„Des Zufalls Wege sind uns unbekannt, sie zu berechnen, lehrt uns keine Kunst.“
(Euripides)
Es war in einem blechdachbewehrten Haus mit blinkenden Zinnen, hinter den sieben Bergen und jenseits der sieben Brücken, unter nördlicher Sonne nur 28°05’15“ entfernt vom Wendekreis des Krebses, wo der Polarstern, der äußerste Stern an der Deichsel des Sternbildes Kleiner Wagen, oder auch an dessen Handgriff, wenn man in dem Wagen eine Schubkarre erkennen möchte, einen Winkel von 50°21'' zum topozentrischen Horizont bildet. Hier, wo man Zwerge kacken und Mauersegler seufzen hören kann, lebte und schlief eine ahnungslose junge Frau fünf Stockwerke hoch über einer großen Stadt. Die helle Frühlingssonne hatte sich gerade einen schmalen Spalt zwischen den schweren Gardinen gesucht und blinzelte neugierig in das Zimmer. Was sie sah, befremdete sie. Hohe Stapel von Büchern türmten sich unordentlich an den Wänden und das Dach war anscheinend undicht, wie ein brauner Wasserfleck an der Decke bezeugte, was dem Raum aber keineswegs den Charme der Dachstube des armen Poeten verlieh. Dann kitzelte sie mich an der Nase – der Leser, der mir bis hierher gefolgt ist, wird bereits vermutet haben, dass es sich bei der Bewohnerin um keine andere als mich selbst handelt – und mein Blick fiel schläfrig auf den Riss in der fleckigen Tapete, welcher sich wie der Ableger eines riesigen Mangrovenbaumes über die Wand hin zog. Hinter der Tapete rieselte es leise, als ich den großen Zeh unter der Bettdecke hervorreckte und vorsichtig mit ihm gegen dieselbe stupste. 'Ich muss was tun!' fuhr es mir durch den Kopf. Dann seufzte ich noch einmal tief und sprang entschlossen aus den Federn.
Weniger als eine Stunde nach einem schnellen Frühstück, bestehend aus süßem Rosinenbrot mit Butter und dem obligatorischen Multivitamin-Nährstoff-Trunk mit Gelee Royale, grünem Weizengras-Extrakt, Lecithin, Shiitake-Pilz-Extrakt, Möhrensaft, Rote Beete-Saft, Bierhefe, Aloe-Vera-Saft und vielen anderen gesunden Zutaten, fand ich mich im örtlichen Baumarkt wieder. Anfangs etwas ziellos, irrte ich mit ungestümem Wagen durch hallenhohe Regale und bestaunte die Vielzahl der Möglichkeiten. Bald erlangte ich die Orientierung zurück und als ich ausgiebig zwischen Gartenzubehör, Badeinrichtung, Schneidbrennern und sonstigen Werkzeugen, deren Zweck und Anwendung mir gänzlich fremd und unbekannt waren, gestöbert hatte, lud ich ein, was ich zu benötigen glaubte – Tapetenrollen, Leim, Wandfarbe, Gipsspachtel und einiges mehr. Dabei bemerkte ich ein elegantes, ahornfarbenes Wandbord, das ebenfalls zum Verkauf angeboten wurde. Die klare Form kombiniert mit der kühl-distinguierten Farbe überzeugte mich und ich beschloss, dass sich meine Bücher ausnehmend gut darauf machen würden, auch wenn es bei weitem nicht für alle literarischen Werke ausreichen würde. Um den Kauf eines richtigen Regals würde ich nicht herumkommen. Vollbepackt, meine Neuerwerbung in schützender Umarmung haltend, gelangte ich nach Hause und stimmte mich auf das Abenteuer Renovierung ein.
Das erste Problem, das sich mir in den Weg warf, war das der Bekleidung. Irgendwo mussten noch ein paar alte Turnschuhe und abgetragene bequeme Klamotten zu finden sein, nur wo? Konsequenterweise folgte ich der Spur, welche in meinen Kleiderschrank führte, und mit wenigen Handgriffen hatte ich sämtliche Frühjahrs-, Sommer-, Herbst- und Winterkollektionen um mich herum auf dem Fußboden ausgebreitet, gefolgt von dreißig Paar Schuhen vielfältigster Konstruktion, von denen ich einige infolge arbeitschutztechnischer Bedenken sofort von der Benutzung für angedachte Zwecke ausschloss. Schließlich schälte ich mich in ein baumwollgeripptes Unterhemd, geringelte Leggins, die vor zwanzig Jahren äußerst hip gewesen waren, aber deren Ringel damals beileibe nicht so breit ausfielen wie heute und mich wie ein schwangeres Zebra aussehen ließen, sowie ausgelatschte Textil-Sneaker. Das restliche Zeug stopfte ich schnell wieder in den Schrank hinein, um freie Bahn zu haben.
Glücklicherweise befanden sich nicht sehr viele Möbel im Zimmer, so dass ich bald alles von der Wand abgerückt, in der Zimmermitte aufgebaut und mit Folie abgedeckt hatte. Die Bücher stapelte ich vorsorglich in den Korridor um. Sollte der Postbote ruhig sehen, wie hochgradig intellektuell ich war, wobei ich das literarisch wertvolle Werk „Die Glut der Leidenschaft“, welches wahrscheinlich einige Analogien zu Bloom’s (Anmerkung der Verfasserin: Hauptfigur des Romans „Ulysses“ von James Joyce) „Die Süße der Sünde“ aufweisen dürfte, wohlbedacht mit der Buchrückenseite zur Wand kehrte. So vorbereitet hatte ich mich gerade auf die oberste Sprosse der altersschwachen Leiter begeben um die Tapete einzuweichen, als das Telefon klingelte.
