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Leseprobe

Charles Dickens

Klein-Dorrit. Zweites Buch

Der Reichtum.

Erstes Kapitel.
Reisegenossen.

Im Herbste des Jahres krochen Dunkelheit und Nacht zu den höchsten Gipfeln der Alpen empor.

Es war die Zeit der Weinlese in den Tälern auf der Schweizer Seite des St. Bernhardpasses und an den Ufern des Genfer Sees. Die Luft war von dem Duft der eingeernteten Trauben geschwängert. Körbe, Bütten und Kübel mit Trauben standen in den dunklen Dorftorwegen, verstellten die steilen und engen Dorfgassen und wurden den ganzen Tag auf Wegen und Straßen hin und her getragen. Trauben, von den Füßen zertreten und zerquetscht, lagen überall umher. Die junge Bäuerin, die sich schwerbeladen nach Hause schleppte, beruhigte ihr schreiendes Kind mit Trauben. Der Idiot, der seinen dicken Kropf unter der Traufe der hölzernen Hütte an dem Wege zum Wasserfall sonnte, saß gierig Trauben kauend da. Der Atem der Kühe und Ziegen duftete angenehm von dem Laub und den Kämmen der Trauben. Die versammelten Gäste in jedem kleinen Wirtshause sprachen, während sie aßen und tranken, von Trauben. Schade, daß aus dem großen Überfluß nicht etwas Reife auf den dünnen, harten, steinigen Wein überging, der im ganzen aus diesen Trauben gemacht wurde!

Die Luft war den ganzen schönen Tag über warm und durchsichtig gewesen. Glänzende metallene Kirchturmspitzen und Kirchendächer, die man da und dort in der Ferne sah, hatten die weite Gegend durchblitzt: und die schneeigen Berggipfel waren so klar gewesen, daß nicht daran gewöhnte Augen mit dem Blick über das dazwischenliegende Land hinwegeilten und ihre rauhe Höhe als etwas Fabelhaftes gering achtend, gewöhnlich glaubten, sie seien in wenigen Stunden zu erreichen. Bergkuppen von großer Berühmtheit sah man von den Tälern, wo bisweilen monatelang keine Spur von ihrer Existenz sichtbar war, seit dem Morgen klar und nahe an dem blauen Himmel stehen. Und selbst jetzt, wo es unten dunkel wurde, hoben sie sich – gleichsam feierlich zurückschreitend wie Geister, die entschwinden wollen – doch noch deutlich in ihrer Einsamkeit über dem Nebel und dem Schatten bleich und kalt vom Himmel ab.

Von diesen Einöden und vom Paß des großen St. Bernhard aus gesehen stieg die Nacht an den Bergen flutartig empor. Als sie endlich die Mauern des Klosters auf dem großen St. Bernhard erreicht hatte, erschien dieser wetterharte Bau wie eine zweite Arche, die auf den Schattenwogen schwamm.

Die Dunkelheit, die einige Fremde überholte, hatte die rauhen Klostermauern erreicht, als diese Reisenden noch den Berg hinanklommen. Wie die Hitze des glühenden Tages, die sie haltzumachen und an den Strömen geschmolzenen Schnees und Eises zu trinken eingeladen hatte, nun in die durchdringende Kälte der frostigen verdünnten Nachtluft auf großer Höhe übergegangen war, so war die frische Schönheit der Reise in tieferliegenden Gegenden jetzt der Dürre und Öde gewichen. Ein schroffer, holperiger Pfad, auf dem die Maultiere, eines hinter dem andern, von Block zu Block kletterten und sich wanden, als wenn sie die verbröckelte Treppe einer riesigen Ruine hinaufstiegen, war jetzt ihr Weg. Kein Baum war zu sehen, keine Pflanze zu erblicken, nur ein armes, braunes, elendes Moos, das in den Ritzen der Felsen erstarrt war. Geschwärzte Skelettarme von Holz zeigten am Wege hinauf nach dem Kloster, als wenn die Gespenster früherer Reisenden, die im Schnee begraben worden waren, an dem Schauplatz ihres Unglücks umgingen. Eiszapfenbehangene Höhlen und Hütten, als Zufluchtsorte für plötzliche Stürme gebaut, glichen ebenso vielen flüsternden Stimmen, die die Gefahren dieses Ortes den Reisenden ins Ohr raunten. Nimmerruhende Wirbel und Labyrinthe von Nebel wanderten, von einem Klagewind gescheucht, umher; und Schnee, die ringsum drohende Gefahr des Berges, gegen die man alle Sicherheitsmaßregeln getroffen, trieb heftig in die Tiefe.

Die Reihe der von ihrem Tagewerk müden Maulesel wand sich langsam an dem steilen Abhang in die Höhe: der vorderste wurde von einem Führer zu Fuß geleitet, der einen breitkrempigen Hut und eine runde Jacke hatte, auf der Schulter ein bis zwei Alpenstöcke trug und mit einem andern Führer plauderte. Die Schar der Reiter führte kein Gespräch. Die scharfe Kälte, die Anstrengung der Reise und ein neues Gefühl von gehemmtem Atem, zum Teil, als stiegen sie gerade aus sehr klarem, gekräuseltem Wasser, zum Teil, als wenn sie schluchzten, ließ sie schweigen.

Endlich glänzte ein Licht auf der Höhe der Felsentreppe durch Schnee und Nebel. Die Führer trieben die Maultiere an; diese hoben die gesenkten Köpfe, die Jungen der Reisenden waren gelöst, und unter einem plötzlich entstandenen Wirrwarr von Ausgleiten, Klettern, Klingeln, Klirren und Schwatzen kamen alle bei dem Tor des Klosters an.

Andre Maultiere waren nicht lange zuvor angekommen, einige mit reisenden Landleuten, andere mit Waren, und hatten den Schnee vor der Tür in einen Pfuhl von Schmutz getreten. Reitsättel und Zügel, Packsättel und Glockenriemen, Maultiere und Menschen, Laternen, Fackeln, Säcke, Mundvorräte, Fässer, Käselaibe, Tönnchen mit Honig und Butter, Strohbündel und Pakete mancherlei Art lagen in diesem aufgetauten Sumpfe und auf den Stufen durcheinander. Hier oben in den Wolken sah man alles durch Wolken, und alles schien sich in Wolken aufzulösen. Der Atem der Leute war Wolke, der Atem der Maultiere war Wolke, die Lichter waren von Wolke umgeben, die dicht nebenan Sprechenden waren vor Wolken nicht zu sehen, obgleich ihre Stimmen und alle andern Klänge überraschend klar waren. Von der wolkigen Reihe von Maultieren, die rasch innerhalb der Mauer Kreise bildeten, biß oder schlug gewöhnlich das eine das andre, und dann war der ganze Nebel zerstreut. Die Männer drangen dazwischen, Geschrei von Menschen und Tieren scholl aus dem Knäuel, und niemand, der dabeistand, konnte unterscheiden, was geschehen war. Mitten in diesem Treiben strömte der Klosterstall, der den untern Stock des Gebäudes bildete und in den man durch die Grundstocktür trat, außerhalb der all dieses Durcheinander sich umhertrieb, seinen Beitrag an Wolke aus, als wenn das ganze rauhe Gebäude mit nichts sonst gefüllt wäre und zusammenstürzen würde, sobald es sich geleert, so daß dann der Schnee auf die kahlen Berggipfel fiele.

Während all dieser Lärm und diese Unruhe unter den lebenden Reisenden herrschte, waren still versammelt in einem vergitterten, ein halbes Dutzend Schritte entfernten Hause, das von der gleichen Wolke umhüllt war und in das die gleichen Schneeflocken trieben, die toten Reisenden, die man auf dem Berge gefunden. Die vor vielen Wintern vom Sturm überraschte Mutter, die noch immer mit dem Säugling an der Brust in der Ecke stand; der Mann, der erfroren, während er aus Hunger oder Furcht den Arm zum Munde erhob, und ihn noch immer nach vielen Jahren an seine trockenen Lippen drückte. Eine schreckliche, auf seltsame Weise zusammengekommene Gesellschaft! Ein furchtbares Schicksal für eine Mutter, vorhergesehen zu haben: »Umgeben von so manchen und solchen Gefährten, die ich niemals gesehen und nie sehen werde, werden ich und mein Kind unzertrennlich auf dem großen St. Bernhard zusammen wohnen, Generationen überdauern, die uns zu sehen kommen und nie unsere Namen oder ein Wort von unserer Lebensgeschichte, außer dem Ende, erfahren werden.«

Die lebenden Reisenden dachten in jenem Augenblick wenig oder gar nicht an die toten. Sie dachten weit mehr daran, vor dem Klostertor abzusteigen und sich an dem Klosterfeuer zu wärmen. Aus dem Gewirr sich loswindend, das bereits weniger lärmend wurde, da man die Masse der Maultiere in dem Stall unterzubringen begann, eilten sie, schauernd vor Kälte, die Treppe hinauf in das Haus. Dort herrschte ein Geruch, der durch den Boden von den angebundenen Tieren herausdrang, ähnlich dem Geruch einer Menagerie von wilden Tieren. Drinnen befanden sich starke gewölbte Gänge, hohe steinerne Pfeiler und dicke Mauern mit kleinen verfallenen Fenstern – Bollwerke gegen die Bergstürme, als wenn es menschliche Feinde gewesen wären. Ferner düstere gewölbte Schlafzimmer, schrecklich kalt, aber reinlich und gastlich für Fremde eingerichtet. Endlich ein gemeinsames Konversationszimmer, in dem die Gäste saßen und aßen, wo auch bereits ein Tisch aufgestellt war und ein helles Feuer rot und hoch im Kamin flackerte.

In diesem Zimmer setzten sich die Reisenden, nachdem ihnen von zwei jungen Mönchen die für die Nacht bestimmten Quartiere angewiesen waren, um den Kamin. Es waren drei Gesellschaften: die erste, als die zahlreichste und bedeutendste, war die langsamste und hatte sich von einer und der andern auf dem Wege herauf überholen lassen. Sie bestand aus einer älteren Dame, zwei grauen Herren, zwei jungen Damen und ihrem Bruder. Diese hatten (vier Führer ungerechnet) einen Kurier, zwei Diener und zwei Kammermädchen bei sich: diese große lästige Gesellschaft wurde anderwärts unter einem Dache untergebracht. Diejenige Gesellschaft, die sie überholte und nun hinterdrein kam, bestand nur aus drei Gliedern: einer Dame und zwei Herren. Die dritte Gesellschaft, die von dem Tal auf der italienischen Seite des Passes heraufkam und zuerst da war, bestand aus vier Gliedern: einem vollblütigen, hungrigen und schweigsamen deutschen Hofmeister mit einer Brille, der sich auf einer Tour mit drei jungen Männern, seinen Zöglingen, befand, lauter vollblütigen, hungrigen und schweigsamen Menschen mit Brillen.

Diese drei Gruppen saßen rings um das Feuer, sich trocken ansehend und auf das Nachtessen wartend. Nur einer unter ihnen, einer von den Herren, die zu der Gesellschaft von den dreien gehörten, machte einen Ansatz zu einer Unterhaltung. Indem er seine Angelschnur nach dem Häuptling des bedeutenden Stammes auswarf, während er sich an seine eigenen Reisegenossen wandte, bemerkte er in einem Ton, der die ganze Gesellschaft einschloß, wenn sie eingeschlossen sein wollte, daß es ein langer Tag gewesen und daß er die Damen bedauere. Daß er fürchte, eine von den jungen Damen sei nicht stark genug und nicht hinlänglich ans Reisen gewöhnt und sei vor zwei bis drei Stunden außerordentlich ermüdet gewesen. Er habe von seinem Standort im Nachtrab aus bemerkt, daß sie ganz erschöpft auf ihrem Maultier gesessen. Er habe später zwei- oder dreimal sich die Ehre gegeben, einen von den Führern zu fragen, der nach hinten gekommen sei, wie es der jungen Dame gehe. Er sei entzückt zu erfahren, daß sie sich erholt und daß es nur ein vorübergehendes Unbehagen gewesen wäre. Er glaube (diesmal faßte er den Häuptling ins Auge und wandte sich an ihn), es werde ihm erlaubt sein, seine Hoffnung auszusprechen, daß sie sich nun ganz wohl befinde und nicht bereue, die Reise gemacht zu haben.

»Meine Tochter, – ich bin Ihnen sehr verbunden, Sir«, versetzte der Häuptling, – »ist vollkommen wiederhergestellt und fand großes Interesse an der Gesellschaft.«

»Vielleicht zum erstenmal in den Bergen?« sagte der einschmeichelnde Reisende.

»Zum – ha – zum erstenmal in den Bergen«, sagte der Häuptling. »Aber Sie sind damit vertraut, mein Herr?« fuhr der einschmeichelnde Reisende fort.

»Ich bin – hm – ziemlich vertraut damit. Nicht aus den letzten Jahren. Nicht aus den letzten Jahren«, versetzte der Häuptling, mit der Hand winkend.

Der einschmeichelnde Reisende antwortete auf das Winken der Hand mit einer Verbeugung des Kopfes und wandte sich von dem Häuptling zu der zweiten jungen Dame, die er bis jetzt noch nicht angeredet hatte, außer, daß er sie zu den Damen zählte, die er so innig bedauerte.

Er sprach die Hoffnung aus, daß die Anstrengungen des Tages sie nicht zu sehr mitgenommen hätten.

»Mitgenommen haben sie mich allerdings«, versetzte die junge Dame, »aber sie haben mich nicht ermüdet.«

Der einschmeichelnde Reisende machte ihr sein Kompliment über die richtige Unterscheidung. Das habe er sagen wollen. Jede Dame müsse sich freilich über dieses sprichwörtlich unfügsame und beschwerliche Tier, den Maulesel, beschweren.

»Wir mußten natürlich«, sagte die junge Dame, die ziemlich zurückhaltend und stolz war, »die Wagen und den Fourgon in Martigny zurücklassen. Und die Unmöglichkeit, etwas, was man braucht, an diesen unzugänglichen Ort herauszubringen, und die Notwendigkeit, allen Komfort zurückzulassen, ist nicht sehr angenehm.«

»Ein wüster Ort, allerdings«, sagte der einschmeichelnde Reisende.

Die ältliche Dame, die ein Muster von pünktlichem Anzug war und die in ihrer Art vollkommen genannt werden konnte, wenn man sie als ein Stück Maschine betrachtete, warf hier mit sanfter leiser Stimme eine Bemerkung ein.

»Aber wie andere unbequeme Orte«, bemerkte sie, »muß man ihn sehen. Als ein Ort, von dem viel die Rede, muß er mal besucht werden.«

»Oh! ich habe durchaus nichts dagegen, daß man ihn sieht, ich versichere Sie, Mrs. General«, versetzte die andere nachlässig.

