Stefan Zweig
Erstes Erlebnis
Vier Geschichten aus Kinderland
Im Insel-Verlag zu Leipzig
1920
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Ellen Key
in herzlichem Gedenken der hellen Herbsttage
von Bagni di Lucca
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O Kindheit, wie ich hinter deinen Gittern,
Du enger Kerker, oft in Tränen stand,
Wenn draußen er mit blau und goldnen Flittern
Vorüberzog, der Vogel Unbekannt.
O Nächte Ungeduld, da sich die Hand
Am Riegel wundriß – schon fühlt ich das Zittern
Verfrühter Wünsche mir im Blut gewittern –
Bis ich ihn brach und frei die Ferne fand!
Kaum daß ich blickte, war ich schon entsprungen.
Mein war die Welt! In hundert heißen Schauern
Verlor sich das verbreiterte Gefühl.
Und doch, Entsinnen bringt mir oft Bedauern:
»O süße Angst der ersten Dämmerungen!
O könnt ich heim! Wie war ich rein und kühl!«
Geschichte in der Dämmerung
Hat der Wind wieder Regen über die Stadt geweht, daß es plötzlich so dunkelt in unserem Zimmer? Nein. Die Luft ist silbern klar und still, wie selten in diesen Sommertagen, aber es ist spät geworden, und wir haben es nicht bemerkt. Nur die Dachfenster gegenüber lächeln noch in leisem Glanz, und der Himmel über dem First ist schon mit goldenem Rauch umflort. In einer Stunde wird es Nacht sein. In einer wundervollen Stunde, denn nichts ist schöner zu sehen als diese Farbe, die allmählich welk wird und sich verschattet, und dann im Zimmer das Dunkel, das vom Boden aufquillt, bis schließlich die schwarzen Fluten lautlos über den Wänden zusammenschlagen und uns mittragen in ihre Finsternis. Wenn man da einander gegenübersitzt und sich ansteht ohne Wort, will es einem scheinen in dieser Stunde, als würde das vertraute Gesicht in den Schatten älter und fremder und ferner, als hätte man sich nie so gekannt und sähe sich an über einen weiten Raum und viele Jahre. Aber du willst jetzt das Schweigen nicht, sagst du, weil man sonst zu beklommen hört, wie die Uhr die Zeit in hundert kleine Splitter zerschlägt und das Atmen in der Stille laut wird, wie das eines Kranken. Ich soll dir jetzt etwas erzählen. Gerne. Freilich nicht von mir, denn unser Leben in diesen endlosen Städten ist ja arm an Erlebnis, oder es scheint uns so, weil wir noch nicht wissen, was uns wirklich zu eigen gehört. Aber ich will dir eine Geschichte erzählen für diese Stunde, die eigentlich nur das Schweigen liebt, und ich wollte, sie hätte etwas von diesem warmen, weichen, flutenden Licht der Dämmerung, das schleiernd vor unsern Fenstern schwebt.
Ich weiß nicht, wie diese Geschichte zu mir kam. Ich bin nur, dessen entsinne ich mich, am frühen Nachmittage hier lang gesessen, habe in einem Buche gelesen und es dann sinken lassen, hindämmernd in Träumerei, vielleicht auch in leisen Schlaf. Und plötzlich sah ich Gestalten hier, und sie glitten die Wand entlang, und ich konnte ihre Worte hören und in ihr Leben sehen. Doch als ich den Entschwindenden nachblicken wollte, war ich schon wieder wach und allein. Zu meinen Füßen gesunken, lag das Buch. Nun ich es aufhob und nach den Gestalten frug, fand ich darin die Geschichte nicht mehr; es war, als sei sie aus den Blättern in meine Hände gefallen, oder sie war nie darin gewesen. Vielleicht hatte ich sie geträumt – oder in einer jener bunten Wolken gelesen, die heute von fernen Ländern in unsre Stadt kamen und den Regen forttrugen, der uns so lange bedrückte. Oder hatte ich sie aus jenem einfältigen alten Lied gehört, das eine Drehorgel melancholisch unter meinem Fenster knarrte, oder hatte sie jemand mir vor Jahren erzählt? Ich weiß es nicht. Solche Geschichten kommen oft zu mir heran, und ich lasse ihre Geschehnisse spielend durch meine Finger rinnen, ohne sie festzuhalten, so wie man Ähren und hochstengeligen Blumen im Vorübergehen schmeichelt, ohne sie zu pflücken. Ich träume sie nur von einem jähen farbigen Bild zu einem sanfteren Ende, aber ich fasse sie nicht. Doch du willst heute von mir eine Geschichte, und so erzähle ich sie dir jetzt in dieser Stunde, da die Dämmerung uns sehnsüchtig macht, Buntes und Bewegtes vor unsern Augen leuchten zu sehn, die im Grau verarmen.