„Hallo Oma, mir geht’s gut. Warum das so lange gedauert hat? Äh, ich war beschäftigt... Ich will das Zimmer renovieren. Nein, ich falle nicht von der Leiter und hebe nicht schwer. Ja, ich passe auf. Weiß ich nicht. Ich habe jetzt erst angefangen. Möbel kommen später. Ja, ich denke an den Termin, keine Angst. Mach du es auch gut.“
Das Telefon auf den Küchentisch werfend und die Leiter erklimmend setzte ich meine Arbeit für wenige Minuten fort, da klingelte es erneut. Erst nachdem ich nochmals von der Leiter gestolpert und in die Küche gesprintet war, um schließlich irgendetwas in den Hörer zu prusten, bemerkte ich, dass es diesmal an der Tür läutete.
„Jaaaa?“, fragte ich hektisch, als ich diese schwungvoll aufriss, und sah mich im gleichen Augenblick meinem unmittelbaren Nachbarn gegenüber. Normalerweise ist dies nichts, was einen in großes Erstaunen versetzen müsste, wie auch der geschätzte Leser mir sicher zustimmen wird, doch meine Augen wurden kugelrund aufgrund der Tatsache, dass ich zwar schon etliche Jahre in dem blechdachbewehrten Haus wohnte, diesen Herrn jedoch bisher allerhöchstens bei zwei bis drei kurzen Gelegenheiten zu Gesicht bekommen hatte. Er schien ein sehr zurückgezogenes Leben zu führen. Während ich vor Überraschung fast in die Knie ging, störte er sich nicht an meinem blöden Gesichtsausdruck, starrte mich aus durchdringenden grauen Augen an und stellte rhetorisch fest: „Ich habe Sie gehört, Sie machen da was in der Wohnung, stimmt's?“.
„Ja“, antwortete ich, inzwischen hatte ich mich wieder gefangen, „ich renoviere. Wieso? Bin ich zu laut? Ich habe eigentlich noch gar nicht angefangen.“
Meine Frage hatte er anscheinend nicht gehört. Er starrte mich weiter durchdringend an und wie ich so zurückschaute und ihn in seinem hellgrauen Strickpullunder, den graumelierten Haaren, dem bleichen Gesicht und den anthrazitfarbenen Bundfaltenhosen unauffällig musterte, schoss mir der ketzerische Gedanke durch den Kopf, ob ich ihn tatsächlich nur die wenigen Male getroffen, oder aber nicht vielmehr ihm schon häufiger begegnet war, ihn aber niemals wahrgenommen hatte.
Er suchte nach Worten – das erkannte ich an den winzigen Bewegungen, die seine Gesichtsmuskeln unter der grobporigen Haut machten. „Renovieren kann gefährlich sein“, begann er linkisch, „Sie sollten aufpassen!“
Das wurde ja immer schöner! Als ob ich das nicht selbst wüsste. „Ja“, entgegnete ich flapsiger als es meine Absicht war, „ich kann von der Leiter fallen und mir den Hals brechen. Danke. Ich werde alles tun, um das zu vermeiden.“
Von dem leichten Unmut in meiner Stimme zurückgehalten, rang er scheinbar mit sich selbst, als wäre da noch etwas mitzuteilen, von dem er nicht wüsste, ob er es tun solle. Ich fühlte sehr deutlich, dass er mehr sagen wollte, doch meine eigene Ungeduld ließ mich davon absehen, genauer nachzufragen. Schließlich beließ er es bei einem kraftlosen: „Wenn Sie irgendwie Hilfe benötigen...?“
Ich warf einen genaueren kurzen Blick auf das eingefallene Gesicht und die dünnen Ellenbogen in den schneeweißen Hemdsärmeln, dann schüttelte ich versöhnlich den Kopf. „Vielen Dank. Ich komme schon zurecht.“
Nach dieser doch sehr unverhofften Begegnung war mir etwas seltsam zumute. Vor allem begann mich in meinem nimmermüden Gehirn zu beschäftigen, was jenes wohl gewesen ist, das nun unausgesprochen geblieben war. Diese Grübeleien gewannen fast eine Art Eigenleben und wurden so aufdringlich wie ein Hund, der sich an einem Knochen festgebissen hatte, so dass ich sie schlussendlich rigoros beiseite schieben musste.
Stattdessen setzte ich meine Bemühungen fort, die Tapete von der Wand zu lösen. Dies erwies sich als relativ einfach, allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, dass der Putz dahinter ausschließlich von der Tapete zusammengehalten wurde. Sobald diese fort war, fiel er in einer aufsteigenden Staubwolke aus größeren und kleineren Klumpen in sich zusammen. Hustend keimte in mir bei dieser Gelegenheit die Vermutung, dass die Idee das Zimmer zu renovieren, vielleicht doch keine so gute war. Aber nun war der Anfang gemacht. Ein Zurück gab es nicht mehr.
Draußen auf dem Hof kreischte ein Kind: „Da! Ein Käfer! Ihhhhh!“; in mir kreischte es nur still, aber ich wusste, dass ich das deutlich größere Problem hatte. Vorsichtig klopfte ich die sandigsten Stellen weg, entfernte einige Zeitungsreste einer Ausgabe von 1970, welche unter der alten Tapete geklebt hatten, als ich auch schon auf die roten Ziegelsteine stieß, welche das Grundgerüst der Wand bildeten. Eine Stelle im Putz war besonders weich, es rieselte unaufhörlich. Dann war es mit einem Mal still und es tat sich ein Hohlraum auf. Neugierig untersuchte ich ihn und stellte fest, dass er sich in einem der Steine befand, welcher nach außen hin ein Loch hatte. Weitere gründliche Untersuchungen, welche ich tätigte, indem ich mein Auge an die schwarze Öffnung hielt und versuchte hineinzuspähen, brachten kein Ergebnis. Alles blieb pechschwarz. Aber es gab ja weitere Möglichkeiten. Ich griff nach einem Schraubenzieher und stocherte damit im Hohlraum herum. Irrte ich mich oder bewegte sich da etwas? Ich war mir fast sicher, dass sich irgendwas in diesem Stein befand, und ich hätte schwören können, dass es kein trockener Mörtel war.
