knirschte er, ballte die Faust und das Blut stieg ihm ins Gesicht, »ich weiß nicht, was ich ihm antun werde! – Du mußt jetzt auf der Stelle mit mir dies Haus verlassen. Du würdest schon diese Nacht nicht mehr hier haben schlafen dürfen, wenn ich nicht alles erst so spät erfahren hätte. – Mit wem kann ich sprechen, ehe du mit mir gehst?«

Kate wurde die Antwort erspart, denn in diesem Augenblick trat Mr. Wititterly ein, dem sie sogleich ihren Bruder vorstellte. Nikolas nannte den Zweck seines Hierseins und wies auf die Unmöglichkeit hin, auch nur eine Stunde warten zu können.

»Das Vierteljahr – hem –«, meinte Mr. Wititterly mit Würde, »ist noch nicht zur Hälfte abgelaufen – somit –«

»Somit«, fiel ihm Nikolas ins Wort, »erlischt der Anspruch meiner Schwester auf ihr Gehalt, Sir. Entschuldigen Sie meine Eile, aber die Umstände erfordern dringend, daß ich sie auf der Stelle mit mir nehme. Ich habe keinen Augenblick zu verlieren. Ihre Sachen werde ich, wenn Sie gestatten, im Laufe des Tages abholen lassen.«

Mr. Wititterly verbeugte sich und hatte gegen Kates sofortigen Austritt, der ihm im Gegenteil sehr gelegen kam, nichts mehr einzuwenden, zumal Sir Tumley Snuffin ausdrücklich erklärt hatte, sie passe nicht recht für Mrs. Wititterly in Anbetracht deren zarter Gesundheit. »Was das bißchen noch rückständiges Gehalt anbelangt«, sagte er, »so werde ich« – er wurde plötzlich durch einen heftigen Hustenanfall unterbrochen – »so will ich – ihn Miss Nickleby später gelegentlich bezahlen.« Es war Mr. Wititterlys Gewohnheit, stets kleine Schulden zu haben. Jeder Mensch hat eben irgendeine liebenswürdige Eigentümlichkeit.

»Ganz wie's gefällig ist«, antwortete Nikolas, fügte noch ein paar Worte der Entschuldigung wegen des so plötzlich notwendig gewordenen Austrittes hinzu, drängte dann Kate zu der Droschke und befahl dem Kutscher, so schnell wie möglich in die City zu fahren. Da das Pferd zufällig in Whitechapel seinen Stall hatte und dort sein Frühstück einzunehmen gewohnt war, wenn es überhaupt ein solches erhielt, so verlief die Fahrt schneller, als man unter normalen Umständen hätte erwarten dürfen. Nikolas sandte zuerst seine Schwester in die Wohnung hinauf, um seine Mutter nicht durch sein unerwartetes Erscheinen zu erschrecken, und kam erst ein paar Minuten später nach. Newman war indessen auch nicht müßig gewesen, denn ein kleiner Karren stand bereits vor dem Tore, zum Teile schon mit Mrs. Nicklebys Hausrat beladen. Die vortreffliche Witwe war nun leider nicht die Frau, der man in Eile etwas klarmachen konnte, oder die etwas, was besondere Delikatesse oder Takt erforderte, schnell begriffen hätte. Als sie daher von Nikolas und Kate so ganz ohne Umschweife erfuhr, was vorgefallen, war sie, trotzdem sich Miss La Creevy vorher bereits eine ganze Stunde lang bemüht hatte, ihr alles klarzumachen, nicht imstande, die Notwendigkeit des so eiligen Austrittes ihrer Tochter einzusehen.

»Und nach deinem Onkel fragst du gar nicht, lieber Nikolas?« sagte sie. »Wir können doch nicht wissen, ob das alles in seine Pläne paßt!«

»Liebe Mutter, die Zeit des Redens ist vorbei!« stellte ihr Nikolas vor. »Hier handelt es sich nur um einen einzigen Schritt, und der besteht darin, daß wir ihn mit der ganzen Entrüstung und Verachtung, die er verdient, ein für allemal abschütteln. Es verträgt sich weder mit deiner Ehre noch mit deinem Namen, daß du, nachdem du von seinen Schurkereien erfahren hast, auch nur eine Stunde länger als unbedingt nötig in diesen schäbigen vier Wänden bleibst.«

»Gewiß, gewiß!« gab Mrs. Nickleby unter heißen Tränen zu. »Er ist ein Unmensch, ein Ungeheuer, und die Wände hier sind wirklich sehr kahl – und nicht einmal gemalt. Ich habe mir die Decke auf eigene Kosten für achtzehn Pence tünchen lassen müssen. Es ist doch wirklich zu arg; es ist jetzt rein, als ob ich sie deinem Onkel geschenkt hätte. Nicht zu glauben ist so was – wahrhaftig!«

»Ja, das stimmt«, rief Nikolas.

»Gott im Himmel«, fuhr Mrs. Nickleby fort, »wer hätte je gedacht, daß Sir Mulberry Hawk ein solcher verworfener Schurke ist, wie Miss La Creevy sagt, lieber Nikolas! Und ich habe jeden Tag in dem Gedanken geschwelgt, er könne ein Verehrer unserer lieben Kate sein, und träumte schon von den glücklichen Tagen, die unserer Familie aus der Ehre einer solchen Verbindung erwachsen müßten. Gar wenn er seinen Einfluß geltend gemacht hätte, um dir ein Staatsstipendium zu verschaffen! Ich weiß bestimmt, es gibt bei Hof so manche schöne Stelle, die man ganz leicht bekommen kann, wenn man Protektion hat. Zum Beispiel der Bruder einer Freundin von uns – der Miss Cropley in Exeter, liebe Kate, du wirst dich ihrer gewiß noch erinnern – besaß eine solche Protektion, und du weißt, daß er eigentlich nicht viel mehr zu tun hatte, als seidene Strümpfe und einen Haarbeutel, der wie eine schwarze Uhrtasche aussah, zu tragen. Ach Gott, wer hätte je gedacht, daß es noch soweit kommen würde – lieber Gott, es wird mich noch unter die Erde bringen.«

Sie fing abermals bitterlich zu weinen an. Da Nikolas mit seiner Schwester inzwischen auf die Fortschaffung des Gepäckes und Hausrates zu achten hatte, unterzog sich Miss La Creevy der Aufgabe, sie zu trösten, und bemerkte dabei wohlwollend, sie müsse sich alle Mühe geben, ihre trüben Gedanken zu verscheuchen und wieder heiter zu werden.

»Sie haben gut reden, Miss La Creevy«, seufzte Mrs. Nickleby mit einer Bitterkeit, die man ihr eigentlich nicht übelnehmen konnte, »es ist leicht gesagt, ›seien Sie heiter‹. Aber wenn man so viel Grund gehabt hat, sich auf etwas zu freuen, und dann plötzlich sieht – O Gott, o Gott, wenn ich an Mr. Pyke und Mr. Rupfer denke, die zwei vollendetsten Gentlemen, die mir je vorgekommen sind! – Was soll ich ihnen sagen, wenn sie kommen? Wenn ich ihnen vorhielte: ich habe gehört, Ihr Freund Sir Mulberry ist ein Elender, so würden sie mich auslachen!«

»Ich bürge dir dafür, daß sie dich in Zukunft mit ihren Besuchen verschonen werden«, sagte Nikolas. »Komm, Mutter, unten steht eine Droschke. Nächsten Montag kehren wir wieder in unsere alte Wohnung zurück –«

»– wo Sie alles bereit finden und herzlich willkommen sein sollen«, setzte Miss La Creevy eifrig hinzu. »Kommen Sie, gehen wir jetzt zusammen hinunter.«

Aber so leicht war Mrs. Nickleby nicht von der Stelle zu bringen. Zuerst wollte sie noch einmal die Stiegen hinaufgehen, um nachzusehen, ob nichts vergessen worden sei, und dann wieder die Treppe hinunter, ob auch alles auf dem Karren liege. Als man ihr in den Wagen half, fiel ihr plötzlich ein angeblich vergessener Kaffeetopf in der rückwärtigen Küche ein, und dann, als der Kutschenschlag zugemacht wurde, sie habe einen grünen Sonnenschirm hinter irgendeiner Türe stehen lassen. In einem Zustande vollständiger Verzweiflung befahl Nikolas endlich dem Kutscher loszufahren, und bei dem unerwarteten Ruck des Wagens verlor sie einen Schilling in dem Stroh auf dem Droschkenboden, was glücklicherweise ihre Aufmerksamkeit so lange ablenkte, bis es endlich zu spät war, sich auf etwas anderes zu besinnen.

Nachdem Nikolas alles glücklich erledigt, das Dienstmädchen verabschiedet und das Haustor abgeschlossen hatte, sprang er ebenfalls in eine Droschke und ließ sich in die Nähe von Golden Square fahren, wo er Mr. Noggs treffen sollte. Alles war so rasch vor sich gegangen, daß es erst halb zehn schlug, als er den Ort der Zusammenkunft erreichte.

»Hier ist der Brief an Ralph«, sagte er, »und hier der Hausschlüssel. Wenn Sie heute abend zu mir kommen, bitte, erwähnen Sie mit keinem Wort, was gestern nacht vorgefallen ist. Schlimme Neuigkeiten wandern schnell, und meine Damen werden bald genug davon hören. Wissen Sie übrigens nicht, ob er sich stark verletzt hat?«

Newman schüttelte den Kopf.

»So will ich mich ohne Zeitverlust selbst davon überzeugen.«

»Sie täten besser, sich auszuruhen«, riet Newman. »Sie sind nicht wohl und haben Fieber.«

Nikolas winkte ihm unbekümmert mit der Hand ab und suchte das Unwohlsein, das er jetzt, wo die größte Aufregung vorüber war, tatsächlich empfand, zu verbergen, indem er sich hastig verabschiedete.

Mr. Noggs hatte kaum drei Minuten nach Golden Square, aber in dieser kurzen Zeit holte er wohl zwanzigmal den Brief aus seinem Hut hervor und legte ihn ebenso oft wieder kopfschüttelnd hinein. Einmal betrachtete er die Aufschrift, dann die Rückseite und dann wieder das Siegel. Dann hielt er den Brief auf Armeslänge vor sich, um sich an dem Gesamtüberblick zu ergötzen, und rieb sich schließlich entzückt über seinen Auftrag die Hände.

In seiner gewohnten Art betrat er das Bureau, hängte den Hut an den Nagel wie immer, legte Brief und Schlüssel auf das Pult und wartete mit Spannung auf Mr. Ralph Nicklebys Ankunft. Bereits einige Minuten später ließ sich das wohlbekannte Stiefelknarren des alten Ehrenmannes auf der Stiege vernehmen, und gleich darauf ertönte die Klingel.

»Ist nichts mit der Post gekommen?«

»Nein.«

»Auch sonst keine Briefe?«

»Doch. – Einer.«

Dabei sah Newman seinen Herrn fest an und legte Nikolas' Brief auf das Pult.

»Was ist das?« fragte Ralph und nahm den dabeiliegenden Schlüssel zur Hand.

»Wurde mit dem Briefe hiergelassen. – Ein kleiner Junge hat beides gebracht – vor nicht ganz einer Viertelstunde.«

Ralph erbrach das Siegel und las:

»Ich habe Sie jetzt endlich durchschaut. Es gibt wohl keinen Vorwurf auf Erden, den ich Ihnen nicht machen könnte und der nur den tausendsten Teil der Schmach ausdrückte, die Sie heimlich selbst empfinden müssen.

Die Witwe Ihres Bruders und seine verwaiste Tochter verzichten hiermit mit Verachtung auf die Unterkunft, die Sie ihnen bisher gewährt haben, und gedenken Ihrer mit Ekel und Abscheu. Sie verleugnen Sie als Verwandten und kennen keine größere Schmach, als den gleichen Namen mit Ihnen zu tragen. Sie sind ein alter Mann, und ich überlasse Sie dem Grabe. Ich wünsche Ihnen, daß Sie niemals vergessen können, was Sie getan, und daß Sie in Ihrer Sterbestunde noch daran denken müssen.«

Zweimal las Mr. Ralph Nickleby den Brief durch, zog dann seine Stirn in düstere Falten und versank in tiefes Nachsinnen. Das Papier entfiel seiner Hand, aber seine Finger waren krampfhaft zusammengepreßt, als ob er es immer noch halte.

Dann sprang er plötzlich von seinem Stuhl empor, hob das Schreiben auf, zerknitterte es, schob es in die Tasche und wandte sich mit seiner gewohnten Miene an Newman, offenbar mit der Absicht, ihn zu fragen, warum er denn schon wieder spioniere. Aber Newman stand, ihm den Rücken zukehrend, unbeweglich da und verfolgte mit dem tintengeschwärzten Stumpf eines alten Federhalters die Kolonnen einer Zinsenberechnungstabelle, die an der Wand hing, sichtlich ganz und gar in seine interessante Beschäftigung vertieft.