Wie soll ich beginnen? Ich fühle, ich muß einen Augenblick aus dem Dunkel herausheben, ein Bild und eine Gestalt, denn so beginnen auch in mir diese seltsamen Träume. Nun entsinne ich mich schon. Ich sehe einen schlanken Knaben, der die breitstufige Treppe eines Schlosses niedersteigt. Es ist Nacht und eine Nacht mit nur mattem Mondlicht, aber ich umfasse wie mit einem erhellten Spiegel jede Kontur seines geschmeidigen Körpers, sehe genau in seine Züge. Er ist außerordentlich schön. Kindhaft gekämmt fallen die schwarzen Haare glatt über die fast überhohe Stirne, und die Hände, die er im Dunkel vorbreitet, um die Wärme der durchsonnten Luft tastend zu fühlen, sind sehr zart und edel. Sein Schritt zögert. Verträumt steigt er nieder zu dem großen, mit vielen runden Bäumen rauschenden Garten, durch den wie ein weißer Steg eine einzige breite Chaussee strahlt.
Ich weiß nicht, wann dies alles geschieht, ob gestern oder vor fünfzig Jahren, und ich weiß nicht wo, aber ich glaube in England muß es sein oder in Schottland, denn nur dort kenne ich so hohe breitgequaderte Schlösser, die von der Ferne wie Kastelle trotzig drohen und sich erst vertrautem Blick willig zu den hellen blumigen Gärten niederneigen. Ja, nun weiß ich es ganz bestimmt, es ist oben in Schottland, denn nur dort sind die Sommernächte so licht, daß der Himmel milchig glänzt wie ein Opal und die Felder nie dunkel werden, daß alles wie von innen leise leuchtend scheint und nur die Schatten, schwarzen Riesenvögeln gleich, in die hellen Flächen niederfallen. In Schottland ist es, oh, nun weiß ich es ganz, ganz bestimmt, und wenn ich mich mühte, fände ich diesem gräflichen Schlosse den Namen und dem Knaben auch, denn nun schält sich rasch die dunkle Rinde los von dem Traume, und alles fühle ich so deutlich, als sei es nicht Entsinnung, sondern Erlebnis. Der Knabe ist während des Sommers bei seiner verheirateten Schwester zu Gast und nach der freundschaftlichen Art der vornehmen englischen Familien nicht allein; abends versammelt die Runde eine ganze Reihe Jagdfreunde und ihre Frauen, dazu ein paar Mädchen, hohe schöne Menschen, deren Heiterkeit und Jugend lachend und doch nicht lärmend mit dem Echo der alten Mauern spielt. Tagsüber sprengen Pferde hin und her, Hunde werden in Koppeln gebracht, drüben auf dem Fluß glitzern zwei, drei Boote: eine Regsamkeit ohne Geschäftigkeit gibt dem Tag einen angenehm schnellen Rhythmus.