Mit dem Schraubenzieher ließ sich das mysteriöse Ding in dem Stein nicht hinausbefördern, also versuchte ich es mit allerhand anderen Geräten, wie Finger, Pinzette, Messer, Kochlöffel und so weiter. Als auch das keinen Erfolg brachte, kam ich auf die Idee, den Hohlraum mit dem Schlagbohrer zu erweitern. So viel, wie ich zu spachteln hatte, machte ein Loch mehr oder weniger sowieso nichts aus.
Sorgfältig band ich mir einen strengen Zopf, kramte den Koffer mit der Bohrmaschine hervor und startete so bewaffnet den Angriff. Dröhnend hämmerte der Stahlbohrer auf den Ziegelstein ein. Roter Sand quoll wie Blut einer frischen Wunde aus der Wand hervor, legte sich in leichtem Fall auf Scheuerleiste, Fußboden und die winzigen Wandvorsprünge nieder. Gleich darauf wurde der Sand dunkler, braun und dann auffällig schwarz, schwarz und schmierig.
"Was ist das denn?“ Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich geglaubt, kurz davor zu sein, auf eine Ölquelle zu stoßen. Stattdessen brach ich in den Hohlraum durch. In der vergrößerten Öffnung konnte ich etwas Helles erkennen und eben wollte ich die Bohrmaschine erneut ansetzen, als ein Name in roten Alarmleuchten über meinem Kopf erschien.
„Tante Bärbel!“, stöhnte ich. Die hatte ich ganz vergessen. Dabei hatte ich ihr versprochen, heute zu ihrem halbrunden, dem achtzigsten nicht mehr fernen Geburtstag zu kommen. Gehetzt blickte ich auf die Uhr: zwanzig vor fünf. Ich ließ alles fallen, stellte mich kurz unter die Brause und zog einen zerknitterten Fetzen aus dem Kleiderschrank hervor, den ich mir über den Kopf stülpte. Am Bahnhof griff ich nach dem größten Blumenstrauß, den ich entdecken konnte, um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen und eine halbe Stunde später begrüßte mich Tante Bärbel in ihrer kleinen Behausung.
Fesch sah sie aus, wie sie es nannte: die frische Dauerwelle kringelte sich verwegen um ihre altersgroßen Ohren, welche smaragdbehängt der Erdanziehungskraft trotzten, ihre noch immer buschigen Augenbrauen waren gestriegelt und gebürstet und ein leichter, malvenfarbener Lippenstift umspielte ihre dritten Zähne. Lächelnd schubste sie mich auf das Sofa und meinte: „Wolltest du nicht eher kommen?“.
Ich murmelte etwas von Arbeit und ließ meinen Blick über den Kaffeetisch schweifen, auf dem eine fettige Butterkrem- und eine Schwarzwälder Kirsch-Torte vor sich hin schmolzen. Noch ehe ich mich wehren konnte, hatte Tante Bärbel ein riesiges Stück Kremtorte auf meinen Teller geschaufelt, welchen sie mir mit den Worten: „Du musst was essen, Kind! Du bist viel zu dünn!“ servierte. Angestrengt konzentrierte ich mich an der Kaffeetafel auf die Gespräche über Leistenbrüche, Zahnersatz und die neuesten Hausmittelchen, um vorzutäuschen, ich sei so brennend an diesen Themen interessiert, dass ich sogar das Essen darüber vergesse.
Leider fiel diese Strategie mit der Zeit auf, weshalb ich schaudernd die Kirsche von der Tortendecke nippte und mich mit der Gabel bis zum Kuchenboden durchstocherte. Danach schickte ich ein großes Glas Cognac hinterher, um die Bakterien abzutöten. Gerade setzte ich meinen vierten Cognac an, um ihn herunterzukippen, sicher ist sicher, als ein neuer Geburtstagsgast erschien. Spontan machte mein Herz einen Sprung und ich fragte meinen Cousin, der neben mir saß und stumpf auf seinen Teller stierte, wer das sei.
„Der da? Das ist der Ex von der Annette. Du weißt schon. Die Nichte meines Großonkels Albert von der Taubeninsel. „Ähem“, sagte ich und schwieg.
Albert von der Taubeninsel entstammte einer Dynastie von Piraten, die auf den gefürchteten Ferdinand dem Seebeuter zurückging, welcher genau vor zweihunderteinundachtzig Jahren am höchsten Mast eines Dreimastschoners von seiner Mannschaft aufgeknüpft worden war. Nichtsdestotrotz hatte er zu diesem Zeitpunkt schon ein erkleckliches Sümmchen beiseite geschafft, dessen Aufbewahrungsort er nur an eines seiner Kinder weitergegeben hatte, von denen es jedoch noch viele mehr an jedem Ende der Welt gab. Und während die meisten anderen der ehrenwerten Tradition ihres Vaters und der Freibeuterei folgten, spazierte Karl, der Sohn Ferdinands mit einer polnischen Dienstmagd, einundzwanzigjährig auf einen großen Raddampfer, um sich mitten im sumpfigen Delta der Spree eine kleine Insel zu kaufen und eine herrschaftliche Villa darauf zu errichten. Diese Insel, die Taubeninsel, ist nur den wenigsten Leuten bekannt, ganz im Gegensatz zu der Pfaueninsel, dem beliebten Ausflugsort, und versteckt sich hinter einem undurchdringlichen Wald aus alten Eichen. Kaum einer hat sie je betreten.
Versonnen beobachtete ich den neuen Gast und vermeinte das kühn geschwungene Profil eines Piraten in seinen Zügen zu erkennen, was natürlich völliger Unsinn war, da er gar nicht dieser Linie entstammte. Sehr bald wurde ich aus meinen Träumereien gerissen, weil Tante Bärbel mit mir plaudern wollte.
„Was machen dein Bruder und seine neue Freundin?“
„Denen geht es gut.“
„Ich habe gehört, seine neue Freundin, wie heißt sie doch – Dagmar, soll ein wenig eigenartig sein?“ Ihre Augen funkelten lüstern.
