Franz Kafka
Tagebücher 1910–1923
Ich schreibe das ganz bestimmt aus Verzweiflung über meinen Körper und über die Zukunft mit diesem Körper.
Wenn sich die Verzweiflung so bestimmt gibt, so an ihren Gegenstand gebunden ist, so zurückgehalten wie von einem Soldaten, der den Rückzug deckt und sich dafür zerreißen läßt, dann ist es nicht die richtige Verzweiflung. Die richtige Verzweiflung hat ihr Ziel gleich und immer überholt, (bei diesem Beistrich zeigt es sich, daß nur der erste Satz richtig war).
1910
Die Zuschauer erstarren, wenn der Zug vorbeifährt.
»Wenn er mich immer frägt.« Das ä, losgelöst vom Satz, flog dahin wie ein Ball auf der Wiese.
Sein Ernst bringt mich um. Den Kopf im Kragen, die Haare unbeweglich um den Schädel geordnet, die Muskeln unten an den Wangen an ihrem Platz gespannt ...
Ist der Wald noch immer da? Der Wald war noch so ziemlich da. Kaum aber war mein Blick zehn Schritte weit, ließ ich ab, wieder eingefangen vom langweiligen Gespräch.
Im dunklen Wald, im durchweichten Boden fand ich mich nur durch das Weiß seines Kragens zurecht.[1]
Ich bat im Traum die Tänzerin Eduardowa[2], sie möchte doch den Csárdás noch einmal tanzen. Sie hatte einen breiten Streifen Schatten oder Licht mitten im Gesicht zwischen dem untern Stirnrand und der Mitte des Kinns. Gerade kam jemand mit den ekelhaften Bewegungen des unbewußten Intriganten, um ihr zu sagen, der Zug fahre gleich. Durch die Art, wie sie die Meldung anhörte, wurde mir schrecklich klar, daß sie nicht mehr tanzen werde. »Ich bin ein böses schlechtes Weib, nicht wahr?« sagte sie. »O nein«, sagte ich, » das nicht«, und wandte mich in eine beliebige Richtung zum Gehn. Vorher fragte ich sie über die vielen Blumen aus, die in ihrem Gürtel steckten. »Die sind von allen Fürsten Europas«, sagte sie. Ich dachte nach, was das für einen Sinn habe, daß diese Blumen, die frisch in dem Gürtel steckten, der Tänzerin Eduardowa von allen Fürsten Europas geschenkt worden waren.
Die Tänzerin Eduardowa, eine Liebhaberin der Musik, fährt wie überall so auch in der Elektrischen in Begleitung zweier Violinisten, die sie häufig spielen läßt. Denn es besteht kein Verbot, warum in der Elektrischen nicht gespielt werden dürfte, wenn das Spiel gut, den Mitfahrenden angenehm ist und nichts kostet, das heißt, wenn nachher nicht eingesammelt wird. Es ist allerdings im Anfang ein wenig überraschend, und ein Weilchen lang findet jeder, es sei unpassend. Aber bei voller Fahrt, starkem Luftzug und stiller Gasse klingt es hübsch.
Die Tänzerin Eduardowa ist im Freien nicht so hübsch wie auf der Bühne. Die bleiche Farbe, diese Wangenknochen, welche die Haut so spannen, daß im Gesicht kaum eine stärkere Bewegung ist, die große Nase, die sich wie aus einer Vertiefung erhebt, mit der man keine Späße machen kann – wie die Härte der Spitze prüfen oder sie am Nasenrücken leicht fassen und hin und her ziehen, wobei man sagt: »Jetzt aber kommst du mit.« Die breite Gestalt mit hoher Taille in allzu faltigen Röcken – wem kann das gefallen – sie sieht einer meiner Tanten, einer ältlichen Dame, ähnlich, viele ältere Tanten vieler Leute sehn ähnlich aus. Für diese Nachteile aber findet sich bei der Eduardowa im Freien außer den ganz guten Füßen eigentlich kein Ersatz, da ist wirklich nichts, was zum Schwärmen, Staunen oder auch nur zur Achtung Anlaß gäbe. Und so habe ich auch die Eduardowa sehr oft mit einer Gleichgültigkeit behandelt gesehn, die selbst sonst sehr gewandte, sehr korrekte Herren nicht verbergen konnten, obwohl sie sich natürlich viele Mühe in dieser Richtung gaben, einer solchen bekannten Tänzerin gegenüber, wie es die Eduardowa immerhin war.
Meine Ohrmuschel fühlte sich frisch, rauh, kühl, saftig an wie ein Blatt.
Ich schreibe das ganz bestimmt aus Verzweiflung über meinen Körper und über die Zukunft mit diesem Körper.
Wenn sich die Verzweiflung so bestimmt gibt, so an ihren Gegenstand gebunden ist, so zurückgehalten wie von einem Soldaten, der den Rückzug deckt und sich dafür zerreißen läßt, dann ist es nicht die richtige Verzweiflung. Die richtige Verzweiflung hat ihr Ziel gleich und immer überholt, (bei diesem Beistrich zeigt es sich, daß nur der erste Satz richtig war).
Bist du verzweifelt?
Ja? du bist verzweifelt?
Läufst weg? Willst dich verstecken?[3]
Schriftsteller reden Gestank.
Die Weißnäherinnen in den Regengüssen.[4]
Endlich nach fünf Monaten meines Lebens, in denen ich nichts schreiben konnte, womit ich zufrieden gewesen wäre, und die mir keine Macht ersetzen wird, obwohl alle dazu verpflichtet wären, komme ich auf den Einfall, wieder einmal mich anzusprechen. Darauf antwortete ich noch immer, wenn ich mich wirklich fragte, hier war immer noch etwas aus mir herauszuschlagen, aus diesem Strohhaufen, der ich seit fünf Monaten bin und dessen Schicksal es zu sein scheint, im Sommer angezündet zu werden und zu verbrennen, rascher, als der Zuschauer mit den Augen blinzelt. Wollte das doch nur mit mir geschehn! Und zehnfach sollte mir das geschehn, denn ich bereue nicht einmal die unglückselige Zeit. Mein Zustand ist nicht Unglück, aber er ist auch nicht Glück, nicht Gleichgültigkeit, nicht Schwäche, nicht Ermüdung, nicht anderes Interesse, also was ist er denn? Daß ich das nicht weiß, hängt wohl mit meiner Unfähigkeit zu schreiben zusammen. Und diese glaube ich zu verstehn, ohne ihren Grund zu kennen. Alle Dinge nämlich, die mir einfallen, fallen mir nicht von der Wurzel aus ein, sondern erst irgendwo gegen ihre Mitte. Versuche sie dann jemand zu halten, versuche jemand ein Gras und sich an ihm zu halten, das erst in der Mitte des Stengels zu wachsen anfängt. Das können wohl einzelne, zum Beispiel japanische Gaukler, die auf einer Leiter klettern, die nicht auf dem Boden aufliegt, sondern auf den emporgehaltenen Sohlen eines halb Liegenden, und die nicht an der Wand lehnt, sondern nur in die Luft hinaufgeht. Ich kann es nicht, abgesehen davon, daß meiner Leiter nicht einmal jene Sohlen zur Verfügung stehn. Es ist das natürlich nicht alles, und eine solche Anfrage bringt mich noch nicht zum Reden. Aber jeden Tag soll zumindest eine Zeile gegen mich gerichtet werden, wie man die Fernrohre jetzt gegen den Kometen richtet. Und wenn ich dann einmal vor jenem Satze erscheinen würde, hergelockt von jenem Satze, so wie ich zum Beispiel letzte Weihnachten gewesen bin und wo ich so weit war, daß ich mich nur noch gerade fassen konnte, und wo ich wirklich auf der letzten Stufe meiner Leiter schien, die aber ruhig auf dem Boden stand und an der Wand. Aber was für ein Boden, was für eine Wand! Und doch fiel jene Leiter nicht, so drückten sie meine Füße an den Boden, so hoben sie meine Füße an die Wand.
Ich habe heute zum Beispiel drei Frechheiten gemacht, gegenüber einem Kondukteur, gegenüber einem mir Vorgestellten, so, es waren nur zwei, aber sie schmerzen mich wie Magenschmerzen. Von Seite eines jeden Menschen wären es Frechheiten gewesen, wie erst von meiner Seite. Ich ging also aus mir heraus, kämpfte in der Luft im Nebel, und das Ärgste: daß es niemand merkte, daß ich auch gegenüber meinen Begleitern die Frechheit als eine Frechheit machte, machen mußte, die richtige Miene, die Verantwortung tragen mußte; das schlimmste aber war, als einer meiner Bekannten diese Frechheit nicht einmal als Zeichen eines Charakters, sondern als den Charakter selbst nahm, mich auf meine Frechheit aufmerksam machte und sie bewunderte. Warum bleibe ich nicht in mir? Jetzt sage ich mir allerdings: schau, die Welt läßt sich von dir schlagen, der Kondukteur und der Vorgestellte bleiben ruhig, als du weggingst, der letztere grüßte sogar. Das bedeutet aber nichts. Du kannst nichts erreichen, wenn du dich verläßt, aber was versäumst du überdies in deinem Kreis. Auf diese Ansprache antworte ich nur: auch ich ließe mich lieber im Kreis prügeln, als außerhalb selbst zu prügeln, aber wo zum Teufel ist dieser Kreis? Eine Zeitlang sah ich ihn ja auf der Erde liegen, wie mit Kalk ausgespritzt, jetzt aber schwebt er mir nur so herum, ja schwebt nicht einmal.
Kometennacht 17./18. Mai. Mit Blei, seiner Frau und seinem Kind beisammengewesen, mich aus mir heraus zeitweilig gehört, wie das Winseln einer jungen Katze beiläufig, aber immerhin. Wieviel Tage sind wieder stumm vorüber; heute ist der 28. Mai. Habe ich nicht einmal die Entschlossenheit, diesen Federhalter, dieses Stück Holz täglich in die Hand zu nehmen. Ich glaube schon, daß ich sie nicht habe. Ich rudere, reite, schwimme, liege in der Sonne. Daher sind die Waden gut, die Schenkel nicht schlecht, der Bauch geht noch an, aber schon die Brust ist sehr schäbig und wenn mir der Kopf im Genick ...
Sonntag, den 19. Juli 1910, geschlafen, aufgewacht, geschlafen, aufgewacht, elendes Leben.
Variante
Oft überlege ich es und lasse den Gedanken ihren Lauf, ohne mich einzumischen, und immer, wie ich es auch wende, komme ich zum Schluß, daß mir in manchem meine Erziehung schrecklich geschadet hat. In dieser Erkenntnis steckt ein Vorwurf, der gegen eine Menge Leute geht. Da sind die Eltern mit den Verwandten, eine ganz bestimmte Köchin, die Lehrer, einige Schriftsteller – die Liebe, mit der sie mir geschadet haben, macht ihre Schuld noch größer, denn wie sehr hätten sie mir mit Liebe ..., einige der Familie befreundete Familien, ein Schwimmeister, Eingeborene der Sommerfrischen, einige Damen im Stadtpark, denen man es gar nicht ansehn würde, ein Friseur, eine Bettlerin, ein Steuermann, der Hausarzt und noch viele andere, und es wären noch mehr, wenn ich sie alle mit Namen bezeichnen wollte und könnte, kurz, es sind so viele, daß man achtgeben muß, damit man nicht im Haufen einen zweimal nennt. Nun könnte man meinen, schon durch diese große Anzahl verliere ein Vorwurf an Festigkeit und müsse einfach an Festigkeit verlieren, denn ein Vorwurf sei kein Feldherr, er gehe nur geradeaus und wisse sich nicht zu verteilen. Gar in diesem Falle, wenn er sich gegen vergangene Personen richtet. Die Personen mögen mit einer vergessenen Energie in der Erinnerung festgehalten werden, einen Fußboden werden sie kaum mehr unter sich haben, und selbst ihre Beine werden schon Rauch sein. Und Leuten in solchem Zustand soll man nun mit irgendeinem Nutzen Fehler vorwerfen, die sie in früheren Zeiten einmal bei der Erziehung eines Jungen gemacht haben, der ihnen jetzt so unbegreiflich ist wie sie uns. Aber man bringt sie ja nicht einmal dazu, sich an jene Zeiten zu erinnern, kein Mensch kann sie dazu zwingen, aber offenbar kann man gar nicht von Zwingen reden, sie können sich an nichts erinnern, und dringt man auf sie ein, schieben sie einen stumm beiseite, denn höchstwahrscheinlich hören sie gar nicht die Worte. Wie müde Hunde stehn sie da, weil sie alle ihre Kraft dazu verbrauchen, um in der Erinnerung aufrecht zu bleiben. Wenn man sie aber wirklich dazu brächte, zu hören und zu reden, dann würde es einem von Gegenvorwürfen nur so in den Ohren sausen, denn die Menschen nehmen die Überzeugung von der Ehrwürdigkeit der Toten ins Jenseits mit und vertreten sie von dort aus zehnfach. Und wenn diese Meinung vielleicht nicht richtig wäre und die Toten eine besonders große Ehrfurcht vor den Lebenden hätten, dann werden sie sich erst recht ihrer lebendigen Vergangenheit annehmen, die ihnen doch am nächsten steht, und wieder würden uns die Ohren sausen. Und wenn auch diese Meinung nicht richtig wäre und die Toten gerade sehr unparteiisch wären, so könnten sie es auch dann niemals billigen, daß man mit unbeweisbaren Vorwürfen sie stört. Denn solche Vorwürfe sind schon von Mensch zu Mensch unbeweisbar. Das Dasein von vergangenen Fehlern in der Erziehung ist [nicht] zu beweisen, wie erst die Urheberschaft. Und nun zeige man den Vorwurf, der sich in solcher Lage nicht in einen Seufzer verwandelte.
Das ist der Vorwurf, den ich zu erheben habe. Er hat ein gesundes Innere, die Theorie erhält ihn. Das, was an mir wirklich verdorben worden ist, aber vergesse ich vorerst oder verzeihe es und mache noch keinen Lärm damit. Dagegen kann ich jeden Augenblick beweisen, daß meine Erziehung einen anderen Menschen aus mir machen wollte als den, der ich geworden bin. Den Schaden also, den mir meine Erzieher nach ihrer Absicht hätten zufügen können, den mache ich ihnen zum Vorwurf, verlange aus ihren Händen den Menschen, der ich jetzt bin, und da sie ihn mir nicht geben können, mache ich ihnen aus Vorwurf und Lachen ein Trommelschlagen bis in die jenseitige Welt hinein. Doch dient das alles nur einem andern Zweck. Der Vorwurf darüber, daß sie mir doch ein Stück von mir verdorben haben – ein gutes schönes Stück verdorben haben – im Traum erscheint es mir manchmal wie andern die tote Braut –, dieser Vorwurf, der immer auf dem Sprung ist, ein Seufzer zu werden, er soll vor allem unbeschädigt hinüberkommen, als ein ehrlicher Vorwurf, der er auch ist. So geschieht es, der große Vorwurf, dem nichts geschehen kann, nimmt den kleinen bei der Hand, geht der große, hüpft der kleine, ist aber der kleine einmal drüben, zeichnet er sich noch aus, wir haben es immer erwartet, und bläst zur Trommel die Trompete.