34. Kapitel
Besuch bei Mr. Ralph Nickleby.

»Warum haben Sie mich so verteufelt lange mit diesem verwünschten, alten, zerbrochenen Teekessel von einer Glocke läuten lassen, deren Klang auch den stärksten Mann umwerfen könnte – äh – zum Teufel noch mal –!« sagte Mr. Mantalini zu Newman Noggs, dabei seine Stiefel auf Mr. Ralph Nicklebys Kratzeisen abstreifend.

»Ich habe Sie nur einmal läuten hören«, entschuldigte sich Newman.

»Dann sind Sie – äh – ganz verteufelt taub, so taub wie ein verteufelter Türpfosten.«

Mr. Mantalini war inzwischen in den Flur getreten und schickte sich eben an, ohne weitere Umstände auf die Türe von Mr. Ralphs Privatbureau zuzugehen, als ihm Newman in den Weg trat und die Frage stellte, ob seine Geschäfte dringend seien, da Mr. Nickleby augenblicklich nicht gestört zu werden wünsche.

»Freilich, ganz verteufelt dringend«, rief Mr. Mantalini. »Es handelte sich darum, einige Wische gegen glänzende, funkelnde – äh – klingende, klimpernde Münze einzuwechseln.«

Newman ließ ein verständnisinniges Grunzen vernehmen und hinkte mit Mr. Mantalinis Visitenkarte in das Zimmer seines Chefs. Als er den Kopf zur Türe hereinstreckte, sah er, daß Ralph dieselbe gedankenvolle Haltung wieder angenommen hatte, in die er nach dem Lesen des Briefes seines Neffen verfallen war. Offenbar hatte er das Schreiben abermals durchgelesen, denn er hielt es offen in der Hand.

Ärgerlich fuhr er auf und fragte barsch nach der Ursache der Störung.

Newman erstattete gerade noch Bericht, als Mr. Mantalini in eigener Person ins Zimmer hereintänzelte, Ralphs schwielige Hände mit inniger Zärtlichkeit ergriff und beteuerte, »sein werter Gönner« habe in seinem ganzen Leben noch nie so blühend ausgesehen.

»Es strahlt ja förmlich die Sonne aus Ihrem verteufelt liebenswürdigen Gesicht«, rief Mr. Mantalini, setzte sich unaufgefordert nieder und kämmte sich mit einem Taschenkamm Bart und Scheitel. »Nein, wie Sie jugendlich und famos aussehen! – Äh – hol Sie der Teufel.«

»Lassen Sie das!« knurrte Ralph. »Was wünschen Sie von mir?«

»Oh«, rief Mr. Mantalini und zeigte kokett seine weißen Zähne. »Was ich will? Ja – hem – sehr gut. Was ich will? Haha! O verteufelt.«

»Also was wollen Sie eigentlich, Mensch?« fuhr Ralph ärgerlich auf.

»Äh – einen kleinen Faktureneskompt«, erwiderte Mr. Mantalini mit schalkhaftem Blinzeln.

»Geld ist momentan sehr knapp«, brummte Ralph.

»Ja, verteufelt knapp, sonst würde ich keins wollen«, gab Mr. Mantalini zu.

»Die Zeiten sind schlecht, und man weiß nicht, wem man trauen kann«, fuhr Ralph fort. »Am liebsten möchte ich jetzt gar keine Geschäfte machen. Ja, wahrhaftig. – Aber weil Sie's sind – wie viele Rechnungen haben Sie hier?«

»Zwei.«

»Wie hoch?«

»Ah, nur eine Kleinigkeit. Fünfundsiebzig.«

»Und die Fristen?«

»Zwei Monate, vier Tage.«

»Nun, weil Sie es sind, aber wohl verstanden: nur, weil Sie es sind – andere kämen da bei mir schlecht an –, will ich es gegen einen Abzug von fünfundzwanzig Pfund tun«, sagte Ralph bedächtig.

»Äh! Verteufelt!« rief Mr. Mantalini und machte bei diesem kulanten Vorschlag ein sehr langes Gesicht.

»Bleiben Ihnen immer noch fünfzig«, knurrte Ralph. »Was wollen Sie mehr. – Wer sind die Leute?«

»Verteufelt hart, Nickleby«, jammerte Mr. Mantalini.

»Lassen Sie mich die Namen sehen«, unterbrach ihn Ralph und streckte ungeduldig die Hand nach den Rechnungsauszügen aus. »Nun, Sicherheit ist freilich keine besondere vorhanden, aber ich denke, es läßt sich machen. Also, wenn Ihnen die Bedingungen passen, können Sie das Geld haben. Paßt es Ihnen nicht – nun, dann ist's mir noch lieber.«

»Verteufelt noch mal, Nickleby können Sie denn nicht –« begann Mr. Mantalini.

»Nein«, unterbrach ihn Ralph schroff. »Wenn Sie das Geld haben wollen, so besinnen Sie sich nicht lange. Kommen Sie mir nicht mit dem albernen Einwurf, Sie gingen auf die Börse und wollten es mit einem andern probieren. Ich weiß ganz gut, daß dieser ›andere‹ weder existiert noch je existiert hat. Also was ist's, machen Sie das Geschäft oder nicht?«

Dabei stieß Ralph scheinbar aus Unachtsamkeit an seine eiserne Kasse. Diesem Klang konnte Mr. Mantalini nicht widerstehen. Sofort schlug er ein, und Mr. Nickleby zählte das Geld auf den Tisch.

Mr. Mantalini hatte es noch nicht ganz nachgezählt und eingestrichen, als abermals die Klingel ertönte und gleich darauf niemand anders als seine Gattin hereintrat, bei deren Anblick er plötzlich sehr verlegen wurde und sein Geld mit merkwürdiger Hast zusammenraffte.

»Ah, du bist also hier!« rief die Gnädige und warf den Kopf zurück.

»Ja, mein Leben, mein Herzblatt, ich bin hier«, flötete Mr. Mantalini, ließ sich zierlich auf ein Knie nieder und haschte in der koketten Art einer spielenden Katze nach einem heruntergefallenen Sovereign. »Ich bin hier, du Glanz meiner Seele, hier in diesem Zauberlande, wo es verteufeltes Gold und Silber aufzulegen gibt.«

»Ich schäme mich deiner!« rief die Putzmacherin unwillig.

»Du schämst dich meiner, du Licht meiner Augen!? – Sie weiß, wie verteufelt süß und bezaubernd sie ist, drum getraut sie sich so zu lügen«, erklärte Mr. Mantalini seinem Geschäftsfreund. »Sie weiß selbst am besten, daß sie sich ihres süßen Gatten nicht schämt.«

Der »süße Gatte« schien sich nun aber doch hinsichtlich der Wirkung seiner Zärtlichkeit ein wenig verrechnet zu haben, denn die ganze Antwort Mrs. Mantalinis bestand in einem verächtlichen Blick, worauf sie sich zu Ralph wandte und ihn bat, zu entschuldigen, daß sie so unangemeldet eingedrungen sei. Sie müsse das, setzte sie hinzu, einzig und allein der schlechten Aufführung und dem höchst unpassenden Vorgehen Mr. Mantalinis zur Last legen.

»Meinem Vorgehen, du Ananas des Paradieses?«

»Ja, deinem Vorgehen«, wiederholte Mrs. Mantalini. »Aber ich werde mich vorsehen, denn ich habe nicht Lust, mich durch deine Verschwendungssucht und deine Ausschweifungen ruinieren zu lassen. Ich rufe Mr. Nickleby zum Zeugen an –«

»Ich muß bitten, mich in keiner Hinsicht zum Zeugen anzurufen«, unterbrach sie Ralph, »machen Sie die Sachen gefälligst unter sich ab und ziehen Sie mich nicht mit hinein.«

»Und doch muß ich Sie um die Gefälligkeit bitten«, sagte Madame Mantalini fest, »Zeuge zu sein, wie ich ihm jetzt meinen unwiderruflichen Entschluß kundtue. – Meinen unwiderruflichen Entschluß, Sir«, wiederholte sie und schleuderte ihrem Gatten einen Zornesblick zu.

»Sie nennt mich ›Sir‹«, rief Mr. Mantalini, »mich, der ich bis zum Wahnsinn und ganz verteufelt in sie verliebt bin – sie, die mich mit ihren Reizen wie eine paradiesische Klapperschlange umstrickt! Ich kann es nicht ertragen, sie stürzt mich, äh – in einen verteufelten Zustand.«

»Reden Sie nicht von verletzten Gefühlen, Sir«, zürnte Mrs. Mantalini, setzte sich auf einen Stuhl und wandte ihm den Rücken zu. »Sie haben nie auf die meinigen Rücksicht genommen.«

»Keine Rücksicht auf die deinigen genommen?« rief Mr. Mantalini.

»Nein.«

Und den gedrechselten Schmeichelreden von Seiten ihres Gatten zum Trotz fuhr die Gnädige fort, »nein« zu sagen, und obendrein mit solcher Bestimmtheit und ausgesprochen schlechter Laune, daß Mr. Mantalini sichtlich die Fassung verlor.

»Sein Hang zum Verschwenden, Mr. Nickleby«, wendete sich Madame Mantalini an Ralph, der, die Hände auf dem Rücken, an seinem Armstuhl lehnte und das ungleiche Paar mit einem Lächeln bodenloser Verachtung musterte, »sein Hang zum Verschwenden überschreitet jedes Maß.«

»Sollte man kaum glauben«, höhnte Ralph.

»Und dennoch kann ich Ihnen versichern, Mr. Nickleby, daß es sich so verhält«, fuhr die Putzmacherin fort. »Er bringt mich noch ganz ins Elend, und ich schwebe in ewigen Besorgnissen und Verlegenheiten. Und das wäre noch nicht einmal das schlimmste«, jammerte sie, sich die Augen wischend. »Heute morgen nahm er wieder einige Dokumente aus meinem Pult, ohne mich auch nur um Erlaubnis zu fragen.«

Mr. Mantalini stöhnte auf und knöpfte sich die Tasche zu.

»Ich muß«, klagte die Schneiderin, »seit dem Konkurs Miss Knag dafür, daß sie ihren Namen zu dem Geschäfte hergibt, Unsummen bezahlen und kann rein die Mittel, die der unsinnige Hang meines Mannes zum Vergeuden erfordert, nicht mehr erschwingen. Ich zweifle auch jetzt nicht, daß er schnurstracks zu Ihnen gelaufen ist, Mr. Nickleby, um die besagten Dokumente in Geld umzusetzen, und da Sie uns schon früher oft mit Geld ausgeholfen haben und hinsichtlich Eskompt von Fakturen in reger Verbindung mit uns stehen, sehe ich mich jetzt gezwungen, Ihnen einen Entschluß mitzuteilen, zu dem ich durch sein Benehmen gezwungen bin.«

Mr. Mantalini stöhnte wieder laut auf, klemmte sich eine Goldmünze ins Auge und blinzelte mit dem andern hinter dem Hute seiner Gattin hervor Ralph zu. Nachdem er dies mit großer Geschicklichkeit ausgeführt hatte, steckte er das Geldstück wieder ein und stöhnte aufs neue mit allen Anzeichen tiefster Reue.

»Ich habe mich daher entschlossen«, fuhr Mrs. Mantalini fort, als sie in Ralphs Gesicht Anzeichen von Ungeduld bemerkte, »ihm etwas Festes auszuwerfen.«

»Was zu tun, du Labsal meiner Augen?« fragte Mr. Mantalini, der die Worte nicht recht verstanden zu haben schien.

»Ihm eine bestimmte Summe auszusetzen«, erklärte die Schneiderin und sah Ralph, um den Blicken ihres Gatten auszuweichen und sich durch seine Reize nicht in ihrem Entschluß wankend machen zu lassen, fest an, »und ich glaube, er kann sich glücklich schätzen, wenn ich ihm hundertzwanzig Pfund jährlich als Taschengeld auswerfe.«

Mr. Mantalini hatte zuerst sehr würdevoll zugehört, als er aber die Summe vernahm, schleuderte er Hut und Stock auf den Boden, zog sein Taschentuch hervor und machte seinen Gefühlen durch ein herzzerbrechendes Schluchzen Luft.

»Hölle und Verdammnis!« rief er, fuhr mit einem Ruck von seinem Stuhle auf und ließ sich ebenso schnell wieder nieder, was seine Frau sichtlich in größte Aufregung versetzte. »Aber nein, nein, es ist nicht Wirklichkeit, es ist – äh – verteufelt – äh – ein schwerer Traum, nein, nein.« Dann schloß er die Augen und wartete geduldig, bis es an der Zeit sein würde, aus seinem Traume zu erwachen.