»Sie, Madame«, sagte der einschmeichelnde Reisende, »haben diesen Ort schon früher besucht?«

»Ja«, versetzte Mrs. General. »Ich war früher schon hier. Ich möchte Ihnen raten, meine Liebe«, sagte sie zu der genannten jungen Dame, »Ihr Gesicht vor der Hitze des Feuers zu schützen, nachdem es der Bergluft und dem Schnee ausgesetzt gewesen. Auch Ihnen, meine Liebe«, fügte sie, an die andere junge Dame gewandt, hinzu, die sogleich tat, wie ihr anempfohlen worden, während die erstere einfach sagte: »Ich danke Ihnen, Mrs. General; ich fühle mich ganz behaglich so und ziehe es vor, zu bleiben, wie ich bin.«

Der Bruder, der vom Stuhl aufgestanden war, um das Piano zu öffnen, das in dem Zimmer stand, und hineingepfiffen hatte, schlenderte jetzt, das Monokel im Auge, wieder zu dem Feuer zurück. Er war im vollsten und vollständigsten Reiseanzug. Die Welt schien kaum groß genug, um ihm eine seiner Equipierung entsprechende Reisegelegenheit zu bieten.

»Diese Burschen brauchen ungeheuer lange zu ihrem Nachtessen«, sagte er schleppend. »Ich bin begierig, was sie uns geben werden! Hat jemand ein Vorstellung davon?«

»Keine gebratenen Menschen, glaube ich«, antwortete die Stimme des zweiten Herrn von der Gesellschaft der drei.

»Ich vermute nicht. Was meinen Sie?« fragte er.

»Daß, da Sie nicht bei dem allgemeinen Souper aufgesetzt werden sollen, Sie uns vielleicht die Gefälligkeit erweisen werden, sich nicht an dem allgemeinen Feuer zu rösten«, versetzte der andere.

Der junge Herr, der in einer bequemen Stellung am Kamin stand, das Monokel auf die Gesellschaft gerichtet, den Rücken nach dem Feuer zu und die Rockflügel unter den Armen, als ob er zum Hühnergeschlecht gehörte und an den Spieß gesteckt wäre, um zu braten, verlor bei dieser Antwort die Fassung; er schien im Begriffe, eine Erklärung zu fordern, als man entdeckte – indem alle Augen auf den Sprechenden gerichtet waren –, daß die Dame, die bei ihm war, ein junges und hübsches Geschöpf, nichts von dem gehört hatte, was vorgegangen, da sie ohnmächtig den Kopf auf die Schulter hatte sinken lassen.

»Ich glaube«, sagte der Herr in gedämpften Tone, »es wäre das beste, ich brächte sie sogleich nach ihrem Zimmer. Wollen Sie jemanden rufen, daß man Licht bringt?« fügte er, an seinen Begleiter gewandt, hinzu; »man muß uns den Weg zeigen. Ich glaube nicht, daß ich mich in diesem seltsamen Labyrinth zurechtfinden werde.«

»Bitte, lassen Sie mich mein Mädchen rufen«, sagte die größere von den jungen Damen.

»Bitte, lassen Sie mich dies Wasser an ihre Lippen bringen«, sagte die kleinere, die bis jetzt noch nicht gesprochen hatte.

Da jeder tat, was er vorschlug, so war kein Mangel an Beistand. Und als gar die beiden Mädchen eintraten (begleitet vom Kurier, damit niemand ihnen den Mund verstopfe, wenn er sie unterwegs in einer fremden Sprache anredete), war sogar die Aussicht auf zuviel Beistand. Als der Herr dies sah, sagte er einige Worte zu der kleinern und jüngern von den beiden Damen, legte den Arm seiner Frau um seine Schulter, hob sie in die Höhe und trug sie hinweg.

Sein Freund, der mit den andern Fremden nun allein war, ging langsam in dem Zimmer auf und ab, ohne wieder zu dem Feuer zu kommen: er zupfte nachdenklich an seinem schwarzen Schnurrbart, als ob er sich für die letzte Erwiderung verantwortlich fühlte. Während der Gegenstand derselben in einer Ecke Schmähungen ausstieß, wandte sich der Häuptling stolz an diesen Herrn.

»Ihr Freund, mein Herr«, sagte er, »ist – ha – etwas ungeduldig, und in seiner Ungeduld weiß er vielleicht nicht genau, was er andern schuldig ist – aber wir wollen darüber hinwegsehen, wir wollen darüber hinwegsehen. Ihr Freund ist etwas ungeduldig, mein Herr.«

»Es mag wohl sein, mein Herr«, versetzte der andere. »Da ich jedoch die Ehre gehabt, die Bekanntschaft dieses Herrn im Hotel zu Genf zu machen, wo wir und zahlreiche gute Gesellschaft vor einiger Zeit uns trafen, und da ich die Ehre gehabt, bei verschiedenen späteren Ausflügen mich seiner Gesellschaft und Unterhaltung zu erfreuen, so kann ich nichts hören – nicht einmal von einem Mann Ihres Äußern und Ihrer Stellung, was diesem Gentleman nachteilig wäre.«

»Sie sind durchaus in keiner Gefahr, mein Herr, irgend etwas Derartiges von mir zu hören. Wenn ich die Bemerkung machte, daß Ihr Freund Ungeduld an den Tag gelegt, so sage ich damit nichts Nachteiliges. Ich mache diese Bemerkung nur, weil nicht zu bezweifeln ist, daß mein Sohn, der durch Geburt und – ha – durch Erziehung – hm – Gentleman ist, sich bereitwillig jedem artig ausgesprochenen Wunsche bezüglich des Feuers gefügt, das für alle Glieder dieser Gesellschaft gleich zugänglich ist. Was ich grundsätzlich richtig finde, denn – ha – alle sind –hm – in solchen Fällen gleichberechtigt.«

»Gut!« lautete die Antwort. »Und damit genug! Ich bin Ihres Sohnes ergebener Diener. Ich bitte Ihren Sohn, die Versicherung meiner vollkommensten Hochachtung zu empfangen. Und nun, mein Herr, gestehe ich, gestehe ich offen, daß mein Freund bisweilen von sarkastischem Temperament ist.«

»Die Dame ist Ihres Freundes Frau, mein Herr?«

»Die Lady ist meines Freundes Frau, mein Herr.«

»Sie ist sehr schön.«

»Sie ist unvergleichlich schön. Sie befinden sich im ersten Jahre ihrer Verbindung. Sie sind zum Teil noch auf einer Hochzeits-, zum Teil auf einer Kunstreise.«

»Ihr Freund ist ein Künstler?«

Der Herr antwortete, indem er die Finger seiner rechten Hand küßte und den Kuß armhoch zum Himmel emporwarf, was soviel heißen sollte, wie: ich weihe ihn den himmlischen Mächten als einen unsterblichen Künstler.

»Er ist jedoch ein Mann aus vornehmer Familie«, fügte er hinzu. »Er hat die besten Beziehungen. Er ist mehr als ein Künstler. Er stammt aus sehr vornehmem Hause. Er mag seine Verwandtschaft wirklich stolz, ungeduldig, sarkastisch (ich erlaube mir beide Ausdrücke) zurückgestoßen haben, aber er besitzt sie einmal. Funken, die während unserer Unterhaltung fielen, haben mich darüber belehrt.«

»Nun! Ich hoffe«, sagte der stolze Herr, mit einer Miene, als wollte er die Sache endlich abtun, »daß die Unpäßlichkeit der Dame nur vorübergehend sein werde.«

»Das hoffe ich auch, mein Herr.« »Bloße Ermüdung, glaube ich.«

»Nicht Ermüdung allein, mein Herr, denn ihr Maultier strauchelte heute, und sie fiel aus dem Sattel. Sie fiel leicht und stand ohne Unterstützung wieder auf den Füßen; dann ritt sie lachend voraus: aber sie klagte gegen Abend über eine leichte Quetschung in der Seite. Sie sprach mehr als einmal davon, als wir hinter Ihnen den Berg hinauf ritten.«

Der Häuptling des großen Gefolges, der gnädig, aber nicht vertraulich war, schien nun der Ansicht zu sein, daß er sich mehr als genug herablassend bewiesen. Er sagte nichts mehr, und es trat für eine Viertelstunde Stille ein bis zum Abendessen.

Mit dem Abendessen kam einer von den jungen Mönchen (es schien hier keine alten Mönche zu geben) und setzte sich oben an die Tafel. Das Mahl war ganz ähnlich wie das Abendessen in einem gewöhnlichen Schweizer Hotel, und guter roter Wein, in einer heitereren Luft gewachsen, fehlte nicht. Der reisende Künstler kam ruhig zurück und nahm seinen Platz am Tisch ein, als die übrigen sich setzten: er schien nicht entfernt mehr an sein letztes Scharmützel mit dem Fremden in dem vollkommenen Reiseanzug zu denken.

»Bitte«, fragte er den Wirt über seine Suppe hinüber, »hat Ihr Kloster jetzt viele von seinen berühmten Hunden?«

»Monsieur, drei.«

»Ich sah drei im Gange unten. Ohne Zweifel die fraglichen drei.«

Der Wirt, ein schlanker, helläugiger, ernster, junger Mann von feinen Manieren, dessen Kleidung in einer schwarzen Kutte mit Streifen von weißem Tuch darüber, wie Tragbänder, bestand und der der klösterlichen Eigenart der Bernhardiner Mönche nicht mehr glich als wie der klösterlichen Zucht der Hunde von St. Bernhard, antwortete, ohne Zweifel würden es die drei fraglichen sein.

»Und ich glaube«, sagte der reisende Künstler, »ich habe einen derselben früher schon gesehen.«

Es sei möglich. Es sei ein wohlbekannter Hund. Monsieur könne ihn leicht im Tale oder sonstwo an dem See gesehen haben, wenn er (der Hund) mit einem vom Orden hinabgegangen, um Unterstützung für das Kloster zu sammeln.

»Was regelmäßig zu einer bestimmten Zeit im Jahr geschieht, nicht wahr?«

Monsieur habe recht.

»Und nie ohne den Hund. Der Hund ist sehr wichtig.«

Monsieur habe wieder recht. Der Hund sei sehr wichtig. Die Leute interessieren sich sehr für den Hund als einen von den überall bekannten Hunden, wie Mademoiselle begreifen werde.

Mademoiselle war etwas langsam im Begreifen, als ob sie noch nicht recht an das Französische gewöhnt wäre. Mrs. General begriff es jedoch statt ihrer.

»Fragen Sie ihn, ob er viele Menschen gerettet hat?« sagte der junge Mann, der seine Fassung verloren hatte, in seinem heimischen Englisch.

Der Wirt bedurfte keiner Übersetzung der Frage. Er antwortete rasch französisch: »Nein. Dieser niemanden.«

»Warum nicht?« fragte derselbe Herr.

»Entschuldigen Sie«, antwortete der Wirt gelassen, »geben Sie ihm die Gelegenheit, und er wird es sicher tun. Zum Beispiel, ich bin fest überzeugt«, fügte er, indem er das Kalbfleisch aufschnitt, um es herumreichen zu lassen, ruhig nach dem jungen Mann hinüberlächelnd, der aus der Fassung gekommen, hinzu: »daß, wenn Sie, Monsieur, ihm die Gelegenheit geben sollten, er mit größtem Eifer sich beeilen würde, seine Pflicht zu tun.«

Der reisende Künstler lachte. Der einschmeichelnde Reisende (der die lebhafte Besorgnis an den Tag legte, er möchte nicht seinen vollen Anteil an dem Abendessen erhalten) wischte sich einige Tropfen Wein mit einem Stück Brot von dem Schnurrbart und mischte sich in das Gespräch.

»Es wird etwas spät, mein Vater«, sagte er, »für Vergnügungsreisende, nicht wahr?«

»Ja, es ist spät. Noch zwei bis drei Wochen, und wir liegen im Winterschnee begraben.«

»Dann«, sagte der einschmeichelnde Reisende, »gilt's den ausscharrenden Hunden und den begrabenen Kindern, nach den Bildern.«

»Entschuldigen Sie«, sagte der Wirt, der die Anspielung nicht ganz verstand, »wie ist das gemeint mit den ausscharrenden Hunden und begrabenen Kindern, nach den Bildern?«

Der reisende Künstler fiel wieder ins Wort, ehe eine Antwort gegeben werden konnte.

»Wissen Sie nicht«, fragte er seinen Reisegenossen kalt über den Tisch hinüber, »daß nur Schmuggler im Winter dieses Weges kommen oder irgendein Geschäft auf diesem Wege haben können?«

»Herr, mein Gott! Nein, davon habe ich nie gehört.«

»Dem ist aber so. Und da sie die Vorzeichen des Wetters ziemlich gut wissen, so machen sie den Hunden nicht viel zu schaffen – die infolgedessen auch ziemlich ausgestorben sind – obwohl diese Herberge bequem für sie gelegen ist. Ihre jungen Familien, sagte man mir, lassen sie gewöhnlich zu Hause. Aber es ist ein großer Gedanke!« rief der reisende Künstler, unerwartet in einen enthusiastischen Ton ausbrechend. »Es ist eine erhabene Idee. Es ist die schönste Idee von der Welt und preßt uns Tränen aus, beim Himmel!« Nachdem er geendigt, aß er mit großer Ruhe an seinem Kalbfleisch fort.

Es lag genug höhnenden Widerspruchs in diesen Worten, um einen Mißton hervorzurufen, obgleich die Art, wie sie hervorgebracht wurden, sehr fein und die Person, die sie vorbrachte, sehr viel Manier hatte, und obgleich der herabsetzende Teil derselben so geschickt eingekleidet war, daß es für ein an die englische Sprache nicht vollkommen gewöhntes Ohr sehr schwer war, es zu verstehen oder selbst, wenn man es verstanden, sich beleidigt zu fühlen, so einfach und leidenschaftslos war der Ton. Nachdem er mit seinem Kalbfleisch mitten in der allgemeinen Stille zu Ende war, richtete der Sprecher wieder das Wort an seinen Freund.

»Sehen Sie«, sagte er in seinem früheren Ton, »sehen Sie diesen Herrn, unsern Wirt, an, der noch nicht mal in dem besten Mannesalter steht und auf so anmutige Weise und mit so seiner Lebensart und Bescheidenheit uns die Honneurs macht! Manieren für eine Krone geeignet! Essen Sie mit dem Lord-Mayor von London (wenn Sie eine Einladung bekommen können) und bemerken Sie den Kontrast. Dieser liebe Junge, mit dem feinstgeschnittenen Gesicht, das ich jemals sah, einem Gesicht von vollendeter Zeichnung verläßt ein tätiges Leben und kommt hier herauf, ich weiß nicht, wie viele Fuß über dem Spiegel des Sees, in keiner andern Absicht (ausgenommen, hoffe ich, um sich in einem trefflichen Refektorium zu ergötzen), als um ein Hotel für müßige arme Teufel, wie Sie und ich, zu halten und die Rechnung unsrem Gutdünken zu überlassen! Wie, ist das nicht ein schönes Opfer? Was brauchen wir mehr, um uns rühren zu lassen? Weil nicht acht bis neun Monate lang von den zwölfen gerettete Leute von interessantem Äußern sich am Halse der klügsten Tiere, die hölzerne Flaschen tragen, festhalten, sollen wir deshalb den Ort tadeln? Nein! Segen über diesen Ort. Es ist ein großer Ort, ein herrlicher Ort!«

Die Brust des grauen Gentleman, der der Häuptling der bedeutenden Gesellschaft war, schwoll, als wollte er dagegen protestieren, daß man ihn unter die armen Teufel zähle. Kaum hatte der reisende Künstler zu sprechen aufgehört, als er selbst mit großer Würde das Wort ergriff, als läge es ihm ob, an den meisten Orten das erste Wort zu führen, und er hätte diese Pflicht eine kurze Weile versäumt.