Oft überlege ich es und lasse den Gedanken ihren Lauf, ohne mich einzumischen, aber immer komme ich zu dem Schluß, daß mich meine Erziehung mehr verdorben hat, als ich es verstehen kann. In meinem Äußern bin ich ein Mensch wie andere, denn meine körperliche Erziehung hielt sich ebenso an das Gewöhnliche, wie auch mein Körper gewöhnlich war, und wenn ich auch ziemlich klein und etwas dick bin, gefalle ich doch vielen, auch Mädchen. Darüber ist nichts zu sagen. Noch letzthin sagte eine etwas sehr Vernünftiges: »Ach, könnte ich Sie doch einmal nackt sehn, da müssen Sie erst hübsch und zum Küssen sein.« Wenn mir aber hier die Oberlippe, dort die Ohrmuschel, hier eine Rippe, dort ein Finger fehlte, wenn ich auf dem Kopf haarlose Flecke und Pockennarben im Gesicht hätte, es wäre noch kein genügendes Gegenstück meiner innern Unvollkommenheit. Diese Unvollkommenheit ist nicht angeboren und darum um so schmerzlicher zu tragen. Denn wie jeder habe auch ich von Geburt aus meinen Schwerpunkt in mir, den auch die närrischste Erziehung nicht verrücken konnte. Diesen guten Schwerpunkt habe ich noch, aber gewissermaßen nicht mehr den zugehörigen Körper. Und ein Schwerpunkt, der nichts zu arbeiten hat, wird zu Blei und steckt im Leib wie eine Flintenkugel. Jene Unvollkommenheit ist aber auch nicht verdient, ich habe ihr Entstehn ohne mein Verschulden erlitten. Darum kann ich in mir auch nirgends Reue finden, soviel ich sie auch suche. Denn Reue wäre für mich gut, sie weint sich ja in sich selbst aus, sie nimmt den Schmerz beiseite und erledigt jede Sache allein wie einen Ehrenhandel; wir bleiben aufrecht, indem sie uns erleichtert.
Meine Unvollkommenheit ist, wie ich sagte, nicht angeboren, nicht verdient, trotzdem ertrage ich sie besser, als andere unter großer Arbeit der Einbildung mit ausgesuchten Hilfsmitteln viel kleineres Unglück ertragen, eine abscheuliche Ehefrau zum Beispiel, ärmliche Verhältnisse, elende Berufe, und bin dabei keineswegs schwarz vor Verzweiflung im Gesicht, sondern weiß und rot.
Ich wäre es nicht, wenn meine Erziehung so weit in mich gedrungen wäre, wie sie wollte. Vielleicht war meine Jugend zu kurz dazu, dann lobe ich ihre Kürze noch jetzt in meinen Vierzigerjahren aus voller Brust. Nur dadurch war es möglich, daß mir noch Kräfte bleiben, um mir der Verluste meiner Jugend bewußt zu werden, weiter, um diese Verluste zu verschmerzen, weiter, um Vorwürfe gegen die Vergangenheit nach allen Seiten zu erheben und endlich ein Rest von Kraft für mich selbst. Aber alle diese Kräfte sind wieder nur ein Rest jener, die ich als Kind besaß und die mich mehr als andere den Verderben der Jugend ausgesetzt haben, ja ein guter Rennwagen wird vor allen von Staub und Wind verfolgt und überholt, und seine Räder fliegen über die Hindernisse, daß man fast an Liebe glauben sollte.
Was ich jetzt noch bin, wird mir am deutlichsten in der Kraft, mit der die Vorwürfe aus mir herauswollen. Es gab Zeiten, wo ich in mir nichts anderes als vor Wut getriebene Vorwürfe hatte, daß ich bei körperlichem Wohlbefinden mich auf der Gasse an fremden Leuten festhielt, weil sich die Vorwürfe in mir von einer Seite auf die andere warfen, wie Wasser in einem Becken, das man rasch trägt.
Jene Zeiten sind vorüber. Die Vorwürfe liegen in mir herum wie fremde Werkzeuge, die zu fassen zu zu heben ich kaum den Mut mehr habe. Dabei scheint die Verderbnis meiner alten Erziehung mehr und mehr in mir von neuem zu wirken, die Sucht, sich zu erinnern, vielleicht eine allgemeine Eigenschaft der Junggesellen meines Alters, öffnet wieder mein Herz jenen Menschen, welche meine Vorwürfe schlagen sollten, und ein Ereignis wie das gestrige, früher so häufig wie das Essen, ist jetzt so selten, daß ich es notiere.
Aber darüber hinaus noch bin ich selbst, ich, der jetzt die Feder weggelegt hat, um das Fenster zu öffnen, vielleicht die beste Hilfskraft meiner Angreifer. Ich unterschätze mich nämlich, und das bedeutet schon ein Überschätzen der andern, aber ich überschätze sie noch außerdem. Und abgesehen davon, schade ich mir noch geradeaus. Überkommt mich Lust zu Vorwürfen, schaue ich aus dem Fenster. Wer leugnet es, daß dort in ihren Booten die Angler sitzen, wie Schüler, die man aus der Schule auf den Fluß getragen hat; gut, ihr Stillehalten ist oft unverständlich, wie jenes der Fliegen auf den Fensterscheiben. Und über die Brücke fahren die Elektrischen, natürlich wie immer mit vergröbertem Windesrauschen und läuten wie verdorbene Uhren, kein Zweifel, daß der Polizeimann, schwarz von unten bis hinauf, mit dem gelben Licht der Medaille auf der Brust, an nichts anderes als an die Hölle erinnert und nun mit Gedanken, ähnlich den meinen, einen Angler betrachtet, der sich plötzlich – weint er, hat er eine Erscheinung oder zuckt der Kork? – zum Bootsrand bückt. Das alles ist richtig, aber zu seiner Zeit, jetzt sind nur die Vorwürfe richtig.
Sie gehn gegen eine Menge Leute, das kann ja erschrecken, und nicht nur ich aus dem offenen Fenster, auch jeder andere würde lieber den Fluß ansehn. Da sind die Eltern und die Verwandten. Daß sie mir aus Liebe geschadet haben, macht ihre Schuld noch größer, denn wie sehr hätten sie mir aus Liebe nützen können; dann befreundete Familien mit bösem Blick, aus Schuldbewußtsein machen sie sich schwer und wollen nicht in die Erinnerung hinauf; dann die Haufen der Kindermädchen, der Lehrer und der Schriftsteller und eine ganz bestimmte Köchin mitten unter ihnen, dann, zur Strafe ineinander übergehend, ein Hausarzt, ein Friseur, ein Steuermann, eine Bettlerin, ein Papierverkäufer, ein Parkwächter, ein Schwimmeister, dann fremde Damen aus dem Stadtpark, denen man es gar nicht ansehn würde, Eingeborene der Sommerfrischen als Verhöhnung der unschuldigen Natur und viele andere; aber es wären noch mehr, wenn ich sie alle mit Namen nennen wollte und könnte, kurz, es sind so viele, daß man achtgeben muß, daß man sie nicht zweimal nennt.
Ich überlege es oft und lasse den Gedanken ihren Lauf, ohne mich einzumischen, aber immer komme ich zu dem gleichen Schluß, daß die Erziehung mich mehr verdorben hat als alle Leute, die ich kenne, und mehr als ich begreife. Doch kann ich das nur einmal von Zeit zu Zeit aussprechen, dann fragt man mich danach: »Wirklich? Ist das möglich? Soll man das glauben?« schon suche ich es aus nervösem Schrecken einzuschränken.
Außen schaue ich wie jeder andere aus; habe Beine, Rumpf und Kopf, Hosen, Rock und Hut; man hat mich ordentlich turnen lassen, und wenn ich dennoch ziemlich klein und schwach geblieben bin, so war das eben nicht zu vermeiden. Im übrigen gefalle ich vielen, selbst jungen Mädchen, und denen ich nicht gefalle, die finden mich doch erträglich.
Wenn ich es bedenke, so muß ich sagen, daß mir meine Erziehung in mancher Richtung sehr geschadet hat. Ich bin ja nicht irgendwo abseits, vielleicht in einer Ruine in den Bergen, erzogen worden, dagegen könnte ich ja kein Wort des Vorwurfes herausbringen. Auf die Gefahr hin, daß die ganze Reihe meiner vergangenen Lehrer dies nicht begreifen kann, gerne und am liebsten wäre ich jener kleine Ruinenbewohner gewesen, abgebrannt, von der Sonne, die da zwischen den Trümmern von allen Seiten auf den lauen Efeu mir geschienen hätte, wenn ich auch im Anfang schwach gewesen wäre unter dem Druck meiner guten Eigenschaften, die mit der Macht des Unkrauts in mir emporgewachsen wären.
Wenn ich es bedenke, so muß ich sagen, daß mir meine Erziehung in mancher Richtung sehr geschadet hat. Dieser Vorwurf trifft eine Menge Leute, nämlich meine Eltern, einige Verwandte, einzelne Besucher unseres Hauses, verschiedene Schriftsteller, eine ganz bestimmte Köchin, die mich ein Jahr lang zur Schule führte, einen Haufen Lehrer (die ich in meiner Erinnerung eng zusammendrücken muß, sonst entfällt mir hie und da einer, da ich sie aber so zusammengedrängt habe, bröckelt wieder das Ganze stellenweise ab), einen Schulinspektor, langsam gehende Passanten, kurz, dieser Vorwurf windet sich wie ein Dolch durch die Gesellschaft und keiner, ich wiederhole, leider keiner ist dessen sicher, daß die Dolchspitze nicht einmal plötzlich vorn, hinten oder seitwärts erscheint. Auf diesen Vorwurf will ich keine Widerrede hören, da ich schon zu viele gehört habe und da ich in den meisten Widerreden auch widerlegt worden bin, beziehe ich diese Widerreden mit in meinen Vorwurf und erkläre nun, meine Erziehung und diese Widerlegung haben mir in mancherlei Richtung sehr geschadet.
Oft überlege ich es, und immer muß ich dann sagen, daß mir meine Erziehung in manchem sehr geschadet hat. Dieser Vorwurf geht gegen eine Menge Leute, allerdings sie stehn hier beisammen, wissen wie auf alten Gruppenbildern nichts miteinander anzufangen, die Augen niederzuschlagen fällt ihnen gerade nicht ein und zu lächeln wagen sie vor Erwartung nicht. Es sind da meine Eltern, einige Verwandte, einige Lehrer, eine ganz bestimmte Köchin, einige Mädchen aus Tanzstunden, einige Besucher unseres Hauses aus früherer Zeit, einige Schriftsteller, ein Schwimmeister, ein Billeteur, ein Schulinspektor, dann einige, denen ich nur einmal auf der Gasse begegnet bin, und andere, an die ich mich gerade nicht erinnern kann, und solche, an die ich mich niemals mehr erinnern werde, und solche endlich, deren Unterricht ich, irgendwie damals abgelenkt, überhaupt nicht bemerkt habe, kurz, es sind so viele, daß man achtgeben muß, einen nicht zweimal zu nennen. Und ihnen allen gegenüber spreche ich meinen Vorwurf aus, mache sie auf diese Weise miteinander bekannt, dulde aber keine Widerrede. Denn ich habe wahrhaftig schon genug Widerreden ertragen, und da ich in den meisten widerlegt worden bin, kann ich nicht anders, als auch diese Widerlegungen in meinen Vorwurf mit einzubeziehen und zu sagen, daß mir außer meiner Erziehung auch diese Widerlegungen in manchem sehr geschadet haben.
Erwartet man vielleicht, daß ich irgendwo abseits erzogen worden bin? Nein, mitten in der Stadt bin ich erzogen worden, mitten in der Stadt. Nicht zum Beispiel in einer Ruine in den Bergen oder am See. Meine Eltern und ihr Gefolge waren bis jetzt von meinem Vorwurf bedeckt und grau, nun schieben sie ihn leicht beiseite und lächeln, weil ich meine Hände von ihnen weg an meine Stirn gezogen habe und denke: Ich hätte der kleine Ruinenbewohner sein sollen, horchend ins Geschrei der Dohlen, von ihren Schatten überflogen, auskühlend unter dem Mond, wenn ich auch am Anfang ein wenig schwach gewesen wäre unter dem Druck meiner guten Eigenschaften, die mit der Macht des Unkrauts in mir hätten wachsen müssen, abgebrannt von der Sonne, die zwischen den Trümmern hindurch auf mein Efeulager von allen Seiten mir geschienen hätte.
Es wird berichtet, und wir sind aufgelegt es zu glauben, daß Männer in Gefahr selbst schöne fremde Frauen für nichts achten; sie stoßen sie an die Mauer, stoßen sie mit Kopf und Händen, Knien und Ellbogen, wenn sie einmal durch diese Frauen an der Flucht aus dem brennenden Theater gehindert sind. Da schweigen unsere plauderhaften Frauen, ihr endloses Reden bekommt Zeitwort und Punkt, die Augenbrauen steigen aus ihrer Ruhelage auf, die Atembewegung der Schenkel und Hüften setzt aus, in den vor Angst nur lose geschlossenen Mund fährt mehr Luft als gewöhnlich und die Wangen scheinen ein wenig aufgeblasen.[5]
»Du«, sagte ich und gab ihm einen kleinen Stoß mit dem Knie (bei dem plötzlichen Reden flog mir etwas Speichel als schlechtes Vorzeichen aus dem Mund), »schlaf nicht ein!«
»Ich schlafe nicht ein«, antwortete er und schüttelte während des Augenaufschlagens den Kopf. »Wenn ich einschliefe, wie könnte ich dich dann bewachen? Und muß ich das nicht? Hast du dich nicht damals vor der Kirche deshalb an mir festgehalten? Ja, es ist schon lange her, wir wissen es, laß nur die Uhr in der Tasche.« »Es ist nämlich schon sehr spät«, sagte ich. Ich mußte ein wenig lächeln, und um es zu verdecken, schaute ich angestrengt ins Haus hinein.
»Gefällt es dir wirklich so? Du möchtest also gerne hinauf, sehr gerne? Also sag's doch, ich beiß dich doch nicht. Schau, wenn du glaubst, daß es dir oben besser gehen wird als hier unten, dann geh einfach hinauf, sofort, ohne an mich zu denken. Daß es meine Ansicht ist, also die Ansicht eines beliebigen Passanten, daß du bald wieder herunterkommen wirst, und daß es dann sehr gut sein wird, wenn hier auf irgendeine Weise jemand steht, dessen Gesicht du gar nicht anschauen wirst, der dich aber unter den Arm nimmt, in einem nahen Lokal mit Wein stärkt und dich dann in sein Zimmer fuhrt, das, so elend es ist, doch ein paar Scheiben zwischen sich Und der Nacht hat, auf diese Ansicht kannst du vorläufig pfeifen. Wahr ist es, das kann ich vor wem du willst wiederholen, hier unten geht es uns schlecht, ja es geht uns sogar hundsmiserabel, aber mir ist nun nicht mehr zu helfen, ob ich hier in der Abflußrinne liege und das Regenwasser staue oder oben unter dem Luster mit den gleichen Lippen Champagner trinke, mir macht das keinen Unterschied. Übrigens habe ich ja nicht einmal zwischen diesen zwei Dingen die Wahl, mir geschieht ja niemals etwas Derartiges, das die Leute aufpassen läßt, wie könnte es auch geschehn unter dem Aufbau der für mich nötigen Zeremonien, unter denen ich ja nur weiterkriechen kann, nicht besser als ein Ungeziefer. Du allerdings, wer weiß, was alles in dir steckt. Mut hast du, wenigstens glaubst du ihn zu haben, Versuchs doch, was wagst du denn – oft erkennt man sich schon, wenn man aufpaßt, im Gesicht des Dieners an der Tür.«
Variante
»Du«, sagte ich und gab ihm einen kleinen Stoß mit dem Knie (beim plötzlichen Reden flog mir etwas Speichel als schlechtes Vorzeichen aus dem Mund), »du schläfst ja ein.«
»Ich habe dich nicht vergessen«, sagte er und schüttelte den Kopf schon während des Augenaufschlagens.