„Wie kommst du darauf?“
„Na, deine Mutter hat überall erzählt, sie hätte schon nach drei Wochen des Kennenlernens seine dreckige Wäsche in ihrer Waschmaschine gewaschen.“
„Ach weißt du, sie fand es vorher ebenso merkwürdig, als die damalige Freundin jahrelang seine Wäsche NICHT gewaschen hat. Ich glaube, das hat nicht viel zu sagen.“ Insgeheim fragte ich mich, nach welcher Zeitspanne es wohl gesellschaftlich akzeptiert ist und nach welcher sogar gesellschaftlich gefordert wird, die dreckige Wäsche seines Liebhabers zu waschen.
Um mich herum war die Stimmung genau wie der Lautstärkepegel rapide angestiegen, denn nicht nur ich hatte kräftig mit alkoholischen Getränken desinfiziert. Die alten Leute - Bekannte, Freunde und Geschwister meiner Tante -, die vor zwei Stunden noch relativ still ihren Kuchen geschlürft hatten, wurden mopsfidel, wie man so schön sagt. Einige verlangten lautstark nach Musik und eine Vinylplatte mit Gassenhauern aus den zwanziger Jahren wurde aufgelegt.
Bereits bei „Am Sonntag will mein Süßer mit mir Segeln geh’n“ schunkelten die ersten lustvoll auf ihren Stuhlkanten mit und summten pianissimo im Takt. Zur Melodie „Das ist die Berliner Luft“ grölte schließlich die ganze Runde entfesselt mit und hämmerte mit den Fäusten im Rhythmus auf den Tisch, dass die Wände wackelten. Der famose Ex, dem wohl mein sowohl amüsierter wie auch fassungsloser Blick nicht entgangen war, zwinkerte mir vergnügt zu. Und spätestens als die Zeilen „Die ganze Welt ist wie verhext. Veronika, der Spargel wächst.“ erklangen, hatte sich das kleine Zimmer in einen Hexenkessel verwandelt, in welchem Onkel Gustav Tante Sieglinde auf den drallen Hintern klapste, während Onkel Herrmann, ihr Mann, süffisant grinste und Tante Helga das Knie tätschelte, ohne dabei zu vergessen, ebenso Tante Barbara mit einigen Spritzern Sekt in ihr hasenpelz-verziertes Dekolleté zu beglücken, welche daraufhin kokett kreischte. Tante Bärbel hingegen lachte lauthals und ließ ihre Brüste unter dem Strickpullover undefinierbarer Farbe im Takt zur Musik mithüpfen.
Nicht nur die Leidenschaften kochten, auch die Luft im Wohnzimmer war siedend heiß, zumindest schien es mir so. Mein Gesicht glühte und meine Zunge wollte mir nicht mehr recht gehorchen. Gerade schunkelte die versammelte Mannschaft ausgelassen Busen an Busen zu „Püppchen, du bist mein Augenstern. Püppchen, hab dich zum Fressen gern...“ als ER sich neben mich auf die Sofakante setzte und fragte, ob ich Lust auf ein bisschen Abkühlung hätte. Natürlich hatte ich das! Und so ließ ich mich nicht lange bitten und folgte ihm in die kaum merklich kühlere Küche, wo wir uns ein kaltes Mineralwasser eingossen.
„Sodom und Gomorrha“, lachte er.
„Ja, unglaublich!“, antwortete ich und lachte zurück.
„Ich bin Raik“, stellte er sich vor.
Nachdem ich ebenfalls meinen Namen genannt hatte, wagte ich sogleich einen invasiven Vorstoß, indem ich fragte: „Ah ja. Und warum habt ihr euch getrennt?“, womit ich ihm außerdem subtil zu verstehen geben wollte, dass ich schon einiges über ihn wusste, damit er nicht auf die Idee käme, mir irgendetwas Falsches zu erzählen.
„Wir haben uns auseinandergelebt“, antwortete er stereotyp und setzte hinzu: „Und es gab Konflikte wegen des Erbes.“ Seine unwirklich blauen Augen huschten verlegen umher.
Das interessierte mich nun in der Tat brennend. Was für Konflikte konnte es da wohl geben? Ich wusste, dass Großonkel Albert siebenundneunzig Jahre alt war. Betraf es die Taubeninsel und den Grundbesitz? Direkt danach zu fragen erschien mir etwas zu unhöflich, weshalb ich mich, nicht ohne Anstrengung, zurückhielt. Langsam merkte ich, wie mir die Müdigkeit in alle Glieder kroch, und noch ehe ich selbst diesen Gedanken denken konnte, fragte er mich, ob ich gehen wolle und er mich vielleicht nach Hause bringen dürfe.
Wir schlenderten in das Wohnzimmer zurück, um uns zu verabschieden. Onkel Gustav fummelte gerade unter dem Pulli an Tante Bärbels BH und auch bei den anderen schien die Stimmung weiterhin ungebrochen gut zu sein, wenn man sie so zu den Polkaklängen von „In Rixdorf ist Musike“ in einer Polonaise um den Tisch herumkriechen sah. Irgendwie war ich ganz froh darüber, dem Anblick dieser Rentnerparty zu entkommen.