Er teilte mit großer Gewichtigkeit ihrem Wirt seine Ansicht mit, daß sein Leben im Winter hier ein höchst trauriges sein müsse.

Der Wirt gestand dem Monsieur zu, daß es etwas einförmig sei. Die Luft sei lange Zeit schwer zu atmen. Die Kälte sei sehr streng. Man müsse jung und kräftig sein, um es auszuhalten. Sei man dies jedoch und habe man den Segen des Himmels ...

Ja, das sei sehr gut. »Aber die Gefangenschaft?« fragte der graue Herr.

Es gebe viele Tage, selbst bei schlechtem Wetter, wo es möglich sei, auszugehen. Es sei dann ihre Gewohnheit, einen kleinen Weg zu bahnen und sich dort Bewegung zu machen.

»Aber der Raum«, machte der graue Herr geltend. »So klein! So – ha – sehr beschränkt.«

Monsieur möge sich erinnern, daß man die Zufluchtorte besuchen und auch dorthin Wege bahnen müsse.

Monsieur machte dagegen geltend, daß der Raum –ha – hm – so schmal sei. Mehr als das. Es sei immer derselbe, immer derselbe. Mit einem ausweichenden Lächeln hob und senkte der Wirt sanft seine Schultern. Das sei wahr, bemerkte er, aber es möge ihm zu sagen gestattet sein, daß beinahe alle Dinge ihre verschiedenen Gesichtspunkte hätten. Monsieur und er sehen dies sein armes Leben nicht vom gleichen Gesichtspunkt an. Monsieur sei nicht an Gefangenschaft gewöhnt.

»Ich – ha – ja, sehr wahr«, sagte der graue Gentleman. Er schien einen tüchtigen Stoß von der Kraft dieses Beweises zu bekommen.

Monsieur, als ein reisender Engländer, umgeben von allen Mitteln, angenehm zu reisen, ohne Zweifel im Besitz von Vermögen, Wagen, Dienerschaft –

»Ja wohl, ja wohl. Ganz richtig –« sagte der Gentleman.

Monsieur könne sich nicht leicht in die Lage einer Person setzen, die nicht die Macht habe, zu wählen, ich will heute dahin gehen und morgen dorthin: ich will diese Grenzen überschreiten, die Fesseln, die mich binden, erweitern. Monsieur könnte sich vielleicht nicht vorstellen, wie der Geist sich in solchen Dingen der gebieterischen Notwendigkeit fügt.

»Es ist wahr«, sagte Monsieur. »Wir wollen – ha – die Sache nicht weiter verfolgen. Sie sind – hm – sehr genau, ich zweifle nicht daran. Wir wollen nicht weiter davon reden.«

Als das Essen vorüber war, zog er während des Sprechens seinen Stuhl weg und bewegte sich nach seinem früheren Platz bei dem Feuer. Da es am größten Teil des Tisches sehr kalt war, nahmen die andern Gäste gleichfalls ihre früheren Sitze bei dem Feuer ein, denn sie hatten die Absicht, sich vor Schlafengehen tüchtig zu wärmen. Als sie sich vom Tische erhoben, verbeugte sich der Wirt vor allen Anwesenden, wünschte ihnen gute Nacht und ging von dannen. Zuvor hatte ihn jedoch der einschmeichelnde Reisende gefragt, ob sie etwas Wein heiß gemacht bekommen könnten; und da er »ja« geantwortet und das Getränk kurz darauf hereingesandt, setzte sich dieser Reisende in die Mitte der Gruppe und war in der vollen Hitze des Feuers bald damit beschäftigt, es den übrigen zu servieren.

Um diese Zeit schlüpfte die jüngere von den beiden jungen Damen, die stumm und aufmerksam in ihrer dunklen Ecke (das Kaminfeuer war das Hauptlicht in dem finstern Zimmer, die Lampe brannte rauchig und düster) auf das gehorcht, was von der abwesenden Dame gesprochen wurde, zur Tür hinaus. Sie wußte nicht, welchen Weg sie gehen sollte, als sie leise dieselbe geschlossen hatte; nach einigem Hin- und Hergehen in den hallenden Gängen und den zahlreichen Wegen kam sie an ein Zimmer in einer Ecke des Hauptgangs, wo die Diener beim Abendessen saßen. Diese gaben ihr eine Lampe und zeigten ihr den Weg nach dem Zimmer der Dame.

Es lag über der großen Treppe im obern Stock. Da und dort waren die kahlen weißen Wände durch ein eisernes Gitter unterbrochen, und sie glaubte, als sie vorüberging, der Ort sei eine Art Gefängnis. Die rundbogige Tür des Zimmers oder der Zelle der Dame war nicht ganz geschlossen. Nachdem sie zwei- bis dreimal daran geklopft hatte, ohne eine Antwort zu erhalten, drückte sie sie langsam auf und sah hinein.

Die Dame lag mit geschlossenen Augen außen auf dem Bett, durch wollene Decken und Umschlagtücher, mit denen sie bei ihrem Erwachen aus der Ohnmacht zugedeckt worden, vor der Kälte geschützt. Ein düstres Licht in der tiefen Fensternische verbreitete wenig Helle in dem gewölbten Zimmer. Die Fremde trat schüchtern an das Bett und sagte leise flüsternd: »Befinden Sie sich besser?«

Die Dame lag im Schlummer, und das Geflüster war zu schwach, um sie aufzuwecken. Ihr Besuch, der noch immer ganz stille stand, sah sie aufmerksam an.

»Sie ist sehr hübsch«, sagte sie bei sich. »Ich sah noch nie ein so schönes Gesicht. O, wie anders sehe ich aus!«

Es war ein seltsamer Ausspruch, aber er hatte seine verborgene Bedeutung, denn ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Ich weiß, ich hatte recht. Ich weiß, er sprach von ihr, an jenem Abend. Ich konnte sehr leicht über alles andre im Irrtum sein. Aber darüber nicht, nicht darüber!«

Mit sanfter und zarter Hand strich sie eine verirrte Locke von dem Haar der Schlafenden zurück und berührte dann die Hand, die außerhalb der Decke lag.

»Ich sehe sie gern an«, atmete sie leicht vor sich hin. »Ich sehe gerne, was ihn so sehr angezogen hat.«

Sie hatte ihre Hand noch nicht losgelassen, als die Schlafende ihre Augen öffnete und zurückfuhr.

»Bitte, beunruhigen Sie sich nicht. Ich bin nur eine von den Reisenden unten. Ich kam, um Sie zu fragen, ob Sie sich besser befänden und ob ich etwas für Sie tun könnte.«

»Ich danke: Sie waren bereits so freundlich, Ihr Kammermädchen zu meiner Unterstützung zu senden.«

»Nein, nicht ich, das war meine Schwester. Befinden Sie sich besser?«

»Viel besser. Es ist nur eine leichte Quetschung; man hat nach ihr gesehen und nun geht es beinahe ganz gut. Es machte mich nur einen Augenblick schwindlig und ohnmächtig. Es hatte mir zuvor schon weh getan. Aber zuletzt überwältigte es mich plötzlich.«

»Darf ich bei Ihnen bleiben, bis jemand kommt? Ist es Ihnen angenehm?«

»Es würde mir sehr lieb sein, denn es ist hier sehr einsam; aber ich fürchte, Sie werden die Kälte zu sehr fühlen.«

Ich kümmere mich nicht um die Kälte. Ich bin nicht zart, wenn ich auch danach aussehe.« Sie rückte augenblicklich einen von den rohen Stühlen an das Bett und setzte sich. Die andere nahm ebenso rasch einen Teil eines Reisemantels vom Bett und legte ihn auf sie, so daß ihr Arm, indem sie ihn um sie hielt, auf ihrer Schulter ruhte.

»Sie haben so ganz das Aussehen einer freundlichen Pflegerin«, sagte die Dame, sie anlächelnd, »daß es mir ist, als wenn sie aus meiner Heimat zu mir kämen.«

»Das freut mich sehr.«

»Ich träumte gerade von der Heimat, als ich aufwachte. Von meiner alten Heimat, meine ich, ehe ich verheiratet war.«

»Und ehe Sie so weit davon entfernt waren.«

»Ich war schon weiter entfernt von ihr, aber damals war der beste Teil derselben bei mir, und ich vermißte nichts. Ich fühlte mich so verlassen, als ich einschlief, und, die Heimat vermissend, wanderten meine Gedanken zu ihr zurück.«

Es lag ein traurig inniger und kummervoller Klang in ihrer Stimme, der ihren Gast einen Augenblick lang abhielt, sie anzusehen.

»Es ist ein seltsamer Zufall, der uns zuletzt unter dieser Decke zusammenführt, mit der Sie mich umhüllt haben«, sagte die Fremde nach einer Pause: »denn Sie müssen wissen, ich habe Sie schon lange gesucht.«

»Sie haben mich gesucht?«

»Ich glaube, ich habe ein kleines Billett bei mir, das ich Ihnen geben sollte, wenn ich Sie fände. Da ist es. Wenn ich mich nicht sehr täusche, ist es an Sie adressiert. Nicht wahr?«

Die Dame nahm es, sagte ja und las es. Ihr Besuch beobachtete sie, während sie dies tat. Es war sehr kurz. Sie errötete etwas, als sie ihre Lippen an die Wangen ihres Besuches legte, und drückte ihre Hand.

»Die liebe junge Freundin, der er mich vorstellt, soll mir bisweilen ein Trost sein, sagt er. Sie ist wahrlich ein Trost für mich, im ersten Augenblick, da ich sie sehe.«

»Vielleicht kennen Sie«, sagte die Fremde zögernd, »vielleicht kennen Sie meine Geschichte nicht? Vielleicht hat er Ihnen nie meine Geschichte erzählt?«

»Nein.«

»O nein, warum sollte er auch! Ich habe selbst kaum ein Recht, es zu tun, da ich nicht dazu aufgefordert worden bin. Es ist nicht viel dabei, aber sie möchte Ihnen erklären, weshalb ich Sie bitte, nichts von dem Briefe hier zu sagen. Sie sahen vielleicht meine Familie bei mir? Einige Mitglieder derselben – ich sage das zu Ihnen – sind etwas stolz, etwas vorurteilsvoll.«

»Sie sollen ihn wieder haben«, sagte die andere, »dann ist mein Gatte sicher, daß er ihn nicht sieht. Er möchte ihn sonst durch irgendeinen Zufall finden oder davon sprechen. Wollen Sie ihn wieder in Ihren Busen stecken, um dessen gewiß zu sein?«

Sie tat es mit großer Vorsicht. Ihre kleine, zarte Hand hielt den Brief noch, als sie jemand im Gange draußen hörten.

»Ich versprach«, sagte die Fremde aufstehend, »daß ich ihm schreiben wolle, wenn ich sie gesehen hätte (ich mußte Sie sicher früher oder später sehen), um ihm zu sagen, ob Sie wohlauf und glücklich seien. Ich darf wohl sagen, daß Sie wohl und glücklich seien?« »Ja, ja, ja! Sagen Sie ihm, ich sei sehr wohlauf und sehr glücklich. Und ich danke ihm herzlich und werde ihn nie vergessen.«

»Ich werde Sie morgen früh sehen. Wir werden uns somit recht bald wiedersehen. Gute Nacht!«

»Gute Nacht. Ich danke Ihnen, danke Ihnen. Gute Nacht, meine Liebe.«

In größter Hast und Unruhe nahmen sie voneinander Abschied, und ebenso rasch war die Fremde aus der Tür. Sie hatte erwartet, dem Gatten der Dame zu begegnen: aber die im Gange befindliche Person war nicht er: es war der Reisende, der die Weintropfen mit einem Stück Brot vom Schnurrbart gewischt hatte. Als er die Schritte hinter sich hörte, drehte er sich um – denn er ging in der Dunkelheit.

Seine Höflichkeit, die ausnehmend groß war, wollte nicht dulden, daß sie sich selbst die Treppe hinableuchte und allein gehe. Er nahm ihre Lampe, hielt sie so, daß das beste Licht auf die steinerne Treppe fiel, und begleitete sie den ganzen Weg bis zu dem Speisezimmer. Sie hatte Mühe, auf dem Weg hinab zu verbergen, daß sie jeden Augenblick nahe daran war, zitternd zusammenzusinken; denn die Erscheinung dieses Reisenden war ihr besonders unangenehm. Sie hatte vor dem Essen in ihrer Ecke gesessen und sich vorgegaukelt, was er wohl in den Szenen und an den Orten ihrer Vergangenheit für eine Rolle gespielt, um ihr einen solchen Widerwillen einzuflößen, der ihn ihr nahezu furchtbar erscheinen ließ.

Er begleitete sie mit seiner lächelnden Höflichkeit hinab, führte sie in das Zimmer und nahm seinen Sitz am besten Platz des Kamins wieder ein. Dort saß er, während das Feuer, das bereits schwächer zu brennen begann, in dem dunklen Zimmer seinen Schein bald heller, bald matter auf ihn warf, die Beine nach der Wärme ausgestreckt, den heißen Wein bis auf den Grund leerend, während ein ungeheurer Schatten seine Bewegungen an Wand und Decke nachahmte.

Die müde Gesellschaft war aufgebrochen, und alle andern waren zu Bett gegangen, außer dem Vater der jungen Dame, der in seinem Stuhl am Fenster schlummerte. Der Reisende hatte sich die Mühe genommen, seine Taschenflasche mit Branntwein aus seinem entfernten, im zweiten Stock befindlichen Schlafzimmer zu holen. Er sagte es ihnen, als er den Inhalt in den Rest des Weines goß und ihn mit neuem Behagen trank.

»Darf ich Sie fragen, ob Sie auf dem Wege nach Italien sind?«

Der graue Herr war aufgestanden und rüstete sich zum Gehen. Er antwortete bejahend.

»Ich gleichfalls!« sagte der Reisende. »Ich darf wohl hoffen. Sie in schöneren Gegenden und unter freundlicheren Umständen wieder zu begrüßen als auf diesem traurigen Berge.«

Der Fremde verbeugte sich, ziemlich entfernt, und sagte, er sei ihm sehr verbunden.

»Wir armen Leute, Sir«, sagte der Reisende, den Schnurrbart mit der Hand trocknend, denn er hatte ihn in den Wein und Branntwein getaucht, »wir armen Leute reisen nicht wie Fürsten, aber die Galanterie und feinere Lebensart hat auch für uns ihren hohen Wert. Ihre Gesundheit, mein Herr!«

»Ich danke Ihnen, mein Herr.«

»Auf die Gesundheit Ihrer ausgezeichneten Familie, – der schönen Ladies, Ihrer Töchter!«

»Nein Herr, ich danke Ihnen abermals. Ich wünsche Ihnen gute Nacht. Meine Liebe, warten unsre – ha – Leute?«

»Sie sind ganz nahe zur Stelle, Vater.«

»Erlauben Sie!« sagte der Reisende, indem er aufstand und die Tür offen hielt, als der alte Herr, seinen Arm in den seiner Tochter steckend, durch das Zimmer darauf zuschritt. »Angenehme Ruhe! Auf das Vergnügen, Sie wiederzusehen! Auf morgen denn!«

Als er in der höflichsten Art und mit dem feinsten Lächeln seine Hand küßte, schmiegte sich die junge Dame fester an ihren Vater an und ging voller Angst, ihn zu berühren, an ihm vorüber.