»Höchst verständig von Ihnen, Madame«, höhnte Ralph, »vorausgesetzt, daß sich Ihr Gatte in den ihm gesteckten Grenzen hält, was ohne Zweifel der Fall sein wird.«

»Äh – verteufelt«, ächzte Mr. Mantalini, als der Ton von Ralphs Stimme an sein Ohr schlug, die Augen öffnend, »äh – es ist furchtbare Wirklichkeit. Da sitzt sie vor mir; wahrhaftig, es sind die anmutigen Umrisse ihrer Gestalt, ich kann mich nicht irren, denn sie hat nicht ihresgleichen. Die beiden Gräfinnen hatten überhaupt keine Umrisse, und die Witwe war ein – äh – verteufelter Umriß. Ach, warum ist sie doch so paradiesisch schön, daß ich ihr nicht einmal in diesem Augenblick zu zürnen vermag!«

»Du bist selbst schuld daran, Alfred«, klagte Madame Mantalini, noch immer vorwurfsvoll, aber bereits in milderem Tone.

»Äh – ich bin ein verteufelter Elender«, jammerte Mr. Mantalini und schlug sich vor die Stirn. »Ich will einen Sovereign in Halfpence umwechseln lassen und sie in die Tasche stecken und mich in der Themse ertränken. Aber selbst dann werde ich ihr nicht zürnen, sondern auf meinem Gang zum Tode noch einen Brief auf die Post geben, um ihr anzuzeigen, wo man meine Leiche finden kann. Sie wird eine begehrenswerte Witwe sein, ich ein kalter Leichnam. Manch schöne Frau wird um mich weinen, aber sie – sie – äh – wird verteufelt lachen.«

»Alfred, du grausamer, grausamer Mensch!« schluchzte Madame Mantalini, bei dieser schrecklichen Aussicht in Tränen ausbrechend.

»Sie nennt mich grausam! – Mich – mich, der ich um ihretwillen ein äh – verteufelt – nasser, feuchter und scheußlicher Leichnam werden will« rief Mr. Mantalini.

»Du weißt, daß es mir das Herz bricht, wenn ich dich so reden höre«, klagte die Schneiderin.

»Kann ich denn leben, wenn dein Vertrauen dahin ist?« rief der Gatte. »Habe ich mein Herz in tausend kleine, äh – verteufelte Stücke zerrissen und alle eins nach dem andern an dieselbe kleine verteufelte Herzenszauberin verschenkt und sollte leben können, wenn sie mir mißtraut! Nein – äh – das kann ich nicht.«

»Frage Mr. Nickleby, ob die Summe von hundertzwanzig Pfund nicht recht anständig ist?« suchte Madame Mantalini einzulenken.

»Ich brauche ganz und gar keine – äh – Summe«, brauste der trostlose Ehemann auf. »Ich will nichts von diesem verteufelt – äh – ausgesetzten Gnadengehalt, ich will eine Leiche sein.«

Entsetzt, ihren Gatten die verhängnisvolle Drohung wiederholen zu hören, rang die Schneiderin die Hände und beschwor Ralph Nickleby, sich doch ins Mittel zu legen. Schließlich, nach vielen Tränen und Vorstellungen und einigen schwachen Versuchen seinerseits, die Türe zu gewinnen, um auf der Stelle gewaltsam Hand an sich zu legen, ließ sich Mr. Mantalini – selbstverständlich nur mit größtem Widerstreben – zu dem Versprechen bewegen, keine Leiche sein zu wollen. Als dieser Hauptpunkt glücklich beigelegt war, nahm die Putzmacherin die Frage hinsichtlich des ausgeworfenen Taschengeldes wieder auf, wobei sich übrigens ihr Gatte genau wie früher benahm und jede Gelegenheit ergriff, zu betonen, er könne in Lumpen einhergehen und bei Wasser und Brot ganz zufrieden leben, aber es sei ihm unmöglich, sein – äh – verteufeltes Dasein zu ertragen, wenn ihn eine so schwere Bürde wie das Mißtrauen des Gegenstandes seiner hingebendsten und heißesten Liebe bedrücke. Das trieb seiner Gattin wiederum die Tränen in die Augen, und das Endergebnis war, daß sie die Frage betreffs des Taschengeldes zwar nicht ganz aufgab, jedoch vorderhand auf die lange Bank schob, so daß Ralph klar genug sah, daß sein Geschäftsfreund wieder freie Hand hatte, sein leichtsinniges Leben weiterzuführen.

»Na, er wird bald genug wieder da sein, um sich Geld zu holen«, dachte er. »Die Liebe – pfui, wie kommt mir nur dieses dumme Wort in den Mund, das man von Knaben und Mädchen bis zum Ekel immer und immer wiederholen hört – vergeht schnell genug, wenn auch die, die lediglich in der Bewunderung eines Backenbartes wurzelt, wie ihn dieser Pavian trägt, noch am längsten zu währen scheint, offenbar, da sie aus der ärgsten Verblendung entspringt und aus der menschlichen Eitelkeit ihre Säfte zieht. Aber diese Hohlköpfe tragen Korn auf meine Mühle, so mögen sie denn ihren Tag bis zu Ende leben – und je länger er dauert, desto besser für mich.«

»Also, wenn du Mr. Nickleby nichts mehr zu sagen hast, lieber Alfred«, wendete sich Madame Mantalini an ihren Gatten, »so können wir uns vielleicht verabschieden? Wir haben ihn ohnedies schon allzulang aufgehalten.«

Mr. Mantalini antwortete eine kleine Weile nur dadurch, daß er seiner Gattin zärtlich ein paarmal auf die Nase tippte, und dann drückte er sich in gewählten Worten dahin aus, daß er jetzt nichts mehr zu sagen habe.

»Äh – verteufelt – und dennoch habe ich noch etwas zu erwähnen«, verbesserte er sich unmittelbar darauf und zog Ralph in eine Ecke. »Sie wissen doch von dem Unfall, der ihrem Freund Sir Mulberry zugestoßen ist? – So verteufelt – äh – außerordentlich und unerhört, wie nur was –«

»Was meinen Sie damit?« fragte Ralph erstaunt.

»Teufel nochmal, wissen Sie's denn nicht?« rief Mr. Mantalini.

»Ich habe in der Zeitung gelesen, daß er gestern nachts aus seinem Kabriolett geschleudert und schwer verwundet wurde. Man sagt sogar lebensgefährlich«, antwortete Ralph gelassen. »Aber ich finde weiter nichts Außerordentliches daran. Unfälle sind nicht wunderbar, wenn die Menschen unmäßig leben und nach Saufgelagen selbst kutschieren.«

»Hui«, pfiff Mr. Mantalini durch die Zähne, »Sie wissen also nicht, wie es zugegangen ist?«

»Wenn es etwas anderes betrifft, als ich eben angedeutet habe – nein«, versetzte Ralph, gleichgültig die Achseln zuckend.

»Äh – alle Teufel – Sie setzen mich in Erstaunen«, rief Mr. Mantalini.

Ralph zuckte abermals die Achseln, als halte er es gerade für kein Meisterstück, einen Menschen wie seinen Geschäftsfreund in Erstaunen zu setzen, und warf Newman, der jetzt wieder wie vorhin mit dem Kopf hinter den Glasscheiben der Zimmertüre auftauchte, einen vielsagenden Blick zu, irgendeinen Kunstgriff anzuwenden, um den lästigen Besuch zum Gehen zu bewegen.

»Äh, wissen Sie denn nicht«, sagte Mr. Mantalini und nahm Ralph beim Rockknopf, »daß es durchaus kein Unfall war, sondern ein – äh – verteufelter Mordversuch Ihres Neffen?«

»Was!« zischte Ralph durch die Zähne, ballte die Fäuste und wurde aschfahl im Gesicht.

»Alle Teufel, Nickleby, Sie scheinen ja ein geradeso blutgieriger Tiger zu sein wie er«, stotterte Mantalini und fuhr erschreckt zurück.

»Weiter, weiter!« drängte Ralph wild. »Heraus damit! Wie ging die Geschichte weiter? Wer hat es Ihnen erzählt? So reden Sie doch! Hören Sie denn nicht?«

»Äh – Teufel nochmal, Nickleby«, stammelte Mr. Mantalini und zog sich ängstlich zu seiner Gattin zurück, »was für ein verteufelt hitziger alter Bursche Sie sind! Sie gebärden sich ja so tobsüchtig, daß Sie meinem holden Leben hier den tödlichsten Schrecken einjagen und sie um ihren – äh – verteufelt süßen kleinen Verstand bringen. Verdamm mich.«

»Dummes Zeug«, brummte Ralph und lächelte krampfhaft, »das ist nun mal so meine Art.«

»Jedenfalls eine – äh – verteufelt gefährliche Tollhäuslerart«, meinte Mr. Mantalini und griff nach seinem Rohrstock.

Ralph heuchelte, so gut er konnte, gute Laune und fragte abermals, woher denn diese Nachricht stamme.

»Von Pyke. – Er ist ein verteufelt hübscher, angenehmer – äh gentlemanischer Bursche«, näselte Mr. Mantalini. »Äh – verteufelt angenehm; Ausbund von einem Kerl.«

»Und was hat er gesagt?« forschte Ralph, ungeduldig die Brauen runzelnd.

»Nun, die Sache hat sich so zugetragen: Ihr Neffe begegnete Sir Mulberry in einem Kaffeehaus, fiel ihn wie ein wütender Hund an, folgte ihm zu seinem Wagen, schwor, er wolle mit ihm nach Hause fahren, und wenn er sich an den Schweif seines Pferdes hängen müsse, zerschlug ihm dann das Gesicht – äh – äh übrigens ein verteufelt hübsches Gesicht – äh –, machte das Pferd scheu, stürzte mit Sir Mulberry hinaus und –«

»Blieb tot auf dem Platze«, fiel Ralph atemlos und mit blitzenden Augen ein. »Ist's so? Ist er tot?«

Mr. Mantalini schüttelte den Kopf.

»Ach was«, knurrte Ralph und wendete sich wütend ab, »dann ist ihm eben nichts geschehen – aber halt«, setzte er hinzu und wandte sich mit einem Ruck wieder um. »Er hat sich einen Arm zerschmettert, oder ein Bein, sich die Schulter ausgerenkt oder sich das Schlüsselbein gebrochen oder ein paar Rippen oder so was? Nicht wahr? Sie müssen doch etwas der Art gehört haben?«

»Nein, nein«, versicherte Mr. Mantalini, den Kopf schüttelnd. »Wenn er nicht später in so kleine Stücke zerbarst, daß sie der Wind wegblasen konnte, so hat er keinen Schaden genommen. Er ging so ruhig und gemütlich davon, wie – äh – wie einer – äh –, den der Teufel holt«, schloß er, um einen entsprechenden Vergleich verlegen.

»Was«, forschte Ralph stockend weiter, »– was war der Anlaß ihres Streites?«

»Sie sind – äh – der verteufeltste Schlaufuchs«, rief Mr. Mantalini bewundernd, »der pfiffigste, geriebenste, höllischste Schlaukopf, den's nur geben kann. Tun Sie doch nicht, als wüßten Sie keine Spur davon, daß Ihre kleine blauäugige Nichte natürlich die Schuld daran war; das hübscheste, süßeste –«

»Alfred!« ermahnte Madame Mantalini.

»Sie hat immer recht«, rief Mr. Mantalini beschwichtigend; »und wenn sie sagt, es sei Zeit zu gehen, so ist es Zeit, und wir gehen. Und wenn sie so durch die Straßen trippelt, äh, so werden ihr die Frauen neidisch nachsehen und sagen: sie hat, äh, einen verteufelt schönen Mann! Und die Männer werden entzückt ausrufen, er hat eine – äh – verteufelt schöne Frau, und beide werden recht haben – und keiner unrecht. Auf Ehre und Seligkeit, äh, verteufelt.«

Dann küßte er galant die Fingerspitzen seiner Handschuhe, zog den Arm seiner Gattin durch den seinigen und tänzelte mit ihr hinaus.

»So, Gott sei Dank«, brummte Ralph vor sich hin und ließ sich abgespannt in seinen Sessel sinken. »Dieser Satan ist also schon wieder los! Er scheint rein auf der Welt zu sein, um mir überall in den Weg zu treten. Einmal hat er mir gesagt, er wolle früher oder später Abrechnung mit mir halten. Er soll recht haben. Ich will ihm dazu verhelfen, daß er wahr prophezeit hat. Ich werde den Tag selber ansetzen.«

»Sind Sie zu Hause?« fragte Newman, plötzlich den Kopf zur Türe hereinsteckend.

»Nein«, versetzte Ralph schroff.

Mr. Noggs zog seinen Kopf zurück, tauchte aber gleich darauf wieder auf.

»Wissen Sie auch ganz gewiß, daß Sie nicht zu Hause sind?«

»Was will denn der Schafskopf damit wieder sagen?« brummte Ralph ärgerlich.

»Der Mann wartet draußen, seit die beiden zu Ihnen gekommen sind, und hat wahrscheinlich Ihre Stimme gehört«, erklärte Newman, sich die Hände reibend.