Inzwischen war es Nacht geworden. Ein atemberaubender Sternenhimmel hatte sich über die dunklen Dächer gebreitet und der warme Frühlingswind strich wie ein sanftes Kätzchen um meine Beine. Genau die richtige Kulisse für ein filmreifes Stelldichein, das unvergesslich bleiben würde, dachte ich. Doch leider hatte ich die Rechnung ohne seinen Wagen gemacht, dem er schnurstracks entgegenstrebte, ohne dabei aufzuhören mich zu stützen, als wäre ich selbst schon altersschwach oder als würde ich zumindest unter gefährlichen Gleichgewichtsstörungen leiden. Das konnte unmöglich der Fall sein, aber ich sagte nichts und ließ mich widerstandslos zum silbermetallicfarbenen Auto führen. Also wurde unglücklicherweise nichts aus der Romantik unter sternenklarem Himmel, mit verbummelten Schritten und ebenso verbummelten Worten. Leise verfluchte ich mal wieder den technischen Fortschritt, der mit seiner sich fortwährend steigernden Schnelligkeit jedwede romantischen Augenblicke zerstörte, ganz abgesehen davon, dass ich gleichzeitig wenig Lust verspürte, in mein Katastrophengebiet zurückzukehren. Sollte ich ihn fragen, ob ich mit zu ihm kommen kann? Himmel, nein! Das ging überhaupt nicht! Was würde er von mir denken!
Aber vielleicht konnte ich ihn dazu bringen, ein bisschen länger im Auto zu kuscheln? Schnell kramte ich sämtliches Repertoire meiner Verführungskünste aus dem Gedächtnis hervor, wo es lange ungenutzt gelegen hatte. Irgendwie machte er nicht den Eindruck, als hätte er jetzt so etwas im Sinn, aber mein Gott, es würde ihm sicher nicht schaden. So ein bisschen Knutscherei, was machte das aus? Früher war das Standard auf jeder Schulparty.
Wie aus Versehen strich ich über seinen ärmellosen, muskulösen Unterarm, streifte seinen Nacken mit meinen Fingern, spürte die feinen Härchen seines Haaransatzes, ließ meinen Zeigefinger die Linie seines Halses hinuntergleiten - im Autoradio stampfte gerade der hypermoderne Goa-Beat eines Ravesamplers und ich war mir nicht sicher, ob es der Technoremix oder aber mein Herz auf mehr Beats per minute brachte -, und schon sah ich mich meine Hand unter sein jeansfarbenes T-Shirt schieben, das so herrlich auf seiner jugendlichen Haut leuchtete. Er fing sie auf und hielt sie fest, wobei er breit lächelte. Warum waren mir diese faszinierenden Grübchen um seinen Mund noch nicht aufgefallen? Wie hypnotisiert starrte ich sie an.
"Du bist süß, wenn du beschwipst bist.“
Wie? Was? Hatte er gerade was gesagt? Ich bin beschwipst? Was soll das schon wieder heißen? Und überhaupt, was soll das bedeuten 'Du bist süß'? Süß wie eine Kremtorte - Kremtörtchen? Zuckerguss, Mandelmarzipan, Amarena-Kirsche, Cremesahneschlag
...Schlagsahneschlag...Schlagcremesahne.
"Ich kann nichts... nichts... dafür. Sooo viel Kremtorte...“, murmelte ich. Dann schlummerte ich im Autositz ein.
Wir fuhren und fuhren. Über dunkle Landstraßen, menschenleere Autobahnen, vorbei an kleinen Dörfern und hellerleuchteten Fabriken, vorbei an drohend aufragenden Windrädern und fernen Kirchtürmen. Die Fahrbahnmarkierung hatte Füße. Kleine, winzige Füße, die sich wie die Beinchen eines Tausendfüßlers unermüdlich fortbewegten, um neben mir Schritt zu halten. Füße... laufen... Die Bäume können nicht laufen. Stumm und traurig schauen sie mir aus der Dunkelheit hinterher. Etwas Schwarzes steht auf dem Weg und zwei weiße Stoßzähne wölben sich in die Nacht. Ein Mammut! Zwei kleine Augen blicken mich unverwandt an. Es macht keine Anstrengungen, sich von der Stelle zu bewegen. Ich greife nach dem Speer in meinem Köcher und schwinge ihn drohend über meinen Kopf. Weiße Sichelmonde in der Nacht. Sie blinzeln und ich steche zu. Sahnecreme spritzt aus der Wunde und aus dem Nüstern des Mammuts. In Sahnecreme verendet es.
"Kremtorte...“, nuschelte ich, dann merkte ich, dass mich jemand an der Schulter packte und schüttelte.
"Wir sind da!“
Gerade fünfzehn Minuten hatte er gebraucht, um sich mit dem Wagen vor mein Haus zu stellen und zu fragen, ob ich es alleine bis in die Wohnung schaffe. Hätte er gefragt, ob er noch auf einen Kaffee mit hinaufkommen darf, den ich zwar generell nie zu Hause habe, ja dann...
Aber so, 'ob ich es alleine schaffe'...pffff. Was besseres fällt dem wohl nicht ein. Und ich verschwand im Hausaufgang, ohne einen Blick zurück zu werfen. Ich schlich die vielen Treppen hinauf, zumindest bemühte ich mich zu schleichen, und als ich meine Wohnungstür aufschloss, hörte ich ein Geräusch, das eine Etage höher vom Dachboden kam. Verwundert schaute ich den dunklen Treppenschacht hinauf, in welchem sich die Stufen in schwammigem Funzellicht verloren. Kurz meinte ich das Gesicht meines Nachbarn über der Treppenbrüstung zu sehen, doch sofort war es wieder verschwunden.
"Hallo?", rief ich und erhielt keine Antwort. Für ein Versteckspiel war ich einfach zu müde, weshalb ich schulterzuckend in meine Wohnung trat und fast augenblicklich in das nicht gemachte Bett fiel, welches ich in eine andere Ecke des Zimmers geschoben hatte, bevor ich mit der Renovierung begann.
Das erste, was ich am nächsten Morgen bemerkte, war das pelzige Gefühl auf meiner Zunge. Minuten später meldete sich auch ein dumpf ziehender Schmerz in der Schläfengegend. In mir wuchs eine Ahnung, dass es da etwas in der letzten Nacht gegeben hatte, das ich besser nicht wissen wollte. Kaum hatte ich das gedacht, kam schlagartig die Erinnerung zurück und jeder wird sich vorstellen können, wie ich mich fühlte, als ich mir die Vorkommnisse in dem silberfarbenen Gefährt durch den Kopf gehen ließ. Ich kam mir vor wie eine Idiotin.