»Hm!« sagte der einschmeichelnde Reisende, der sich gehen und seinen Ton sinken ließ, als er allein war. »Wenn sie sich alle zu Bett begeben, nun, so muß ich eben auch gehen. Sie haben ja eine verdammte Eile. Man sollte glauben, die Nacht wäre lang genug in dieser schauerlich kalten Stille und Einsamkeit, wenn man erst in zwei Stunden zu Bett ginge!«

Den Kopf zurücklehnend, während er das Glas austrank, fielen seine Blicke auf das Fremdenbuch, das, nebst Feder und Tinte, offen auf dem Piano lag, wie wenn die Namen während seiner Abwesenheit eingezeichnet worden wären. Er nahm es in die Hand und las die eingetragenen Namen:

William Dorrit, Esquire, Frederick Dorrit, Esquire, Edward Dorrit, Esquire, und Dienerschaft. Von Frankreich Miß Dorrit, nach Italien. Miß Fanny Dorrit, Mrs. General, Mr. und Mrs. Henry Gowan. Von Frankreich nach Italien.

Dazu fügte er mit einer kleinen, verwickelten Handschrift, in einen dünnen Schnörkel endigend, der einem um alle übrigen Namen geworfenen Lasso ähnlich sah:

Blandois. Paris. Von Frankreich nach Italien.

Dann begab er sich, während seine Nase über seinen Schnurrbart herabkam und sein Schnurrbart sich unter seiner Nase bäumte, nach der ihm angewiesenen Kammer.

Zweites Kapitel.
Mrs. General.

Es ist unerläßlich, die vollendete Dame vorzustellen, die bedeutend genug im Gefolge der Familie Dorrit war, um ihre eigne Linie im Fremdenbuch zu haben.

Mrs. General war die Tochter eines geistlichen Würdenträgers an einem Bischofssitz, wo sie den Ton angegeben, bis sie so nahe an fünfundvierzig war, wie es eine einzelne Dame sein kann. Ein steifer Kommissariatsbeamter von sechzig Jahren, bekannt als ein Mann, der auf strenge Zucht hielt, verliebte sich zu dieser Zeit in die Anstandsgefühle, die sie vierspännig durch die Bischofsstadt kutschierte, und hatte darum angehalten, neben ihr seinen Sitz auf dem Zeremonienwagen nehmen zu dürfen, an den dieses Gespann geschirrt war. Nachdem sein Heiratsantrag von der Dame angenommen worden, nahm der Beamte seinen Sitz hinter den Anstandsgefühlen mit großer Ehrbarkeit ein, und Mrs. General lenkte die Zügel, bis er starb. Im Verlauf ihrer gemeinsamen Reisen überfuhren sie verschiedene Leute, die den Anstandsgefühlen in den Weg kamen; aber immer großartig und mit äußerster Ruhe.

Nachdem der Kommissariatsbeamte mit allem dem Dienst entsprechenden Aufwande begraben worden (das ganze Gespann von Anstandsgefühlen war an seinen Leichenwagen geschirrt, und sie hatten alle Federn und schwarze Samtschabracken mit seinem Wappenschild in der Ecke), begann Mrs. General nachzuprüfen, welche Masse Staub und Asche bei den Bankiers deponiert sei. Es wurde ruchbar, daß der Kommissariatsbeamte in der Stille Mrs. General zuvorgekommen und sich einige Jahre vor der Hochzeit eine Leibrente gekauft, welchen Umstand er verschwiegen hatte, indem er zur Zeit seiner Bewerbung vorgab, sein Einkommen datiere von den Zinsen seines Vermögens. Mrs. General sah infolgedessen ihre Mittel so verringert, daß, wenn sie nicht mit ihrem Verstande sehr im reinen gewesen, sie sich hätte veranlaßt fühlen können, die Richtigkeit des Teiles der Leichenrede zu bezweifeln, der behauptete, der Kommissariatsbeamte könne nichts mit sich hinübernehmen.

In dieser Lage kam Mrs. General auf den Gedanken, sie wolle sich der »Geistesbildung« und gesellschaftlichen Erziehung einer jungen vornehmen Dame widmen. Oder auch die Anstandsgefühle an den Wagen einer reichen jungen Erbin oder einer Witwe schirren und zu gleicher Zeit Kutscher und Schaffner eines solchen Fuhrwerks durch die sozialen Irrgänge werden. Die Mitteilung, die Mrs. General ihren geistlichen und kommissariatlichen Bekanntschaften von dieser Idee machte, fand so warmen Beifall, daß, wenn die Verdienste der Dame nicht so außer allem Zweifel gestanden hätten, die Vermutung nahegelegen wäre, man wolle sie los werden. Zeugnisse, die Mrs. General als ein Wunder von Frömmigkeit, Gelehrsamkeit, Tugend und feiner Lebensart schilderten, wurden von einflußreichen Quartieren verschwenderisch beigesteuert, und ein ehrwürdiger Archidiakon vergoß sogar Tränen, wenn er an sein Zeugnis über die Vollkommenheiten (die ihm von Leuten, auf die er sich verlassen konnte, geschildert wurden) dachte, obgleich er nie in seinem ganzen Leben die Ehre und den sittlichen Genuß gehabt, seine Blicke auf Mrs. General ruhen zu lassen.

So gleichsam von Kirche und Staat zu ihrer Mission beordert, fühlte sich Mrs. General, die immer auf vornehmem Boden gewandelt, in der Lage, diesen zu behaupten, und begann damit, ein sehr stolzes Gesicht zur Schau zu tragen. Es trat eine Zwischenzeit von einiger Dauer ein, während der nicht auf Mrs. General geboten wurde. Endlich eröffnete ein gräflicher Witwer mit einer Tochter von vierzehn Jahren Unterhandlungen mit der Dame, und da es entweder im Charakter der angeborenen Würde oder der künstlichen Politik von Mrs. General lag (sicher jedoch eines von beiden), sich dabei zu benehmen, als wäre sie weit mehr die Gesuchte, denn die Suchende, verfolgte der Witwer Mrs. General, bis es ihm gelang, sie zu bewegen, seiner Tochter Geist und Sitten beizubringen.

Die Durchführung dieser Aufgabe beschäftigte Mrs. General ungefähr sieben Jahre. Währenddessen machte sie die Tour durch Europa und sah den größten Teil jenes umfangreichen Durcheinanders von Dingen, die wesentlich jeder Mensch von seiner Bildung mit den Augen andrer Leute und niemals mit den seinen sehen sollte. Als ihre Aufgabe endlich gelöst war, hatte sich nicht nur die junge Dame, sondern gleicherweise auch ihr Vater, der Witwer, zum Heiraten entschlossen. Der Witwer, der nun Mrs. General unbequem und kostspielig zu finden begann, wurde beinahe ebenso vernarrt in ihre Verdienste, als es der Archidiakonus gewesen, und verbreitete solche Lobeserhebungen ihres ausnehmenden Wertes in allen Quartieren, wo er glaubte, es könne sich eine Gelegenheit bieten, ihren Segen auf jemand andern zu übertragen, daß Mrs. General ein geschätzterer Name denn je war.

Der Phönix stand auf dieser erhabenen Stange zu vermieten, als Mr. Dorrit, der in jüngster Zeit in den Besitz seiner Erbschaft gekommen war, seinen Bankiers gegenüber erwähnte, er wünsche eine feingebildete, gesittete, mit der guten Gesellschaft bekannte und vertraute Dame zu finden, die geeignet wäre, zu gleicher Zeit die Erziehung seiner Töchter zu übernehmen und als Ehrendame oder Anstandswauwau zu dienen. Mr. Dorrits Bankiers, als die Bankiers des gräflichen Witwers, sagten augenblicklich: »Mrs. General.«

Dem Lichte folgend, das ihm so glücklich aufgegangen, und das einstimmige Urteil der ganzen Bekanntschaft von Mrs. General so erhaben findend, wie wir bereits erwähnt, nahm sich Mr. Dorrit die Mühe, sich nach der Grafschaft des gräflichen Witwers zu begeben und Mrs. General kennenzulernen, in der er eine Dame fand, die seine höchsten Erwartungen übertraf. »Entschuldigen Sie mich«, sagte Mr. Dorrit, »wenn ich Sie frage – ha – welche Belohn –«

»Nein,« versetzte Mrs. General, ihn unterbrechend, »das ist eine Sache, auf die ich lieber nicht eingehen möchte. Ich habe nie darüber mit meinen Freunden hier verhandelt, und ich kann die Delikatesse, mit der ich diese Sache stets betrachtet, Mr. Dorrit, nicht überwinden. Ich bin keine Gouvernante, wie Sie bemerkt haben werden –«

»O, gewiß nicht!« sagte Mr. Dorrit. »Bitte, Madame, glauben Sie nicht einen Augenblick, daß ich so etwas denke.« Er errötete wirklich, daß man ihn habe in solchem Verdacht haben können.

Mrs. General neigte feierlich den Kopf. »Ich kann deshalb nicht einen Preis auf Dienste setzen, die ich mit Vergnügen leiste, wenn ich sie freiwillig leisten kann, die ich jedoch als Ersatz unter keiner Bedingung zu leisten imstande wäre. Auch weiß ich nicht, wie und wo ich einen Fall finden sollte, der dem meinen ähnlich wäre. Er ist einzig in seiner Art.«

»Allerdings. Aber wie sollte man denn«, bemerkte Mr. Dorrit ganz natürlich, »die Sache anfangen?«

»Ich kann nichts dagegen einwenden,« sagte Mrs. General, »obgleich selbst das mir unangenehm ist, wenn Mr. Dorrit im Vertrauen meine Freunde fragt, wieviel sie vierteljährlich an meine Bankiers auszubezahlen gewohnt waren.«

Mr. Dorrit verbeugte sich zustimmend.

»Erlauben Sie mir, hinzuzufügen,« sagte Mrs. General, »daß ich mich nicht weiter auf dieses Kapitel einlassen werde. Ferner, daß ich keine zweite oder untergeordnete Stellung einnehmen kann. Wenn mir die Ehre zuteil würde, Mr. Dorrits Familie kennenzulernen – ich glaube, von zwei Töchtern war die Rede?«

»Zwei Töchter.«

»So könnte ich es nur unter der Bedingung vollkommener Gleichheit, als Gesellschafterin, Beschützerin, Mentor und Freundin annehmen.«

Mr. Dorrit kam es trotz des Bewußtseins seiner Würde vor, als ob es wirklich eine Freundlichkeit wäre, wenn sie es überhaupt unter irgendeiner Bedingung annähme. Er ließ dies beinahe in seinen Worten merken.

»Ich glaube,« wiederholte Mrs. General, »von zwei Töchtern war die Rede.«

»Zwei Töchter,« sagte Mr. Dorrit wieder.

»Es würde deshalb nötig sein,« sagte Mrs. General, »ein Drittel mehr zu der Summe hinzuzufügen (wie groß immer ihr Betrag auch sein mag), die meine Freunde hier bei meinen Bankiers niederzulegen gewohnt waren.«

Mr. Dorrit verlor keine Zeit, die delikate Frage dem gräflichen Witwer vorzulegen, und da er fand, daß dieser gewohnt war, jährlich dreihundert Pfund an die Bankiers von Mrs. General zu bezahlen, kam er, ohne seine Arithmetik besonders anzustrengen, zu dem Resultat, daß er vier bezahlen müsse. Da Mrs. General ein Artikel von jener glänzenden Außenseite war, der einen glauben macht, daß sie jeden Preises wert sei, so machte er ihr den förmlichen Antrag, ihm zu gestatten, sie als ein Glied seiner Familie zu betrachten. Mrs. General bewilligte das stolze Privilegium und gehörte von nun an zur Familie.

Persönlich war Mrs. General, mit Einschluß ihrer Toiletten, die eine bedeutende Rolle dabei spielten, von würdiger, imposanter Erscheinung: groß, rauschend und sehr umfangreich; beständig aufrecht hinter ihren Anstandsgefühlen. Man hätte sie nach den Höhen der Alpen und den Tiefen von Herkulanum mitnehmen können, und nahm sie auch mit, ohne daß eine Falte ihres Kleides aus der Ordnung gekommen oder eine Stecknadel verrückt worden wäre. Wenn ihr Gesicht und ihr Haar ein ziemlich mehliges Aussehen hatten, als wenn dies vom Aufenthalt in einer außerordentlich eleganten Mühle käme, so war dies eher darum der Fall, weil sie überhaupt eine kreidige Natur, als weil sie ihre Gesichtsfarbe mit Veilchenpulver aufbesserte oder grau geworden war. Wenn ihre Augen keinen Ausdruck besaßen, so war dies wohl deshalb der Fall, weil sie nichts auszudrücken hatten. Wenn sie wenig Runzeln besaß, so war es, weil ihr Geist nie seinen Namen oder eine Inschrift auf ihr Gesicht gezeichnet. Eine kalte, wachsartige, ausgelöschte Person, die niemals gut geleuchtet hatte.

Mrs. General hatte keine Meinungen. Ihre Art, einen Geist zu bilden, war die, daß sie ihn hütete, sich Meinungen zu bilden. Sie hatte eine kleine Anzahl kreisförmiger geistiger Rinnen oder Schienen, auf denen sie kleine Züge von andrer Leute Meinungen führte, die sich niemals überholten und nie irgendwohin kamen. Selbst ihr Anstandsgefühl konnte nicht bestreiten, daß es Unanständigkeit in der Welt gebe; aber Mrs. Generals Art, sich davon loszumachen, war, dergleichen aus dem Gesichtskreis zu rücken und glauben zu lassen, daß das gar nicht existiere. Dies war eine zweite Art, wie sie den Geist bildete – alle schwierigen Dinge in Schränke zu kramen, diese zuzuschließen und zu behaupten, sie existierten nicht. Es war die leichteste Art und ohne Vergleich die anständigste.

Mrs. General konnte nichts Angreifendes hören. Unglücksfälle, Jammer und Mißhandlungen durften nie vor ihr erwähnt werden. Leidenschaft schlief gewöhnlich in Mrs. Generals Gegenwart ein und Blut ging in Milch und Wasser über. Das wenige zu firnissen und zu beschönigen, was in der Welt übrigblieb, wenn man alle diese Abzüge gemacht, war Mrs. Generals Aufgabe. In diesem ihrem Bildungsprozeß tauchte sie den kleinsten Pinsel in den größten Topf und firnißte die Oberfläche aller Dinge, die in Betracht kamen. Je mehr Risse eine Sache hatte, desto mehr firnißte sie.

Es war Firnis in Mrs. Generals Stimme, Firnis in Mrs. Generals Berührung, eine Firnisatmosphäre um Mrs. Generals Gestalt. Mrs. Generals Träume waren sicher gefirnißt – wenn sie welche hatte –, als sie in den Armen des guten hl. Bernhard schlief, während der federige Schnee auf seinen Hausgiebel fiel.

Drittes Kapitel.
Auf dem Wege.