»Ich habe es auch nicht befürchtet«, sagte ich. Sein Lächeln übersah ich und schaute auf das Pflaster. »Ich wollte dir nur sagen, daß ich jetzt auf jeden Fall hinaufgehn werde. Denn wie du weißt, bin ich oben eingeladen, es ist schon spät und die Gesellschaft wartet auf mich. Vielleicht werden einzelne Veranstaltungen aufgeschoben, bis ich komme. Ich will es nicht behaupten, aber möglich ist es immerhin. Du wirst mich jetzt fragen, ob ich nicht vielleicht überhaupt auf die Gesellschaft verzichten könnte.«
»Das werde ich nicht fragen, denn erstens brennst du ja darauf, es mir zu sagen, und zweitens kümmert es mich nicht, denn mir ist hier unten und dort oben ganz gleich. Ob ich hier unten in der Abflußrinne liege und das Regenwasser staue oder oben mit den gleichen Lippen Champagner trinke, mir macht das keinen Unterschied, nicht einmal im Geschmack, was ich übrigens leicht verschmerze, denn mir ist weder das eine noch das andere erlaubt, und deshalb ist es nicht recht, wenn ich mich mit dir vergleiche. Denn du! Wie lange bist du eigentlich in der Stadt? Wie lange du in der Stadt bist, frag ich.«
»Fünf Monate. Aber ich kenne sie auch schon genau. Du, ich habe mir keine Ruhe gegeben. Wenn ich so zurückschaue, weiß ich gar nicht, ob Nächte vorgekommen sind, es kommt mir alles, kannst du es dir denken, wie ein Tag vor, und da gab es keine Tageszeiten, nicht einmal Lichtunterschiede.«
»Wenn ich nur bestimmt wüßte, daß du aufrichtig zu mir bist. Ich wäre schon längst oben. Wie könnte ich nur herausbringen, ob du aufrichtig zu mir bist? Du schaust mich jetzt an, wie wenn ich ein kleines Kind wäre, das hilft mir nichts, das macht es ja noch ärger. Aber vielleicht willst du es ärger machen. Dabei vertrage ich die Luft auf der Gasse nicht mehr, so gehöre ich schon in die Gesellschaft hinauf. Wenn ich achtgebe, kratzt es mich im Hals, da hast du es übrigens, ich huste. Und hast du denn eine Ahnung, wie es mir oben gehen wird? Der Fuß, mit dem ich den Saal betreten werde, wird schon verwandelt sein, ehe ich den andern nachziehe.«
»Du hast recht, ich bin nicht aufrichtig zu dir.«
»Ich will ja weg, will die Treppe hinauf, wenn es sein muß unter Purzelbäumen. Von der Gesellschaft verspreche ich mir alles, was mir fehlt, die Organisierung meiner Kräfte vor allem, denen eine solche Zuspitzung nicht genügt, wie sie die einzige Möglichkeit dieses Junggesellen auf der Gasse ausmacht. Dieser ist ja schon zufrieden, wenn er mit seiner, allerdings schäbigen Körperlichkeit standhält, seine paar Mahlzeiten schützt, Einflüsse anderer Menschen vermeidet, kurz, so viel behält, als in der auflösenden Welt nur möglich ist. Was er aber verliert, das sucht er mit Gewalt, sei es auch verändert, geschwächt, ja sei es auch nur scheinbar sein früheres Eigentum (und das ist es meistens), wiederzubekommen. Sein Wesen ist also ein selbstmörderisches, es hat nur Zähne für das eigene Fleisch und Fleisch nur für die eigenen Zähne. Denn ohne einen Mittelpunkt zu haben, ohne einen Beruf, eine Liebe, eine Familie, eine Rente zu haben, das heißt ohne sich im Großen gegenüber der Welt, versuchsweise natürlich nur, zu halten, ohne sie also durch einen großen Komplex an Besitztümern gewissermaßen zu verblüffen, kann man sich vor augenblicklich zerstörenden Verlusten nicht bewahren. Dieser Junggeselle mit seinen dünnen Kleidern, seiner Betkunst, seinen ausdauernden Beinen, seiner gefürchteten Mietswohnung, seinem sonstigen gestückelten, diesmal nach langer Zeit wieder hervorgerufenen Wesen, hält alles dies mit beiden Armen beisammen und muß immer zwei seiner Sachen verlieren, wenn er irgendeine geringe aufs Geratewohl fängt. Natürlich liegt hier die Wahrheit, die nirgends so rein zu zeigende Wahrheit. Denn wer wirklich als vollendeter Bürger auftritt, also auf dem Meer in einem Schiff reist, mit Schaum vor sich und mit Kielwasser hinter sich, also mit vieler Wirkung ringsherum, ganz anders als der Mann auf seinen paar Holzstückchen in den Wellen, die sich noch selbst gegenseitig stoßen und herunterdrücken – er, dieser Herr und Bürger, ist in keiner kleineren Gefahr. Denn er und sein Besitz ist nicht eins, sondern zwei, und wer die Verbindung zerschlägt, zerschlägt ihn mit. Wir und unsere Bekannten sind ja in dieser Hinsicht unkenntlich, weil wir ganz verdeckt sind, ich zum Beispiel bin jetzt verdeckt von meinem Beruf, von meinen eingebildeten oder wirklichen Leiden, von literarischen Neigungen usw. Aber gerade ich spüre meinen Grund viel zu oft und zu stark, als daß ich auch nur halbwegs zufrieden sein könnte. Und diesen Grund brauche ich nur eine Viertelstunde ununterbrochen zu spüren und die giftige Welt wird mir in den Mund fließen wie das Wasser in den Ertrinkenden.
Zwischen mir und dem Junggesellen ist im Augenblick kaum ein Unterschied, nur daß ich noch an meine Jugend im Dorfe denken und vielleicht, wenn ich will, vielleicht selbst dann, wenn es nur meine Lage verlangt, mich dorthin zurückwerfen kann. Der Junggeselle aber hat nichts vor sich und deshalb auch hinter sich nichts. Im Augenblick ist kein Unterschied, aber der Junggeselle hat nur den Augenblick. Zu jener Zeit, die heute niemand kennen kann, denn nichts kann so vernichtet sein wie jene Zeit, zu jener Zeit hat er es verfehlt, als er seinen Grund dauernd spürte, so wie man plötzlich an seinem Leib ein Geschwür bemerkt, das bisher das Letzte an unserem Körper war, ja nicht einmal das Letzte, denn es schien noch nicht zu existieren, und (das) jetzt mehr als alles ist, was wir seit unserer Geburt leiblich besaßen. Waren wir bisher mit unserer ganzen Person auf die Arbeit unserer Hände, auf das Gesehene unserer Augen, auf das Gehörte unserer Ohren, auf die Schritte unserer Füße gerichtet, so wenden wir uns plötzlich ganz ins Entgegengesetzte, wie eine Wetterfahne im Gebirge.
Statt nun damals wegzulaufen, sei es auch in dieser letzten Richtung, denn nur das Weglaufen konnte ihn auf den Fußspitzen und nur die Fußspitzen konnten ihn auf der Welt erhalten, statt dessen hat er sich hingelegt, wie sich im Winter hie und da Kinder in den Schnee legen, um zu erfrieren. Er und diese Kinder, sie wissen ja, daß es ihre Schuld ist, daß sie sich hingelegt oder sonstwie nachgegeben haben, sie wissen, daß sie es um keinen Preis hätten tun dürfen, aber sie können es nicht wissen, daß sie nach der Veränderung, die jetzt mit ihnen auf den Feldern oder in der Stadt geschieht, an jede frühere Schuld und jeden Zwang vergessen und daß sie sich in dem neuen Element bewegen werden, als sei es ihr erstes. Aber Vergessen ist hier kein richtiges Wort. Das Gedächtnis dieses Mannes hat ebensowenig gelitten wie seine Einbildungskraft. Aber Berge können sie eben nicht versetzen; der Mann steht nun einmal außerhalb unseres Volkes, außerhalb unserer Menschheit, immerfort ist er ausgehungert, ihm gehört nur der Augenblick, der immer fortgesetzte Augenblick der Plage, dem kein Funken eines Augenblicks der Erholung folgt, er hat immer nur eines: seine Schmerzen, aber im ganzen Umkreis der Welt kein zweites, das sich als Medizin aufspielen könnte, er hat nur so viel Boden, als seine zwei Füße brauchen, nur so viel Halt, als seine zwei Hände bedecken, also um so viel weniger als der Trapezkünstler im Variete, für den sie unten noch ein Fangnetz aufgehängt haben.
Uns andere, uns hält ja unsere Vergangenheit und Zukunft. Fast allen unseren Müßiggang und wie viel von unserem Beruf verbringen wir damit, sie im Gleichgewicht auf- und abschweben zu lassen. Was die Zukunft an Umfang voraus hat, ersetzt die Vergangenheit an Gewicht, und an ihrem Ende sind ja die beiden nicht mehr zu unterscheiden, früheste Jugend wird später hell, wie die Zukunft ist, und das Ende der Zukunft ist mit allen unsern Seufzern eigentlich schon erfahren und Vergangenheit. So schließt sich fast dieser Kreis, an dessen Rand wir entlang gehn. Nun, dieser Kreis gehört uns ja, gehört uns aber nur so lange, als wir ihn halten, rücken wir nur einmal zur Seite, in irgendeiner Selbstvergessenheit, in einer Zerstreuung, einem Schrecken, einem Erstaunen, einer Ermüdung, schon haben wir ihn in den Raum hinein verloren, wir hatten bisher unsere Nase im Strom der Zeiten stecken, jetzt treten wir zurück, gewesene Schwimmer, gegenwärtige Spaziergänger, und sind verloren. Wir sind außerhalb des Gesetzes, keiner weiß es und doch behandelt uns jeder danach.«
»An mich darfst du jetzt nicht denken. Wie willst du dich auch mit mir vergleichen? Ich bin ja schon über zwanzig Jahre hier in der Stadt. Stellst du dir auch nur richtig vor, was das ist? Zwanzigmal habe ich jede Jahreszeit hier verbracht.« – Jetzt schüttelt er die lose Faust über unseren Köpfen. – »Die Bäume hier sind zwanzig Jahre lang hinaufgewachsen, wie klein sollte man unter ihnen werden. Und diese vielen Nächte, weißt du, in allen den Wohnungen. Einmal liegt man an dieser, einmal an jener Mauer, so wandert das Fenster um einen herum. Und diese Morgen, man schaut aus dem Fenster, zieht den Sessel vom Bett und setzt sich zum Kaffee. Und diese Abende, man stützt den Arm auf und hält mit der Hand das Ohr. Ja, wenn das nur nicht alles wäre! Wenn man doch wenigstens ein paar neue Gewohnheiten annähme, wie sie hier in den Gassen jeden Tag zu sehen sind. – Jetzt kommt es dir vielleicht so vor, als ob ich mich darüber beklagen wollte? Aber nein, warum mich darüber beklagen, mir ist doch weder das eine noch das andere erlaubt. Ich habe nur meine Promenaden zu machen, und damit soll es genug sein, dafür gibt es aber noch keinen Ort in der Welt, auf dem ich nicht meine Promenaden machen könnte. Jetzt schaut es aber wieder so aus, als wäre ich eitel darauf.«
»Ich habe es also leicht. Ich müßte vor dem Haus hier nicht stehn bleiben.«
»Darin also vergleich dich mit mir nicht und laß dich nicht von mir unsicher machen. Du bist doch ein erwachsener Mensch, bist überdies, wie es scheint, in der Stadt hier ziemlich verlassen.«
Ich bin ja nahe daran. Schon schien sich mein schützendes Wesen hier in der Stadt aufzulösen, ich war schön in den ersten Tagen, denn diese Auflösung geschieht als eine Apotheose, wo alles, was uns am Leben erhält, uns entfliegt, aber noch im Entfliegen uns mit seinem menschlichen Licht zum letztenmal bestrahlt. So stehe ich vor meinem Junggesellen, und er liebt mich deshalb höchstwahrscheinlich, ohne sich aber darüber klar zu sein, warum. Gelegentlich scheinen seine Reden darauf zu deuten, daß er sich auskennt, daß er weiß, wen er vor sich hat und daß er sich deshalb alles erlauben darf. Nein, so ist es aber nicht. In dieser Weise würde er vielmehr jedem entgegentreten, denn er kann nur als Einsiedler oder als Schmarotzer leben. Er ist nur Einsiedler aus Zwang, wird dieser Zwang einmal durch ihm unbekannte Kräfte überwunden, schon ist er Schmarotzer, der sich frech anhält, wie er nur kann. Retten kann ihn allerdings nichts mehr auf der Welt, und so kann man bei seinem Benehmen an die Leiche eines Ertrunkenen denken, die, durch irgendeine Strömung an die Oberfläche getrieben, an einen müden Schwimmer stößt, die Hände an ihn legt und sich festhalten möchte. Die Leiche wird nicht lebendig, ja nicht einmal geborgen werden, aber den Mann kann sie hinunterziehn.
6. November. Conférence einer Madame Ch. über Musset. Jüdische Frauengewohnheit des Schmatzens. Verstehn des Französischen durch alle Vorbereitungen und Schwierigkeiten der Anekdote, bis knapp vor dem Schlußwort, das auf den Trümmern der ganzen Anekdote im Herzen weiterleben soll, das Französisch uns vor den Augen verlischt, vielleicht haben wir uns bis dahin zu sehr angestrengt, die Leute, welche Französisch verstehn, gehn vor dem Schluß weg, da sie schon genug gehört, die andern haben noch lange nicht genug gehört, Akustik des Saales, die das Husten in den Logen mehr begünstigt als das vorgetragene Wort; Nachtmahl bei der Rachel, sie liest Racine ›Phädra‹ mit Musset, das Buch liegt zwischen ihnen auf dem Tisch, auf dem übrigens alles mögliche liegt.