Noch tiefer vergrub ich mich unter meiner Bettdecke um zu vergessen, doch selbst in diesem finsteren Versteck stöberte mich der feindlichste aller Kritiker auf, um mich mit Selbstvorwürfen zu überhäufen. Was musste er nur von mir denken? Wie hatte ich mich bloß benommen? Welch ein Glück, dass ich ihm nicht noch den Wagen versaut hatte. Oder hatte ich? Nein, bestimmt nicht. Ich war zwar wirklich ziemlich beschwipst in der vergangenen Nacht, wie er es milde nannte, aber so sehr nun auch wieder nicht. Trotzdem, das war mir nur ein schwacher Trost. Ich hoffte inständig, ihn nie mehr in meinem ganzen Leben wiedersehen zu müssen.
Von den peinlichen Gedanken an meinen letzten Fettnäpfchenfehltritt, oder genauer gesagt Sahnecremenäpfchenfehltritt, wurde ich durch einen Blick auf die zerfetzte Wand mir gegenüber abgelenkt. Wie ein schwarzes, gesichtsloses Auge beobachtete mich der freigelegte Hohlraum, und dies ist nicht einfach eine simple Metapher zur Hebung des künstlerischen Niveaus dieser Geschichte, oh nein, ich fühlte mich tatsächlich auf unbestimmte Weise beobachtet, sobald ich die Wand betrachtete.
Endlich kletterte ich aus dem Bett, stolperte über eine leere Coladose, die auf dem Fußboden herumrollte (wie die dorthin gekommen ist, war mir ein Rätsel) und griff noch in Unterwäsche, die aus nichts weiter bestand als einem hellblauen Slip, nach dem Hammer, der in einer Ecke lag. Mit einigen geschicktem Schlägen gelang es mir, die Ränder des Loches um einige Zentimeter zu erweitern. Dann nahm ich den Schraubenzieher und schob das, was sich darin befand, mit der Spitze hin zur Öffnung. Es verhakte sich einige Male, aber schließlich, nach geduldigem Fischen, wurde ein kleines Bein sichtbar. Ich vergaß fast zu atmen vor Erstaunen, denn das, was hier das Licht der Welt erblickte, war eine kleine Puppe, kaum größer als zehn Zentimeter. Sie, besser gesagt er, wie ich aus Kleidung und Haarschnitt ableitete, schien mindestens ebenso erstaunt zu sein wie ich, denn er blickte mich mit einem geradezu komisch wirkenden, entsetzten Ausdruck an.
„Ich fasse es nicht. Da hat doch tatsächlich jemand eine Puppe versteckt.“ Ungläubig schüttelte ich meinen Kopf. „Nein sowas. Bei einem Sparstrumpf könnte ich das ja noch verstehen, aber eine Puppe!“ So führte ich eine Weile meine Selbstgespräche fort, setzte das Püppchen auf die Fensterbank und genehmigte mir statt eines Frühstücks ein Glas Multivitamin-Nahrungsergänzungssaft, welchen ich trank und dabei das kleine Ding neben meinem Orchideentopf unaufhörlich anstarrte.
Zufällig bemerkte ich, dass meine Fußsohlen schwarz waren. Ich hatte zwar gestern den herabgefallenen Putz notdürftig zu einem wie mir schien riesigen Haufen zusammengefegt, doch der schmierige schwarze Staub klebte überall auf der Folie und nun an meinen Füßen. Ich sprang deshalb unter die Dusche, was nicht nur meinen Füßen gut tat, und machte mich mit neuer Energie an die Arbeit. Dieser Mann, Raik hieß er, war völlig vergessen.
Zuerst pinselte ich eine Flasche Tiefengrund auf den sandigen Putz, welche ich hellsichtigerweise ebenfalls gekauft hatte, und als dieser getrocknet war, plünderte ich meine Spachtelpulvervorräte, welche ich in einer großen Schüssel mit Hilfe eines traditionell dekorierten polnischen Volkskunst-Kochlöffels anrührte. Eine Glättkelle war auch zur Hand und nach mehreren Stunden emsigen Rührens und Spachtelns, waren die Ziegelsteine unter einer glatten Füllschicht verschwunden. Zufrieden betrachtete ich das Ergebnis und klaubte einige Klumpen der hellen Masse aus meinen Haaren und von meinem Gesicht, da klopfte jemand an die Tür. „Himmel! Das wird doch nicht wieder mein Nachbar sein?“ betete ich, aber es kam viel schlimmer – es war Raik.
„Hi!“, grinste er und seine Grübchen sprangen mich an, während ich versuchte ruhig zu bleiben und nicht urplötzlich zu sterben. „Wollte mal schauen, ob du heil angekommen bist und ob es dir gut geht.“
„Danke“, erwiderte ich zerstreut, damit bemüht, meine bekleckerten Ringelleggings und das verschwitzte Unterhemd mit Würde zu tragen. Dann erst fiel mir auf, dass er immer noch vor der Tür stand und keine Anstalten machte, zu gehen. Also bat ich ihn herein.
Ich merkte, wie sein Schritt kurz stockte, als er das Zimmer betrat. Eine Sekunde für ihn, eine Ewigkeit für mich, und da ich ihm nicht anbieten wollte, auf meinem zerwühlten Bett Platz zu nehmen, standen wir beide etwas verloren in der Gegend herum. Licht fiel in breiten Streifen durch das Fenster, kleine Staubflöckchen tanzten emphatisch zwischen uns in der Luft. Alle anderen Möbel waren noch beiseite gerückt und abgedeckt.
„Hm, sieht nach Arbeit aus“, bemerkte er scharfsinnig.
„Genau!“, antwortete ich.
„Komme ich ungelegen?“
Dämliche Frage. Die konnte er sich wohl selbst beantworten. Doch ich riss mich zusammen und erzählte schnell, was ich mit dem Zimmer vor hatte, ohne auf seine Frage einzugehen. Danach wusste ich vor Verlegenheit nicht mehr, was ich sagen sollte und griff schnell nach der kleinen Puppe.