Die helle Morgensonne blendete die Augen, der Schnee hatte aufgehört, die Nebel waren verschwunden, die Bergluft war so klar und leicht, daß das neue Gefühl des Atmens wie das Eintreten in ein neues Dasein erschien. Um die Täuschung zu mehren, schien selbst der feste Boden verschwunden und der Berg eine leuchtende Wüste ungeheurer weißer Haufen und Massen, eine schwimmende Wolkenregion zwischen dem blauen Himmel oben und der Erde tief unten.

Einige dunkle Flecken auf dem Schnee, wie Knoten an einer kleinen Schnur, am Klostertor beginnend und sich in gebrochenen Stücken, die noch nicht zusammengebunden waren, fortziehend, wanden sich an dem Abhang hinab und zeigten, wie die Brüder bereits an verschiedenen Punkten beschäftigt waren, den Pfad zu bahnen. Schon hatte der Schnee begonnen, um das Tor her unter den Füßen aufzutauen. Geschäftig wurden Maulesel herausgeschafft, an die Ringe in der Mauer gebunden und beladen; Glockenriemen wurden umgeschnallt, Lasten festgebunden: die Stimmen der Treiber und Reiter klangen harmonisch. Einige von den Frühesten hatten sogar bereits ihre Reise wieder angetreten, und sowohl auf dem flachen Berggipfel bei dem dunkeln Wasser in der Nähe des Klosters als auf dem Wege, auf dem man gestern bergan geklettert war, sah man kleine sich bewegende Gestalten von Menschen und Maultieren, durch den ungeheuren Raum zu Zwergen zusammengeschrumpft, unter dem hellen Klang der Glöckchen und angenehmem, harmonischem Geplauder hinziehen.

Im Speisezimmer vom vergangenen Abend war ein neues Feuer auf der federartigen Asche des alten aufgetürmt und schien auf das einfache Frühstück, das aus Brot, Butter und Milch bestand. Es beschien auch den Kurier der Familie Dorrit, der für seine Gesellschaft Tee aus einem Vorrat bereitete, den er, nebst noch einigen andern kleinen Vorräten, mitgebracht hatte, die hauptsächlich für die große unbequeme Masse angelegt waren. Mr. Gowan und Blandois von Paris hatten bereits gefrühstückt und gingen, ihre Zigarre rauchend, am See auf und nieder.

»Gowan, hm?« murmelte Tip, sonst Edward Dorrit, Esquire, die Blätter des Buches umdrehend, als der Kurier gegangen war. »Gowan ist also der Name eines Laffen, das ist alles, damit Punktum! Wenn es sich der Mühe für mich lohnte, wollt' ich ihn tüchtig an der Nase herumführen. Aber es lohnt sich der Mühe nicht – das ist ein Glück für ihn. Wie befindet sich seine Frau, Amy? Ich glaube, du kennst sie. Du kennst ja Dinge der Art.«

»Sie befindet sich besser, Edward. Aber sie gehen heute noch nicht.«

»Oh! Sie gehen heute noch nicht? Das ist ein Glück für diesen Menschen,« sagte Tip, »er und ich möchten sonst in Kollision kommen.«

»Man halt es hier für besser, daß sie heute noch ruhig liegenbleibt und sich nicht anstrengt und durch den Ritt hinab erschüttert wird, bis sie sich morgen ganz wohl befindet.«

»Meinetwegen. Aber du sprichst ja, als ob du ihre Krankenwärterin gewesen wärest. Du bist doch nicht wieder (Mrs. General ist nicht hier) in deine alten Gewohnheiten zurückgefallen, Amy?«

Er tat diese Frage mit einem listig beobachtenden Blick auf Fanny und auf seinen Vater.

»Ich war bloß bei ihr, um sie zu fragen, ob ich für sie nichts tun könne, Tip,« sagte Klein-Dorrit.

»Du brauchst mich nicht Tip zu nennen, Amy,« versetzte der junge Mann mit gerunzelter Stirn, »denn das ist eine alte Gewohnheit, die du aufgeben mußt.«

»Ich wollt' es auch nicht sagen, lieber Edward. Ich vergaß es. Es war einst so natürlich, daß es mir im Augenblick das rechte Wort schien.«

»O ja!« fiel Miß Fanny ein. »Natürlich und rechtes Wort und einst, und wie das alles heißt. Unsinn, du kleines Ding! Ich weiß ganz wohl, weshalb du solch ein Interesse an dieser Mrs. Gowan nimmst. Du kannst mich nicht täuschen.«

»Ich will es auch nicht, Fanny. Sei nicht böse.«

»O, böse!« versetzte die junge Dame auffahrend. »Ich habe keine Geduld« (was auch wirklich der Fall war).

»Bitte, Fanny«, sagte Mr. Dorrit, die Augenbrauen aufziehend, »was meinst du? Erkläre dich.«

»Oh! sei ruhig, Vater,« versetzte Miß Fanny, »es ist nicht der Rede wert. Amy wird mich verstehen. Sie kannte diese Mrs. Gowan oder wußte von ihr, schon vor dem gestrigen Abend, und sie wird es wohl auch eingestehen, daß dies der Fall.«

»Mein Kind,« sagte Mr. Dorrit, sich an seine jüngere Tochter wendend, »hat deine Schwester – irgend – ha – irgendeinen Grund zu dieser seltsamen Behauptung?«

»Wie weichherzig wir auch sind,« fiel Miß Fanny ein, ehe sie antworten konnte, »wir schleichen doch nicht in die Zimmer der Leute auf den Spitzen der Berge und sitzen halbtot vor Kälte bei den Leuten, wenn wir sie nicht vorher schon kennen. Ist es nicht schwer zu ahnen, wessen Freundin Mrs. Gowan sei?«

»Wessen Freundin?« fragte der Vater.

»Papa, ich bedaure, sagen zu müssen,« versetzte Miß Fanny, der es indessen gelungen war, sich in den Zustand der Beleidigten und Geärgerten hineinzustacheln, was sie oft mit großer Anstrengung tat, »daß ich glaube, sie ist eine Freundin jener aus vielen Gründen widerwärtigen und unangenehmen Person, die uns seinerzeit beleidigte. Sie benahm sich mit jenem vollständigen Mangel an Delikatesse, die unsere Erfahrung von ihm erwartet hätte. Sie kränkte aus so öffentliche und absichtliche Weise bei einer Gelegenheit, auf die wir, nach unserer Verabredung, durchaus nicht mehr anspielen wollen.«

»Amy, mein Kind,« sagte Mr. Dorrit, milde Strenge mit würdevoller Liebe mäßigend, »ist das der Fall?«

Klein-Dorrit antwortete sanft, ja, es sei der Fall.

»Ja, es ist der Fall!« rief Miß Fanny. »Natürlich! Ich sagte es ja. Und jetzt, Papa, erkläre ich, ein für allemal (diese junge Dame hatte die Gewohnheit, dasselbe jeden Tag ihres Lebens und oft siebenmal an einem Tag ein für allemal zu erklären), daß das schändlich ist! Ich erkläre ein für allemal, daß dieser Sache ein Ende gemacht werden sollte. Nicht genug, daß wir durchgemacht haben, was nur wir wissen. Wir müssen es uns auch noch von der, die unsre Gefühle am meisten schonen sollte, beharrlich und systematisch ins Gesicht schleudern lassen? Sollen wir unser ganzes Leben lang diesem unnatürlichen Benehmen ausgesetzt sein? Sollen wir niemals vergessen dürfen? Ich sage noch einmal, es ist unerhört!«

»Nun, Amy,« bemerkte ihr Bruder, den Kopf schüttelnd, »du weißt, ich stehe immer auf deiner Seite, wo ich kann, und bei den meisten Gelegenheiten. Aber ich muß sagen, ich halte es wahrhaftig für eine ziemlich unerklärliche Art, deine schwesterliche Liebe zu zeigen, daß du einen Mann beschützest, der mich auf die ungesittetste Weise behandelte, in der man einen andern behandeln kann. Und der«, fügte er überzeugend hinzu, »ein sehr niedriggesinnter Schuft sein muß, sonst hätte er sich nicht so gegen mich benehmen können, wie er es tat.«

»Und bedenkt,« sagte Miß Fanny, »bedenkt wohl, was das mit sich führt! Können wir erwarten, daß uns unsre Diener respektieren? Nie. Da sind zwei Kammermädchen, und Papas Kammerdiener, und ein Diener, und ein Kurier und alle Arten von Dienerschaft; und umgeben von diesen müssen wir eins von den Unsrigen mit einem Glase kalten Wasser, wie einen Diener umherlaufen sehen. Wahrhaftig,« sagte Miß Fanny, »ein Polizeidiener könnte, wenn ein Bettler in der Straße einen Anfall bekommt, nicht anders mit seinem Glase einherrennen, als Amy es in diesem Jimmer gestern Abend vor unsren Augen getan hat!«

»Ich wollte darauf kein so großes Gewicht legen«, bemerkte Mr. Edward. »Aber dein Clennam, wie er sich zu nennen beliebt, das ist etwas anderes.«

»Er gehört dazu«, versetzte Miß Fanny, »und zu allem andern. Er drängte sich in erster Linie uns auf. Wir haben nie nach ihm verlangt. Ich zeigte ihm stets, daß ich mit dem größten Vergnügen auf seine Gesellschaft verzichten würde. Und dann beleidigt er unsre Gefühle auf so gröbliche Weise, was er nie getan haben könnte oder würde, wenn es ihm nicht Vergnügen gemacht hätte, uns bloßzustellen; und dann müssen wir uns noch zum Dienste seiner Freunde herabwürdigen lassen! Ich wundre mich auch nicht über das Benehmen Mr. Gowans. Was ließ sich erwarten, da er unser früheres Mißgeschick kannte und sich gerade im Augenblick daran weidete.«

»Vater – Edward – wahrhaftig nicht!« verteidigte sich Klein-Dorrit. »Weder Mr. noch Mrs. Gowan hatten je unsere Namen gehört. Sie wußten und wissen durchaus nichts von unsrer Geschichte.«

»Um so schlimmer«, warf Fanny ein, entschlossen, nichts zuzugeben, was ihren Angriff hätte abschwächen können, »denn dann hast du keine Entschuldigung. Wenn sie uns gekannt hätten, hättest du dich berufen fühlen können, sie zu versöhnen. Das wäre ein schwacher und lächerlicher Mißgriff gewesen: aber ich kann einen Mißgriff entschuldigen, während ich eine absichtliche und überlegte Erniedrigung derer, die uns am nächsten und teuersten sein sollten, nicht entschuldigen kann. Nein. Ich kann das nicht entschuldigen. Ich kann es nur anklagen.«

»Ich beleidige dich nie mit Wissen, Fanny«, sagte Klein-Dorrit, »obgleich du so hart gegen mich bist.«

»Dann solltest du vorsichtiger sein, Amy«, versetzte ihre Schwester. »Wenn du solche Sachen durch Zufall tust, so solltest du vorsichtiger sein. Wenn ich etwa an einem gewissen Platz und unter gewissen Umständen geboren wäre, die mein Bewußtsein von Anstand beeinträchtigen, ich glaube, ich würde mich dann für verbunden halten, bei jedem Schritt zu überlegen: ›Werde ich unbewußterweise irgendeinen näheren oder entfernteren Verwandten kompromittieren?‹ Das ist es, glaube ich, was ich tun würde, wenn es mein Fall wäre.«

Mr. Dorrit trat nun dazwischen, um zu gleicher Zeit dieser peinlichen Unterhaltung ein Ende zu machen und ihrer Moral durch seine Weisheit die Krone aufzusetzen.

»Meine Liebe«, sagte er zu seiner jüngern Tochter, »ich bitte dich, erwidere nichts mehr. Deine Schwester drückt sich etwas streng aus, hat aber ziemlich recht. Du mußt eine – hm – eine große Stellung ausfüllen. Die große Stellung nimmst nicht du allein ein, Sondern auch –ha – ich – und – ha, hm – wir alle. Alle. Es ist nun die Aufgabe aller Menschen in einer bedeutenden Stellung, und insbesondere dieser Familie, aus Gründen, bei denen ich – ha – nicht verweilen will, sich Achtung zu verschaffen. Immer darauf bedacht zu sein, sich die Achtung der Menschen zu erwerben. Untergeordnete Menschen müssen, damit sie uns respektieren, – ha – in Entfernung gehalten werden und – hm – niedergehalten werden. Nieder. Deshalb ist es von höchster Wichtigkeit, daß du dich keinen Bemerkungen unsrer Dienerschaft aussetzest, indem du dich etwa ihrer Dienste entschlagen und dieselben selbst verrichtet zu haben scheinst.«

»Nun, wer sollte daran zweifeln?« rief Miß Fanny. »Das ist die Essenz von allem.« »Fanny«, versetzte ihr Vater in feierlichem Tone, »erlaube mir, meine Liebe. Wir kommen jetzt zu – ha – Mr. Clennam. Ich gestehe offen, Amy, daß ich die Gefühle deiner Schwester nicht teile, – das heißt nämlich – hm – in Beziehung auf Mr. Clennam. Ich begnüge mich, dieses Individuum als einen – ha – im allgemeinen – wohlgesitteten Mann zu betrachten. Hm. Einen wohlgesitteten Mann. Auch will ich nicht untersuchen, ob Mr. Clennam sich je meiner Gesellschaft –hm – aufgedrängt. Er wußte, daß – hm – meine Gesellschaft gesucht war, und der Grund, weshalb er es getan hat, mag sein, daß er mich als einen öffentlichen Charakter betrachtete. Aber es gab Umstände im Geleite – ha – meiner geringen Bekanntschaft mit Mr. Clennam (sie war sehr gering), die«, hier wurde Mr. Dorrit außerordentlich ernst und feierlich, »es höchst unzart für Mr. Clennam machen würden, – ha – den Verkehr mit mir oder irgendeinem Glied meiner Familie unter den bestehenden Umständen wieder anzuknüpfen. Wenn Mr. Clennam Zartheit genug besitzt, das Unpassende jedes derartigen Versuches zu begreifen, so bin ich als Mann von Ehre verpflichtet, dieses Zartgefühl auf seiner Seite zu respektieren. Wenn aber auf der andern Seite Mr. Clennam diese Delikatesse nicht besitzt, so kann ich keinen Augenblick – ha – mit einem so ungebildeten Menschen im geringsten Verkehr stehen. In beiden Fällen würde es scheinen, als ob Mr. Clennam ganz und gar nicht in Betracht käme und wir nichts mit ihm oder er mit uns zu tun hätte. Ha – Mrs. General!«

Das Eintreten der Dame, die er ankündigte und die ihren Platz beim Frühstück einnehmen wollte, machte der Diskussion ein Ende. Kurz darauf kündigte der Kurier an, daß der Kammerdiener, der Diener, die beiden Kammermädchen, die vier Führer und die vierzehn Maultiere bereitständen: die Frühstücksgesellschaft brach deshalb auf, um sich vor dem Klostertore zu der Kalvalkade zu gesellen.