Konsul Claudel[6], Glanz in den Augen, den das breite Gesicht aufnimmt und widerstrahlt, er will sich immerfort verabschieden, es gelingt ihm auch im einzelnen, im allgemeinen aber nicht, denn wenn er einen verabschiedet, steht ein neuer da, an den sich der schon Verabschiedete wieder anreiht. Über der Vortragsbühne ist eine Galerie für das Orchester. Aller mögliche Lärm stört. Kellner aus dem Flur, Gäste in ihren Zimmern, ein Klavier, ein fernes Streichorchester, ein Hämmern endlich, eine Zänkerei, deren Lokalisierung große Schwierigkeiten macht und deshalb reizt. In einer Loge eine Dame mit Diamanten in den Ohrringen, deren Licht fast ununterbrochen wechselt. An der Kassa junge schwarzgekleidete Leute eines französischen Cercles. Einer grüßt mit einer scharfen Verbeugung, die seine Augen über den Boden hinfahren läßt. Dabei lächelt er stark. Das macht er aber nur vor Mädchen, Männern schaut er gleich darauf offen ins Gesicht, mit ernst gehaltenem Mund, womit er gleichzeitig die vorige Begrüßung als eine vielleicht lächerliche, aber jedenfalls unumgängliche Zeremonie erklärt.
7. November. Vortrag Wieglers[7] über Hebbel. Sitzt auf der Bühne in der Dekoration eines modernen Zimmers, als ob seine Geliebte durch eine Tür hereinspringen würde, um das Stück endlich zu beginnen. Nein, er trägt vor. Hunger Hebbels. Kompliziertes Verhältnis zu Elisa Lensing. Er hat in der Schule eine alte Jungfrau zur Lehrerin, die raucht, schnupft, prügelt und den Braven Rosinen schenkt. Er fährt überall hin (Heidelberg, München, Paris) ohne recht sichtbare Absicht. Ist zuerst Diener bei einem Kirchspielvogt, schläft in einem Bett mit dem Kutscher unter der Treppe.
Julius Schnorr von Carolsfeld – Zeichnung Friedrich Olivier, er zeichnet auf einem Abhang, wie schön und ernst ist er da (ein hoher Hut wie eine abgeplattete Clownmütze mit steifem, ins Gesicht gehendem, schmalem Rand, gewellt lange Haare, Augen nur für sein Bild, ruhige Hände, die Tafel auf den Knien, ein Fuß ist auf der Böschung ein wenig tiefer gerutscht). Aber nein, das ist Friedrich Olivier, von Schnorr gezeichnet.‹
15. November, zehn Uhr. Ich werde mich nicht müde werden lassen. Ich werde in meine Novelle hineinspringen und wenn es mir das Gesicht zerschneiden sollte.
16. November, zwölf Uhr. Ich lese ›Iphigenie auf Tauris‹. Darin ist wirklich, von einzelnen offen fehlerhaften Stellen abgesehen, die ausgetrocknete deutsche Sprache im Munde eines reinen Knaben förmlich anzustaunen. Jedes Wort wird von dem Vers vor dem Lesenden im Augenblick des Lesens auf die Höhe getragen, wo es in einem vielleicht magern, aber durchdringenden Lichte steht.
27. November. Bernhard Kellermann hat vorgelesen. »Einiges Ungedruckte aus meiner Feder«, so fing er an. Scheinbar ein lieber Mensch, fast graues, stehendes Haar, mit Mühe glatt rasiert, spitze Nase, über die Backenknochen geht das Wangenfleisch oft wie eine Welle auf und ab. Er ist ein mittelmäßiger Schriftsteller mit guten Stellen (ein Mann geht auf den Korridor hinaus, hustet und sieht umher, ob niemand da ist), auch ein ehrlicher Mensch, der lesen will, was er versprochen hat, aber das Publikum ließ ihn nicht, aus Schrecken über die erste Nervenheilanstaltsgeschichte, aus Langeweile über die Art des Vorlesens gingen die Leute trotz schlechter Spannungen der Geschichte immerfort einzeln weg mit einem Eifer, als ob nebenan vorgelesen werde. Als er nach dem ersten Drittel der Geschichte ein wenig Mineralwasser trank, ging eine ganze Menge Leute weg. Er erschrak. »Es ist gleich fertig«, log er einfach. Als er fertig wurde, stand alles auf, es gab etwas Beifall, der so klang, als wäre mitten unter allen den stehenden Menschen einer sitzen geblieben und klatschte für sich. Nun wollte aber Kellermann noch weiterlesen, eine andere Geschichte, vielleicht noch mehrere. Gegen den Aufbruch öffnete er nur den Mund. Endlich, nachdem er beraten worden war, sagte er: »Ich möchte noch gerne ein kleines Märchen vorlesen, das nur fünfzehn Minuten dauert. Ich mache fünf Minuten Pause.« Einige blieben noch, worauf er ein Märchen vorlas, das Stellen hatte, die jeden berechtigt hätten, von der äußersten Stelle des Saales mitten durch und über alle Zuhörer hinauszurennen.
15. Dezember. Meinen Folgerungen aus meinem gegenwärtigen, nun schon fast ein Jahr dauernden Zustand glaube ich einfach nicht, dazu ist mein Zustand zu ernst. Ich weiß ja nicht einmal, ob ich sagen kann, daß es kein neuer Zustand ist. Meine eigentliche Meinung allerdings ist: dieser Zustand ist neu, ähnliche hatte ich, einen solchen aber noch nicht. Ich bin ja wie aus Stein, wie mein eigenes Grabdenkmal bin ich, da ist keine Lücke für Zweifel oder für Glauben, für Liebe oder Widerwillen, für Mut oder Angst im besonderen oder allgemeinen, nur eine vage Hoffnung lebt, aber nicht besser als die Inschriften auf den Grabdenkmälern. Kein Wort fast, das ich schreibe, paßt zum andern, ich höre, wie sich die Konsonanten blechern aneinanderreihen, und die Vokale singen dazu wie Ausstellungsneger. Meine Zweifel stehn um jedes Wort im Kreis herum, ich sehe sie früher als das Wort, aber was denn! ich sehe das Wort überhaupt nicht, das erfinde ich. Das wäre ja noch das größte Unglück nicht, nur müßte ich dann Worte erfinden können, welche imstande sind, den Leichengeruch in einer Richtung zu blasen, daß er mir und dem Leser nicht gleich ins Gesicht kommt. Wenn ich mich zum Schreibtisch setze, ist mir nicht wohler als einem, der mitten im Verkehr der Place de l'Opéra fällt und beide Beine bricht. Alle Wagen streben trotz ihres Lärmens schweigend von allen Seiten nach allen Seiten, aber bessere Ordnung als die Schutzleute macht der Schmerz jenes Mannes, der ihm die Augen schließt und den Platz und die Gassen verödet, ohne daß die Wagen umkehren müßten. Das viele Leben schmerzt ihn, denn er ist ja ein Verkehrshindernis, aber die Leere ist nicht weniger arg, denn sie macht seinen eigentlichen Schmerz los.
16. Dezember. Ich werde das Tagebuch nicht mehr verlassen. Hier muß ich mich festhalten, denn nur hier kann ich es. Gerne möchte ich das Glücksgefühl erklären, das ich von Zeit zu Zeit wie eben jetzt in mir habe. Es ist wirklich etwas Moussierendes, das mich mit leichtem, angenehmem Zucken ganz und gar erfüllt und das mir Fähigkeiten einredet, von deren Nichtvorhandensein ich mich jeden Augenblick, auch jetzt, mit aller Sicherheit überzeugen kann.
Hebbel lobt Justinus Kerners ›Reiseschatten‹. »Und solch ein Werk existiert kaum, niemand kennt es.«
›Die Straße der Verlassenheit‹ von W. Fred. Wie werden solche Bücher geschrieben? Ein Mann, der im Kleinen Tüchtiges fertigbringt, dehnt hier sein Talent in einer so erbärmlichen Weise ins Große eines Romans aus, daß einem übel wird, selbst wenn man nicht vergißt, die Energie in der Mißhandlung des eigenen Talents zu bewundern.
Dieses Verfolgen nebensächlicher Personen, von denen ich in Romanen, Theaterstücken usw. lese. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl, das ich da habe! In den ›Jungfern vom Bischofsberg‹[8] (heißt es so?) wird von zwei Näherinnen gesprochen, die das Weißzeug für die eine Braut im Stücke machen. Wie geht es diesen zwei Mädchen? Wo wohnen sie? Was haben sie angestellt, daß sie nicht mit ins Stück dürfen, sondern förmlich draußen vor der Arche Noah unter den Regengüssen ertrinkend zum letztenmal nur ihr Gesicht an ein Kajütenfenster drücken dürfen, damit der Parterrebesucher für einen Augenblick etwas Dunkles dort sieht?
17. Dezember. Zeno sagte auf eine dringliche Frage hin, ob denn nichts ruhe: Ja, der fliegende Pfeil ruht.
Wenn die Franzosen ihrem Wesen nach Deutsche wären, wie würden sie dann erst von den Deutschen bewundert sein.
Daß ich so viel weggelegt und weggestrichen habe, ja fast alles, was ich in diesem Jahre überhaupt geschrieben habe, das hindert mich jedenfalls auch sehr am Schreiben. Es ist ja ein Berg, es ist fünfmal so viel, als ich überhaupt je geschrieben habe, und schon durch seine Masse zieht es alles, was ich schreibe, mir unter der Feder weg zu sich hin.
18. Dezember. Wenn es nicht zweifellos wäre, daß der Grund dessen, daß ich Briefe (selbst solche voraussichtlich unbedeutenden Inhalts, wie eben jetzt einen) eine Zeitlang uneröffnet liegen lasse, nur Schwäche und Feigheit ist, die mit dem Aufmachen eines Briefes ebenso zögert, wie sie zögern würde, die Tür eines Zimmers zu öffnen, in dem ein Mensch vielleicht schon ungeduldig auf mich wartet, dann könnte man dieses Liegenlassen der Briefe noch viel besser mit Gründlichkeit erklären. Angenommen nämlich, ich sei ein gründlicher Mensch, so muß ich versuchen, alles möglichst auszudehnen, was den Brief betrifft, also ihn schon langsam öffnen, langsam und vielmals lesen, lange überlegen, mit vielen Konzepten die Reinschrift vorbereiten und schließlich noch mit dem Wegschicken zögern. Das alles liegt in meiner Macht, nur eben das plötzliche Bekommen des Briefes läßt sich nicht vermeiden. Nun, ich verlangsame auch das auf künstliche Weise, ich öffne ihn lange nicht, er liegt auf dem Tisch vor mir, immerfort bietet er sich mir an, immerfort bekomme ich ihn, nehme ihn aber nicht.
Abend, halb zwölf Uhr. Daß ich, solange ich von meinem Bureau nicht befreit bin, einfach verloren bin, das ist mir über alles klar, es handelt sich nur darum, solange es geht, den Kopf so hoch zu halten, daß ich nicht ertrinke. Wie schwer das sein wird, welche Kräfte es aus mir wird herausziehn müssen, zeigt sich schon daran, daß ich heute meine neue Zeiteinteilung, von acht bis elf Uhr abends beim Schreibtisch zu sein, nicht eingehalten habe, daß ich dieses sogar gegenwärtig für kein so großes Unglück halte, daß ich diese paar Zeilen nur eilig hingeschrieben habe, um ins Bett zu kommen.
19. Dezember. Im Bureau zu arbeiten angefangen. Nachmittag bei Max.
Ein wenig Goethes Tagebücher gelesen. Die Ferne hält dieses Leben schon beruhigt fest, diese Tagebücher legen Feuer dran. Die Klarheit aller Vorgänge macht sie geheimnisvoll, so wie ein Parkgitter dem Auge Ruhe gibt, bei Betrachtung weiter Rasenflächen, und uns doch in unebenbürtigen Respekt setzt.
Gerade kommt meine verheiratete Schwester zum erstenmal zu uns zu Besuch.[9]
20. Dezember. Womit entschuldige ich die gestrige Bemerkung über Goethe (die fast so unwahr ist wie das von ihr beschriebene Gefühl, denn das wirkliche ist von meiner Schwester vertrieben worden)? Mit nichts. Womit entschuldige ich, daß ich heute noch nichts geschrieben habe? Mit nichts. Zumal meine Verfassung nicht die schlechteste ist. Ich habe immerfort eine Anrufung im Ohr: »Kämest du, unsichtbares Gericht!«
Damit diese falschen Stellen, die um keinen Preis aus der Geschichte heraus wollen, mir endlich Ruhe geben, schreibe ich zwei her:
»Seine Atemzüge waren laut wie Seufzer über einen Traum, in dem das Unglück leichter zu tragen ist als in unserer Welt, so daß einfache Atemzüge schon genügendes Seufzen sind.« »Jetzt überblicke ich ihn so frei, wie man ein kleines Geduldspiel überblickt, von dem man sich sagt: Was tut es, daß ich die Kügelchen nicht in ihre Höhlungen bringen kann, alles gehört mir ja, das Glas, die Fassung, die Kügelchen und was noch da ist; die ganze Kunst kann ich einfach in die Tasche stecken.«
21. Dezember. Merkwürdigkeiten aus ›Taten des großen Alexander‹ von Michail Kusmin:
»Kind, dessen obere Hälfte tot, untere lebend, Kindesleiche mit den sich bewegenden roten Beinchen.«
»Die unreinen Könige Gog und Magog, die sich von Würmern und Fliegen nährten, vertrieb er in geborstene Felsen und versiegelte sie bis ans Ende der Welt mit dem Siegel Salomonis.«
»Steinerne Flüsse, wo an Stelle des Wassers mit Getöse Steine sich wälzten, vorbei an den Sandbächen, die drei Tage lang gegen Süden fließen und drei Tage gegen Norden.«
»Amazonen, Frauen mit ausgebrannten rechten Brüsten, kurzen Haaren, Männerschuhwerk.«
»Krokodile, die mit ihrem Harn Bäume verbrannten.«
Bei Baum[10] gewesen, so schöne Sachen gehört. Ich hinfällig wie früher und immer. Das Gefühl haben, gebunden zu sein, und gleichzeitig das andere, daß, wenn man losgebunden würde, es noch ärger wäre.
22. Dezember. Heute wage ich es nicht einmal, mir Vorwürfe zu machen. In diesen leeren Tag hineingerufen hätte das einen ekelhaften Widerhall.
24. Dezember. Jetzt habe ich meinen Schreibtisch genauer angeschaut und eingesehn, daß auf ihm nichts Gutes gemacht werden kann. Es liegt hier so vieles herum und bildet eine Unordnung ohne Gleichmäßigkeit und ohne jede Verträglichkeit der ungeordneten Dinge, die sonst jede Unordnung erträglich macht. Sei auf dem grünen Tuch eine Unordnung, wie sie will, das durfte auch im Parterre der alten Theater sein. Daß aber aus den Stehplätzen ...