Aber jetzt ist es Abend, die Tischrunde gelöst. Die Herren sitzen im Saal, rauchen und spielen; bis Mitternacht fallen von den hellen Fenstern weiße, an den Rändern zitternde Lichtkegel in den Park hinein, manchmal auch ein volles, launiges Lachen. Die Damen sind meist schon auf ihren Zimmern, eine oder zwei plaudern vielleicht noch in der Vorhalle mitsammen. Und so ist der Knabe abends ganz allein. Zu den Herren darf er noch nicht oder nur für einen Augenblick, und vor der Nähe der Frauen hat er Scheu, denn oft, wenn er die Türe aufklinkt, senken sie plötzlich die Stimmen, und er spürt, sie reden Dinge, die er nicht hören soll. Und überhaupt, er liebt ihre Gesellschaft nicht, denn sie fragen ihn wie ein Kind und hören nur lässig seine Antwort, sie nützen ihn bloß zu tausend kleinen Gefälligkeiten aus und danken ihm dann wie einem artigen Buben. So hat er zu Bett gehen wollen und war schon die krumme Treppe hinaufgegangen; aber das Zimmer war zu warm gewesen, vollgepreßt mit dumpfer unbewegter Schwüle. Man hatte vergessen, bei Tag die Fenster zu schließen, und so hatte die Sonne sich hier breit gemacht: den Tisch hatte sie heiß gezündet und das Bett angeglüht, auf den Wänden lastend gelegen, und noch zittert erregt ihr schwüler Atem aus den Winkeln und Vorhängen. Und dann: so früh war es noch – und draußen leuchtete die sommerliche Nacht wie eine weiße Kerze, so ruhig, so windstill, so sehnsuchtslos still. Und da ist der Knabe die hohe Schloßtreppe wieder hinabgestiegen zu dem Garten, über dessen dunkler Runde der Himmel mattleuchtend liegt wie ein Heiligenschein und wo ein voller, von vielen unsichtbaren Blüten entatmeter Duft ihm lockend entgegenbebt. Seltsam ist ihm zumute. Er wüßte nicht zu sagen wie, in dem verwirrten Gefühl seiner fünfzehn Jahre, aber seine Lippen beben so, als müßte er irgend etwas in die Nacht hinsprechen oder die Hände heben oder die Augen lange schließen, als sei irgendein Geheimnisvoll-Vertrautes zwischen ihm und dieser ruhenden Sommernacht, das Rede wollte oder ein Zeichen des Grußes.
Langsam geht der Knabe aus der breiten, offenen Allee in einen der schmalen Seitengänge, wo sich die Bäume hoch oben mit silbern bestrahlten Kronen zu umarmen scheinen, unten aber nachtschwer das Dunkel liegt. Ganz still ist es. Nur jenes unbeschreibliche Getön der Stille in einem Garten, jenes summende Schwingen, als fiele ein weicher Regen ins Gras oder streiften die Halme hellsurrend einander, weht an den Schreitenden heran, der ganz verloren ist in süßer unfaßbarer Schwermut. Manchmal rührt er leise einen Baum an oder bleibt stehen, um dem flüchtigen Getön nachzulauschen: der Hut drückt ihm die Stirne, und so legt er ihn ab, um an den nackten Schläfen, wo sein Blut klingt, die Hand des schläfrigen Windes zu fühlen. Da, mit einem Male, wie er tiefer in das Dunkel tritt, geschieht etwas Unerhörtes. Hinter ihm knirscht leise der Kies. Und da er sich erschreckt umwendet, sieht er nur noch das flatternde Leuchten einer hohen weißen Gestalt auf sich zu, und schon an ihm, und erschrocken fühlt er sich stark und doch ohne jede Gewalt von einer Frau umfangen. Ein warmer, weicher Körper preßt sich drängend an den seinen, eine Hand streift rasch und schaudernd