Mr. Gowan stand in der Ferne mit Zigarre und Bleistift, aber Mr. Blandois war an Ort und Stelle, um den Damen seinen Respekt zu bezeugen. Als er höflich seinen ins Gesicht hereingedrückten Hut vor Klein-Dorrit abnahm, war es ihr, als ob er einen noch unheimlicheren Blick hätte, wie er so schwarz und in den Mantel gehüllt im Schnee dastand, als vergangene Nacht, wo ihn das helle Kaminfeuer beleuchtete. Da jedoch ihr Vater und ihre Schwester seine Huldigung mit einigem Wohlwollen aufnahmen, faßte sie sich, um ihr Mißtrauen nicht zu zeigen, damit es nicht wieder einen Beweis des Makels liefere, der von ihrer Gefängnisgeburt stamme.

Nichtsdestoweniger sah sie sich, solange sie den rauhen Weg hinabritten und das Kloster noch sichtbar war, mehr als einmal um und gewahrte, wie Mr. Blandois, hinter dem der Klosterrauch senkrecht und hoch aus den Kaminen in einer goldenen Hülle emporstieg, immer noch auf einem hervorragenden Punkte dastand und ihnen nachblickte. Lange, nachdem er nur wie ein schwarzer Stock im Schnee aussah, war es ihr, als ob sie noch immer sein Lächeln, die gebogene Nase und die Augen sehen könnte, die so nahe beieinander standen. Und noch später, als das Kloster verschwunden war und einige leichte Morgenwolken den Paß unter denselben verschleierten, schienen die Skelettarme am Wege alle nach ihm hinaufzudeuten.

Trügerischer denn Schnee, vielleicht kälter an Herz und schwerer schmelzend, verschwand Blandois von Paris nach und nach aus ihrem Gedächtnis, als sie in die milderen Regionen kamen. Die Sonne war wieder warm; die Ströme, die von den Gletschern und Schneeklüften herabrauschten, boten wieder frischen Trunk: sie ritten wieder zwischen den Pinien, den Felsbächen, über die grünen Höhen und durch die Täler, an den hölzernen Sennhütten und an den rohen Zickzackgehängen des Schweizerlandes hin. Bisweilen wurde der Weg so breit, daß sie und ihr Vater nebeneinander reiten konnten. Und dann ihn anzublicken, wie er in Pelz und prachtvolles Tuch gehüllt, reich, frei, von vielen Dienern begleitet und bedient, die Augen weit in der Herrlichkeit der Landschaft umherschweifen ließ, während keine elende Scheidewand den Blick verdunkelte und ihren Schatten darauf warf, – das war genug für sie.

Ihr Onkel war so weit aus dem früheren Schatten herausgetreten, daß er die Kleider trug, die man ihm gab, und einige Waschungen als Opfer für den Ruf der Familie vornahm und mitging, wohin man ihn führte, mit einer gewissen geduldigen naiven Freude, die auszudrücken schien, daß die Luft und der Wechsel ihm wohltue. In jeder andern Beziehung, eine ausgenommen, gab und spiegelte er kein andres Licht von sich als das, das von seinem Bruder ausstrahlte. Seines Bruders Größe, Reichtum, Freiheit und Herrlichkeit gefiel ihm ohne irgendwelche Rücksicht auf sich. Still und in sich gekehrt, hatte er keine Sprache, wenn er seinen Bruder sprechen hören konnte; keinen Wunsch, selbst bedient zu werden, so daß die Diener nur mit seinem Bruder zu tun hatten. Die einzige bemerkenswerte Neuerung, die in ihm vorging, war sein verändertes Benehmen gegen seine jüngere Nichte. Jeden Tag verfeinerte es sich mehr zu einem ausgeprägten Respekt, wie man ihn selten beim Alter gegenüber der Jugend steht, und noch seltener, möchte man sagen, von einem Takt, ihm den richtigen Ausdruck zu geben, begleitet findet. Sooft Miß Fanny ein für allemal erklärte, pflegte er die nächste Gelegenheit zu ergreifen, sein graues Haupt vor seiner jüngern Nichte zu entblößen, oder er half ihr aufsteigen, oder hob sie in den Wagen, oder erwies ihr sonst mit der tiefsten Ehrerbietung eine Aufmerksamkeit. Und doch erschien alles dies nie am unrechten Ort angebracht oder gezwungen, sondern immer herzlich einfach, natürlich und ungekünstelt. Auch gab er niemals zu, selbst wenn sein Bruder ihn dazu aufforderte, daß man ihm vor ihr einen Platz anwies oder daß er in irgend etwas den Vorrang vor ihr habe. So eifersüchtig war er darauf, daß man sie respektiere, daß er eben auf dem Ritt vom großen St. Bernhard herab plötzlich ganz heftig und ungehalten wurde, als er sah, daß der Diener, obgleich er ganz nahe dabei war, als sie abstieg, ihr den Steigbügel zu halten versäumte; und das ganze Gefolge geriet in grenzenloses Erstaunen, als er auf einem starrköpfigen Maultier, einen Angriff auf ihn machte, ihn in eine Ecke ritt und ihm drohte, ihn totzutreten.

Es war eine hochnoble Gesellschaft, und die Wirte stritten sich um sie. Wohin sie kamen, war ihre Wichtigkeit in der Person des vorausreitenden Kuriers ihnen vorangeeilt, um zu sehen, ob die Staatszimmer in Bereitschaft seien. Er war der Herold der Familienprozession. Dann kam der große Reisewagen, der innen enthielt: Mr. Dorrit, Miß Dorrit, Miß Amy Dorrit und Mrs. General; außen saß einer der Diener und (bei schönem Wetter) Edward Dorrit, Esquire, für den der Bock reserviert war. Dann kam der kleine Reisewagen mit Frederick Dorrit, Esquire, und einem leeren Platze für Edward Dorrit, bei schlechtem Wetter. Dann kam der Gepäckwagen mit der übrigen Dienerschaft, dem schweren Gepäck, und soviel er von dem Schmutz und Staub tragen konnte, den die andern Wagen hinter sich ließen.

Diese Wagen schmückten den Hof des Hotels in Martigny, als die Familie von ihrer Bergtour zurückkehrte. Es waren noch andere Wagen vorhanden, da viele Reisende sich unterwegs befanden. Von der zusammengeflickten italienischen Vettura – die wie der Stuhl einer Schaukel von einem italienischen Jahrmarkt aussah, den man auf ein hölzernes Speisenbrett mit Rädern gestellt hat, während sich obendrüber ein zweites hölzernes Speisenbrett ohne Räder befand – bis hinauf zum schöngebauten englischen Wagen. Aber etwas anderes schmückte noch das Hotel, was Mr. Dorrit nicht ausbedungen hatte. – Zwei fremde Reisende nämlich schmückten eines seiner Zimmer.

Der Hotelbesitzer schwor, den Hut in der Hand, dem Kurier, daß er vernichtet, daß er trostlos, daß er tief bekümmert, daß er das elendeste und unglücklichste aller Tiere sei, daß er den Kopf eines hölzernen Schweins habe. Er würde das niemals zugegeben haben, sagte er, aber die feine Dame habe ihn so inständig gebeten, ihr das Zimmer nur für eine kleine halbe Stunde zum Dinieren einzuräumen, daß er sich habe herumbringen lassen. Die kleine halbe Stunde sei vorüber, die Dame und der Herr nehmen ihr kleines Dessert ein und eine halbe Tasse Kaffee, die Rechnung sei bezahlt, die Pferde befohlen, sie würden augenblicklich abreisen; aber ein unglückliches Schicksal und der Fluch des Himmels wolle, daß sie noch nicht fort seien.

Nichts konnte die Entrüstung Mr. Dorrits übersteigen, als er sich am Fuße der Treppe umwandte und diese Entschuldigungen vernahm. Es war ihm, als ob die Würde der Familie von den Händen eines Meuchelmörders getroffen worden. Er hatte ein Gefühl seiner Würde, das von der ausgesuchtesten Art war. Er konnte einen Angriff auf dieselbe entdecken, wo kein Mensch sonst auch nur das geringste merkte. Sein Leben wurde zu einem unaufhörlichen Kampf durch die Masse von Seziermessern, die er beständig mit der Sezierung seiner Würde beschäftigt wähnte.

»Ist es möglich, mein Herr«, sagte Mr. Dorrit tief errötend, »daß (Sie – ha – die Kühnheit gehabt haben, eines von meinen Zimmern zur Verfügung einer andern Person zu stellen?«

Er bitte tausendmal um Entschuldigung. Es sei des Wirtes größtes Unglück, sich von dieser nur allzu vornehmen Dame haben überreden zu lassen. Er bitte Monseigneur nicht ungehalten zu sein. Er verlasse sich auf Monseigneurs Nachsicht. Wenn Monseigneur die ausgezeichnete Gnade haben wollte, den andern besonders für ihn hergerichteten Salon nur für fünf Minuten einzunehmen, so würde alles gut sein.

»Nein, Sir«, sagte Mr. Dorrit, »Ich will gar keinen Salon einnehmen. Ich werde Ihr Haus verlassen, ohne zu essen oder zu trinken oder einen Fuß hineinzusetzen. Wie können Sie es wagen, so zu handeln. Wer bin ich, daß Sie –ha – mich von andern Gentlemen absondern?«

Ach! Der Wirt rief das ganze Weltall zu Zeugen auf, daß Monseigneur der liebenswürdigste Mann des ganzen Adels, der bedeutendste, achtungswerteste und geachtetste Mann sei. Wenn er Monseigneur von andern absondere, so geschehe es bloß, weil er ausgezeichneter, geschätzter, edler und berühmter sei.

»Sagen Sie mir dergleichen nicht ins Gesicht«, versetzte Mr. Dorrit in großer Hitze. »Sie haben mich beleidigt. Sie haben Beschimpfungen auf mich gehäuft. Wie können Sie das wagen? Erklären Sie sich!«

Ach, gerechter Himmel, wie könnte der Wirt sich erklären, da er nichts mehr zu erklären hatte, sondern sich nur noch entschuldigen und sein Vertrauen auf die wohlbekannte Großmut von Monseigneur setzen könnte!

»Ich sage Ihnen, Sir«, versetzte Mr. Dorrit, zitternd vor Zorn, »daß Sie mich von andern Gentlemen absondern; daß Sie Unterschiede zwischen mir und andern Gentlemen von Vermögen und Stellung machen. Ich frage Sie, warum? Ich wünsche zu wissen, mit welchem Recht, mit welchem – ha – Recht? Antworten Sie, mein Herr. Erklären Sie sich. Antworten Sie, warum?«

Der Wirt müsse sich die Freiheit nehmen, dem Herrn Kurier zu bemerken, daß der sonst so gnädige Monseigneur sich ohne Grund ereifere. Es sei keine Ursache vorhanden. Der Herr Kurier möge Monseigneur vorstellen, daß er sich täusche, wenn er glaube, es sei irgendein Grund vorhanden als der, den sein ergebener Diener bereits ihm mitzuteilen die Ehre gehabt. Die außerordentlich vornehme Dame –

»Genug!« rief Mr. Dorrit. »Schweigen Sie. Ich will nichts mehr von dieser außerordentlich vornehmen Dame hören. Sehen Sie diese Familie an – meine Familie – eine vornehmere Familie als irgendwelche Dame. Sie haben diese Familie mit Mißachtung behandelt. Sie waren unverschämt gegen diese Familie. Ich werde Sie ruinieren. Ha – schicken Sie nach den Pferden. Packen Sie die Wagen, ich werde keinen Fuß mehr in dieses Mannes Haus setzen.«

Niemand hatte sich in diesen Streit gemischt, der über die französischen Sprachkräfte Edward Dorrits Esq. ging und kaum im Bereich von denen der Damen lag. Miß Fanny jedoch unterstützte jetzt ihren Vater mit großer Bitterkeit, indem sie in ihrer heimischen Sprache erklärte, daß es ganz klar sei, hinter dieses Mannes Impertinenz laure etwas ganz Bestimmtes; und sie betrachte es für wichtig, daß er durch irgendwelche Mittel gezwungen werde, den Grund anzugeben, weshalb er einen Unterschied zwischen dieser Familie und andern reichen Familien mache. Was die Ursache seiner Vermessenheit sein könne, wisse sie sich nicht zu erklären; aber Gründe müsse er haben und man solle sie aus ihm herauspressen.

Alle Führer, Maultiertreiber und Müßiggänger im Hofe hatten bei der heftigen Verhandlung zugehört und waren sehr verblüfft, als der Kurier nun die Wagen hinauszuschaffen sich mühte. Mit Hilfe von einigen Dutzend Leuten an jedem Rade geschah dies mit großem Geräusch; dann machte man sich wieder ans Aufladen, bis die Pferde vom Posthause kamen.

Da der Wagen der sehr vornehmen englischen Dame bereits angeschirrt an dem Tor des Hotels stand, war der Wirt hinaufgeschlichen, um ihr seinen fatalen Fall mitzuteilen. Dies erfuhr der Hof, indem er jetzt mit dem Herrn und der Dame die Treppe herabkam und auf die beleidigte Majestät von Mr. Dorrit mit einer bezeichnenden Bewegung der Hand hindeutete.

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte der Herr, indem er sich von der Dame losmachte und näher kam. »Ich bin ein Mann von wenig Worten und habe kein Talent zum Erklären – aber die Dame hier wünscht sehr, daß jeder Spektakel vermieden würde. Die Lady – meine Mutter – wünscht wegen des Vorgefallenen, daß ich sagen soll, sie hoffe, es werde keinen Spektakel geben.«

Mr. Dorrit, der im Gefühle der Kränkung noch immer zitterte, grüßte den Herrn und die Dame in einer sehr fremden, abweisenden unnahbaren Weise.

»Nein, aber wahrhaftig – hier, alter Junge; Sie!« Das war die Art des jungen Mannes, wie er sich an Edward Dorrit Esquire wandte, den er als einen großen, von der Vorsehung ihm zugesandten Befreier aus der Verlegenheit packte. »Wir zwei wollen die Sache miteinander zurechtlegen. Die Dame wünscht so sehr, daß es keinen Spektakel gebe.«

Edward Dorrit Esquire, der am Knopf etwas auf die Seite gezogen worden, nahm einen diplomatischen Gesichtsausdruck an, indem er antwortete: »Sie müssen doch gestehen, wenn Sie eine Partie Zimmer vorausbestellen lassen und dieselben Ihnen gehören, es nicht angenehm ist, andre Leute in denselben zu finden.«

»Ja«, sagte der andre, »allerdings. Ich gebe es zu. Wir zwei wollen die Sache jedoch miteinander zurechtlegen und den Spektakel vermeiden. Der Fehler liegt durchaus nicht an diesem Laffen, sondern an meiner Mutter. Eine sehr feine Frau, die bei Gott keinen Unsinn an sich hat – und sehr gebildet – sie war zuviel für diesen Laffen. Steckte ihn förmlich in die Tasche.«

»Wenn das der Fall –« begann Edward Dorrit Esquire.