[Fortsetzung am nächsten Tag]
25. Dezember. ... aus dem offenen Fach unter dem Tischaufsatz hervor Broschüren alter Zeitungen, Kataloge, Ansichtskarten, Briefe, alle zum Teil zerrissen, zum Teil geöffnet, in Form einer Freitreppe hervorkommen, dieser unwürdige Zustand verdirbt alles. Einzelne verhältnismäßig riesige Dinge des Parterres treten in möglichster Aktivität auf, als wäre es im Theater erlaubt, daß im Zuschauerraum der Kaufmann seine Geschäftsbücher ordnet, der Zimmermann hämmert, der Offizier den Säbel schwenkt, der Geistliche dem Herzen zuredet, der Gelehrte dem Verstand, der Politiker dem Bürgersinn, daß die Liebenden sich nicht zurückhalten usw. Nur auf meinem Schreibtisch steht der Rasierspiegel aufrecht, wie man ihn zum Rasieren braucht, die Kleiderbürste liegt mit ihrer Borstenfläche auf dem Tisch, das Portemonnaie liegt offen für den Fall, daß ich zahlen will, aus dem Schlüsselbund ragt ein Schlüssel fertig zur Arbeit vor und die Krawatte schlingt sich noch teilweise um den ausgezogenen Kragen. Das nächst höhere, durch die kleinen geschlossenen Seitenschubladen schon eingeengte, offene Fach des Aufsatzes ist nichts als eine Rumpelkammer, so, als würde der niedrige Balkon des Zuschauerraumes, im Grunde die sichtbarste Stelle des Theaters, für die gemeinsten Leute reserviert, für alte Lebemänner, bei denen der Schmutz allmählich von innen nach außen kommt, rohe Kerle, welche die Füße über das Balkongeländer hinunterhängen lassen. Familien mit so viel Kindern, daß man nur kurz hinschaut, ohne sie zählen zu können, richten hier den Schmutz armer Kinderstuben ein (es rinnt ja schon ins Parterre), im dunklen Hintergrund sitzen unheilbare Kranke, man sieht sie glücklicherweise nur, wenn man hineinleuchtet usw. In diesem Fach liegen alte Papiere, die ich längst weggeworfen hätte, wenn ich einen Papierkorb hätte, Bleistifte mit abgebrochenen Spitzen, eine leere Zündholzschachtel, ein Briefbeschwerer aus Karlsbad, ein Lineal mit einer Kante, deren Holprigkeit für eine Landstraße zu arg wäre, viele Kragenknöpfe, stumpfe Rasiermessereinlagen (für die ist kein Platz auf der Welt), Krawattenzwicker und noch ein schwerer eiserner Briefbeschwerer. In dem Fach darüber –
Elend, elend und doch gut gemeint. Es ist ja Mitternacht, aber das ist, da ich sehr gut ausgeschlafen bin, nur insofern Entschuldigung, als ich bei Tag überhaupt nichts geschrieben hätte. Die angezündete Glühlampe, die stille Wohnung, das Dunkel draußen, die letzten Augenblicke des Wachseins, sie geben mir das Recht, zu schreiben, und sei es auch das Elendste. Und dieses Recht benutze ich eilig. Das bin ich also.
26. Dezember. Zweieinhalb Tage war ich – allerdings nicht vollständig – allein und schon bin ich, wenn auch nicht verwandelt, so doch auf dem Wege. Das Alleinsein hat eine Kraft über mich, die nie versagt. Mein Inneres löst sich (vorläufig nur oberflächlich) und ist bereit, Tieferes hervorzulassen. Eine kleine Ordnung meines Innern fängt an, sich herzustellen, und nichts brauche ich mehr, denn Unordnung bei kleinen Fähigkeiten ist das Ärgste.
27. Dezember. Meine Kraft reicht zu keinem Satz mehr aus. Ja, wenn es sich um Worte handeln würde, wenn es genügte, ein Wort hinzusetzen und man sich wegwenden könnte im ruhigen Bewußtsein, dieses Wort ganz mit sich erfüllt zu haben.
Zum Teil habe ich den Nachmittag verschlafen, während des Wachseins lag ich auf dem Kanapee, überdachte einige Liebeserlebnisse aus meiner Jugend, hielt mich ärgerlich bei einer versäumten Gelegenheit auf (damals lag ich etwas verkühlt im Bett und meine Gouvernante las mir die ›Kreutzersonate‹ vor, wobei sie es verstand, meine Aufregung zu genießen), stellte mir das vegetarische Nachtmahl vor, war mit meiner Verdauung zufrieden und hatte Befürchtungen darüber, ob mein Augenlicht für mein ganzes Leben genügen wird.
28. Dezember. Wenn ich mich ein paar Stunden menschlich benommen habe, wie heute mit Max und später bei Baum, bin ich vor dem Schlafengehen schon hochmütig.
1911
3. Januar. »Du«, sagte ich und gab ihm hierauf einen kleinen Stoß mit dem Knie.
»Ich will mich verabschieden.« Bei dem plötzlichen Reden flog mir etwas Speichel als schlechtes Vorzeichen aus dem Mund. »Das hast du dir aber lange überlegt«, sagte er, trat von der Wand weg und streckte sich.
»Nein, das habe ich mir gar nicht überlegt.«
»Worüber hast du also nachgedacht?«
»Ich habe mich zum letzten Mal noch ein wenig für die Gesellschaft vorbereitet. Streng dich so an, wie du kannst, das wirst du nicht verstehn. Ich, ein beliebiger Mann aus der Provinz, den man jeden Augenblick mit einem von jenen austauschen kann, wie sie vor den Bahnhöfen nach bestimmten Zügen zu Hunderten beisammenstehn.«
4. Januar. ›Glaube und Heimat‹ von Schönherr.
Die nassen Finger der Galeriebesucher unter mir, die sich die Augen wischen.
6. Januar. »Du«, sagte ich, zielte und gab ihm einen kleinen Stoß mit dem Knie, »jetzt geh ich aber. Wenn du es mit ansehn willst, mach die Augen auf.«
»Also doch?« fragte er, wobei er mich aus vollständig offenen Augen mit einem geraden Blick ansah, der aber dennoch so schwach war, daß ich ihn mit einem Wehen des Armes hätte abwehren können. »Du gehst also doch? Was soll ich machen? Halten kann ich dich nicht. Und wenn ich es könnte, so will ich es nicht. Damit will ich dich nur über dein Gefühl aufklären, nach welchem du doch von mir zurückgehalten werden könntest.« Und sofort setzte er das Gesicht der niedrigen Dienstboten auf, mit dem diese innerhalb eines sonst geregelten Staates die herrschaftlichen Kinder folgsam oder ängstlich machen dürfen.
7. Januar. N.s Schwester, die in ihren Bräutigam so verliebt ist, daß sie es so einzurichten sucht, mit jedem Besucher einzeln zu reden, da man sich dem einzelnen gegenüber besser über seine Liebe aussprechen und wiederholen kann.
Wie durch Zauberei (denn weder äußere noch innere Umstände, die jetzt freundlicher sind als seit einem Jahr, hinderten mich) wurde ich während des ganzen freien Tages, es ist ein Sonntag, vom Schreiben abgehalten. – Einige neue Erkenntnisse über das Unglückswesen, das ich bin, sind mir tröstend aufgegangen.
12. Januar. Ich habe vieles in diesen Tagen über mich nicht aufgeschrieben, teils aus Faulheit (ich schlafe jetzt so viel und fest bei Tag, ich habe während des Schlafes ein größeres Gewicht), teils aber auch aus Angst, meine Selbsterkenntnis zu verraten. Diese Angst ist berechtigt, denn endgültig durch Aufschreiben fixiert dürfte eine Selbsterkenntnis nur dann werden, wenn dies in größter Vollständigkeit bis in alle nebensächlichen Konsequenzen hinein sowie mit gänzlicher Wahrhaftigkeit geschehen könnte. Denn geschieht dies nicht – und ich bin dessen jedenfalls nicht fähig –, dann ersetzt das Aufgeschriebene nach eigener Absicht und mit der Übermacht des Fixierten das bloß allgemein Gefühlte nur in der Weise, daß das richtige Gefühl schwindet, während die Wertlosigkeit des Notierten zu spät erkannt wird.
Vor ein paar Tagen Leonie Frippon, Kabaretteuse, ›Stadt Wien‹. Frisur umbundener Lockenhaufen. Schlechtes Mieder, sehr altes Kleid, aber sehr hübsch mit tragischen Bewegungen, Anstrengungen der Augenlider, Ausfällen der langen Beine, gut verstandenem Strecken der Arme den Leib entlang. Bedeutung des steifen Halses bei zweideutigen Stellen. Gesungen: Knopfsammlung im Louvre.
Schiller, von Schadow 1804 in Berlin, wo er sehr geehrt worden war, gezeichnet. Fester als bei dieser Nase kann man ein Gesicht nicht fassen. Die Nasenmittelwand ist ein wenig herabgezogen infolge der Gewohnheit, bei der Arbeit an der Nase zu zupfen. Ein freundlicher, etwas hohlwangiger Mensch, den das rasierte Gesicht wahrscheinlich greisenhaft gemacht hat.
14. Januar. Roman ›Eheleute‹ von Beradt. Viel schlechtes Jüdisches. Ein plötzliches einförmiges neckisches Auftreten des Autors, zum Beispiel alle waren lustig, aber einer war da, der war nicht lustig. Oder: da kommt ein Herr Stern (den wir bis in seine Romanknochen hinein schon kennen). Auch bei Hamsun gibt es Ähnliches, aber dort ist es so natürlich wie die Knoten im Holz, hier aber tropft es in die Handlung wie eine Modemedizin auf Zucker. – An sonderbaren Wendungen wird grundlos festgehalten, zum Beispiel: er war um ihre Haare bemüht, bemüht und wieder bemüht. – Einzelne Menschen sind, ohne in ein neues Licht gebracht zu werden, gut herausgebracht, so gut, daß selbst streckenweise Fehler nicht schaden. Nebenpersonen meist trostlos.
17. Januar. Max hat mir den ersten Akt des ›Abschieds von der Jugend‹ vorgelesen. Wie kann ich so, wie ich heute bin, diesem beikommen; ein Jahr müßte ich suchen, ehe ich ein wahres Gefühl in mir fände, und soll im Kaffeehaus spät am Abend, von verlaufenen Winden einer trotz allem schlechten Verdauung geplagt, einem so großen Werk gegenüber irgendwie berechtigt auf meinem Sessel sitzen bleiben dürfen.
19. Januar. Ich werde, da ich von Grund aus fertig zu sein scheine im letzten Jahr bin ich nicht mehr als fünf Minuten lang aufgewacht – jeden Tag entweder mich von der Erde wegwünschen müssen oder aber, ohne daß ich darin auch die mäßigste Hoffnung sehen dürfte, von vorn als kleines Kind anfangen müssen. Ich werde es hiebei äußerlich leichter haben als damals. Denn in jenen Zeiten strebte ich noch kaum mit matter Ahnung zu einer Darstellung, die von Wort zu Wort mit meinem Leben verbunden wäre, die ich an meine Brust ziehen und die mich von meinem Platz hinreißen sollte. Mit welchem Jammer (dem gegenwärtigen allerdings unvergleichbar) habe ich angefangen! Welche Kälte verfolgte mich aus dem Geschriebenen tagelang! Wie groß war die Gefahr und wie wenig unterbrochen wirkte sie, daß ich jene Kälte gar nicht fühlte, was freilich mein Unglück im ganzen nicht viel kleiner machte.
Einmal hatte ich einen Roman vor, in dem zwei Brüder gegeneinander kämpften, von denen einer nach Amerika fuhr, während der andere in einem europäischen Gefängnis blieb. Ich fing nur hie und da Zeilen zu schreiben an, denn es ermüdete mich gleich. So schrieb ich einmal auch an einem Sonntagnachmittag, als wir bei den Großeltern zu Besuch waren und ein dort immer übliches, besonders weiches Brot, mit Butter bestrichen, aufgegessen hatten, etwas über mein Gefängnis auf. Es ist schon möglich, daß ich es zum größten Teil aus Eitelkeit machte und durch Verschieben des Papiers auf dem Tischtuch, Klopfen mit dem Bleistift, Herumschauen in der Runde unter der Lampe durch, jemanden verlocken wollte, das Geschriebene mir wegzunehmen, es anzuschauen und mich zu bewundern. In den paar Zeilen war in der Hauptsache der Korridor des Gefängnisses beschrieben, vor allem seine Stille und Kälte; über den zurückbleibenden Bruder war auch ein mitleidiges Wort gesagt, weil es der gute Bruder war. Vielleicht hatte ich ein augenblickliches Gefühl für die Wertlosigkeit meiner Schilderung, nur habe ich vor jenem Nachmittag auf solche Gefühle nie viel geachtet, wenn ich unter den Verwandten, an die ich gewöhnt war (meine Ängstlichkeit war so groß, daß sie mich im Gewohnten schon halb glücklich machte), um den runden Tisch im bekannten Zimmer saß und nicht vergessen konnte, daß ich jung und aus dieser gegenwärtigen Ungestörtheit zu Großem berufen war. Ein Onkel, der gern auslachte, nahm mir endlich das Blatt, das ich nur schwach hielt, sah es kurz an, reichte es mir wieder, sogar ohne zu lachen, und sagte nur zu den andern, die ihn mit den Augen verfolgten, »das gewöhnliche Zeug«, zu mir sagte er nichts. Ich blieb zwar sitzen und beugte mich wie früher über mein also unbrauchbares Blatt, aber aus der Gesellschaft war ich tatsächlich mit einem Stoß vertrieben, das Urteil des Onkels wiederholte sich in mir mit schon fast wirklicher Bedeutung, und ich bekam selbst innerhalb des Familiengefühls einen Einblick in den kalten Raum unserer Welt, den ich mit einem Feuer erwärmen müßte, das ich erst suchen wollte.
19. Februar. Wie ich heute aus dem Bett steigen wollte, bin ich einfach zusammengeklappt. Es hat das einen sehr einfachen Grund, ich bin vollkommen überarbeitet. Nicht durch das Bureau, aber durch meine sonstige Arbeit. Das Bureau hat nur insofern einen unschuldigen Anteil daran, als ich, wenn ich nicht hinmüßte, ruhig für meine Arbeit leben könnte und nicht diese sechs Stunden täglich dort verbringen müßte, die mich besonders Freitag und Samstag, weil ich voll meiner Sachen war, gequält haben, daß Sie es sich nicht ausdenken können. Schließlich, das weiß ich ja, ist das nur Geschwätz, schuldig bin ich, und das Bureau hat gegen mich die klarsten und berechtigtesten Forderungen. Nur ist es eben für mich ein schreckliches Doppelleben, aus dem es wahrscheinlich nur den Irrsinn als Ausweg gibt. Ich schreibe das bei gutem Morgenlicht und würde es sicher nicht schreiben, wenn es nicht so wahr wäre und wenn ich Sie nicht so liebte wie ein Sohn.
Im übrigen bin ich morgen schon wieder sicher beisammen und komme ins Bureau, wo ich als erstes hören werde, daß Sie mich aus Ihrer Abteilung weghaben wollen.
19. Februar. Die besondere Art meiner Inspiration, in der ich Glücklichster und Unglücklichster jetzt um zwei Uhr nachts schlafen gehe (sie wird vielleicht, wenn ich nur den Gedanken daran ertrage, bleiben, denn sie ist höher als alle früheren), ist die, daß ich alles kann, nicht nur auf eine bestimmte Arbeit hin. Wenn ich wahllos einen Satz hinschreibe, zum Beispiel: »Er schaute aus dem Fenster«, so ist er schon vollkommen.
»Wirst du noch lange hier bleiben?« fragte ich. Bei dem plötzlichen Reden flog mir etwas Speichel als schlechtes Vorzeichen aus dem Mund.