über sein Haar und beugt seinen Kopf zurück: taumelnd fühlt er an seinem Mund eine fremde, aufgetane Frucht, zitternde Lippen, die sich in die seinen einsaugen. So nahe ist dieses Gesicht dem seinen, daß er die Züge nicht sehen kann. Und er wagt es nicht, denn wie Schmerz schlägt Schauer seinen Leib, daß er die Augen schließen muß und sich willenlos als Beute diesen brennenden Lippen hingeben; unentschlossen, unsicher wie eine Frage, fassen seine Arme nun diese fremde Gestalt, und jäh berauscht preßt er den fremden Leib an sich. Gierig stießen seine Hände die weichen Linien entlang, ruhen und zittern wieder fort, werden fiebriger und empörter. Immer drängender und schon übergebeugt, eine selig schwere Bürde, ruht jetzt die ganze Last des Körpers über seiner nachgebenden Brust. Er fühlt sich irgendwie sinken und hinströmen unter diesem schwer atmenden Drängen, und schon brechen seine Knie. An nichts denkt er, nicht, wie diese Frau zu ihm kam, und nicht, wie ihr Name ist, er trinkt nur mit geschlossenen Augen von diesen fremden duftfeuchten Lippen die Begehrlichkeit in sich, bis er trunken ist, willenlos, sinnlos hintreibend in eine ungeheure Leidenschaftlichkeit. Ihm ist, als seien plötzlich Sterne niedergestürzt, so ein Flimmern ist vor seinen Augen, und wie Funken zittert alles und brennt, was er berührt. Und er weiß nicht, wie lange all dies dauert, ob es Stunden sind, daß er so weich umkettet ist, oder Sekunden: alles fühlt er auflodern in dem wilden Gefühl des wollüstigen Kampfes und wegtreiben, hintaumeln in eine wunderbare Schwindligkeit.
Und dann plötzlich, mit einem Ruck, zerbricht die heiße Kette. Jäh, fast erbost, läßt die Umklammerung seine umpreßte Brust, die fremde Gestalt richtet sich auf, und schon fließt, hell und schnell, ein weißer Lichtstreif an den Bäumen vorbei und ist wieder fort, ehe er die Hände heben konnte, ihn zu haschen.
Wer war das? Und wie lange hat das gedauert? Beklemmt, betäubt richtet er sich an einem Baume auf. Langsam strömt das kühle Denken wieder zurück zwischen die fiebrigen Schläfen: um tausend Stunden scheint ihm sein Leben plötzlich vorgerückt. Was er verwirrt geträumt hatte von Frauen und von Leidenschaft, sollte es plötzlich wahr geworden sein? Oder war es doch nur ein Traum? Er tastet sich an, greift sich ins Haar. Ja, es ist feucht um die hämmernden Schläfen, feucht und kühl vom Tau des Grases, in das sie hingestürzt waren. Nun blitzt alles wieder vorbei vor seinem Blick, er fühlt die Lippen wieder brennen, atmet den fremden knisternden Duft der Wollust aus dem Kleid, jedes Wortes sucht er sich zu entsinnen. Aber keines fällt ihm ein.
Und jetzt erinnert er sich erschreckt mit einem Male, daß sie gar nichts gesprochen, nicht einmal seinen Namen genannt; daß er nur ihre überquellenden Seufzer kennt und das Drohen, das krampfig verhaltene Schluchzen der Lust, daß er den Duft ihrer verworrenen Haare weiß, den heißen Druck ihrer Brüste, den glatten Email ihrer Haut, daß ihre Gestalt, ihr Atem, ihr ganzes zuckendes Gefühl ihm zu eigen war und er doch nicht ahnt, wer diese Frau gewesen, die ihn mit ihrer Liebe im Dunkel überfiel. Daß er nun stammeln muß nach einem Namen, um seine Überraschung, sein Glück zu benennen.