»Wer denn?« fragte Ralph, durch die Mitteilung seines Schreibers und seine empörende Kaltblütigkeit aufs äußerste gereizt.

Die Antwort wurde Newman durch den unvorhergesehenen Eintritt des Mannes, von dem er gesprochen, erspart, und dieser richtete jetzt sein Auge – buchstäblich sein Auge, denn er hatte nur eins – auf Mr. Ralph Nickleby, ließ sich nach einer linkischen Verbeugung unaufgefordert in einem Lehnstuhl nieder und faltete die Hände auf dem Knie. Beim Niedersetzen zog er seine ziemlich kurzen schwarzen Hosen an den Knien so weit in die Höhe, daß sie kaum mehr das obere Ende seiner Krempstiefel bedeckten.

»Na, das nenn' ich mir eine Überraschung«, rief Ralph und blickte seinen Besucher halb lächelnd, halb forschend an. »Wenn ich mich nicht sehr irre, sind Sie Mr. Squeers?«

»Freilich, freilich«, eiferte der Pädagog. »Und Sie würden mich noch leichter wiedererkannt haben, Sir, wenn ich nicht vor kurzem so vieles durchzumachen gehabt hätte. – Ach, helfen Sie doch dem kleinen Jungen draußen von dem hohen Stuhl in Ihrer Schreibstube herunter und schicken Sie ihn herein«, wendete er sich zu Mr. Newman. »Aha, da kommt er schon selber. Gestatten Sie – mein Sohn, Sir, der kleine Wackford. Nun, und was halten Sie von dieser Probe unserer Kost in Dotheboys Hall, Sir? Ist er nicht so kugelrund, daß man glauben könnte, die Kleider müßten ihm bersten, die Nähte aufspringen und die Knöpfe abfliegen? – Das nenne ich mir Fleisch«, rief er, drehte den Jungen um und kniff ihn zu dessen größtem Mißbehagen in die muskulösesten Teile seines Körpers. »Das nenn' ich mir Festigkeit und Solidität. Er ist so dick, daß man ihn kaum mit den zwei Fingern zwicken kann.«

Wie wohlgenährt nun auch Master Squeers aussehen mochte, so schien das Kneifen dennoch gelungen zu sein, wenigstens ließ der junge Herr einen lauten Schrei vernehmen und rieb sich die Stelle auf recht unverblümte Weise.

»Nun. Hem«, bemerkte Mr. Squeers ein wenig verblüfft.

»Diesmal scheine ich doch ein wenig Fleisch zwischen die Finger bekommen zu haben. Aber es mag wohl dran schuld sein, daß wir diesen Morgen sehr zeitig frühstücken mußten und er seinen Lunch noch nicht gehabt hat. Ich versichere Ihnen, Sie wären nicht imstande, auch nur einen Zoll von ihm in eine Türspalte zu klemmen, so prall ist er, wenn er sein Mittagessen im Leibe hat. Bitte, sehen Sie nur diese Tränen an, Sir«, setzte er triumphierend hinzu, als sich sein Sohn und Erbe die Augen mit dem Jackenärmel abwischte, »das pure Öl.«

»Er sieht wirklich recht wohlgenährt aus«, gab Ralph zu, der aus irgendwelchen Gründen sich den Schulmeister geneigt erhalten zu wollen schien. »Aber wie geht es Ihrer Gattin? Und wie geht es Ihnen selbst?«

»Mrs. Squeers«, antwortete der Besitzer von Dotheboys Hall mit geläufiger Zunge, »ist wie immer den Zöglingen eine Mutter und ein Segen, ein Trost und eine Freude allen, die sie kennen. Einer von unsern Jungen, der sich vor kurzem überfressen hat und deshalb krank wurde – es ist dies kein seltener Fall bei uns –, bekam letzte Woche ein Geschwür. Sie hätten nur sehen sollen, wie sie es mit ihrem Federmesser operierte. Gütiger Gott!« setzte er seufzend und nickend hinzu; »was für ein wertvolles Glied der menschlichen Gesellschaft ist doch diese Frau.«

Eine halbe Minute ungefähr blickte der Pädagog versonnen vor sich hin, als habe die Schilderung der Vorzüge seiner Gattin seinen Geist ganz und gar in das friedliche Dörfchen Dotheboys Hall bei Greta Bridge in Yorkshire versetzt, und richtete dann sein Auge wieder auf Nickleby, offenbar in der Erwartung, daß dieser etwas erwidern werde.

»Haben Sie sich von dem Überfall meines Strolches von Neffen wieder ganz erholt?« fragte Ralph.

»Könnte ich nicht sagen; es ist noch nicht lange genug her«, versetzte Mr. Squeers. »Ich war eine einzige Beule, Sir, von hier bis hier« – dabei berührte er zuerst seinen Scheitel und dann die Spitzen seiner Stiefeln – »Weinessig und Pflaster, Pflaster und Weinessig von morgens bis abends. Ich glaube, man hat wenigstens ein halbes Ries Löschpapier an mir verbraucht. Als ich zusammengeknäuelt und über und über bepflastert in unserer Küche lag, würden Sie mich wahrscheinlich für einen Ballen von Bandagen gehalten haben, vollgepfropft von lauter Gestöhn. – Habe ich laut gestöhnt, Wackford, oder leise?«

»Laut«, war die Antwort.

»Waren die Jungen, als sie mich in einem so schrecklichen Zustand sahen, betrübt oder erfreut?« examinierte Mr. Squeers in sentimentalem Tone weiter.

»Erfreut –«

»Was?« fuhr Mr. Squeers auf.

»Betrübt –«, verbesserte sich Master Wackford rasch.

»Na also«, brummte Squeers und versetzte seinem Sprößling eine tüchtige Ohrfeige. »Und jetzt nimm deine Hände aus den Taschen und stottere nicht, wenn man dich etwas fragt. Ruhig jetzt. Heule nicht, wenn du bei einem fremden Herrn bist – oder ich laufe von meiner Familie weg und komme nie mehr wieder. Und was würde dann aus all den lieben verlassenen Knaben werden, wenn sie in der Welt umherirren müßten ohne ihren väterlichen Freund und Berater!«

»Hatten Sie ärztlichen Beistand nötig?« fragte Ralph.

»Freilich«, antwortete Squeers, »und ich bekam eine tüchtige Rechnung dafür; sie ist übrigens bereits bezahlt.«

Ralph zog seine Augenbrauen in die Höhe, was ebenso gut Mitleiden wie Erstaunen bedeuten konnte, ganz wie es sich der Schulmeister auslegen wollte.

»Jawohl, ich habe sie bis zum letzten Pfennig bezahlt«, fuhr Mr. Squeers fort, der seinen Mann zu gut kannte, als daß er sich auch nur einen Augenblick der Hoffnung hingegeben hätte, es könne ihn vielleicht ein Wink mit dem Zaunpfahl veranlassen, etwas von den Kosten mitzutragen, »aber trotzdem ging es nicht aus meiner Tasche.«

»Nicht?«

»Nein, keinen Penny. Die Sache ist nämlich die: wir haben in unserm Kontrakt mit den Eltern unserer Zöglinge stehen, daß, wenn ein Arzt in der Schule nötig ist, er extra bezahlt werden muß, begreifen Sie?«

»Ja, hm, allerdings«, brummte Ralph.

»Wir suchten uns daher fünf Jungen aus, Kinder von kleinen Handelsleuten – die sind bekanntlich immer zahlungsfähig – und schickten einen davon ins Dorf, wo gerade der Scharlach grassierte. Richtig steckte sich auch der Junge an, und dann ließen wir die vier andern bei ihm schlafen. Die bekamen auch prompt den Scharlach, und dann ließen wir den Doktor kommen. Und da ging meine kleine Rechnung so mit nebenbei hinein – ha ha ha.«

»Wahrhaftig kein übler Gedanke«, lachte Ralph, den Schulmeister lauernd aus den Augenwinkeln heraus beobachtend.

»Das will ich meinen«, brüstete sich Squeers. »Wir machen es übrigens immer so. Als meine Gattin mit dem kleinen Wackford hier niedergekommen war, ließen wir ein halbes Dutzend Jungen den Keuchhusten kriegen und rechneten die Hebammenkosten und die Wärterin mit hinein – ha ha ha.«

Ralph lachte sonst nie, aber diesmal konnte er ein Lächeln kaum unterdrücken. Als sich der Pädagog nach Herzenslust ausgelacht hatte, fragte er ihn, was ihn denn eigentlich nach London geführt habe.

»Ach, eine dumme Rechtssache«, brummte Squeers und kratzte sich hinter den Ohren, »wegen Vernachlässigung eines Zöglings, wie sie es nennen. Ich verstehe gar nicht, was sie von mir wollen; er hatte doch so gutes Futter, wie nur irgendeins zu haben ist.«

Ralph sah fragend auf.

»Futter!« wiederholte Squeers laut, in der Meinung, Ralph müsse ihn wahrscheinlich nicht verstanden haben. »Eigentlich besser gesagt ›Weide‹. Wenn ein Junge krank wird und ihm das Essen nicht mehr schmeckt, nehmen wir eine Diätveränderung mit ihm vor, d. h. wir schicken ihn täglich für eine Stunde oder so in das Rübenfeld eines Nachbarn oder, wie der Fall gerade liegt, abwechselnd in ein Rüben- oder Möhrenfeld, da kann er dann futtern, soviel er mag. Es gibt in ganz Yorkshire keinen bessern Boden als den, worauf dieser nichtsnutzige Bursche ›geweidet‹ hat. Trotzdem holt er sich eine Erkältung, oder was weiß ich, kurz, das Resultat ist: ein Prozeß! – Sollte man glauben«, rief er aus und rutschte auf seinem Sessel ungeduldig und mit gekränkter Miene hin und her, »daß man den Undank so weit treiben kann! – Was meinen Sie dazu?«

»Muß einen allerdings schmerzlich berühren«, bemerkte Ralph trocken.–

»Sehen Sie, da sagen Sie die Wahrheit. Ich kann wahrhaftig nicht glauben, daß es noch jemand auf Erden gibt, der Kinder so gerne hat wie ich. – Es ist gegenwärtig für achthundert Guineen junges Zeug in Dotheboys Hall. Aber ich würde das doppelte Quantum Zöglinge aufnehmen und dennoch jeden einzelnen mit derselben Zärtlichkeit behandeln wie jetzt.«

»Wohnen Sie hier wieder in Ihrem alten Quartier?« wechselte Ralph das Thema.

»Ja, wir wohnen im ›Mohren‹, und da das Halbjahr demnächst zu Ende geht, so werden wir dort bleiben, bis wir die Pensionsgelder einkassiert und hoffentlich auch ein paar neue Zöglinge aufgetrieben haben. Den kleinen Wackford hier habe ich mit heraufgebracht, um ihn den Eltern und Vormündern als Beispiel zeigen zu können. Ich will es diesmal auch mit in die Annoncen setzen lassen. Sehen Sie sich nur mal den Jungen an – er ist selbst auch Zögling –, ist er nicht ein glänzender Beweis für unsere gute Kost?«

»Hm. – Ich möchte gern ein Wörtchen mit Ihnen unter vier Augen sprechen«, entgegnete Ralph, der seit einer Weile ganz geistesabwesend geantwortet und zugehört hatte.

»O bitte, ganz wie's beliebt, Sir«, schmeichelte Mr. Squeers. »Wackford, geh und spiele in dem rückwärtigen Zimmer, aber erhitze dich nicht zu viel, damit du mir nicht am Ende mager wirst. – Haben Sie nicht vielleicht ein Zweipencestück bei der Hand, Mr. Nickleby? Wissen Sie, damit der Junge was zu tun hat.«

»Ich – ich glaube, ja«, erwiderte Ralph zögernd und brachte endlich nach langem Herumsuchen in einer alten Schublade einen Penny, einen Halfpenny und zwei Farthings zum Vorschein.

»Ich danke«, sagte Mr. Squeers und reichte die Kupfermünzen seinem Sohn, »geh und kauf dir ein Stück Torte. Mr. Nicklebys Schreiber wird dir zeigen, wo du eine bekommen kannst, aber vergiß nicht, eine recht fette zu nehmen. – Pasteten und Torten«, setzte er hinzu, als er die Türe hinter seinem Sprößling geschlossen, »machen die Haut glänzend, und Eltern halten das für ein Zeichen von Gesundheit.«

Mit dieser Erklärung und einem listigen Blick, der als Kommentar dazu dienen sollte, rückte Mr. Squeers seinen Sessel ziemlich nahe Mr. Nickleby gegenüber und setzte sich.

»Hören Sie jetzt auf meine Worte«, begann Ralph und beugte sich vor.

Squeers nickte.

»Ich hoffe nicht«, fuhr Ralph eindringlich fort, »daß Sie dumm genug sind, die Ihnen widerfahrene Mißhandlung etwa zu vergeben oder zu vergessen?«

»Hol' mich der Teufel, wenn ich's tue«, knurrte Squeers erbittert.