„Schau mal. Die habe ich in einem Ziegelstein gefunden. Ist das nicht komisch?“
Er schien weder etwas Komisches noch sonst Interessantes daran zu finden, ja, ich hatte sogar den Eindruck, dass er mir gar nicht zuhörte. Wahrscheinlich hatte er sich seinen Besuch bei mir irgendwie anders vorgestellt.
„Kann man dich auch mal treffen, ohne dass du gerade blau oder beschäftigt bist?“
Dieser leise Spott in seiner Stimme gefiel mir überhaupt nicht, um es gelinde auszudrücken. Er hätte sich ja wenigstens an seine gestrige elegantere Umschreibung erinnern können. In mir begann es zu brodeln.
„Du hast mich doch gerade zweimal getroffen“, antwortete ich trocken.
„Ja, eben. Und ich würde es gerne wieder. Ich finde dich sehr nett und ich hätte Lust, mal wirklich einen ganz entspannten Nachmittag mit dir zu verbringen, völlig ohne Stress.“
Toll! Als trächtiges Zebra fand er mich also nur noch nett. Ich seufzte. Er machte einige Schritte zur Tür und trat gegen die Cola-Dose (warum lag die eigentlich immer noch da?), dann zog er ein kleines Kärtchen aus der Jackentasche.
„Hier, meine Telefonnummer. Und auch wenn du nicht anrufen solltest, melde ich mich bestimmt wieder.“ Spitzbübig grinsend platzierte er sie auf einem der Bücherstapel im Flur und drehte neugierig das obere Buch herum. Es war „Die Glut der Leidenschaft“. Schlimmer konnte es nicht mehr kommen.
Ich schloss gerade die Tür hinter meinem die Treppe hinabspazierenden Besucher, der seine Lederjacke lässig über die Schulter geworfen hatte und auf dem tiefer gelegenen Absatz noch einmal hochschaute, um mir zuzulächeln, als ich bemerkte, dass die Tür der Nachbarwohnung einen schmalen Spalt offen stand. Den Kopf erneut in den Hausflur gestreckt spähte ich angestrengt hinüber. Sofort wurde der Spalt leise geschlossen. Spionierte mein Nachbar mir hinterher?
Lustlos machte ich mich an die Arbeit, die Putz- und Staubberge in Mülltüten zu schaufeln, in welche ich außerdem ganz oben die verstaubten Abdeckfolien stopfte. Nachdem die Fußbodenfolien weg waren, musste ich zu meinem Ärger bemerken, dass der schmierige schwarze Staub an einer kleinen Stelle durch die Folie hindurch auf den elfenbeinfarbenen Teppich gewandert war. Ein kleiner Riss vermutlich. Ich ließ alles stehen und liegen, zerrte den Bodenstaubsauger fluchend über die Zimmerschwelle und brachte ihn mit ein paar gezielten Tritten in Position. Doch selbst als ich den Saugaufsatz abmontierte und mit dem puren Gebläse arbeitete, wollte der Fleck nicht verschwinden. "So ein Mist! Verdammte Sch... noch mal!“ schimpfte ich wütend und rubbelte mit Papiertaschentüchern, Schwämmen und Handbürsten daran herum, was dem Fleck aber nichts anzuhaben schien. Das Schwarz hatte sich mit dem Elfenbein zu einem schmutzigen Grau vermischt, welches mich als scheußlicher Schandfleck sofort ansprang, wenn ich einen Blick auf den Fußboden warf. Ich beschloss, dass ich außer zu renovieren noch genauso gut einen neuen Teppich verlegen könne. Vorerst jedoch waren das Weißen der Decke und das Tapezieren fällig. Zum Glück hatte ich mir die nächsten Tage freigenommen.
Schwitzend bugsierte ich den ersten Müllsack (wie konnte ein bisschen Staub und Sand so schwer sein?) vier Treppen nach unten und überwand zusätzlich eine Kellertreppe, bevor ich vor der schweren Stahltür mit dem riesigen grinsenden Totenkopf (wer hatte den da eigentlich aufgemalt?) halt machte und verschnaufte. Ich hätte die Warnung nicht in den Wind schlagen sollen. Noch ahnte ich nichts von dem Grauen, welches mich in den düsteren Katakomben des Hauses erwarten würde. Mit einem leichten, mir um den Nacken streichenden Unbehagen betrat ich den spärlich beleuchteten Keller. Es roch nach Rattenfäule und Moder, süßlich.
Aus allen Richtungen gähnten mich die schwarzen Löcher der endlosen Gänge an, in die das trübe Licht der kleinen Wandfunzeln nicht hineinreichte. Vorsichtig weitergehend versuchte ich angestrengt etwas in ihnen zu erkennen. Sehr fern von mir ist ein feines Rascheln zu vernehmen. Schritte. Angespannt bleibe ich stehen und lausche. Doch die Dunkelheit scheint nun jedes Geräusch in ihrem schwarzen Schlund verschluckt zu haben. Plötzlich höre ich Worte in einer fremden Sprache. Es ist Russisch, erkenne ich. Dumpf und grollend dringen die Sätze seltsam monoton an mein Ohr, eine Männerstimme. Sie klingt irgendwie verzerrt und unheimlich. Ich verstehe nicht, was sie sagt. Mein Herz beginnt lauter zu klopfen. Zu laut wie ich finde. Ängstlich spähe ich in die verwinkelten Durchgänge um mich her.
Einige Meter weiter, bei einer Abbiegung, beginnt das Licht auf einmal zu flackern. Ein kurzes Summen ertönt und es erlischt. Erstarrt bleibe ich stehen, versuche meine Augen an die plötzliche, undurchdringliche Finsternis zu gewöhnen. Lausche furchtsam hinein. Nur noch der eigene Atem dringt an mein Ohr. Die Stimme ist verstummt. Taste mich mit den Fingerspitzen zur Wand. Loser Mörtel rieselt herab. Die unverputzten Steine schmeicheln sich rau und scharfkantig in meine Hand.