Und da scheint ihm das Unerhörte, das er soeben plötzlich mit einer Frau erlebt, arm, ganz arm und nichtig gegen das funkelnde Geheimnis, das mit lockenden Augen aus dem Dunkel auf ihn starrt. Wer war diese Frau? Im Flug überdenkt er alle Möglichkeit, versammelt die Bilder aller Frauen, die hier am Schlosse leben, vor seinem Blick; jede seltsame Stunde ruft er zurück, jedes Gespräch mit ihnen gräbt er aus seiner Erinnerung, jedes Lächeln der fünf, sechs Frauen, die einzig in diesem Rätsel verstrickt sein könnten. Die junge Gräfin E., die oft so heftig ihren alternden Mann anfuhr, vielleicht, oder die junge Frau seines Onkels, die so seltsam sanfte und doch irisierende Augen hatte, oder – er erschrak bei dem Gedanken – eine der drei Schwestern, seine Cousinen, die einander so ähnlich sind in ihrer hohen, stolzen, schroffen Art? Nein – aber die waren doch alle kühle, bedächtige Menschen. Wie ein Verstoßener, Kranker hatte er sich in den letzten Jahren oftmals gedünkt, seit geheime Gluten in ihm wühlten und flackernd in seine Träume fielen, wie hatte er alle die beneidet, die so ruhig, so schwindelfrei und begierdelos waren oder schienen, hatte sich geängstigt vor seiner erwachenden Leidenschaft, wie vor einem Gebrest. Und nun ...? Aber wer, wer unter allen diesen wußte so zu täuschen?
Langsam löst die beharrliche Frage den Rausch aus seinem Blut. Es ist spät geworden, die Lichter im Spielsaal sind verlöscht, er allein wacht noch im Schloß, er – und vielleicht noch jene Andere, Unbekannte. Leise drängt ihn die Müdigkeit. Wozu noch sinnen? Ein Blick, ein Funkeln zwischen den Lidern, ein heimlicher Händedruck muß ihm ja morgen alles verraten. Träumerisch steigt er die Treppe hinauf, träumerisch wie er sie hinabgestiegen, aber doch so unendlich anders. Sein Blut ist noch leise erregt, und das erwärmte Zimmer scheint ihm jetzt klarer und kühler zu sein.
Wie er aufwacht am nächsten Morgen, stampfen und scharren schon unten die Pferde, er hört Stimmen lachen und seinen Namen dazwischen. Rasch springt er auf – das Frühstück ist versäumt – zieht sich fieberschnell an und stürmt hinab, wo ihn die andern schon fröhlich empfangen. »Langschläfer«, lacht ihm die Gräfin E. entgegen, und das Lachen blinkt aus hellen Augen. Ein gieriger Blick faßt ihr Gesicht; nein, nein, sie konnte es nicht sein, ihr Lachen ist zu unbekümmert. »Süß geträumt«, spottet die junge Frau, aber zu schmächtig scheint ihm ihr zarter Körper. Rasch flattert seine Frage von Gesicht zu Gesicht, aber auf keinem wartet ein lächelnder Widerschein.
Und sie reiten hinein ins Land. Er horcht auf jede Stimme, horcht mit den Blicken auf jede Linie, jede Welle der im Ritt bewegten Frauenkörper; jedes Biegen belauscht er und wie sie die Arme heben. Er beugt sich mittags bei Tische im Gespräch nahe heran, um jeden Duft der Lippen zu spüren oder die Schwüle des Haares, aber nichts, nichts gibt ihm ein Zeichen, eine flüchtige Spur, auf der seine erhitzten Gedanken nachstürmen könnten. Der Tag dehnt sich unendlich dem Abend zu. Nun er in einem Buche lesen will, rinnen die Zeilen über den Rand hinaus und führen plötzlich in den Garten, und es ist wieder Nacht, die sonderbare Nacht, und er fühlt sich wieder umkettet von den Armen der Unbekannten. Da läßt er das Buch aus den zitternden Händen und will zum Teich hinüber. Und steht plötzlich, selbst erschrocken, auf dem Kieswege an der gleichen Stelle. Abends fiebert er beim Essen, seine Hände sind irr, tasten rastlos hin und her, wie verfolgt, seine Augen kriechen scheu unter die Lider. Erst wie die andern ihre Stühle endlich, oh, endlich wegrücken, ist er beglückt, und schon flieht er zum Zimmer hinaus in den Park hinein, auf und nieder den weißen Weg, der wie ein milchiger Nebel unter seinen Füßen zu flimmern scheint, auf und nieder und wieder auf und nieder, hunderte-, tausendmal. Brennen die Lichter schon im Saal? Ja, endlich sind sie aufgeflammt, und endlich glänzen auch vom ersten Stock ein paar blinde Fenster. Die Damen haben sich zurückgezogen. Jetzt kann es nur mehr Minuten dauern, wenn sie kommen will, aber jetzt schwillt jede Minute bis zum Bersten mit roter Ungeduld. Und wieder auf und nieder, er zuckt nur so hin und her wie von geheimen Schnüren gerissen.