»Oder eine Gelegenheit zu versäumen, die Schuld mit Zinsen einzutreiben, wenn sich eine solche darbietet?«

»Zeigen Sie mir nur eine Gelegenheit, dann sollen Sie schon sehen«, rief der Pädagog.

»Sagen Sie offen, war es nicht etwas von der Art, was Sie zu Ihrem jetzigen Besuch bei mir veranlaßt hat?« forschte Ralph und sah den Schulmeister lauernd an.

»Hm – hm – nein, nicht daß ich wüßte«, erwiderte Squeers, »ich habe nur gedacht, Sie könnten mir vielleicht außer der Kleinigkeit, die Sie mir bereits geschickt haben, eine weitere Entschädigung –«

»Ach so«, fiel ihm Ralph brüsk ins Wort. »Sie brauchen nicht fortzufahren.«

Es trat eine Pause ein.

»Wer ist übrigens der Junge, den er mit sich fortgenommen hat?« brach Ralph endlich das Schweigen.

Squeers nannte Smikes Namen.

»War er jung oder schon älter, gesund oder krank, willfährig oder widerspenstig? – So reden Sie doch, Mensch!« drängte Ralph.

»Nun, er war nicht mehr jung«, antwortete Squeers, »das heißt für einen Knaben.«

»Das heißt, er war überhaupt kein Knabe mehr, was?«

»Sehr richtig, er war so gegen zwanzig. Allerdings kam er Leuten, die ihn nicht kannten, nicht so alt vor, denn es fehlte ihm hier ein wenig« – Mr. Squeers tupfte sich auf die Stirn – »Sie verstehen: niemand bei uns zu Hause, sooft man auch auf den Busch klopfte, erriet sein Alter.«

»Und ich zweifle nicht, daß Sie es häufig genug getan haben«, murmelte Ralph.

»Gewiß nicht«, versicherte Squeers grinsend.

»Als Sie mir die Quittung für ›die Kleinigkeit‹, wie Sie es nannten, schickten«, fuhr Ralph fort, »schrieben Sie mir, seine Verwandten hätten sich seit langer Zeit nicht mehr um ihn gekümmert und Sie besäßen auch nicht die mindeste Spur, woher er wohl stammen möge, ist das wahr?«

»Leider, leider«, klagte Mr. Squeers, der immer zutraulicher wurde, je rückhaltloser Ralph seine Fragen stellte. »Meinen Aufzeichnungen nach sind es jetzt vierzehn Jahre her, daß ihn ein Fremder in einer Herbstnacht nach Dotheboys Hall brachte, ihn dort ließ und für das erste Jahr fünf Pfund fünf Schillinge vorausbezahlte. Er mochte damals fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein, älter keinesfalls.«

»Was wissen Sie weiter von ihm?«

»Leider verdammt wenig. Sechs oder acht Jahre lang wurde das Geld für ihn prompt bezahlt, aber dann blieb es plötzlich aus. Der Unbekannte hatte mir eine Adresse in London zurückgelassen, aber als es für mich nötig wurde, mich an sie zu wenden, wußte natürlich kein Mensch etwas Näheres. Ich behielt also den Jungen aus – aus –«

»Barmherzigkeit«, ergänzte Ralph trocken.

»Ja, ja, natürlich aus Barmherzigkeit«, faßte Mr. Squeers den Wink auf, sich die Knie reibend. »Und gerade, wie er anfing, sich ein bißchen nützlich zu machen, kommt dieser junge Schuft von einem Nikolas Nickleby und brennt mit ihm durch. Das ärgerlichste an der ganzen Geschichte ist, daß –«, Mr. Squeers rückte seinen Stuhl näher an Ralph und dämpfte seine Stimme, »– daß kürzlich Nachforschungen wegen des Jungen angestellt wurden, natürlich nicht bei mir, sondern so hintenherum bei den Leuten im Dorf, und gerade wo wir Aussicht hatten, alle Rückstände bezahlt zu bekommen und vielleicht – wer weiß, in solchen Dingen hat schon oft ein kleiner Nutzen herausgeschaut – ein hübsches Geschenk obendrein, wenn wir versprechen, ihn bei einem Bauern unterzubringen oder auf See zu schicken, damit er nie wieder zurückkomme und seinen Eltern Schande mache – falls er nämlich, wie so viele unserer Jungens, ein uneheliches Kind ist – und, zum Teufel nochmal, gerade in diesem Moment schnappt ihn mir der Spitzbube von Nickleby am hellichten Tag weg und bestiehlt mich dadurch gerade so, als ob er mich auf offner Straße ausgeplündert hätte.«

»Wir wollen uns beide, ohne viel Zeit zu verlieren, bemühen, quitt mit ihm zu werden«, knurrte Ralph und packte den Yorkshirer Schulmeister am Arm.

»Quitt?« wiederholte Squeers. »Mir wär's lieber, wenn ein kleiner Überschuß zu seinen Ungunsten dabei herausschaute. Ich wünschte nur, meine Frau bekäme ihn in die Beize, die würde ihn gut zurichten, na, ich danke. Sie brächte ihn um, Mr. Nickleby, sie würde so rasch mit ihm fertig werden wie mit ihrem Mittagessen.«

»Davon wollen wir ein andermal reden«, unterbrach Ralph.

»Ich muß erst Zeit haben, mir darüber klarzuwerden, wie ich ihn am tiefsten verwunden kann; wir werden dem Burschen schon beikommen –«

»Kommen Sie ihm bei, wie Sie wollen, Sir«, fiel ihm Mr. Squeers in die Rede, »aber wenn Sie ihn haben, dann nur tüchtig drauflos, das bitte ich mir aus! Aber jetzt guten Morgen. Bitte, geben Sie mir doch mal den Hut meines Jungen dort vom Nagel herunter und helfen Sie ihm vom Stuhl.«

Mit diesen an Newman Noggs gerichteten Worten verfügte sich der Pädagog in das kleine Hinterzimmer und setzte seinem Sprößling mit väterlicher Sorgfalt seinen Hut auf, während Newman, die Feder hinter dem Ohr, steif und unbeweglich auf seinem Schreibstuhl saß und abwechselnd Vater und Sohn anstarrte.

»Ein hübscher Junge, nicht wahr?« fragte Squeers, legte den Kopf ein wenig auf die Seite und trat gegen das Pult zurück, um das liebliche Bild besser genießen zu können.

»Gewiß«, murmelte Newman.

»Fein ausgepolstert, was? Haha, er hat auch das Fett von zwanzig Jungen am Leibe.«

»So?« brummte Newman, Squeers scharf fixierend, »das Fett von zwanzig, sagen Sie? – Das reicht nicht, soll wohl heißen: von allen; Gott helfe den andern. Haha – lieber Vater im Himmel.«

Nach diesen rasch und abgerissen hervorgestoßenen Bemerkungen sank Newman an seinem Pult wieder zusammen und begann mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit weiterzuschreiben.

»Ja, was fällt denn dem Menschen ein?« rief Squeers, hochrot im Gesicht. »Sind Sie vielleicht betrunken?«

Newman rührte sich nicht.

»Sind Sie verrückt?«

Aber Newman zuckte nicht mit der Wimper und schien sich überhaupt der Anwesenheit fremder Personen kaum bewußt zu sein. So tröstete sich denn Mr. Squeers mit der Überzeugung, der Mann müsse sowohl betrunken wie verrückt sein, und entfernte sich unter diesem Eindruck mit seinem hoffnungsvollen Sprößling.

In demselben Grade, wie Ralph Nickleby sich einer unwillkürlichen und nicht niederzukämpfenden Hochachtung für Kate bewußt wurde, so war auch sein Haß gegen Nikolas gewachsen. Ob er es jetzt als Gegengewicht für seine Gefühlsschwäche für nötig hielt, wenn er schon jemanden liebgewonnen, die andern dafür um so mehr zu hassen, ist schwer zu sagen, jedenfalls konnte er sich in seinem Innern weder gegen das eine noch gegen das andere wehren. Auf Trotz und Verachtung zu stoßen, Kate in den schwärzesten und abstoßendsten Farben zu erscheinen, zu wissen, daß man Haß und Abscheu in ihr schüre, zu fühlen, daß man seinen Umgang geradezu für eine Schmach hielt, alles das zu wissen und überzeugt zu sein, daß der Hebel von alledem derselbe junge arme Schlucker von einem Verwandten war, der ihn bereits bei der ersten Begegnung von oben herab behandelt und ihm seitdem offen und rücksichtslos Trotz geboten hatte – alles das war mehr als hinreichend, seine eingefleischte Bosheit derart anzufachen, daß er wohl kaum ein Mittel gescheut haben würde, wenn ihm dieses nur ermöglichte, sich irgendwie zu rächen.

Zum Glück für Nikolas war aber ein solches nicht zur Hand, und trotzdem Ralph den ganzen Tag darüber nachsann und während seiner ganzen übrigen Geschäfte ununterbrochen einen heimlichen Winkel seines Hirns solchen Spekulationen reservierte, so war er doch, als die Nacht einbrach, sich nicht um ein Jota klarer, was er tun solle.

»Als mein Bruder in seinem Alter stand«, sagte er sich, »fielen alle angestellten Vergleiche stets zu meinem Nachteil aus; er war offenherzig, freigebig, mutig, heiter – dagegen ich ein verschmitzter Junge, kaltherzig und von keiner andern Leidenschaft besessen als von der zum Gelderwerb und vom Durste nach Gewinn. Und alles das fiel mir plötzlich wieder ein, als dieser Bursche das erstemal vor mich hintrat. Je mehr ich jetzt darüber nachdenke, desto lebhafter steht alles wieder vor mir.«

Und wütend riß er Nikolas' Brief in tausend Fetzen und warf sie von sich, daß sie nur so auf den Boden niederschneiten.

»Und solche Erinnerungen«, brummte er mit bitterm Lächeln, »umdrängen mich scharenweise und kommen heran aus allen Enden und Ecken. Aber, wenn sich schon gewisse Leute stellen, als verachteten sie die Macht des Geldes, so will ich doch mal den Versuch machen, ihnen zu zeigen, wer eigentlich das Heft in der Hand hat.«

Ein plötzliches Machtbewußtsein überkam ihn und beruhigte ihn so weit, daß er sich zum Schlafen niederlegen konnte.

35. Kapitel
Smike wird Mrs. Nickleby und Kate vorgestellt. Auch Nikolas macht neue Bekanntschaften, und die Zukunft scheint sich für seine Familie aufhellen zu wollen.

Nachdem Nikolas seine Mutter und Schwester im Hause der gutmütigen Miss La Creevy untergebracht und sich die Überzeugung verschafft hatte, daß Sir Mulberry nicht direkt in Lebensgefahr schwebte, wendete er seine Sorgfalt wieder dem armen Smike zu, der die ganze Zeit über äußerst bekümmert in der Wohnung Newman Noggs' geblieben war und trostlos auf weitere Nachrichten von seinem Beschützer wartete. »Er gehört nun mal mit zu unserem kleinen Haushalt, wo wir auch immer wohnen und welches Schicksal uns auch bevorstehen mag«, sagte sich Nikolas, »und daher ist es auch meine Pflicht, den armen Jungen, wie es sich gehört, vorzustellen. Kate und meine Mutter werden schon um seiner selbst willen gütig gegen ihn sein, und sollte seine Persönlichkeit selbst nicht ausreichen, ihm ihr Wohlwollen zu sichern, so werden sie doch um meinetwillen ein Auge zudrücken.«

In Wirklichkeit erstreckten sich Nikolas' Bedenken aber nur auf seine Mutter, denn Kates war er sicher. Was seine Mutter anbelangte, so kannte er ihre Eigenheiten und war daher nicht so ganz überzeugt, ob Smike in ihren Augen würde bestehen können. »Aber liebgewinnen muß sie ihn«, sagte er sich, als er auf dem Wege zu ihnen war, »sobald sie erkennt, wie treu und anhänglich er ist. Und da sie sich darüber bald im klaren sein wird, kann seine Prüfungszeit nicht lange dauern.«

»Ich fürchtete schon«, rief Smike, überfroh, seinen Beschützer wiederzuhaben, »es könne Ihnen abermals eine Unannehmlichkeit zugestoßen sein. Die Minuten vergingen wie die Stunden, und ich hatte schon große Angst, Sie vielleicht gar nicht mehr wiederzusehen.«

»Gar nicht mehr wiederzusehen?« lachte Nikolas. »Du kannst sicher sein, so leicht wirst du mich nicht los. Ich werde immer und immer wieder an die Oberfläche kommen, und je tiefer man mich hinunterstößt, desto rascher werde ich wieder emporschnellen. Aber komm jetzt, Smike, ich bin hier, um dich mit nach Hause zu nehmen.«

»Nach Hause?« stotterte Smike und wich schüchtern einen Schritt zurück.