»Ich versichere Sie, auf Ehre, das ist der Fall. Warum deshalb«, sagte der andere, seine frühere gewichtige Stellung wieder einnehmend, »warum Spektakel?«

»Edmund«, sagte die Dame vom Tor aus, »ich hoffe, du hast zur Beruhigung des Herrn und seiner Familie erklärt, daß dieser höfliche Wirt keinen Tadel verdient?«

»Versichere Sie, Madame«, versetzte Edmund, »ich werde ganz lahm vor Anstrengung.« Dann sah er Edward Dorrit Esquire einige Sekunden lang an und fügte mit einem Ausbruch von Vertraulichkeit hinzu: »Alter Junge! Ist jetzt alles in Ordnung?«

»Ich glaube«, sagte die Dame, anmutig einen Schritt oder zwei auf Mr. Dorrit zuschreitend, »es ist besser, wenn ich selbst sage, daß ich diesen Mann versicherte, ich werde alle Folgen auf mich nehmen, die daraus entstehen könnten, daß ich eines von den Zimmern eines Fremden, während seiner Abwesenheit, für die lange (oder kurze) Dauer meines Diners in Beschlag nahm. Ich hatte keine Ahnung, daß der rechtmäßige Inhaber dieser Zimmer so bald zurückkommen würde. Auch hatte ich keine Ahnung, daß er schon angekommen, sonst würde ich mich beeilt haben, mein mit Unrecht in Beschlag genommenes Zimmer zurückzugeben und mich zu erklären und zu entschuldigen. Ich glaube, indem ich dies sage –«

Einen Augenblick lang stand die Dame mit dem Glas an dem Auge betroffen und sprachlos vor den beiden Miß Dorrit. In diesem Augenblick hielt Miß Fanny im Vordergrund einer großen malerischen Stellung, die die Familie, die Familienwagen und die Familiendiener bildeten, ihre Schwester fest unter dem Arm, um sie an Ort und Stelle zu fesseln, und mit dem andern Arm fächelte sie sich mit stolzer Miene und betrachtete die Dame nachlässig von Kopf bis zu Fuß.

Die Dame, die sich rasch wieder faßte – denn es war Mrs. Merdle, die nicht leicht aus der Fassung zu bringen war – fügte nun hinzu, sie glaube, indem sie dies sage, ihre Kühnheit zu entschuldigen und diesen gebildeten Wirt wieder in den Besitz der Gunst zu setzen, die ihm von so hohem Wert sei. Mr. Dorrit, auf dessen Altar all dies eitel Weihrauch war, gab eine gnädige Antwort und sagte, seine Leute sollten – ha – seine Pferde wieder abbestellen, – er wolle – hm – über das hinwegsehen, was er anfangs für eine Beleidigung gehalten, jetzt aber für eine Ehre ansehe. Daraufhin neigte sich der Busen vor ihm; und die Besitzerin warf mit einer wundervollen Beherrschung ihrer Züge den beiden Schwestern, als jungen Damen von Vermögen, für die sie sehr eingenommen war und die sie nie zuvor das Glück gehabt zu sehen, ein gewinnendes Lächeln zum Abschied zu.

Anders benahm sich Mr. Sparkler. Dieser junge Mann, dessen Blicke zu gleicher Zeit wie die seiner Lady-Mutter gefesselt wurden, konnte sich um keinen Preis wieder von den Fesseln losmachen, sondern starrte unverwandt auf die ganze Gesellschaft mit Miß Fanny im Vordergrund. Als seine Mutter sagte: »Edmund, wir sind nun fertig: gib mir deinen Arm«; schien er, nach der Bewegung seiner Lippen, mit einer Bemerkung zu antworten, die ungefähr die Worte enthielt, in denen seine glänzenden Talente sich zumeist äußerten, aber er entspannte keinen Muskel. So steif und starr war seine Gestalt, daß es schwierig gewesen wäre, ihn hinlänglich zu beugen, um ihn in die Wagentür zu bringen, wenn er nicht von drinnen zu rechter Zeit eine mütterlichen Ruck bekommen hätte. Er war kaum im Wagen, als das Kissen an dem kleinen Fenster hinten verschwand und sein Auge den Platz desselben beschlagnahmte. Dort blieb es so lange, als man einen so kleinen Gegenstand unterscheiden konnte, und wahrscheinlich noch weit länger, und starrte (wie wenn einem Stockfisch etwas unaussprechlich Überraschendes begegnet), einem schlechtgemalten Auge in einem großen Armband ähnlich, in die Ferne.

Diese Begegnung war für Miß Fanny so angenehm, und sie dachte später so viel mit wahrer Siegesfreude daran, daß ihre Härten sich außerordentlich milderten. Als die Prozession am nächsten Tag wieder im Gange war, nahm sie ihren Platz in derselben mit einer ihr sonst fremden Heiterkeit ein und zeigte wirklich eine so glückliche Laune, daß Mrs. General ziemlich überrascht aussah.

Klein-Dorrit war froh, daß man keinen Fehler an ihr fand und daß Fanny heiter war: ihr Teil an der Prozession war jedoch ein stilles sinnendes Träumen. Wenn sie so ihrem Vater in dem Reisewagen gegenübersaß und an das alte Zimmer im Marschallgefängnis dachte, so erschien ihr das gegenwärtige Leben wie ein Traum. Alles, was sie sah, war neu und herrlich, aber es war nicht wirklich. Es war ihr, als wenn diese Visionen von Bergen und malerischen Gegenden jeden Augenblick verschwinden und der Wagen, plötzlich um eine Ecke biegend, mit einem Stoß vor dem alten Gefängnistor stehen könnte.

Nichts zu arbeiten zu haben war seltsam, aber nicht halb so seltsam, als in einer Ecke zu sitzen, wo sie für niemanden zu denken, nichts auszusinnen und auszurichten, keine Sorgen von andern auf sich zu übernehmen hatte. Seltsam wie das war, war es doch noch weit seltsamer, einen Raum zwischen sich und dem Vater zu sehen, wo andere sich damit beschäftigten, für ihn zu sorgen und wo man sie gar nicht erwartete. Anfangs war dies mit ihrer alten Erfahrung so widerstreitend, mehr noch als die Berge, daß sie außerstande gewesen war, darauf zu verzichten, und versucht hatte, ihren alten Platz neben ihm zu behaupten. Aber er hatte allein mit ihr gesprochen und ihr gesagt: daß Leute – ha – Leute in einer höheren Stellung ängstlich gewissenhaft von ihren Untergebenen Respekt verlangen müßten; und daß es für sie, seine Tochter, Miß Amy Dorrit, von der einzig noch existierenden Linie der Dorrits von Dorsetshire, unvereinbar mit jener Stellung wäre, dafür zu gelten, daß sie die Funktionen – ha – eines Kammerdieners versehe. Deshalb müsse er ihr seine väterliche – hm – streng verschärfte Mahnung erteilen, sich zu erinnern, daß sie eine Dame, die sich nun mit – hm – dem gebührenden Stolz zu benehmen und den Rang einer Dame aufrechtzuerhalten habe. Deshalb fordre er von ihr, daß sie sich solchen Tuns enthalte – ha –, das unangenehme und nachteilige Bemerkungen hervorrufen könnte. Sie hatte ohne Murren auf sein Wort gehorcht. Es war dahin gekommen, daß sie jetzt in einer Ecke des üppigen Wagens, die kleinen Hände vor sich faltend, saß, selbst von dem äußersten Punkt ihres früheren Platzes weggerückt, den ihr Fuß aufzugeben lange gezögert hatte.

Von dieser Stellung aus erschien ihr alles, was sie sah, traumhaft! je überraschender die Szenen, desto mehr glichen sie der Traumhaftigkeit ihres eignen innern Lebens, durch dessen öde Räume sie den ganzen Tag schritt. Die Abgründe des Simplon, seine ungeheuren Tiefen und donnernden Wasserfälle, der herrliche Weg, die gefährlichen Punkte, wo ein loses Rad oder ein strauchelndes Pferd den Untergang brachte, das Hinabsteigen nach Italien, das Aufgehen des schönen Landes, als die rauhe Bergschlucht sich erweiterte und sie aus dem düstern und dunkeln Gefängnis herausließ – alles war ein Traum – nur das alte elende Marschallgefängnis eine Wirklichkeit. Ja, selbst das alte elende Marschallgefängnis war bis auf den Grund niedergerissen, wenn sie es sich ohne ihren Vater malte. Sie konnte kaum glauben, daß die Gefangenen noch in dem engen Hofe weilten, daß die elenden Räume noch immer alle besetzt waren und daß der Schließer noch immer in dem Pförtnerstübchen stehe und die Leute aus- und einlasse – alles, wie sie wohl wußte, daß es noch war.

Mit einer Erinnerung an ihres Vaters altes Leben im Gefängnis, die schwer wie eine traurige Weise auf ihr lastete, erwachte Klein-Dorrit gewöhnlich aus einem Traum von ihrem Geburtsort zu dem Traum eines ganzen Tages. Das gemalte Zimmer, in dem sie erwachte, oft ein ehemaliges Prunkzimmer in einem verfallenen Palaste, eröffnete diesen Traum; wildes rotes Herbstweinlaub hing über die Fenster herab, Orangenbäume standen auf der zerrissenen weißen Terrasse vor dem Fenster, eine Gruppe von Mönchen und Bauern ging durch die Straße einher. Elend und Pracht stritten sich auf jedem Fleck Erde, gleichviel unter welcher Gestalt, rings umher um den Vorrang, und das Elend warf die Pracht mit der Stärke des Schicksals zu Boden. Diesem Eingang folgte ein Labyrinth von kahlen Gängen und pfeilertragenden Galerien, während die Familienprozession sich bereits in dem viereckigen Hof zur Abfahrt rüstete, nachdem die Wagen und das Gepäck für die Tagreise von den Dienern zusammengebracht worden. Dann das Frühstück in einem andern gemalten Zimmer, mit feuchten Flecken und von traurigem Aussehen; und dann die Abreise, die für ihre Schüchternheit und das Gefühl, nicht vornehm genug für ihren Platz bei den Zeremonien zu sein, immer eine unbehagliche Sache war. Denn dann erschien der Kurier (der ein Fremder von hoher Auszeichnung im Marschallgefängnis gewesen wäre), um anzuzeigen, daß alles in Bereitschaft sei. Dann hüllte ihres Vaters Kammerdiener ihn mit großem Pomp in seinen Reiserock; dann bedienten sie Fannys Mädchen und ihr eigenes Mädchen (die für Klein-Dorrit eine schwere Last war, sie weinte anfangs über sie, da sie gar nicht wußte, was mit ihr anfangen); dann vollendete ihres Bruders Diener den Anzug seines Herrn; dann gab ihr Vater Mrs. General den Arm, und ihr Onkel gab ihr den seinen, und begleitet von dem Wirt und der Dienerschaft des Hotels rauschten sie die Treppe hinab. Dort war gewöhnlich eine Masse Menschen versammelt, um sie einsteigen zu sehen, was sie dann auch unter vielem Verbeugen, Bitten, Pferdebäumen, Knallen und Knarren taten; und dann ging's toll durch die engen, übelriechenden Straßen und zum Stadttor hinaus.

Unter den Traumerscheinungen des Tages waren gewöhnlich Wege, wo das glänzend rote Weinlaub sich wie Girlanden meilenlang an den Bäumen hinzog: Olivenwälder, weiße Dörfer und Städte an Hügel gelehnt, lieblich von außen, aber schrecklich in ihrem Schmutz und ihrer Armut im Innern; Kreuze am Wege; tiefblaue Seen mit schönen Inseln und Gruppen von Booten mit Zelten von glänzenden Farben und Segeln von schönen Formen; massenhafte Gebäude, die in Staub zerfielen; hängende Gärten, wo das wuchernde Gestrüpp so stark geworden, daß seine Stämme wie eingetriebene Keile die Bogen gesprengt und die Mauer zerrissen hatten; steinerne terrassenförmige Gänge, wo die Eidechsen in und aus allen Ritzen krochen; Bettler von allen Arten und überall; bemitleidenswert, malerisch, hungrig, lustig; Bettelkinder und alte Bettler. Oft erschienen ihr an Posthäusern und andern Haltplätzen diese elenden Geschöpfe das einzige Wirkliche des Tages, und manchmal, wenn das Geld, das sie mitgebracht hatten, um es ihnen zu geben, alles verschenkt war, saß sie mit gefalteten Händen gedankenvoll da, nach einem winzig kleinen Mädchen hinblickend, das seinen greisen Vater führte, als wenn dieser Anblick sie an etwas aus längst vergangenen Tagen erinnerte.

Dann gab es wieder Orte, wo sie die ganze Woche in glänzenden Zimmern zusammenwohnten, jeden Tag Gastmähler hatten, unter Haufen von Wundern ausfuhren, zwischen Meilen von Palästen hingingen und in dunkeln Winkeln von großen Kirchen weilten; wo es blinkende Lampen von Gold und Silber zwischen Pfeilern und Bogen gab, kniende Gestalten in der Nähe von Beichtstühlen und auf dem Pflaster umherschwärmten: wo Dampf und Geruch von Weihrauch webte: wo man Gemälde, phantastische Bilder, festlich geschmückte Altäre, große Höhen und Entfernungen sah, alles durch buntes Glas sanft beleuchtet und die massiven Vorhänge, die an den Türen hingen. Von den Städten kamen sie wieder auf Wegen mit Wein und Oliven durch schmutzige Dörfer, wo keine Hütte war ohne ein Loch in der trüben Wand, kein Fenster mit einem ganzen Zoll Glas oder Papier; wo nichts zu sein schien, was das Leben erträglich machte, nichts zu essen, nichts zu tun, nichts zu schaffen, nichts zu hoffen, wo man nichts tun konnte als sterben.

Dann kamen sie wieder in ganze Städte von Palästen, deren rechtmäßige Einwohner alle verbannt, und die alle in Kasernen verwandelt waren; Scharen von müßigen Soldaten lehnten aus den Staatsfenstern, wo ihre Ausrüstung an der marmornen Architektur zum Trocknen aufgehängt war. Die Soldaten sahen wie Heere von Ratten aus, die (glücklicherweise) die Stützen der Gebäude wegfraßen, die bald mit ihnen über die Häupter der andern Schwärme von Soldaten, und der Schwärme von Priestern, und der Schwärme von Spionen noch, die die unheimliche Bevölkerung bildeten und sich, dem Untergang verfallen, in den Straßen unten umhertrieben, hereinbrechen mußten.

Durch solche Szenen bewegte sich die Reisegesellschaft bis nach Venedig. Hier zerstreute sie sich für einige Zeit, da sie in Venedig einige Monate bleiben wollte, in einem Palast (der sechsmal so groß war wie das ganze Marschallgebäude) am Canal Grande.

In diesem alles Frühere krönenden Traum, wo alle Straßen mit Wasser gepflastert waren und die Totenstille bei Tag und Nacht nur durch das dumpfe Läuten der Kirchenglocken, das Rauschen des Wassers und den Ruf der Gondoliere unterbrochen wurde, die um die Ecken der fließenden Straßen bogen, saß Klein-Dorrit, ganz in Gedanken versunken, da ihre Arbeit getan war, und sinnend da. Die Familie begann ein heiteres Leben, ging da und dorthin und verwandelte Nacht in Tag; aber sie scheute sich, an ihren Freuden teilzunehmen, und verlangte nur, allein bleiben zu dürfen.