Und da plötzlich huscht die weiße Gestalt die Treppe hinab, rasch, viel zu rasch, als daß er sie erkennen könnte. Ein Mondstreif scheint sie oder ein verlorener, wehender Schleier zwischen den Bäumen, vom schnellen Wind hergejagt und jetzt, jetzt in seine Arme, die sich um diesen wilden, vom hastigen Laufe erhitzt pochenden Leib gierig schließen wie eine Kralle. Wie gestern ist es wieder ein einziger Augenblick, da diese warme Welle unvermutet an seine Brust schlägt, daß er ohnmächtig zu werden glaubt von ihrem süßen Schlag und nur hinströmen will, verfluten in eine finstere Lust. Aber dann erlischt jäh der Rausch, und er hält seine Glut zurück. Nein, sich nicht verlieren in diese wunderbare Wollust, nicht sich hingeben an diese saugenden Lippen, ehe zu wissen, welchen Namen dieser Körper trägt, der sich so eng an ihn drängt, daß ihm ist, als poche dieses fremde laute Herz in seiner eigenen Brust! Er beugt den Kopf vor ihrem Kusse zurück, um das Gesicht zu sehn: aber Schatten fallen herab und mischen sich im unsicheren Lichte mit dem dunklen Haar. Zu dicht ist das Baumgewirr und zu matt das Licht des wolkenumschleierten Mondes. Nur die Augen sieht er glimmernd leuchten, glühende Steine, irgendwo tief in den mattglänzenden Marmor eingesprengt.
Da will er ein Wort hören, nur einen losgerissenen Splitter ihrer Stimme. »Wer bist du, sag mir, wer bist du?« verlangt er. Aber dieser weiche, feuchte Mund hat nur Küsse, keine Worte. Da will er ein Wort erpressen, einen Schrei des Schmerzes, er zerdrückt den Arm, bohrt seine Nägel tief in das Fleisch, aber bloß Keuchen fühlt er aus einer angespannten Brust, erhitzten Atem und die Schwüle der hartnäckig stummen Lippen, die nur manchmal leise stöhnen, er weiß nicht, ob in Schmerz oder Wollust. Und das macht ihn wahnsinnig, daß er keine Kraft hat über diesen trotzigen Willen, daß diese Frau aus dem Dunkel ihn nimmt, ohne sich ihm zu verraten, daß er unbegrenzte Macht hat über ihren begehrenden Körper und nicht Herr ist ihres Namens. Ein Zorn bricht in ihm auf, und er wehrt ihrer Umschlingung; sie aber, die Ermattung seines Armes fühlend und gewahr seiner Unruhe, umschmeichelt begütigend und lockend mit der erregten Hand sein Haar. Und da spürt er, wie die Finger hinstreifen, leise klingend etwas an seiner Stirne, Metall, ein Medaillon, eine Münze, die lose von ihrem Armbande pendelt. Da faßt ihn jäh ein Gedanke. Wie in wildester Leidenschaft preßt er ihre Hand an sich und drückt dabei die Münze tief in seinen halbentblößten Arm, bis sich die Fläche in seine Haut eingräbt. Ein Zeichen ist ihm jetzt gewiß, und nun, da es an seinem Körper brennt, da gibt er sich willig hin an die verhaltene Leidenschaft. Nun preßt er sich tief in ihren Körper, saugt die Wollust von ihren Lippen, hinstürzend in diese geheimnisvoll lüsterne Glut einer wortlosen Umkettung.