»Jawohl«, sagte Nikolas, ihn am Ärmel fassend, »warum erschrickst du so darüber?«

»Das Wort ›nach Hause‹ erweckt die Erinnerung an Hoffnungen in mir, die ich so viele Jahre lang hindurch hegte. Ich sehnte mich nach Hause, bis ich vor Müdigkeit einschlief, und siechte dahin vor Gram, aber jetzt –«

»Nun, was jetzt?« fragte Nikolas, dem armen Burschen freundlich ins Gesicht blickend. »Was wolltest du sagen, lieber Freund?«

»Ich könnte mich eines irdischen Heimes willen von Ihnen niemals trennen«, antwortete Smike, ihm innig die Hand drückend, »einen Fall ausgenommen. – Ich weiß, ich werde nicht alt werden, und wenn Sie mich dann begrüben und ich mir denken könnte, bevor ich stürbe, daß Sie zuweilen kommen werden und mein Grab mit Ihrem gütigen Lächeln ansehen – im Sommer, wo alles lebt und webt und nicht tot ist, wie ich es sein würde –, zu einer solchen Heimat könnte ich wohl ohne Tränen ziehen.«

»Warum sprichst du so, armer Junge, wo wir doch glücklich miteinander leben werden?« rief Nikolas vorwurfsvoll.

»Ich würde dann verändert sein, nicht die um mich her, und wenn man mich auch vergäße, ich würde nichts davon wissen«, antwortete Smike bewegt. »Im Grabe sind wir alle gleich, aber hier auf Erden ist niemand wie ich. Ich bin nur ein armes, einfältiges Geschöpf, aber das begreife ich sehr wohl.«

»Ja, ein albernes, einfältiges Geschöpf bist du«, rief Nikolas fröhlich, um ihn aufzumuntern. »Wenn du das sagen willst, so müßte ich dir recht geben. So eine Jammermiene für eine Damengesellschaft, und noch obendrein, wo meine hübsche Schwester dabei sein wird, nach der du so oft gefragt hast! Ist das vielleicht Yorkshirer Galanterie? Pfui, schäme dich!«

Smikes Mienen wurden heiterer, und er lächelte.

»Wenn ich von einem Zuhause spreche«, fuhr Nikolas fort, »so spreche ich von ›meinem‹ Zuhause, das natürlich auch das deinige ist. Allerdings, wenn du dabei an ein Besitztum von vier Mauern und einem Dach darauf denkst, dann wäre ich, weiß Gott, recht verlegen, dir zu sagen, wo es liegt. Aber das ist es nicht, was ich meine. Wenn ich von meinem Zuhause spreche, so habe ich dabei den Ort im Sinne, wo vorläufig, wo wir noch nichts Besseres haben, die, die ich liebe, beisammen wohnen; und wäre dieser Ort ein Zigeunerzelt oder eine Scheune, ich würde ihm doch denselben teuern Namen geben. Was daher mein jetziges ›Zuhause‹ anbelangt, so wird es dich weder durch seine Größe noch seine Pracht erschrecken, wie großartig du dir auch alles vorstellen magst.«

Dabei nahm Nikolas den Arm seines Schützlings, führte ihn nach Miss La Creevys Heim und erzählte ihm unterwegs noch allerlei, was ihn unterhalten oder aufmuntern konnte.

»Also dies, Kate«, stellte er Smike seiner Schwester vor, als er in das Zimmer trat, wo sie und seine Mutter wohnten, »dies ist der treue Freund und wackere Reisegefährte, auf dessen Empfang ich dich vorbereitet habe.«

Anfangs war Smike wohl recht blöde, linkisch und furchtsam, aber Kate trat so freundlich auf ihn zu und sagte ihm mit ihrer süßen Stimme, wie sehr sie sich nach allem, was ihr ihr Bruder erzählt, gesehnt habe, ihn kennenzulernen, und wie dankbar sie ihm wäre für sein treues Ausharren bei Nikolas, trotz aller schweren Prüfungen, daß er anfing, ganz zweifelhaft zu werden, ob er weinen solle oder nicht, und nur noch verwirrter wurde. Schließlich gelang es ihm jedoch, mit gebrochener Stimme zu stammeln, Nikolas sei sein einziger Freund, für den er gern sein Leben hingeben wolle, wenn ihm dadurch geholfen sei. Und Kate schien in ihrer Liebenswürdigkeit und Freundlichkeit seine Verwirrung und Angst gar nicht zu bemerken, so daß er bald gefaßter wurde und anfing, sich nach und nach heimisch zu fühlen.

Dann kam Miss La Creevy herein, der Smike ebenfalls vorgestellt wurde. Und auch sie war sehr freundlich und wunderbar gesprächig, wenn auch nicht direkt Smike gegenüber, den das anfangs natürlich beunruhigt haben würde, so doch gegen Nikolas und seine Schwester. Erst nach einer Weile zog sie dann und wann Smike mit ins Gespräch, fragte, ob er Sinn für Äußerlichkeiten habe und ob er denke, daß das Bild in der Ecke ihr gliche, und ob er nicht der Ansicht wäre, es würde hübscher gewesen sein, wenn sie sich zehn Jahre jünger gemalt hätte, und ob er nicht im allgemeinen glaube, daß junge Damen auch auf Gemälden, ebenso wie in Wirklichkeit, besser aussähen als alte.

Solche und ähnliche kleine Scherze und launige Bemerkungen brachte sie mit soviel Humor und Freundlichkeit vor, daß Smike sich innerlich sagte, sie sei wohl die liebenswürdigste Dame, die er je gesehen – sogar noch gewinnender als Mrs. Grudden von der Truppe des Mr. Vincent Crummles, die doch gewiß anziehend genannt werden könne.

Nach ungefähr einer Viertelstunde ging die Türe abermals auf, und eine Dame in Schwarz trat herein. Nikolas küßte sie zärtlich, nannte sie »Mutter« und führte sie zu dem Sessel, von dem Smike, als sie eingetreten, aufgestanden war.

»Du bist immer wohlwollend gewesen, wenn du arme und unterdrückte Menschen kennengelernt hast, liebe Mutter«, sagte er, »und ich bin daher überzeugt, daß du auch ihn mit Liebe aufnehmen wirst.«

»Gewiß, gewiß, lieber Nikolas«, versicherte Mrs. Nickleby, faßte Smike scharf ins Auge und verneigte sich mit mehr Grandezza, als gerade notwendig gewesen wäre, gegen ihn; »natürlich hat jeder Freund von dir – wie es übrigens auch ganz in der Ordnung ist – Ansprüche an mich, und es gewährt mir selbstverständlich ein großes Vergnügen, jemand kennenzulernen, an dem du Anteil nimmst – das kann doch gar keinem Zweifel unterliegen – ganz und gar nicht – oh, nicht im mindesten. – Allerdings muß ich hinzusetzen, lieber Nikolas, wie ich auch oft zu deinem armen seligen Papa zu sagen pflegte, wenn er Herren zum Essen mitbrachte und nichts im Hause war, daß er, wenn er vorgestern gekommen wäre – nein, ich meine nicht vorgestern, sondern ich wollte sagen, wenn er vor etwa zwei Jahren gekommen wäre, so hätten wir ihn gewiß besser bewirten können.« Nach diesen etwas schwülstigen Bemerkungen wendete sich Mrs. Nickleby zu ihrer Tochter und fragte sie mit hörbarem Flüstern, ob der Herr die ganze Nacht dableiben werde.

»Denn wenn es der Fall ist, liebe Kate«, sagte sie, »so wüßte ich wirklich nicht, wo wir ihn hinlegen sollten.«

Kate beugte sich zu ihr und flüsterte ihr, ohne eine Spur von Verdruß oder Verlegenheit blicken zu lassen, ein paar Worte ins Ohr.

»Aber Kate, du kitzelst mich ja!« rief Mrs. Nickleby und fuhr zurück. »Das begreife ich doch selbstverständlich, ohne daß du mir's zu wiederholen brauchst. Ich habe Nikolas bereits dasselbe gesagt, und, wirklich, ich bin sehr erfreut. Aber lieber Nikolas«, wendete sie sich an ihren Sohn und ließ jetzt ihre steife Miene ein bißchen fallen, »ich weiß noch immer nicht, wie dein Freund heißt.«

»Er heißt Smike«, sagte Nikolas.

Die Wirkung dieser Worte war höchst merkwürdig. Kaum war der Name gefallen, als Mrs. Nickleby in einen Stuhl sank und in einen Strom von Tränen ausbrach.

»O Gott, was gibt's denn?« rief Nikolas und eilte ihr zu Hilfe.

»Es klingt ganz wie Pyke«, jammerte Mrs. Nickleby, »ganz wie ›Pyke‹, weiter nichts. O Gott, rede jetzt nicht mit mir; es wird mir bald wieder besser sein.«

Nachdem die würdige Witwe alle Symptome eines langsamen Erstickungstodes durch alle Stadien durchgemacht und aus einem großen Glas mit Wasser einen Teelöffel zu sich genommen, das übrige aber verschüttet hatte, wurde ihr glücklicherweise wieder besser, worauf sie mit schwachem Lächeln bemerkte, »sie sähe ein, daß sie eine Törin sei«.

»Aber es ist eine Familienschwäche«, erklärte sie, »und deshalb brauche ich mich ihrer nicht zu schämen. Deine Großmama, Kate, war ebenso – genau ebenso. Die kleinste Aufregung, die geringste Überraschung, und sofort wurde sie ohnmächtig. Wie oft und oft habe ich erzählen hören, daß sie einmal – noch vor ihrer Verheiratung – um eine Ecke in der Oxford Street gebogen und gegen ihren eigenen Friseur angerannt sei, der, wie sie glaubte, vor einem ausgebrochenen Bären davonlief, und der bloße Anprall an ihn bewirkte, daß sie sofort in Ohnmacht fiel. – Aber wart einmal«, setzte sie hinzu und hielt ein wenig inne, um sich zu besinnen, »warte einmal, ob ich mich doch nicht irre. War es der Friseur, der vor dem Bären davonlief, oder der Bär, der vor dem Friseur floh. Ich kann mich wirklich nicht mehr genau besinnen. Ich weiß nur, daß der Friseur ein sehr hübscher Mann und höchst gentlemanisch in seinen Manieren war, so daß es also wohl der Bär gewesen sein muß.«

Mrs. Nickleby war, ohne sich darüber klar zu sein, wieder so ganz in ihre Gewohnheit verfallen, Reminiszenzen auszugraben, daß sie im Verlauf der Unterhaltung, bei der noch eine ganze Menge genau so wenig zur Sache passende Histörchen zum Vorschein kamen, immer heiterer wurde.

»Mr. Smike ist aus Yorkshire, lieber Nikolas, nicht wahr?« fragte sie nach dem Mittagessen, als sie eine Zeitlang unbegreiflicherweise still geschwiegen hatte.

»Allerdings, liebe Mutter. Ich sehe, du hast seine traurige Geschichte nicht vergessen.«

»O Gott, nein«, rief Mrs. Nickleby. »Wahrhaftig eine traurige Geschichte! – Haben Sie vielleicht einmal bei der Familie Grimble von Grimble Hall irgendwo da unten gespeist, Mr. Smike? – Ein sehr angesehener Mann, der Sir Thomas Grimble! Er und seine sechs erwachsenen ungemein liebenswürdigen Töchter hatten den schönsten Park in der ganzen Grafschaft.«

»Aber, liebe Mutter«, gab ihr Nikolas zu bedenken, »glaubst du wirklich, daß das unglückliche Opfer einer Yorkshirer Schule viele Einladungen von dem Adel des Landes erhalten konnte?«

»Aber, mein Junge, ich sehe doch nicht ein, was da Außerordentliches daran wäre!« entschuldigte sich Mrs. Nickleby. »Ich erinnere mich ganz genau, daß ich, als ich noch in die Schule ging, wenigstens zweimal in jedem halben Jahr zu der Familie Hawkins in Taunton Vale kam, die noch viel reicher sind als die Grimbles und übrigens mit ihnen verschwägert. Du siehst daraus, daß etwas Derartiges durchaus nicht so unmöglich ist«

Der Triumph, ihren Sohn so glänzend seines Irrtums überwiesen zu haben, machte einen solchen Eindruck auf sie, daß plötzlich eine derartige Vergeßlichkeit über sie kam, daß sie sich auf Smikes Namen gar nicht mehr besinnen konnte und eine unwiderstehliche Neigung an den Tag legte, ihn »Mr. Slammons« zu nennen. Sie entschuldigte sich dabei jedesmal damit, daß die merkwürdige Ähnlichkeit, die diese beiden Namen miteinander hätten, da sie beide mit einem »S« anfingen und überdies ein »m« enthielten, sie immer dazu verleite.