Bisweilen stieg sie auch in eine der Gondeln, die immer in Bereitschaft standen und an gemalte Pfosten vor der Tür angelegt waren, – wenn sie sich von der aufdringlichen Bedienung ihres Kammermädchens, die mehr ihre Herrin, und zwar eine sehr harte, war, losmachen konnte – und ließ sich durch die ganze seltsame Stadt fahren. Gesellschaften in andern Gondeln begannen einander zu fragen, wer das kleine einsame Mädchen sei, an dem sie vorüberkamen, und das mit gefalteten Händen in ihrem Boote sitze und so nachdenklich und staunend umherblicke. Nicht entfernt ahnend, daß es irgend jemand für der Mühe wert halte, von ihrem Tun Notiz zu nehmen fuhr Klein-Dorrit in ihrer ruhigen, schüchternen, in sich gekehrten Weise in der Stadt umher. Aber ihr Lieblingsplätzchen war der Balkon ihres Zimmers, der auf den Kanal hinausging, mit andern Balkonen darunter und keinem darüber. Er war massiv von Stein, durch die Zeit geschwärzt und von jener wunderlich phantastischen Bauart, die vom Osten mit andern wunderlich phantastischen Dingen herüberkam; und Klein-Dorrit sah wirklich sehr klein aus, wenn sie sich über das breite Geländer hinauslehnte und hinabschaute. Da sie namentlich abends keinen Ort so sehr liebte wie den Balkon, so fiel sie bald auf, und manche Augen in den vorüberfahrendcn Gondeln erhoben sich zu ihr und manche Leute sagten: »Da ist wieder die kleine Gestalt der jungen Engländerin, die immer allein ist.«

Solche Leute waren für die kleine Gestalt der jungen Engländerin keine wirklichen Personen; sie waren ihr ja alle unbekannt. Sie beobachtete den Sonnenuntergang mit seinen langen purpurnen und roten Linien, seinem Flammenbrand, der hoch in die Wolken schlug und die Gebäude mit solcher Glut, ihre Struktur mit solchem Licht übergoß, daß es aussah, als wenn die dicken Wände durchsichtig und von innen erhellt wären. Sie sah, wie diese Pracht unterging; und dann, wenn sie einige Zeit auf die schwarzen Gondeln unten hinabgeblickt, die Gäste zu Musik und Tanz führten, erhob sie die Augen zu den leuchtenden Sternen. War nicht in ihrem eignen früheren Leben eine Gesellschaft, auf die die Sterne schienen? Oh, an jenes alte Tor jetzt zu denken!

Sie dachte dann gewöhnlich an jenes alte Tor, und wie sie dort gesessen in der Totenstille der Nacht, Maggys Haupt als Kopfkissen dienend; und an andre Plätze und andre Szenen, deren Erinnerung sich an jene vergangene Zeiten knüpfte. Und dann lehnte sie sich an den Balkon und sah darüber hinaus auf das Wasser, als wenn das alles unten vor ihr läge. Wenn sie so weit gekommen, schaute sie sinnend auf die Strömung, als wenn sie, in der allgemeinen Vision, austrocknen und ihr das Gefängnis und sie selbst und das alte Zimmer und die alten Insassen und die alten Besuche zeigen würde: lauter dauernde Wirklichkeiten, die sich nicht verändert hatten.

Viertes Kapitel.
Ein Brief von Klein-Dorrit.

Lieber Mr. Clennam!

Ich schreibe Ihnen aus meinem Zimmer in Venedig, in der Erwartung, daß es Sie freuen werde, von mir zu hören. Aber ich weiß, es kann Ihnen keine so große Freude bereiten, von mir zu hören, als mir, Ihnen zu schreiben; denn alles um Sie her ist, wie Sie es zu sehen gewohnt sind, und Sie vermissen nichts – wenn nicht mich, was nur auf Augenblicke und höchst selten der Fall sein mag –, während alles in meinem jetzigen Leben so fremdartig ist und ich so viel vermisse.

Klein-Dorrit in Venedig.

Als wir in der Schweiz waren, was mich jetzt schon dünkt, als wäre es vor Jahren gewesen, obgleich es nur wenige Wochen her ist, traf ich die junge Mrs. Gowan, die, wie wir, sich auf einem Bergausflug befand. Sie sagte mir, sie sei sehr wohl und sehr glücklich. Sie trug mir auf, Ihnen zu sagen, daß sie Ihnen herzlich für Ihre Teilnahme danke und Sie nie vergessen werde. Sie sprach sehr vertraulich mit mir, und ich liebte sie beinahe im ersten Augenblick, als ich mit ihr sprach. Aber dabei ist nichts zu verwundern: wer müßte nicht ein so schönes und gewinnendes Wesen lieben! Ich würde über keinen erstaunen, der sie liebte. Nein, wahrhaftig nicht.

Es wird Ihnen hoffentlich keinen Kummer bereiten – denn ich erinnere mich, daß Sie sagten, Sie hätten das Interesse eines wahren Freundes für sie –, wenn ich Ihnen sage, ich wünschte, sie hätte einen Mann geheiratet, der besser für sie paßte. Mr. Gowan scheint sie zu lieben, und natürlich liebt auch sie ihn sehr, aber mir kam es vor, als wenn er es nicht ernst genug meinte, – ich meine nicht in dieser Hinsicht, ich meine im ganzen. Ich konnte mir's nicht aus dem Kopf bringen, daß, wenn ich Mrs. Gowan wäre (welcher Tausch würde das sein und wie müßte ich mich ändern, um ihr zu gleichen), ich mich allein und verlassen fühlen würde, weil mir jemand fehlte, der fest und beharrlich im Entschlüsse wäre. Mir kam es sogar vor, al« wenn sie diesen Mangel etwas fühlte, jedoch ohne es genau zu wissen. Aber lassen Sie sich dadurch nicht beunruhigen, denn sie war »sehr wohl und sehr glücklich«. Und sie sah außerordentlich hübsch aus.

Ich hoffe, sie in kurzer Zeit wiederzusehen und erwarte sie sogar seit einigen Tagen hier. Ich werde ihr stets so freundlich um Ihretwillen zugetan sein wie ich kann. Lieber Mr. Clennam, Sie werden wohl wenig daran denken, daß Sie mir ein Freund gewesen sind, wie ich keinen andern hatte (nicht daß ich jetzt welche hätte: denn ich habe keine neuen Freundschaften geschlossen), ich denke viel daran und kann es nicht vergessen.

Ich möchte wohl wissen – aber es ist am besten, wenn mir niemand schreibt –, wie sich Mr. und Mrs. Plornish bei dem Geschäft befinden, das ihnen mein lieber Vater gekauft, und ob der alte Mr. Nandy glücklich bei ihnen und seinen zwei Enkeln lebt und immer und immer wieder seine alten Lieder singt. Ich kann die Tränen nicht zurückhalten, wenn ich an meine arme Maggy denke und die Leere, die sie anfangs ohne ihr Mütterchen gefühlt haben muß, so freundlich sie auch alle gegen sie sind. Wollen Sie sie besuchen und ihr unter dem Siegel der Verschwiegenheit mit meinen besten Grüßen sagen, daß sie unsere Trennung nicht inniger beklagt haben kann als ich? Und wollen Sie ihnen allen sagen, daß ich jeden Tag an sie gedacht habe, daß mein Herz treu an ihnen hängt, wie ich auch sein mag? Oh, wenn Sie wissen könnten, wie treu, Sie würden mich beinahe bemitleiden, daß ich so fern und so reich bin.

Sie werden sich gewiß freuen zu erfahren, daß mein lieber Vater sehr wohl ist und daß all diese Veränderungen sehr wohltätig auf ihn einwirkten, und daß er ganz anders ist als damals, da Sie ihn noch häufig besuchten. Auch mit meinem Onkel, glaube ich, ist eine Veränderung zum Bessern vorgegangen, wenn er sich auch früher nie beklagte und über das Jetzt nicht gerade in Entzücken gerät. Fanny ist sehr anmutig, lebhaft und gewandt. Es steht ihr ganz natürlich, die Lady zu spielen, sie hat sich an unser neues Glück mit wunderbarer Leichtigkeit gewöhnt.

Das erinnert mich daran, daß es mir nicht so leicht wird und daß ich bisweilen ganz daran verzweifle. Ich finde, daß ich das nicht lernen kann. Mrs. General ist immer mit uns, und wir sprechen Französisch und sprechen Italienisch, und sie gibt sich Mühe, uns auf mancherlei Weise zu bilden. Wenn ich sage, wir sprechen Französisch und Italienisch, so meine ich, sie tun's. Was mich betrifft, so bin ich so langsam, daß ich kaum weiter komme. Sobald ich Pläne zu entwerfen, nachzudenken und Versuche zu machen beginne – geht all mein Planentwerfen, Nachdenken und Versuchemachen in alten Geleisen, und ich fange wieder an, um die Kosten des Tages und um meinen Vater und meine Arbeit zu sorgen, und dann erinnere ich mich wieder, daß keine solchen Sorgen mehr existieren, und das ist mir an und für sich so neu und unwahrscheinlich, daß ich mich dem Grübeln ergebe. Ich hätte nicht den Mut, das gegen irgend jemanden als gegen Sie zu erwähnen.

Dasselbe ist mit all diesen neuen Ländern und wunderbaren Szenen der Fall. Sie sind sehr schön und setzen mich in Erstaunen, aber ich bin nicht gesammelt genug, nicht vertraut genug mit mir, wenn Sie verstehen können, was ich damit meine – all das Vergnügen aus ihnen zu schöpfen, das ich haben könnte. Was ich vor ihnen kennenlernte, vermischt sich überdies mit ihnen so seltsam. Zum Beispiel, als wir in den Bergen waren, war mir's oft (ich zögere, selbst Ihnen so lächerliche Geschichten zu erzählen, Mr. Clennam), als wenn das Marschallgefängnis hinter diesem großen Felsen sein müßte, oder als wenn das Zimmer von Mrs. Clennam, wo ich so manchen Tag gearbeitet und wo ich Sie zum ersten Male sah, jenseits dieses Schneefeldes sein müßte. Erinnern Sie sich jener Nacht, als ich mit Maggy nach Ihrer Wohnung in Covent Garden kam? Es war oft und häufig, als wenn ich jenes Zimmer vor mir sähe und es meilenweit neben unsrem Wagen herginge, wenn ich zum Fenster hinaus in die Dunkelheit sah. Wir waren jene Nacht ausgeschlossen und saßen an dem eisernen Tor und gingen umher bis zum Morgen. Ich sehe oft zu den Sternen empor, namentlich von dem Balkon dieses Zimmers aus, und glaube wieder in jener Straße zu sein, mit Maggy ausgeschlossen. Das gleiche ist mit den Menschen der Fall, die ich in England zurückgelassen. Wenn ich hier in einer Gondel umherfahre, überrascht es mich oft selbst, daß ich, in andre Gondeln blickend, sie zu sehen hoffte. Es würde mir eine unendliche Freude bereiten, sie zu sehen, aber ich glaube nicht, daß es mich anfangs sehr überraschen würde. In meinen träumerischen Stunden ist es mir, als wenn sie überall sein müßten; und ich meine ihre lieben Gesichter auf Brücken und Quais zu sehen.

Eine andre Schwierigkeit, die ich habe, wird Ihnen sehr seltsam erscheinen und erscheint mir sogar so: ich fühle oft das alte traurige Mitleid mit – ich brauchte das Wort nicht zu schreiben – mit ihm. Obgleich er in ganz andrer Lage ist, und so unaussprechlich glücklich und dankbar ich bin, daß ich das weiß, drängt sich das alte kummervolle Gefühl des Mitleids mir bisweilen mit solcher Heftigkeit auf, daß ich wünsche, ich könnte meinen Arm um seinen Hals schlingen, ihm sagen, wie ich ihn liebe, und einige Zeit an seiner Brust weinen. Ich würde dann wieder froh und stolz und glücklich sein. Aber ich weiß, daß ich das nicht tun darf, daß er es nicht gern sähe, daß Fanny ärgerlich würde und Mrs. General aufstaunen müßte, und so beruhige ich mich wieder. Aber wenn ich das tue, kämpfe ich mit dem Gefühl, daß ich eine Kluft zwischen mir und ihm entstehen sehen muß, und daß er mitten unter all seinen Dienern und Untergebenen verlassen ist und ich ihm fehle.

Lieber Mr. Clennam, ich habe viel von mir geschrieben, aber ich muß noch etwas mehr schreiben; denn das, woran mir am meisten lag, daß es in diesem schwachen Briefe eine Stelle finde, müßte sonst ausbleiben. Bei all diesen meinen törichten Gedanken, die ich so kühn war. Ihnen zu bekennen, weil ich weiß, daß Sie allein mich verstehen, wenn irgend jemand dazu imstande ist, und mehr Nachsicht gegen mich haben werden, als irgend jemand sonst, wenn Sie es nicht können – bei all diesen törichten Gedanken ist einer, der kaum je – nie – aus meinem Gedächtnis schwinden wird, und dieser ist, daß ich hoffe, Sie werden bisweilen in einem stillen Augenblick an mich denken. Ich muß Ihnen sagen, daß ich in dieser Beziehung beständig, seit ich fort bin, eine Angst habe, die ich mir um jeden Preis vom Herzen zu schaffen wünsche. Ich fürchtete, Sie möchten mich in einem neuen Licht, als ein neues Wesen betrachten. Tun Sie das nicht – ich könnte es nicht ertragen – es würde mich unglücklicher machen, als Sie vermuten. Um was ich Sie bitten und ersuchen möchte, ist, daß Sie nie an mich als an die Tochter eines reichen Mannes denken; daß Sie nie an mich denken, als ob ich besser gekleidet wäre, besser lebte, denn da ich Sie zum ersten Male sah. Daß Sie sich meiner nur als des dürftig gekleideten Mädchens erinnern, das Sie mit so viel Zärtlichkeit beschützt, von dessen fadenscheinigem Kleid Sie den Regen abgehalten und dessen nasse Füße Sie an Ihrem Kamin getrocknet haben. Daß Sie an mich und meine wahre Liebe und innige Dankbarkeit (wenn Sie überhaupt an mich denken) immer und ohne Veränderung gedenken, als an

Ihr armes Kind Klein-Dorrit.

PS. Besonders erinnern Sie sich, daß Sie wegen Mrs. Gowan nicht unruhig sein dürfen. Ihre Worte waren: »Sehr wohl und sehr glücklich.« Und sie sah außerordentlich hübsch aus.

Fünftes Kapitel.
Es ist nicht richtig irgendwo.

Die Familie war ein bis zwei Monate in Venedig gewesen, als Mr. Dorrit, der viel unter Grafen und Marquis verkehrte und nur wenig übrige Zeit hatte, sich vornahm, eine Stunde an einem besondern Tage zu dem Zweck zu erübrigen, um eine Konferenz mit Mrs. General zu halten.

Als die Zeit, die er sich in Gedanken reserviert hatte, gekommen war, schickte er Mr. Tinkler, seinen Kammerdiener, nach Mrs. Generals Zimmer, (das ungefähr ein Dritteil der Grundfläche des Marschallgefängnisses eingenommen haben würde), um dieser Dame seine Empfehlung zu sagen und sie wissen zu lassen, daß er wünsche, sie möge ihm die Gefälligkeit einer Unterredung mit ihr gönnen. Da es

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 23.11.2014
ISBN: 978-3-7368-5807-7

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