Und als sie dann, ganz wie gestern, plötzlich aufspringt und flüchtet, da sucht er sie nicht zu halten, denn die Neugier nach dem Zeichen fiebert in seinem Blut. Er stürmt in sein Zimmer, läßt die mattschwelende Lampe grell aufflammen und beugt sich gierig über das Mal, das die Münze in seinen Arm eingegraben hat.
Es ist nicht mehr ganz deutlich, die volle Rundung ist verlöscht, aber die eine Ecke ist noch scharf und rot eingepreßt, unverkennbar genau. An den Ecken kantig abgeschliffen, achteckig muß die Münze sein und mittelgroß, wie ein Penny etwa, nur plastischer, denn hier ist die Grube noch tief, die der Erhöhung entspricht. Wie Feuer brennt das Mal, da er es so gierig betrachtet, wie eine Wunde tut es ihm plötzlich weh, und erst jetzt, da er die Hand in das kalte Wasser taucht, schwindet das schmerzhafte Brennen. Achteckig ist das Medaillon: jetzt fühlt er sich ganz sicher. Triumph funkelt in seinem Blick. Morgen wird er alles wissen.
Am nächsten Morgen ist er einer der ersten am Frühstückstisch. Von Damen sind nur ein ältliches Fräulein, seine Schwester und die Gräfin E. zur Stelle. Alle sind sie aufgeräumt, ihr Gespräch springt achtlos an ihm vorbei. Um so besser kann er beobachten. Rasch gleitet sein Blick um die schmale Handfessel der Gräfin: sie trägt kein Armband. Nun erst kann er ruhig mit ihr sprechen, aber nervös tastet sein Auge immer zur Türe hin. Die drei Schwestern, seine Cousinen, treten jetzt zusammen ein. Die Unruhe rührt ihn wieder an. Undeutlich unter den Ärmel verschoben, sieht er ihren Armschmuck, aber zu rasch nehmen sie Platz, gerade ihm gegenüber Kitty, die kastanienbraune, Margot, die blonde, und Elisabeth, deren Haar so hell ist, daß es im Dunkel wie Silber leuchtet und in der Sonne golden fließt. Alle drei sind sie wie immer kühl, still und abwehrend, erstarrt in die Würde, die er an ihnen so haßt, weil sie doch nicht viel älter sind als er und doch vor Jahren noch seine Spielkameraden waren. Die junge Frau seines Onkels fehlt noch. Immer unruhiger wird das Herz des Knaben, da er die Entscheidung so nahe fühlt, und mit einemmal ist ihm die rätselhafte Qual des Geheimnisses fast lieb. Aber sein Blick ist neugierig, huschend streift er an der Tischkante herum, über deren weißem Geleucht die Hände der Frauen ruhig liegen oder langsam wandeln wie Schiffe in einer blinkenden Bucht. Er sieht nur die Hände, und sie scheinen ihm plötzlich wie eigene Wesen, wie Gestalten auf einer Bühne, jede ein Leben und eine Seele. Warum klopft das Blut so an seine Schläfe? Alle drei Cousinen, sieht er erschreckt, tragen Armreifen, und die Gewißheit, daß es eine von diesen hochmütigen, äußerlich so tadellosen Frauen sein könnte, die er nur immer, selbst in Kindertagen, trotzig in sich gewandt gekannt hatte, verwirrt ihn. Welche sollte es sein? Kitty, die er am wenigsten kennt, weil sie die Älteste ist, die schroffe Margot oder die kleine Elisabeth? Er wagt sich gar keine von ihnen zu wünschen. Im geheimsten verlangt er, keine möge es sein oder er möchte es nicht wissen. Aber jetzt reißt ihn das Verlangen schon hin.