»Stört es dich? Wenn es dich stört oder vielleicht vom Hinaufgehn abhält, gehe ich gleich, sonst aber bliebe ich noch gern, weil ich müde bin.«
Schließlich durfte er aber auch zufrieden sein und immer zufriedener werden, je genauer ich ihn erkannte. Denn er erkannte mich offenbar immerfort noch genauer und konnte mich sicher mit allen meinen Erkenntnissen in die Tasche stecken. Wie war es denn sonst zu erklären, daß ich noch auf der Gasse blieb, als wäre vor mir kein Haus, sondern Feuer. Wenn man in eine Gesellschaft geladen ist, so betritt man doch einfach das Haus, steigt die Treppe hinauf und merkt es kaum, so sehr ist man in Gedanken. Nur so handelt man richtig gegen sich und gegen die Gesellschaft.[11]
20. Februar. Mella Mars in der ›Lucerna‹. Eine witzige Tragödin, die gewissermaßen auf einer verkehrten Bühne so auftritt, wie sich Tragödinnen manchmal hinter der Szene zeigen. Beim Auftreten hat sie ein müdes, allerdings auch flaches leeres altes Gesicht, wie dies für alle bewußten Schauspieler ein natürlicher Anlauf ist. Sie spricht sehr scharf, auch ihre Bewegungen sind so, von dem durchgebogenen Daumen angefangen, der statt der Knochen harte Sehnen zu haben scheint. Besondere Wandlungsfähigkeit ihrer Nase durch die wechselnden Lichter und Vertiefungen der ringsherum spielenden Muskeln. Trotz der ewigen Blitze ihrer Bewegungen und Worte pointiert sie zart.
Kleine Städte haben auch kleine Umgebungen für den Spaziergänger.
Die jungen, reinen, gut gekleideten Jungen neben mir im Promenoir[12] erinnerten mich an meine Jugend und machten daher einen unappetitlichen Eindruck auf mich.
Kleist Jugendbriefe, zweiundzwanzig Jahre alt. Gibt den Soldatenstand auf. Zu Hause fragt man: Also welche Brotwissenschaft, denn die hielt man für selbstverständlich. Du hast die Wahl zwischen Jurisprudenz und Kameralwissenschaft. Aber hast du auch Konnexionen bei Hofe? »Ich verneinte anfänglich etwas verlegen, aber erklärte darauf um so viel stolzer, daß ich, wenn ich auch Konnexionen hätte, mich nach meinen jetzigen Begriffen schämen müßte, darauf zu rechnen. Man lächelte, ich fühlte, daß ich mich übereilt hatte. Solche Wahrheiten muß man sich hüten auszusprechen.«
21. Februar. Mein Leben hier ist so, als wäre ich eines zweiten Lebens ganz gewiß, so wie ich zum Beispiel den mißlungenen Aufenthalt in Paris im Hinblick darauf verschmerzte, daß ich danach streben werde, bald wieder hinzukommen. Hiebei der Anblick der scharf getrennten Licht- und Schattenpartien auf dem Gassenpflaster.
Einen Augenblick lang fühlte ich mich umpanzert.
Wie fern sind mir zum Beispiel die Armmuskeln.
Marc Henry-Delvard. Das durch den leeren Saal erzeugte tragische Gefühl im Zuschauer begünstigt die Wirkung ernster Lieder, schadet den lustigen. – Henry prologiert, unterdes die Delvard hinter einem Vorhang, der, was sie nicht weiß, durchscheinend ist, sich die Haare ordnet. – W., der Veranstalter, scheint bei schlecht besuchten Veranstaltungen seinen assyrischen Bart, der sonst tiefschwarz ist, graumeliert zu tragen. – Gut, sich von so einem Temperament anblasen zu lassen, das hält für vierundzwanzig Stunden, nein, nicht so lange. – Viel Kleideraufwand, bretonische Kostüme, der unterste Unterrock ist der längste, so daß man den Reichtum von der Ferne zählen kann. – Zuerst begleitet die Delvard, weil man einen Begleiter sparen wollte, in einem weiten ausgeschnittenen grünen Kleid und friert. – Pariser Straßenrufe. Zeitungsausträger sind weggeblasen. – Jemand spricht mich an; ehe ich aufatme, bin ich verabschiedet. – Delvard ist lächerlich, sie hat das Lächeln alter Jungfern, eine alte Jungfer des deutschen Kabaretts. Mit einem roten Shawl, den sie sich hinter dem Vorhang holt, macht sie Revolution. Gedichte von Dauthendey mit der gleichen zähen, nicht zu zerhackenden Stimme. Nur wie sie frauenhaft anfangs am Klavier saß, war sie lieb. Bei dem Lied »à Batignolles« spürte ich Paris im Hals. Batignolles soll rentnerhaft sein, auch seine Apachen. Bruant hat jedem Quartier sein Lied gemacht.
Die städtische Welt
Oskar M., ein älterer Student – wenn man ihn nahe ansah, erschrak man vor seinen Augen – blieb an einem Winternachmittag mitten im Schneefall auf einem leeren Platz stehn, in seinen Winterkleidern mit dem Winterrock darüber, einem Shawl um den Hals und einer Fellmütze auf dem Kopf, Er zwinkerte mit den Augen vor Nachdenken. So sehr hatte er sich in Gedanken verlassen, daß er einmal die Mütze abnahm und mit ihrem krausen Fell sich über das Gesicht strich. Endlich schien er zu einem Schluß gekommen und wendete sich mit einer Tanzdrehung zum Heimweg.
Als er die Tür des elterlichen Wohnzimmers öffnete, sah er seinen Vater, einen glattrasierten Mann mit schwerem Fleischgesicht, der Tür zugekehrt, an einem leeren Tisch sitzen. »Endlich«, sagte dieser, kaum daß Oskar den Fuß ins Zimmer gesetzt hatte, »bleib, ich bitte dich, bei der Tür, ich habe nämlich eine solche Wut auf dich, daß ich meiner nicht sicher bin.«
»Aber Vater«, sagte Oskar und merkte erst beim Reden, wie er gelaufen war.
»Ruhe«, schrie der Vater und stand auf, wodurch er ein Fenster verdeckte. »Ruhe befehle ich. Und deine ›Aber‹ laß dir, verstehst du.« Dabei nahm er den Tisch mit beiden Händen und trug ihn einen Schritt Oskar näher. »Dein Lotterleben ertrage ich einfach nicht länger. Ich bin ein alter Mann. In dir dachte ich einen Trost des Alters zu haben, indessen bist du für mich ärger als alle meine Krankheiten. Pfui über einen solchen Sohn, der durch Faulheit, Verschwendung, Bosheit und (warum soll ich es dir nicht offen sagen) Dummheit seinen alten Vater ins Grab drängt.« Hier verstummte der Vater, bewegte aber sein Gesicht, als rede er noch.
»Lieber Vater«, sagte Oskar und ging vorsichtig dem Tisch zu, »beruhige dich, alles wird gut werden. Ich habe heute einen Einfall gehabt, der mich zu einem tätigen Menschen machen wird, wie du es dir nur wünschen kannst.«
»Wie das?« fragte der Vater und sah in eine Zimmerecke.
»Vertraue mir nur, beim Abendessen werde ich dir alles erklären. In meinem Innern war ich immer ein guter Sohn, nur daß ich es auch außen nicht zeigen konnte, verbitterte mich so, daß ich dich lieber ärgerte, wenn ich dich schon nicht erfreuen konnte. Jetzt aber laß mich noch ein wenig spazierengehn, damit sich meine Gedanken klarer entwickeln.«
Der Vater, der sich zuerst, aufmerksam werdend, auf den Tischrand gesetzt hatte, stand auf. »Ich glaube nicht, daß das, was du jetzt gesagt hast, viel Sinn hat, ich halte es eher für Geschwätz. Aber schließlich bist du mein Sohn. – Komm rechtzeitig, wir werden zu Hause nachtmahlen, und du kannst deine Sache dann vortragen.«
»Dieses kleine Vertrauen genügt mir, ich bin dafür von Herzen dankbar. Aber ist es denn nicht schon an meinen Blicken zu sehn, daß ich mit einer ernsten Sache vollkommen beschäftigt bin.«
»Ich sehe vorläufig nichts«, sagte der Vater. »Aber es kann auch meine Schuld sein, denn ich bin aus der Übung gekommen, dich überhaupt anzusehn.« Dabei machte er, wie es seine Gewohnheit war, durch regelmäßiges Beklopfen der Tischplatte darauf aufmerksam, wie die Zeit verging. »Die Hauptsache aber ist, daß ich gar kein Vertrauen mehr zu dir habe, Oskar. Wenn ich dich einmal anschreie – wie du gekommen bist, habe ich dich doch angeschrien, nicht wahr? – so tue ich das nicht in der Hoffnung, es könnte dich bessern, ich tue es nur in Gedanken an deine arme gute Mutter, die jetzt vielleicht noch kein unmittelbares Leid über dich verspürt, aber schon an der Anstrengung, ein solches Leid abzuwehren, denn sie glaubt dir dadurch irgendwie zu helfen, langsam zugrunde geht. Aber schließlich sind das ja Sachen, die du sehr gut weißt, und ich hätte schon aus Rücksicht auf mich nicht wieder an sie erinnert, wenn du mich durch deine Versprechungen nicht dazu gereizt hättest.«
Während der letzten Worte trat das Dienstmädchen ein, um nach dem Feuer im Ofen zu sehn. Kaum hatte sie das Zimmer verlassen, als Oskar ausrief: »Aber Vater! Ich hätte das nicht erwartet. Wenn ich nur einen kleinen Einfall gehabt hätte, sagen wir, einen Einfall zu meiner Dissertation, die ja schon zehn Jahre in meinem Kasten liegt und Einfälle braucht wie Salz, so ist es möglich, wenn auch nicht wahrscheinlich, daß ich, wie es heute geschehen ist, vom Spaziergang nach Hause gelaufen wäre und gesagt hätte: ›Vater, ich habe glücklicherweise diesen und diesen Einfall.‹ Wenn du daraufhin mit deiner ehrwürdigen Stimme die Vorwürfe von vorhin mir ins Gesicht gesagt hättest, dann wäre mein Einfall einfach weggeblasen gewesen, und ich hätte sofort mit irgendeiner Entschuldigung oder ohne solche abmarschieren müssen. Jetzt dagegen! Alles, was du gegen mich sagst, hilft meinen Ideen, sie hören nicht auf, stark werdend füllen sie mir den Kopf. Ich werde gehn, weil ich nur im Alleinsein Ordnung in sie bringen kann.« Er schluckte an seinem Atem in dem warmen Zimmer.
»Es kann ja auch eine Lumperei sein, die du im Kopf hast«, sagte der Vater mit großen Augen, »dann glaube ich schon, daß sie dich festhält. Wenn sich aber etwas Tüchtiges in dich verirrt hat, entläuft es dir über Nacht. Ich kenne dich.«
Oskar drehte den Kopf, als halte man ihn am Halse. »Laß mich jetzt. Du bohrst überflüssigerweise in mich hinein. Die bloße Möglichkeit, daß du mein Ende richtig voraussagen kannst, sollte dich wahrhaftig nicht dazu verlocken, mich in meiner guten Überlegung zu stören. Vielleicht gibt dir meine Vergangenheit das Recht dazu, aber du solltest es nicht ausnützen.«
»Da siehst du am besten, wie groß deine Unsicherheit sein muß, wenn sie dich dazu zwingt, so gegen mich zu sprechen.«
»Nichts zwingt mich«, sagte Oskar und zuckte im Genick. Er trat auch ganz eng an den Tisch heran, so daß man nicht mehr wußte, wem er gehörte. »Was ich sagte, sagte ich in Ehrfurcht und sogar aus Liebe zu dir, wie du später auch sehen wirst, denn an meinen Entschlüssen hat die Rücksichtnahme auf dich und Mama den größten Anteil.«
»Da muß ich dir schon jetzt danken«, sagte der Vater, »da es ja sehr unwahrscheinlich ist, daß deine Mutter und ich im rechten Augenblick noch dessen fähig sein werden.«
»Bitte, Vater, laß doch die Zukunft noch schlafen, wie sie es verdient. Wenn man sie nämlich vorzeitig weckt, bekommt man dann eine verschlafene Gegenwart. Daß dir das aber erst dein Sohn sagen muß! Auch wollte ich dich ja noch nicht überzeugen, sondern dir nur die Neuigkeit melden. Und das wenigstens ist mir, wie du selbst zugeben mußt, gelungen.«
»Jetzt, Oskar, wundert mich eigentlich nur noch eins: warum du mit einer solchen Sache wie heute nicht schon öfters zu mir gekommen bist. Sie entspricht so deinem bisherigen Wesen. Nein, tatsächlich, es ist mein Ernst.«
»Ja, hättest du mich dann durchgehaut, statt mir zuzuhören? Ich bin hergelaufen, das weiß Gott, um dir rasch eine Freude zu machen. Verraten kann ich dir aber nichts, solange mein Plan nicht vollständig fertig ist. Warum strafst du mich also für meine gute Absicht und willst von mir Erklärungen haben, die jetzt noch der Ausführung meines Planes schaden könnten?«
»Schweig, ich will gar nichts wissen. Aber ich muß dir sehr rasch antworten, weil du dich zur Tür zurückziehst und offenbar etwas sehr Dringendes vorhast: Meine erste Wut hast du mit deinem Kunststück beruhigt, nur ist mir jetzt noch trauriger zumut als früher und deshalb bitte ich dich – wenn du darauf bestehst, kann ich auch die Hände falten –, sage wenigstens der Mutter nichts von deinen Ideen. Laß es mit mir genug sein.«
»Das ist ja nicht mein Vater, der so mit mir spricht«, rief Oskar, der den Arm schon auf die Türklinke gelegt hatte. »Es ist seit Mittag etwas mit dir vorgegangen oder du bist ein fremder Mensch, dem ich jetzt zum erstenmal im Zimmer meines Vaters begegne. Mein wirklicher Vater« – Oskar schwieg einen Augenblick mit offenem Mund –, »er hätte mich doch umarmen müssen, er hätte die Mutter hergerufen. Was hast du, Vater?«
»Du solltest lieber mit deinem wirklichen Vater nachtmahlen, mein' ich. Es würde vergnügter zugehn.«
»Er wird schon kommen. Schließlich kann er nicht ausbleiben. Und die Mutter muß dabei sein. Und Franz, den ich jetzt hole. Alle.« Darauf drängte Oskar mit der Schulter gegen die leicht aufgehende Tür, als habe er sich vorgenommen, sie einzudrücken.