Das alles aber störte Smike durchaus nicht, Mrs. Nickleby bewundernd zuzuhören, wodurch er denn auch in ihrer Gunst außergewöhnlich stieg und sie veranlaßte, über sein Benehmen und seinen Charakter die vorteilhaftesten Urteile abzugeben.

So verblieb der kleine Kreis auf dem freundschaftlichsten und gemütlichsten Fuß bis zum Montagmorgen, wo sich Nikolas auf kurze Zeit separierte, um über seine Lage ernstlich nachzudenken und wegen einer Laufbahn nachzugrübeln, die ihn instand setzen könne, seine Familie, die jetzt gänzlich von ihm abhing, zu unterstützen.

Mehr als einmal fiel ihm dabei das Ensemble Mr. Crummles' ein; aber obgleich Kate seine ganze Geschichte und seine frühere Stellung bei der Schauspielertruppe kannte, so war dies doch bei seiner Mutter nicht der Fall, und er sah voraus, daß er von dieser Seite die verdrießlichsten Einwendungen gegen das Komödiantenleben zu gewärtigen habe. Aber auch noch andre und gewichtigere Gründe hielten ihn ab, zur »Bühne« zurückzukehren. Abgesehen von dem kümmerlichen und unsicheren Erwerb und seiner eigenen festen Überzeugung, daß er – nicht einmal als Schauspieler in der Provinz – je etwas Besonderes leisten werde können: wie durfte er seine Schwester von Stadt zu Stadt, von Ort zu Ort mit sich herumführen, ohne sie dabei von der Berührung mit Menschen ausschließen zu können, mit denen er fast täglich zusammenzukommen genötigt sein mußte.

»Nein, es geht nicht«, sagte er sich kopfschüttelnd. »Ich muß etwas anderes versuchen.«

Aber dieser Plan war leichter gefaßt als ausgeführt. Was konnte er anfangen angesichts seiner geringen Weltkenntnis, die er sich in den paar Monaten Lehrzeit erworben, und bei seinem ungestümen Charakter, der wohl seinem Alter natürlich war, aber nur eine Klippe beim Vorwärtskommen bedeutete. Und dann – mit seinem geringen Vorrat an Geld und einem noch geringeren an Freunden!

»Ach was«, sagte er sich schließlich; »ich mache eben noch einen Versuch bei dem Stellenvermittlungsbureau.«

Er mußte über sich selbst lachen, als er raschen Schrittes das Haus verließ, denn noch einen Augenblick vorher hatte er sich seinen Hang zur Übereilung zum Vorwurf gemacht. Aber es half ihm nichts; einige Schritte weiter, und schon wieder malte er sich alle möglichen glänzenden Möglichkeiten und ein großes Glück aus, das ihm unvermittelt in den Weg kommen werde.

Das Dienstvermittlungsbureau sah noch genauso aus wie das letzte Mal und schien sogar – mit ein oder zwei Ausnahmen ganz dieselben Plakate in den Fenstern zu enthalten, die er bereits damals gelesen. Da waren dieselben tadellosen Herrschaften, die tugendhafte Dienstboten, und dieselben tugendhaften Dienstboten, die tadellose Herrschaften suchten. Dieselben herrlichen Besitztümer, auf die man Geld aufnehmen wollte, und genau dieselben ungeheuren Summen, die irgend jemand auf gute Hypotheken auszuleihen vorhatte – kurz, es wimmelte von Hinweisen auf alle Arten von Menschen, die ihr Glück machen wollten.

Als Nikolas stehenblieb, um sich das Fenster näher zu betrachten, blieb wie zufällig ein alter Herr gleichfalls stehen und musterte ihn genauer, vielleicht weil ihn sein Gesicht im Reflex der Fensterscheiben sympathisch berührte.

Es war ein untersetzter alter Herr mit einem breitschößigen blauen Frack von weitem bequemem Schnitt ohne Taille, braunen Hosen und hohen Gamaschen und auf dem Kopf einen breitkrempigen niedrigen Hut, wie ihn reiche Ökonomen zu tragen pflegen. Er hatte seinen Frack zugeknöpft, und sein Doppelkinn ruhte in den Falten einer weißen Halsbinde, nicht etwa einer jener steifen, gestärkten, Schlagfluß befördernden Krawatten, sondern eines guten altmodischen behaglichen weißen Halstuches, in dem man schlafen gehen kann, ohne die geringste Unbequemlichkeit zu empfinden. Was aber Nikolas' Aufmerksamkeit am meisten auf sich lenkte, war das Auge des alten Herrn, denn nicht so leicht gab es wohl ein klareres, freundlicheres, ehrlicheres, heitereres und glücklicheres Auge als dieses. Da stand der alte Herr vor dem Fenster, den Blick ein wenig aufwärts gerichtet, die eine Hand in der Brust seines Frackes und mit der andern mit einer altmodischen alten Uhrkette spielend, den Kopf ein wenig auf die Seite geneigt und den Hut ein wenig aufs Ohr geschoben – offenbar zufällig, denn Gewohnheit war es nicht, das sah man – und mit einem so herzerquickenden Lächeln um den Mund und einem so komischen Ausdruck von Schlauheit, Einfalt, Herzensgüte und fröhlicher Laune in dem heiteren alten Gesicht, daß ihn Nikolas bis zum Abend hätte ansehen können und ganz darüber vergessen, daß es sauertöpfische und unfreundliche Gesichter auf der Welt gäbe, die einem überall auf Erden in den Weg laufen.

Der alte Herr schien es anfangs nicht zu bemerken, daß man ihn beobachtete, endlich aber blickte er doch zur Seite und nach Nikolas, der daraufhin, um keinen Anstoß zu erregen, sogleich seine Fensterschau wieder aufnahm.

Immer noch blieb der Fremde stehen, um ein Plakat nach dem andern durchzulesen, und Nikolas konnte sich nicht enthalten, ihn abermals neugierig anzuschauen. In den merkwürdigen, seltsamen Zügen und im ganzen Wesen des alten Herrn lag etwas so unbeschreiblich Anziehendes, soviel auf innern Wert Hindeutendes, und um seine Mund- und Augenwinkel tanzten so viele kleine spaßhafte Lichter, daß es eine wahre Freude und Lust war, ihn anzusehen.

Unter diesen Umständen war es kein Wunder, daß der Alte Nikolas mehr als einmal dabei ertappte, wie dieser ihn nicht aus den Augen ließ; und jedesmal errötete Nikolas dann und wurde verlegen, denn es hatte sich nachgerade in ihm der Gedanke festgesetzt, der Fremde suche vielleicht einen Sekretär oder sonst eine Hilfskraft, und es war ihm, als müsse ihm der alte Herr diesen Gedanken geradezu von der Stirne ablesen.

Über alldem waren kaum ein paar Minuten vergangen. Als der alte Herr sich schließlich anschickte fortzugehen, begegnete er abermals einem Blick aus Nikolas' Augen, und dieser stotterte verwirrt eine Entschuldigung hervor.

»Macht doch weiter nichts, hat gar nichts zu sagen«, entgegnete freundlich der alte Herr. Seine Worte klangen so herzlich und seine Stimme ganz so, wie man sie von einem so freundlichen Gentleman erwarten durfte, daß Nikolas den Mut faßte, ein paar Worte zu sprechen.

»Eine Menge Gelegenheiten, Beschäftigung zu finden, Sir«, sagte er lächelnd und deutete auf das Fenster.

»Ja, ja; so mancher hat das wohl schon im Ernst geglaubt. So mancher, der den besten Willen hatte und sich nach einer guten Anstellung sehnte«, versetzte der alte Herr. »Arme Burschen – arme Burschen.«

Mit diesen Worten wollte er weitergehen; als er aber sah, daß Nikolas gerade den Mund zu einer Erwiderung öffnete, hielt er gutmütig inne, als sei es durchaus nicht seine Absicht, das Gespräch so kurz abzubrechen.

Nach einigem Zögern, wie man es oft zwischen zwei Menschen bemerkt, die einander zugenickt haben und nicht sicher sind, ob sie auf ihrem Wege umkehren oder sich anreden sollen, befand sich Nikolas an der Seite des alten Herrn.

»Sie wollten etwas sagen, Sir, was war es denn?« fragte der Gentleman.

»Ach, es war weiter nichts; ich hoffte nur – oder vielmehr ich glaubte –, Sie hätten diese Ankündigungen wahrscheinlich nicht ohne Grund durchgelesen«, stotterte Nikolas.

»So? Und aus welchem Grunde wohl glaubten Sie?« entgegnete der alte Herr mit einem freundlich schlauen Blick. »Haben Sie vielleicht geglaubt, ich suche eine Stelle – wie?«

Nikolas schüttelte den Kopf.

»Haha«, lachte der alte Herr und rieb sich fröhlich die Hände, »gewiß nur ein sehr naheliegender Gedanke, wenn man jemand diese Annoncen durchlesen sieht; wahrhaftig, anfangs dachte ich ganz dasselbe von Ihnen.«

»Nun, da waren Sie, wenn Sie dies annahmen, nicht sehr weit von der Wahrheit entfernt«, entgegnete Nikolas.

»Wie?« rief der alte Herr, Nikolas von Kopf bis zu Füßen musternd. »Was sagen Sie da? Meiner Treu, ein junger Herr, der sich gut aufführt, kann wohl kaum in eine solche Notlage kommen. O nein – nein – nein.« Nikolas verbeugte sich, wünschte dem Gentleman einen guten Morgen und wendete sich zum Gehen.

»Warten Sie doch ein bißchen«, rief dieser und winkte ihn in ein Seitengäßchen, wo sie ihr Gespräch ungestörter fortsetzen konnten. »Was wollten Sie damit sagen? Bitte, erklären Sie sich doch näher.«

»Ich kann eigentlich nur sagen, daß Ihr freundliches Gesicht und Ihr leutseliges Benehmen – ich habe bisher bei niemand auch nur etwas Ähnliches gesehen – mich zu einem Geständnis veranlaßt haben, das ich wohl kaum einem andern Fremden in dieser Wildnis von London gemacht haben würde«, erwiderte Nikolas.

»Wildnis? Ja, da haben Sie recht, das ist es; sehr gut gesagt, London ist eine Wildnis«, rief der alte Herr lebhaft. »Es war auch einmal für mich eine Wildnis. – Ich kam einst barfuß hierher werde das nie vergessen – Gott sei Dank.«

Mit feierlicher Miene lüftete er den Hut.

»Aber um was handelt sich's bei Ihnen, wo fehlt's Ihnen, wie ging alles zu«, fuhr der alte Herr fort und legte die Hand auf Nikolas' Schulter, während sie zusammen die Straße hinaufgingen.

»Sie sind – wie?« – Er deutete mit dem Finger auf den Flor auf Nikolas' Rockärmel. – »Für wen? – Wie?«

»Ich trage Trauer um meinen Vater.«

»Ah«, sagte der alte Herr hastig; »schlimm für einen jungen Menschen, seinen Vater zu verlieren. – Verwitwete Mutter vielleicht?« Nikolas seufzte.

»Auch Brüder und Schwestern – wie?«

»Eine Schwester«, antwortete Nikolas.

»Das arme Ding – das arme Ding. Sie haben wahrscheinlich eine gute Schule genossen?« fragte der alte Herr mit einem neugierigen freundlichen Blick in das Gesicht seines Begleiters weiter.

»Allerdings, an Erziehung hat es mir nicht gefehlt.«

»Schöne Sache das«, lobte der alte Herr, »Erziehung! Sehr wichtig! Außerordentlich wichtig! – Habe selber keine genossen, – bewundere sie aber desto mehr an andern. – Eine schöne Sache das – Erziehung! Ja, ja, erzählen Sie mir doch mehr von Ihrer Geschichte. Ich möchte alles hören – nicht aus zudringlicher Neugierde – nein, nein, nein.«

Es lag etwas so Kindliches und Unverfängliches, so etwas ganz anderes als konventionelle, geheuchelte Teilnahme in der Art, mit der der alte Herr das alles hervorstieß, daß Nikolas nicht widerstehen konnte. Unter Leuten von gediegenem und gesundem Charakter wirkt nichts so wohltuend als Offenherzigkeit. Auch Nikolas empfand augenblicklich diesen Einfluß und erzählte die Hauptpunkte seiner Geschichte ohne Rückhalt, wobei er bloß die Namen verschwieg und die Art, wie sein Onkel Kate behandelt hatte, so flüchtig wie möglich berührte. Der alte Herr hörte mit großer Aufmerksamkeit zu und nahm dann Nikolas, als er fertig war, ohne viel Umstände am Arm.

»Kein Wort weiter – kein Wort mehr«, sagte er. »Kommen Sie, wir dürfen keine Minute verlieren.«

Damit zog der alte Herr Nikolas nach der Oxford Street zurück, rief einen Omnibus an, der nach der City fuhr, schob ihn hinein und stieg dann ebenfalls auf.