»Darf ich noch um eine Tasse Tee bitten, Kitty?« Seine Stimme klingt, als hätte er Sand in der Kehle. Er reicht die Tasse, nun muß sie den Arm heben, über den Tisch strecken, bis zu ihm her. Jetzt – er sieht ein Medaillon vom Armreif niederzittern, eine Sekunde starrt seine Hand, aber nein, es ist ein grüner Stein, rund gefaßt, der leise an das Porzellan anklingt. Wie ein Kuß streichelt sein Blick dankbar das braune Haar Kittys.
Einen Augenblick holt er Atem.
»Darf ich dich um ein Stück Zucker bemühen, Margot?« Eine schmale Hand drüben am Tisch wacht auf, streckt sich, krümmt sich um eine Silberdose und bringt sie her. Und da – seine Hand schlottert leise – sieht er, wo das Gelenk sich in den Ärmel verkriecht, von einem feingeflochtenen Reif eine alte Silbermünze niederpendeln, achtkantig abgeschliffen, pennygroß, ein Familienstück offenbar. Aber achtkantig, mit den scharfen Ecken, die gestern in seinem Fleisch gebrannt haben. Seine Hand wird nicht fester, zweimal tappt die Zuckerzange daneben, dann erst läßt er ein Stück Zucker in den Tee fallen, den er zu trinken vergißt.
Margot! Auf den Lippen fiebert der Name, ein Aufschrei der ungeheuerlichsten Überraschung; aber er beißt die Zähne zusammen. Da hört er sie jetzt sprechen – und so fremd scheint ihm ihre Stimme, als redete jemand von einer Tribüne herab – kühl, besonnen, leise witzelnd und so ruhigen Atems, daß ihm fast graut vor der furchtbaren Lüge ihres Lebens. Ist das wirklich dieselbe Frau, deren Keuchen er gestern niedergepreßt, deren feuchte Lippen er getrunken, die sich nachts wie ein Raubtier auf ihn gestürzt? Immer starrt er wieder auf die Lippen. Ja, der Trotz, das Verschlossensein, der konnte nur auf diesen scharfen Lippen sich bergen, aber was verriet ihm die Glut?
Tiefer steht er in ihr Gesicht, als sähe er es zum erstenmal. Und zum erstenmal fühlt er, jubelnd, schauernd beglückt und fast einem Weinen nah, wie schön sie war in diesem Stolz, wie lockend in ihrem Geheimnis. Wollüstig zeichnet sein Blick die runde, in einem scharfen Winkel dann plötzlich aufklimmende Linie ihrer Augenbrauen nach, gräbt sich tief in den kühlen Karneol ihrer graugrünen Augen, küßt die blasse, leise durchleuchtende Haut ihrer Wangen, wölbt die jetzt scharfgespannten Lippen weicher zum Kuß, irrt um das helle Haar und faßt in raschem Niederstieg jetzt wollüstig die ganze Gestalt. Nie bis zu dieser Sekunde hat er sie gekannt. Nun er von Tisch aufsteht, zittern seine Knie. Er ist von ihrem Anblick trunken wie von schwerem Wein.
Da ruft schon unten seine Schwester. Die Pferde stehen bereit zum Morgenritt, tänzeln nervös und kauen ungeduldig an den Trensen. Rasch steigt einer nach dem andern in den Sattel, und dann geht es in bunter Kavalkade durch die breite Gartenallee. Zuerst in langsamem Trab, dessen träger Gleichklang dem Knaben so wenig zum jagenden
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 14.09.2014
ISBN: 978-3-7368-3919-9
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