In Franzens Wohnung angekommen, beugte er sich zur kleinen Hauswirtin, mit den Worten: »Der Herr Ingenieur schläft, ich weiß, das macht nichts«, und ohne sich um die Frau zu kümmern, die aus Unzufriedenheit mit dem Besuch nutzlos im Vorzimmer auf und ab ging, öffnete er die Glastür, die, als sei sie an einer empfindlichen Stelle gefaßt, in seiner Hand erzitterte, und rief, unbekümmert um das Innere des Zimmers, das er noch kaum sah: »Franz, aufstehn. Ich brauch deinen fachmännischen Rat. Aber hier im Zimmer halte ich es nicht aus, wir müssen ein bißchen spazierengehn, du mußt auch bei uns nachtmahlen. Also rasch.«
»Sehr gern«, sagte der Ingenieur von seinem Lederkanapee her, »aber was zuerst? Aufstehn, nachtmahlen, spazierengehn, Rat geben? Einiges werde ich auch überhört haben.«
»Vor allem keine Witze machen, Franz. Das ist das Wichtigste, das habe ich vergessen.«
»Den Gefallen mach' ich dir sofort. Aber das Aufstehn! – Ich würde lieber zweimal für dich nachtmahlen als einmal aufstehn.«
»Also jetzt auf! Keine Widerrede.« Oskar faßte den schwachen Menschen vorn beim Rock und setzte ihn auf.
»Du bist aber rabiat, weißt du. Alle Achtung. Hab' ich dich schon einmal so vom Kanapee gerissen?« Er wischte sich mit beiden kleinen Fingern die geschlossenen Augen aus.
»Aber Franz«, sagte Oskar mit verzogenem Gesicht, »zieh dich schon an. Ich bin doch kein Narr, daß ich dich ohne Grund geweckt hätte.«
»Ebenso habe ich auch nicht ohne Grund geschlafen. Ich habe gestern Nachtdienst gehabt, dann bin ich heute schon um meinen Mittagsschlaf gekommen, auch deinetwegen –«
»Wieso?«
»Ach was, es ärgert mich schon, wie wenig Rücksicht du auf mich nimmst. Es ist nicht das erstemal. Natürlich, du bist ein freier Student und kannst machen, was du willst. Jeder ist nicht so glücklich. Da muß man doch Rücksicht nehmen, zum Kuckuck! Ich bin zwar dein Freund, aber deshalb hat man mir noch meinen Beruf nicht abgenommen.« Er zeigte das durch Hin- und Herschütteln der flachen Hände.
»Muß ich aber nach deinem jetzigen Mundwerk nicht glauben, daß du mehr als genug ausgeschlafen bist?« sagte Oskar, der sich auf einen Bettpfosten hinaufgezogen hatte, von wo er den Ingenieur ansah, als habe er schon etwas mehr Zeit als früher.
»Also was willst du eigentlich von mir? oder besser gesagt, warum hast du mich geweckt?« fragte der Ingenieur und rieb sich stark den Hals unter seinem Ziegenbart, in dieser näheren Beziehung, die man nach dem Schlaf zu seinem Körper hat.
»Was ich von dir will«, sagte Oskar leise und gab dem Bett einen Stoß mit dem Fußabsatz. »Sehr wenig. Ich habe es dir doch schon aus dem Vorzimmer gesagt: daß du dich anziehst.«
»Wenn du damit, Oskar, andeuten willst, daß mich deine Neuigkeit sehr wenig interessiert, so hast du ganz recht.«
»Das ist ja gut, so wird das Feuer, in das sie dich setzen wird, ganz auf ihre eigene Rechnung gehn, ohne daß sich unsere Freundschaft eingemischt hätte. Die Auskunft wird auch klarer sein. Ich brauche klare Auskunft, das halte dir vor Augen. Wenn du aber vielleicht Kragen und Krawatte suchst, die liegen dort auf dem Sessel.«
»Danke«, sagte der Ingenieur und fing an, Kragen und Krawatte zu befestigen, »auf dich kann man sich halt doch verlassen.«
26. März. Theosophische Vorträge des Dr. Rudolf Steiner, Berlin. Rhetorische Wirkung: Behagliche Besprechung der Einwände der Gegner, der Zuhörer staunt über diese starke Gegnerschaft, der Zuhörer gerät in Sorge, völlige Versenkung in diese Einwände, als gäbe es sonst nichts, der Zuhörer hält jetzt eine Widerlegung überhaupt für unmöglich und ist mit einer flüchtigen Beschreibung der Verteidigungsmöglichkeit mehr als zufriedengestellt. Dieser rhetorische Effekt entspricht übrigens der Vorschrift der devotionellen Stimmung. – Dauerndes Anschauen der Fläche der vorgehaltenen Hand. – Auslassen des Schlußpunktes. Im allgemeinen fängt der gesprochene Satz mit seinem großen Anfangsbuchstaben beim Redner an, biegt sich in seinem Verlaufe, so weit er kann, zu den Zuhörern hinaus und kehrt mit dem Schlußpunkt zu dem Redner zurück. Wird aber der Punkt ausgelassen, dann weht der nicht mehr gehaltene Satz unmittelbar mit ganzem Atem den Zuhörer an.
Früher Vortrag Loos und Kraus.
Wir sind jetzt fast gewöhnt, in westeuropäischen Erzählungen, sobald sie nur einige Gruppen von Juden umfassen wollen, unter oder über der Darstellung gleich auch die Lösung der Judenfrage zu suchen und zu finden. In den ›Jüdinnen‹[13] aber wird eine solche Lösung nicht gezeigt, ja nicht einmal vermutet, denn gerade jene Personen, die sich mit solchen Fragen beschäftigen, stehen in der Erzählung weiter vom Mittelpunkt ab, dort, wo die Ereignisse sich schon rascher drehn, so daß wir sie zwar noch genau beobachten können, aber keine Gelegenheit mehr finden, um von ihnen eine ruhige Auskunft über ihre Bestrebungen zu erhalten. Kurz entschlossen erkennen wir darin einen Mangel der Erzählung und fühlen uns zu einer solchen Ausstellung um so mehr berechtigt, als heute seit dem Dasein des Zionismus die Lösungsmöglichkeiten so klar um das jüdische Problem herum angeordnet sind, daß der Schriftsteller schließlich nur einige Schritte hätte machen müssen, um die seiner Erzählung gemäße Lösungsmöglichkeit zu finden.
Dieser Mangel entspringt aber noch einem anderen. Den ›Jüdinnen‹ fehlen die nichtjüdischen Zuschauer, die angesehenen gegensätzlichen Menschen, die in andern Erzählungen das Jüdische herauslocken, daß es gegen sie vordringt in Verwunderung, Zweifel, Neid, Schrecken, und endlich, endlich in Selbstvertrauen versetzt wird, jedenfalls sich aber erst ihnen gegenüber in seiner ganzen Länge aufrichten kann. Das eben verlangen wir, eine andere Auflösung von Judenmassen erkennen wir nicht an. Auch berufen wir uns auf dieses Gefühl nicht nur in diesem Fall, es ist in einer Richtung wenigstens allgemein. So freut uns auch auf einem Fußweg in Italien das Aufzucken der Eidechsen vor unsern Schritten ungemein, immerfort möchten wir uns bücken, sehn wir sie aber bei einem Händler zu Hunderten in den großen Flaschen durcheinander kriechen, in denen man sonst Gurken einzulegen pflegt, so wissen wir uns nicht einzurichten.
Beide Mängel vereinigen sich zu einem dritten. Die ›Jüdinnen‹ können jenen vordersten Jüngling entbehren, der sonst innerhalb seiner Erzählung die besten zu sich reißt und in schöner radialer Richtung an die Grenzen des jüdischen Kreises führt. Das eben will uns nicht eingehn, daß die Erzählung diesen Jüngling entbehren kann, hier ahnen wir einen Fehler mehr, als daß wir ihn sehen.
28. März. Maler P.-Karlin, seine Frau, zwei breite große Vorderzähne oben, die das große, eher flache Gesicht zuspitzen, Frau Hofrat B., Mutter des Komponisten, der das Alter ihr starkes Knochengerüst so hervortreibt, daß sie zumindest im Sitzen wie ein Mann aussieht.
Dr. Steiner wird so sehr von seinen abwesenden Schülern in Anspruch genommen.[14] – Beim Vortrag drängen sich die Toten so sehr an ihn. Wißbegierde? Haben sie es aber eigentlich nötig? Offenbar doch. – Schläft zwei Stunden. Seitdem man ihm einmal das elektrische Licht eingestellt hat, hat er immer eine Kerze bei sich. – Er stand Christus sehr nahe. – Er führte in München sein Theaterstück auf (da kannst du es ein Jahr lang studieren und verstehst es nicht), die Kleider hat er gezeichnet, die Musik geschrieben. – Einen Chemiker hat er belehrt. – Löwy Simon, Seifenhändler in Paris, Quai Moncey, hat von ihm die besten geschäftlichen Ratschläge bekommen. Er hat seine Werke ins Französische übersetzt. Die Hofrätin hatte daher in ihrem Notizbuch stehn »Wie erlangt man die Erkenntnis höherer Welten? Bei S. Löwy in Paris.«
In der Wiener Loge ist ein Theosoph, fünfundsechzig Jahre alt, riesig stark, früher ein großer Trinker mit dickem Kopf, der immerfort glaubt und immerfort Zweifel hat. Es soll sehr lustig gewesen sein, wie er einmal bei einem Kongreß in Budapest bei einem Nachtmahl auf dem Blocksberg an einem Mondscheinabend, als unerwartet Dr. Steiner in die Gesellschaft kam, vor Schrecken mit seinem Krügel hinter einem Bierfaß sich versteckte (obwohl Dr. Steiner darüber nicht böse gewesen wäre).
Er ist vielleicht nicht der größte gegenwärtige Geistesforscher, aber er allein hat die Aufgabe bekommen, die Theosophie mit der Wissenschaft zu vereinigen. Daher weiß er auch alles. – In sein Heimatsdorf kam einmal ein Botaniker, ein großer okkulter Meister. Der erleuchtete ihn. – Daß ich Dr. Steiner aufsuchen werde, wurde mir von der Dame als beginnende Rückerinnerung ausgelegt. – Der Arzt der Dame hat, als sich bei ihr die Anfänge einer Influenza zeigten, Dr. Steiner um ein Mittel gefragt, dieses der Dame verschrieben und sie damit gleich gesund gemacht. – Eine Französin verabschiedete sich von ihm mit »Au revoir«. Er schüttelte hinter ihr die Hand. Nach zwei Monaten starb sie. Noch ein ähnlicher Münchener Fall. – Ein Münchener Arzt heilt mit Farben, die Dr. Steiner bestimmt. Er schickt auch Kranke in die Pinakothek mit der Vorschrift, vor einem bestimmten Bild eine halbe Stunde oder länger sich zu konzentrieren.
Atlantischer Weltuntergang, lemurischer Untergang und jetzt der durch Egoismus. – Wir leben in einer entscheidenden Zeit. Der Versuch des Dr. Steiner wird gelingen, wenn nur die ahrimanischen Kräfte nicht überhand nehmen. – Er ißt zwei Liter Mandelmilch und Früchte, die in der Höhe wachsen. – Er verkehrt mit seinen abwesenden Schülern vermittelst Denkformen, die er zu ihnen ausschickt, ohne sich nach der Erzeugung weiter mit ihnen zu beschäftigen. Sie nützen sich aber bald ab, und er muß sie wieder herstellen.
Frau F.: »Ich habe ein schlechtes Gedächtnis.«
Dr. St.: »Essen Sie keine Eier.«
Mein Besuch bei Dr. Steiner.
Eine Frau wartet schon (oben im zweiten Stock des Viktoriahotels in der Jungmannstraße), bittet mich aber dringend, vor ihr hineinzugehn. Wir warten. Die Sekretärin kommt und vertröstet uns. In einem Korridordurchblick sehe ich ihn. Gleich darauf kommt er mit halb ausgebreiteten Armen auf uns zu. Die Frau erklärt, ich sei zuerst dagewesen. Ich gehe nun hinter ihm, wie er mich in sein Zimmer führt. Sein an Vortragsabenden wie gewichst schwarzer Kaiserrock (nicht gewichst, sondern nur durch sein reines Schwarz glänzend) ist jetzt bei Tageslicht (drei Uhr nachmittag) besonders auf Rücken und Achseln staubig und sogar fleckig.
In seinem Zimmer suche ich meine Demut, die ich nicht fühlen kann, durch Aufsuchen eines lächerlichen Platzes für meinen Hut zu zeigen, ich lege ihn auf ein kleines Holzgestell zum Stiefelschnüren. Tisch in der Mitte, ich sitze mit dem Blick zum Fenster, er an der linken Seite des Tisches. Auf dem Tisch Papiere mit ein paar Zeichnungen, die an jene der Vorträge über okkulte Physiologie erinnern. Ein Heftchen ›Annalen für Naturphilosophie‹ bedeckt einen kleinen Haufen Bücher, die auch sonst herumzuliegen scheinen. Nur kann man nicht herumschauen, da er einen mit seinem Blick immer zu haken versucht. Tut er es aber einmal nicht, so muß man auf die Wiederkehr des Blickes aufpassen. Er beginnt mit einigen losen Sätzen: Sie sind doch der Dr. Kafka? Haben Sie sich schon länger mit Theosophie beschäftigt?
Ich aber dringe mit meiner vorbereiteten Ansprache vor: Ich fühle, wie ein großer Teil meines Wesens zur Theosophie hinstrebt, gleichzeitig aber habe ich vor ihr die höchste Angst. Ich befürchte nämlich von ihr eine neue Verwirrung, die für mich sehr arg wäre, da eben schon mein gegenwärtiges Unglück nur aus Verwirrung besteht. Diese Verwirrung liegt in Folgendem: Mein Glück, meine Fähigkeiten und jede Möglichkeit, irgendwie zu nützen, liegen seit jeher im Literarischen. Und hier habe ich allerdings Zustände erlebt (nicht viele), die meiner Meinung nach den von Ihnen, Herr Doktor, beschriebenen hellseherischen Zuständen sehr nahestehen, in welchen ich ganz und gar in jedem Einfall wohnte, aber jeden Einfall auch erfüllte und in welchen ich mich nicht nur an meinen Grenzen fühlte, sondern an den Grenzen des Menschlichen überhaupt. Nur die Ruhe der Begeisterung, wie sie dem Hellseher wahrscheinlich eigen ist, fehlte doch jenen Zuständen, wenn auch nicht ganz. Ich schließe dies daraus, daß ich das Beste meiner Arbeiten nicht in jenen Zuständen geschrieben habe. – Diesem Literarischen kann ich mich nun nicht vollständig hingeben, wie es sein müßte, und zwar aus verschiedenen Gründen nicht. Abgesehen von meinen Familienverhältnissen könnte ich von der Literatur schon infolge des langsamen Entstehens meiner Arbeiten und ihres besonderen Charakters nicht leben; überdies hindert mich auch meine Gesundheit und mein Charakter daran, mich einem im günstigsten Falle ungewissen Leben hinzugeben. Ich bin daher Beamter in einer sozialen Versicherungsanstalt geworden. Nun können diese zwei Berufe einander niemals ertragen und ein gemeinsames Glück zulassen. Das kleinste Glück in einem wird ein großes Unglück im zweiten. Habe ich an einem Abend Gutes geschrieben, brenne ich am nächsten Tag im Bureau und kann nichts fertigbringen. Dieses Hinundher wird immer ärger. Im Bureau genüge ich äußerlich meinen Pflichten, meinen innernPflichten aber nicht, und jene nichterfüllte innere Pflicht wird zu einem Unglück, das sich aus mir nicht mehr rührt. Und zu diesen zwei nie auszugleichenden Bestrebungen soll ich jetzt die Theosophie als dritte führen? Wird sie nicht nach beiden Seiten hin stören und selbst von beiden gestört werden? Werde ich, ein gegenwärtig schon so unglücklicher Mensch, die drei zu einem Ende führen können? Ich bin gekommen, Herr Doktor, Sie das zu fragen, denn ich ahne, daß, wenn Sie mich dessen für fähig halten, ich es auch wirklich auf mich nehmen kann.