Da er sich in außerordentlicher Aufregung zu befinden schien und jeden Satz, den Nikolas sprechen wollte, stets mit dem gleichen: »– kein Wort mehr, mein Lieber, bitte kein Wort mehr« unterbrach, so hielt es dieser für das beste, sich stillschweigend zu fügen. So fuhren sie denn recht einsilbig zusammen nach der City; und je weiter sie kamen, desto neugieriger wurde Nikolas, wie wohl dieses Abenteuer enden werde.

Als sie bei der Bank anlangten, stieg der alte Herr mit großer Hast aus, faßte Nikolas abermals am Arm, eilte mit ihm durch Threadneedle Street und einige Durchlässe auf der rechten Seite, bis sie endlich in einen ruhigen freien kleinen schattigen Platz einbogen, wo er ihm in ein sehr altes, aber höchst reinlich aussehendes Haus voranging. Die Türe trug weiter keine Aufschrift als »Gebrüder Cheeryble«, aber ein rascher Blick auf die Adressen auf einigen umherstehenden Kisten ließ Nikolas schließen, daß die Firma Gebrüder Cheeryble sich mit Exporthandel nach Deutschland befasse.

Mr. Cheeryble – denn das schien der alte Herr, wenn nicht alle Anzeichen trügten, zu sein – führte Nikolas durch ein Warenlager, wo alles auf ein höchst umfangreiches Geschäft hindeutete, in ein kleines, durch Verschlage abgeteiltes Kontor, das wie ein großer Glaskasten aussah und in dem so unbelästigt von Staub und Schmutz, als sei das Bureau wirklich ein Glaskasten mit einem Deckel darauf, ein korpulenter ältlicher Buchhalter mit einem dicken runden Gesicht, einer silbernen Brille auf der Nase und einem gepuderten Kopfe saß.

»Ist mein Bruder drin?« fragte Mr. Cheeryble ganz in derselben freundlichen Weise, die er bisher gegen Nikolas bewiesen.

»Jawohl Sir«, antwortete der Buchhalter und richtete seine Brillengläser abwechselnd auf seinen Prinzipal und auf Nikolas, »aber Mr. Trimmers ist bei ihm.«

»So! Und was will er denn, Tim?« fragte Mr. Cheeryble.

»Er hat eine Subskriptionsliste für die Witwe und Familie eines Mannes, der heute morgen in den Ostindien-Docks ums Leben kam, aufgelegt, Sir«, antwortete Tim. »Der Unglückliche wurde durch ein Faß mit Zucker zermalmt, Sir.«

»Trimmers ist ein braver Bursche«, sagte Mr. Cheeryble ernst, »und ein menschenfreundlicher Mann, und ich bin ihm sehr verpflichtet. Trimmers ist wirklich einer unserer besten Freunde, die wir haben, und bringt uns immer etwas, von dem wir sonst nie erfahren hätten. Wirklich, wir können Trimmers nicht genug dankbar sein.«

Dabei rieb sich Mr. Cheeryble erfreut die Hände und faßte Mr. Trimmers, der soeben an der Bureautüre vorüberkam, um das Haus zu verlassen, am Ärmel.

»Tausend Dank, tausend Dank. – Das ist wieder mal hübsch von Ihnen«, lobte er und zog Mr. Trimmers in eine Ecke. »Wieviel Kinder hinterläßt der Mann, und was hat mein Bruder Ned gezeichnet, Trimmers?«

»Sechs Kinder«, antwortete der Gefragte. »Ihr Bruder hat zwanzig Pfund gezeichnet.«

»Mein Bruder Ned ist eine gute Seele, und Sie sind es gleichfalls, Trimmers«, sagte der alte Herr und drückte dem Kollektanten eifrig und voll Wärme beide Hände. »Schreiben Sie mich auch mit zwanzig Pfund auf – oder – warten Sie mal – es könnte protzig aussehen – schreiben Sie lieber mich mit zehn Pfund und Tim Linkinwater ebenfalls mit zehn Pfund auf. – Eine Anweisung von zwanzig Pfund für Mr. Trimmers, Tim! – Gott segne Sie, Trimmers, und kommen Sie doch diese Woche mal zum Mittagessen; Sie sind immer willkommen. – So, lieber Freund, hier ist die Anweisung. O Gott, durch ein Faß mit Zucker zermalmt und sechs arme verwaiste Kinder! – O Gott, welches Unglück.«

So ununterbrochen fortsprechend, um die Dankesbezeugungen Mr. Trimmers' für den hohen Betrag der Gabe abzuschneiden, führte Mr. Cheeryble Nikolas, der durch das, was er in diesen paar Minuten gesehen und gehört, ebenso erstaunt und ergriffen war, zu der halboffenen Türe des anstoßenden Zimmers.

»Lieber Ned«, fragte Mr. Cheeryble und klopfte mit den Fingerknöcheln an, »hast du zu tun, lieber Bruder? – Störe ich vielleicht?«

»Aber, lieber Charles«, rief eine Stimme von drinnen, die der des Fragenden so ähnlich war, daß Nikolas förmlich erschrak, »wie kannst du nur fragen! So komm doch herein.«

Wie erstaunte Nikolas aber erst, als der alte Herr mit ihm ins Zimmer trat und einen andern alten Herrn begrüßte, der genau sein Ebenbild war – dasselbe Gesicht, dieselbe Figur, derselbe Frack, dieselbe Weste, dasselbe Halstuch, dieselben Hosen und Gamaschen, ja sogar an der Wand am Nagel genau derselbe weiße Hut.

Als die beiden Alten einander die Hand schüttelten, leuchteten ihre Gesichter in so zärtlicher Liebe, daß man es bei Kindern nur mit Entzücken hätte ansehen können, die aber bei so alten Leuten etwas unbeschreiblich Rührendes hatte. Bei näherer Betrachtung bemerkte Nikolas, daß der zweite alte Herr nur ein wenig stämmiger, sonst aber genau wie sein Bruder war. Dies und ein kleiner Unterschied in Gang und Haltung war das einzige, wodurch man die beiden auseinanderkennen konnte; und auf den ersten Blick sah man, daß es Zwillingsbrüder sein mußten.

»Lieber Ned«, begann Mr. Cheeryble und schloß die Zimmertüre, »ich habe da einen jungen Freund gefunden, dem wir unbedingt aushelfen sollten. Wir müssen, nicht nur seinetwegen, sondern auch unserthalben, die entsprechenden Nachforschungen anstellen, und wenn sich – wie ich fest überzeugt bin – seine Aussagen bestätigen, so müssen wir ihm unter die Arme greifen – ja, wir müssen ihm unbedingt unter die Arme greifen, lieber Ned.«

»Wenn du so überzeugt bist, lieber Bruder«, erwiderte Ned, »wozu dann weitere Nachfragen? Wir werden ihm einfach helfen. Aber was wünscht er eigentlich, und was braucht er? Wo ist Tim Linkinwater? Er soll hereinkommen.«

Die beiden Zwillingsbrüder sahen einander nicht nur äußerlich aufs Haar ähnlich, sondern da sie fast dieselben Zahnlücken hatten, war auch ihre Artikulation beinahe ganz die gleiche. Es machte den Eindruck, als hätten sie beim Reden ein paar Pflaumen im Munde.

»Wo ist Tim Linkinwater?« fragte Ned.

»Halt, halt, halt«, rief Charles, seinen Bruder beiseite nehmend.

»Mir fällt da etwas ein, lieber Bruder, ich hätte einen Plan. – Tim wird nachgerade ein wenig alt und ist uns stets ein treuer Diener gewesen, lieber Ned. Ich glaube, es genügt nicht, daß wir ihm als Dank für seine langjährigen Dienste für seine Mutter und Schwester ein Jahresgehalt auswarfen und ihm einen kleinen Familiengrabplatz kauften, als sein armer Bruder starb.«

»Nein, nein, nein, gewiß genügt es nicht – gewiß nicht, nicht annähernd – nicht annähernd«, stimmte der andere alte Herr ein.

»Was denkst du also, wenn wir Tim seine Geschäfte ein wenig abnähmen und ihm zuredeten, aufs Land zu gehen oder sich zwei oder drei Tage wöchentlich ein bißchen in der frischen gesunden Luft draußen zu bewegen? Er kann ja ganz gut des Morgens ein paar Stunden später ins Geschäft kommen. Ich glaube, der alte Tim würde sich bald wieder verjüngen«, entwickelte Charles Cheeryble seinen Plan. »Der alte Tim Linkinwater wieder jung! Was meinst du dazu, wie? Erinnerst du dich noch, wie der alte Tim noch ein ganz kleiner Junge war? Haha! Der arme Tim, der arme Tim.«

Und die beiden alten Knaben lachten fröhlich mitsammen, bis ihnen die Tränen im Auge standen.

»Und jetzt höre mal, lieber Ned«, begann der alte Herr wieder hastig und setzte rechts und links neben Nikolas je einen Stuhl. »Ich werde dir die Sache selber erzählen, Ned, denn der junge Herr ist ein bißchen schüchtern und überdies wohlerzogen, Ned, und ich halte es nicht für richtig, daß er uns seine Geschichte noch einmal vorträgt, als ob wir Zweifel darein setzten. Nein, nein, nein.«

– »Nein – nein – nein«, bekräftigte auch der andere. »Ganz recht, lieber Bruder, ganz recht.« –

»Er soll mich aufmerksam machen, wenn ich etwas Falsches sage. Die Geschichte wird dich sehr ergreifen, lieber Bruder. Zumal du dich der Zeit erinnern wirst, wo wir beide zwei freudlose Jungen waren und unsern ersten Schilling in dieser großen Stadt verdienten.«

Schweigend drückten sich die Zwillingsbrüder die Hand, und Charles berichtete in schlichter Weise, was er von Nikolas erfahren hatte. Es folgte sodann eine lange Unterredung und nach dieser eine geheime Besprechung von fast gleicher Dauer zwischen Ned und Tim Linkinwater im anstoßenden Zimmer. Nikolas war so tief ergriffen von der Güte der beiden alten Herrn, daß er bei jedem neuen Beweise von Wohlwollen und Teilnahme nur mit der Hand abwehren konnte und wie ein Kind schluchzen mußte.

Dann kamen Ned Cheeryble und Timotheus Linkinwater zusammen zurück, und letzterer ging sofort auf Nikolas zu und flüsterte ihm kurz ins Ohr – er pflegte nie viel Worte zu machen –, daß er sich seine Adresse auf dem Strand notiert habe und diesen Abend um acht Uhr bei ihm vorsprechen wolle. Sodann wischte er seine Brille ab und setzte sie wieder auf, gleichsam als Vorbereitung für das, was jetzt von Seiten der Gebrüder Cheeryble folgen würde.

»Tim«, begann Charles, »Sie haben gehört, daß wir beabsichtigen, diesen jungen Mann in unser Kontor aufzunehmen?«

Ned erklärte, daß er Tim bereits alles Nähere mitgeteilt habe und dieser vollkommen einverstanden sei. Tim Linkinwater nickte und sagte, er wisse schon, warf sich in die Brust und nahm eine außerordentlich wichtige Miene an, worauf tiefes Schweigen folgte.

»Ich habe nur eins zu sagen. Aus dem ›Jeden-Morgen-ein-paar-Stunden-später-ins-Geschäft-Kommen‹ wird nichts«, brach er dann plötzlich mit entschlossener Miene das Schweigen.

»Auch gedenke ich nicht, in frischer Luft zu schlafen und ebensowenig aufs Land zu gehen. Das paßte mir gerade noch.«

»Zum Kuckuck mit Ihrem Eigensinn, Tim Linkinwater«, brach Charles Cheeryble los, jedoch ohne die mindeste Spur von Unwillen oder Verdruß im Gesicht, »zum Kuckuck mit Ihrem Eigensinn, Tim Linkinwater! Was soll denn das wieder heißen?«

»Es sind jetzt vierundvierzig Jahre«, entgegnete Tim, addierte mit der Feder in der Luft eine Kolonne und zog einen Strich darunter, ehe er das Fazit nannte, »künftigen Mai sind's vierundvierzig Jahre, seit ich die Buchhaltung der Gebrüder Cheeryble übernommen habe. Die ganze Zeit über – Sonntag ausgenommen habe ich jeden Morgen das Kontor Schlag neun Uhr aufgesperrt und jeden Abend um halb elf – wenn es viel zu erledigen gab, manchmal erst zwanzig Minuten vor zwölf – alles noch einmal nachgesehen, damit kein Brand entstehen konnte, und keine einzige Nacht anderswo als in dem Dachstübchen hinten geschlafen. Dort stehen noch immer derselbe Resedatopf mitten im Fenster und dieselben vier Blumentöpfe, zwei auf jeder Seite, die ich mitgebracht, als ich hier eintrat. Ich habe es Ihnen schon oft und oft gesagt, und ich lasse mir's nicht nehmen, daß es einen Platz wie den unserigen auf der ganzen Welt nicht wieder gibt. Ja,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 23.11.2014
ISBN: 978-3-7368-5813-8

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