Er hörte äußerst aufmerksam zu, ohne mich offenbar im geringsten zu beobachten, ganz meinen Worten hingegeben. Er nickte von Zeit zu Zeit, was er scheinbar für ein Hilfsmittel einer starken Konzentration hält. Am Anfang störte ihn ein stiller Schnupfen, es rann ihm aus der Nase, immerfort arbeitete er mit dem Taschentuch bis tief in die Nase hinein, einen Finger an jedem Nasenloch.
27. Mai. Du hast heute Geburtstag, aber ich schicke dir nicht einmal das gewöhnliche Buch, denn es wäre nur Schein; im Grunde bin ich doch nicht einmal imstande, dir ein Buch zu schenken. Nur weil ich es so nötig habe, heute einen Augenblick, und sei es nur mit dieser Karte, in deiner Nähe zu sein, schreibe ich und habe mit der Klage nur deshalb angefangen, damit du mich gleich erkennst.
15. August. Die Zeit, die jetzt verlaufen ist und in der ich kein Wort geschrieben habe, ist für mich deshalb so wichtig gewesen, weil ich auf den Schwimmschulen in Prag, Königssaal und Czernoschitz aufgehört habe, für meinen Körper mich zu schämen. Wie spät hole ich jetzt mit achtundzwanzig Jahren meine Erziehung nach, einen verspäteten Start würde man das bei einem Wettlaufen nennen. Und der Schaden eines solchen Unglücks besteht nicht vielleicht darin, daß man nicht siegt; dieses letzte ist ja nur der noch sichtbare, klare gesunde Kern des weiterhin verschwimmenden grenzenlos werdenden Unglücks, das einen, der man doch den Kreis umlaufen sollte, in das Innere des Kreises treibt. Übrigens habe ich auch vieles andere in dieser zum kleinen Teil auch glücklichen Zeit an mir bemerkt und werde es in den nächsten Tagen aufzuschreiben versuchen.
20. August. Ich habe den unglücklichen Glauben, daß ich nicht zur geringsten guten Arbeit Zeit habe, denn ich habe wirklich nicht Zeit für eine Geschichte, mich in alle Weltrichtungen auszubreiten, wie ich es müßte. Dann aber glaube ich wieder, daß meine Reise besser ausfallen wird, daß ich besser auffassen werde, wenn ich durch ein wenig Schreiben gelockert bin, und so versuche ich es wieder.
[15] Ich ahnte bei seinem Anblick die Anstrengungen, die er um meinetwillen auf sich genommen hatte und die ihm jetzt, vielleicht nur weil er müde war, diese Sicherheit gaben. Hätte nicht noch eine kleine Anspannung genügt und der Betrug wäre gelungen, gelang vielleicht noch jetzt. Wehrte ich mich denn? Ich stand zwar hartnäckig hier vor dem Haus, aber ebenso hartnäckig zögerte ich, hinaufzugehn. Wartete ich, bis die Gäste kämen, mit Gesang mich zu holen?
Ich habe über Dickens gelesen. Ist es so schwer und kann es ein Außenstehender begreifen, daß man eine Geschichte von ihrem Anfang in sich erlebt, vom fernen Punkt bis zu der heranfahrenden Lokomotive aus Stahl, Kohle und Dampf, sie aber auch jetzt noch nicht verläßt, sondern von ihr gejagt sein will und Zeit dazu hat, also von ihr gejagt wird und aus eigenem Schwung von ihr läuft, wohin sie nur stößt und wohin man sie lockt.
Ich kann es nicht verstehn und nicht einmal glauben. Ich lebe nur hie und da in einem kleinen Wort, in dessen Umlaut (oben »stößt«) ich zum Beispiel auf einen Augenblick meinen unnützen Kopf verliere. Erster und letzter Buchstabe sind Anfang und Ende meines fischartigen Gefühls.
24. August. Mit Bekannten an einem Kaffeehaustisch im Freien sitzen und eine Frau am Nebentisch ansehn, die gerade gekommen ist, schwer unter großen Brüsten atmet und mit erhitztem, bräunlich glänzendem Gesicht sich setzt. Sie neigt den Kopf zurück, ein starker Bartanflug wird sichtbar, sie dreht die Augen nach oben, fast so, wie sie vielleicht manchmal ihren Mann ansieht, der jetzt neben ihr eine illustrierte Zeitung liest. Wenn man ihm doch die Überzeugung beibringen könnte, daß man neben seiner Frau im Kaffeehaus höchstens eine Zeitung, aber niemals eine Zeitschrift lesen darf. Ein Augenblick bringt ihr ihre Körperfülle zum Bewußtsein und sie rückt ein wenig vom Tisch weg.
26. August. Morgen soll ich nach Italien fahren. Jetzt abends konnte der Vater vor Aufregung nicht einschlafen, da er ganz von der Sorge um das Geschäft und von seiner dadurch aufgeweckten Krankheit ergriffen war. Auf das Herz ein nasses Tuch, Brechreiz, Luftmangel, seufzendes Hin- und Hergehn. Die Mutter in ihrer Angst findet neuen Trost. Immer sei er doch so energisch gewesen, über alles sei er hinweggekommen und jetzt –. Ich sage, daß der Jammer mit dem Geschäft doch nur ein Vierteljahr noch dauern könne, dann müsse doch alles gut werden. Er geht seufzend und den Kopfschüttelnd auf und ab. Es ist klar, daß, von ihm aus gesehn, seine Sorgen durch uns nicht abgenommen und nicht einmal erleichtert werden, aber selbst von uns aus gesehn nicht, selbst in unserm besten Willen steckt noch etwas von der so traurigen Überzeugung, daß er für seine Familie sorgen muß ... Durch sein häufiges Gähnen oder sein übrigens nicht unappetitliches In-die-Nase-Greifen erzeugt der Vater eine kleine, kaum zum Bewußtsein kommende Beruhigung über seinen Zustand, trotzdem er dies, wenn er gesund ist, im allgemeinen nicht macht. Die Ottla hat es mir bestätigt. – Die arme Mutter will morgen zum Hausherrn bitten gehn.
[16] Es war schon eine Gewohnheit der vier Freunde Robert, Samuel, Max und Franz geworden, jeden Sommer oder Herbst ihre kleinen Ferien zu einer gemeinsamen Reise zu verwenden. Während des übrigen Jahres bestand ihre Freundschaft meist darin, daß sie gerne an einem Abend in der Woche alle vier zusammenkamen, meist bei Samuel, der als der wohlhabendste ein größeres Zimmer hatte, einander verschiedenes erzählten und dazu mäßig Bier tranken. Mit dem Erzählen waren sie um Mitternacht, wenn sie auseinandergingen, niemals fertig, da Robert Sekretär eines Vereins war, Samuel Angestellter eines kommerziellen Bureaus, Max Staatsbeamter und Franz Beamter in einem Bankgeschäft, so daß fast alles, was einer während der Woche in seinem Berufe erlebt hatte, den drei andern nicht nur unbekannt war und ihnen rasch erzählt werden mußte, sondern ohne umständlichere Erklärung auch unverständlich war. Vor allem aber brachte es die Verschiedenheit dieser Berufe mit sich, daß jeder gezwungen war, seinen Beruf den andern immer wieder darzustellen, denn die Darstellungen wurden von den andern, weil sie doch nur schwache Menschen waren, nicht gründlich genug aufgefaßt, gerade deshalb aber und auch aus guter Freundschaft immer wieder verlangt.
Weibergeschichten wurden dagegen selten vorgenommen, denn wenn auch Samuel für seine Person an ihnen Geschmack gefunden hätte, so hütete er sich, zu verlangen, daß sich die Unterhaltung nach seinen Bedürfnissen einrichte, wobei ihm öfters das alte Mädchen, welches das Bier holte, als eine Mahnung erschien. Gelacht wurde aber so viel an diesen Abenden, daß Max auf dem Nachhauseweg sagte, dieses ewige Lachen sei eigentlich bedauerlich, weil man dadurch alle ernsten Sachen vergesse, von denen doch jeder gerade genug zu tragen hätte. Während man lache, denke man, für den Ernst sei noch Zeit genug. Das sei aber nicht richtig, denn der Ernst stelle natürlich größere Ansprüche an den Menschen, und es sei doch klar, daß man in Gesellschaft der Freunde auch größeren Ansprüchen zu genügen fähig sei als allein. Lachen solle man im Bureau, weil man dort nicht mehr zustande bringe. Diese Meinung war gegen Robert gerichtet, der in seinem durch ihn sich verjüngenden Kunstverein viel arbeitete und gleichzeitig in dem alten die komischesten Dinge bemerkte, mit denen er seine Freunde unterhielt.
Schon wenn er anfing verließen die Freunde ihre Plätze, stellten sich zu ihm oder setzten sich auf den Tisch und lachten, besonders Max und Franz, so selbstvergessen, daß Samuel alle Gläser auf ein Seitentischchen hinübertrug. War man vom Erzählen ermüdet, setzte sich Max mit plötzlich neuer Kraft zum Klavier und spielte, während Robert und Samuel ihm zur Seite auf dem Bänkchen saßen, Franz dagegen, der nichts von Musik verstand, allein am Tisch Samuels Ansichtskartensammlung durchsah oder die Zeitung las. Wenn die Abende wärmer wurden und das Fenster schon offenbleiben konnte, kamen wohl alle vier zum Fenster und sahen, die Hände auf dem Rücken, in die Gasse hinunter, ohne sich von dem freilich schwachen Verkehr in ihrer Unterhaltung beirren zu lassen. Nur hie und da ging einer zum Tisch zurück, um einen Schluck zu machen, oder zeigte auf die Lockenfrisuren zweier Mädchen, die unten vor ihrer Weinstube saßen, oder auf den Mond, der sie leicht überraschte, bis endlich Franz sagte, es sei kühl, man solle das Fenster schließen.
Im Sommer trafen sie einander manchmal in einem öffentlichen Garten, setzten sich an einen Tisch ganz am Rande, wo es dunkler war, tranken einander zu und merkten im Gespräch, die Köpfe beisammen, das ferne Blasorchester kaum. Arm in Arm, in gleichem Schritt, gingen sie dann durch die Anlagen nach Hause. Die zwei am Rande drehten die Stöckchen oder schlugen in die Gebüsche, Robert forderte sie zum Singen auf, sang dann aber allein, gut für vier, der zweite in der Mitte fühlte sich dabei besonders sicher aufgehoben.
An einem solchen Abend sagte Franz und drückte seine zwei Nachbarn näher an sich, es wäre doch so schön, beisammen zu sein, daß er nicht verstehn könne, warum sie nur einmal in der Woche zusammenkämen, während es doch sicher leicht einzurichten wäre, wenn nicht öfters, so wenigstens zweimal wöchentlich einander zu sehn. Alle waren dafür, selbst der vierte, der von außen Franzens leises Sprechen nur undeutlich verstanden hatte. Ein solches Vergnügen sei sicher die kleine Mühe wert, die es hie und da einem machen würde. Franz schien es, als bekomme er zur Strafe dafür, daß er ungebeten für alle rede, eine hohle Stimme. Aber er ließ nicht ab. Und wenn einer wirklich einmal nicht kommen könne, so sei es eben sein Schaden, und er könne nächstens getröstet werden, aber müßten denn deshalb die andern aufeinander verzichten, seien nicht drei füreinander genug und wenn es sein muß, auch zwei? »Natürlich, natürlich«, sagten alle. Am Rande löste sich Samuel los und ging knapp vor den drei andern, weil sie so einander näher waren. Dann aber schien es ihm wieder nicht so und er hing sich lieber ein.
Robert machte einen Vorschlag: »Wir kommen jede Woche zusammen und lernen italienisch. Italienisch zu lernen sind wir entschlossen, denn schon voriges Jahr haben wir in dem kleinen Stückchen Italien, wo wir waren, gesehn, daß unser Italienisch nur dazu ausreicht, nach dem Weg zu fragen, wenn wir uns, erinnert euch, zwischen den Weingartenmauern der Campagna verirrt hatten. Und selbst dazu hat es doch nur unter größter Anstrengung der Gefragten ausgereicht. Lernen müssen wir also, wenn wir heuer wieder nach Italien wollen. Da hilft nichts. Und ist es da nicht das beste, zusammen zu lernen?«
»Nein«, sagte Max, »wir werden zusammen nichts erlernen. Das weiß ich ebenso bestimmt, wie daß du, Samuel, für das gemeinsame Lernen bist.«
»Und ob!« sagte Samuel. »Wir werden sicher sehr gut zusammen lernen, ich bedauere es nur immer, daß wir nicht schon auf der Schule beisammen waren. Wißt ihr eigentlich, daß wir einander erst zwei Jahre lang kennen?« Er beugte sich vor, um alle drei zu sehn. Sie hatten ihren Schritt verlangsamt und die Arme gelockert.
»Erlernt haben wir aber zusammen noch nichts«, sagte Franz. »Mir gefällt es ja sehr gut so. Ich will gar nichts lernen. Wenn wir aber italienisch lernen müssen, dann ist es besser, jeder lernt es für sich.«
»Das versteh' ich nicht«, sagte Samuel. »Zuerst willst du, daß wir jede Woche zusammenkommen, dann willst du es wieder nicht.«
»Aber geh«, sagte Max, »ich und Franz wollen doch nur, daß unser Zusammensein nicht durch das Lernen und unser Lernen nicht durch das Zusammensein gestört wird, sonst nichts.«
»No ja«, sagte Franz.
»Es ist ja auch nicht mehr viel Zeit«, sagte Max, »jetzt ist Juni und im September wollen wir fahren.«
»Deshalb will ich gerade, daß wir zusammen lernen«, sagte Robert und machte große Augen auf die zwei, die gegen ihn waren. Besonders sein Hals wurde gelenkig, wenn man ihm widersprach.
Man denkt, man beschreibt ihn richtig, aber es ist nur angenähert und wird vom Tagebuch korrigiert.
Es liegt wahrscheinlich im Wesen der Freundschaft und folgt ihr schattengleich – einer wird es begrüßen, der andere bedauern, der dritte gar nicht merken ...
26. September. Der Zeichner Kubin empfiehlt als Abfuhrmittel Regulin, eine zerstampfte Alge, die im Darm aufquillt, ihn zum Zittern bringt, also mechanisch wirkt, zum Unterschied von der ungesunden, chemischen Wirkung anderer Abführmittel, die bloß den Kot durchreißen, ihn also an den Darmwänden hängenlassen.
Er ist mit Hamsun bei Langen zusammengekommen. Er (Hamsun) feixt grundlos. Während des Gespräches, ohne daß er es unterbrochen hätte, hob
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 10.09.2014
ISBN: 978-3-7368-3819-2
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