Ich erreiche den Lichtschalter. Er funktioniert nicht. Langsam schiebe ich mich Schritt für Schritt an der Wand entlang in den Gang hinein. Es erscheint mir irgendwann, als habe ich die Richtung verloren. Endlos ziehen sich die Mauern mit ihren Vorsprüngen, Holzverschlägen, Lüftungsgittern und Eisenklappen hin. Im Dunkeln herumirrend pralle ich gegen etwas großes und weiches, springe erschrocken zurück. Unwillkürlich treten Schweißtropfen auf meine Stirn. "Hallo?“, rufe ich fiepsig und bin nicht sicher, ob ich eine Antwort darauf bekommen möchte.
Panisch taste ich mich zurück zum nächsten Durchgang, nicht mehr auf die Wände achtend, an denen ich mich immer wieder schmerzhaft schramme. Grober Mörtelstaub fällt in die Ärmel meiner Jacke auf die nackte Haut meiner Unterarme. Die Hände brennen voller Splitter von den groben Holzverschlägen, aber ich merke es kaum. Etwas bewegt sich in meinem Haar. Ich eile durch die finsteren Gänge, suche nach einem Ausgang. Mir ist, als hörte ich Schritte hinter mir, als würde mir jemand folgen. Blind und angstvoll stolpere ich weiter in irgendeine Richtung. Ein blasser Lichtstrahl zwängt sich trostbringend durch einen Türspalt. Ich fliehe ihm entgegen und so erreichte ich endlich wieder die Stahltür mit dem Totenschädel, das Tor zur Unterwelt. Doch obwohl diese sonst stets offen stand, war sie nun anscheinend fest verschlossen, denn ich bekam sie nicht auf, obwohl ich mich mit aller Kraft dagegen warf.
Hastig suchte ich nach dem Kellerschlüssel in meiner Jackentasche und spürte, wie sich meine Panik steigerte, als ich hinter mir, aus einem der verwinkelten Gänge erneut Schritte hörte. Ich nahm alles nur noch seltsam entfernt wahr und glaubte in einem Albtraum zu sein, aus dem ich jeden Moment erwachen würde. Zittrig probierte ich jeden Schlüssel an meinem Schlüsselbund durch, keiner passte. Zufällig kam ich dabei gegen den Lichtschalter und zu meiner Verwunderung funktionierte er wieder. Schnell drückte ich mich in einen der Gänge, der von den Schritten weg führte und fand einen zweiten Ausgang zum Hof. Erleichtert atmete ich auf, als sich mein Schlüssel mit Leichtigkeit in das Schloss senkte und es sich mit einem leisen Quietschen öffnete.
In meinen Zebraleggins hetzte ich einmal um den ganzen Block und achtete kaum auf die amüsierten Blicke der Leute, die mir belustigt hinterher schauten. Dann erreichte ich den Hausflur von der Straßenseite aus. Den Müllsack hatte ich im dunklen Keller vergessen, doch nichts würde mich jetzt wieder da hinunter bringen. Als ich in der dritten Etage war, hörte ich, wie jemand die Kellertüre zuschlug und die Stufen hinaufkam.
Schnell hastete ich das letzte Stückchen bis zu meiner Wohnung und versteckte mich dort, wobei ich mich hinter dem in die Tür eingelassenen Spion positionierte. Und - irgendwie hatte ich es geahnt -, mein Nachbar Herr Luchterhand, so hieß er nämlich, erschien vor meinem unsichtbaren Auge und betrat seinen Korridor. Das einzige, was ich erhaschen konnte, war ein kurzer Blick auf eine buchefarbene Kommode, über welcher ein Schwarz-Weiß-Poster prangte.
***
Ferdinand, der Seebeuter stand auf dem Ausguck des „Sturmvogels“ und beobachtete aufmerksam den schmalen Küstenstreifen, auf welchem Sankt Petersburg, friedlich schlummernd, am Finnischen Meerbusen ruhte, und welcher südlich von ihm unter einer dünnen Dunstschicht verschwand. Sein blassrotes Haar, das zu einem unordentlichen Zopf gebunden war, wirbelte zerzaust im Wind. Ihm war kalt, auch wenn er sich das nicht anmerken ließ. Normalerweise kreuzte er lieber in südlichen Gefilden, aber der Tipp, den er letztens bei einem Saufgelage in Marrakesch bekommen hatte, erschien ihm sicher. Er hatte seinen Plan der Mannschaft schmackhaft machen können und nun lagen sie hier mitten im eisigen Atem der Ostsee vor Anker. Eine Woche warteten sie schon darauf, dass sich irgendetwas tat, doch bis auf einige uninteressante, abgetakelte Fregatten und sturmhohe Wellen hatten sie noch nichts gesichtet.
Ketten-Hannes, den man so nannte, weil er im Kampf schwere Eisenketten statt der üblichen Stichwaffen bevorzugte, brüllte vom Deck des Schiffes gegen das tobende Meer an, wobei er geschickt einem vom heftigen Wind losgerissenen Tau auswich, welches sich mit blitzschnellem Antrieb auf ihn zu bewegte.
„Wat is?“
Während er das schrie konnte man erkennen, dass er dem Meer und dem Skorbut bereits etliche seiner Kauwerkzeuge geopfert hatte.
„Nichts!“, antwortete Ferdinand.
„Meister, jetzt hocken wir schon seit Ewigkeiten in dieser nordischen Eishölle. Vielleicht war das alles nur eine Ente. Ich will mir endlich wieder 'nen Sonnenbrand auf der Glatze holen und von einem hübschen Mädchen kühl pusten lassen.“
„Laß uns noch warten.“
Ferdinand wusste nicht, wie lange er seine Männer weiter hinhalten konnte, aber er war sich sicher, dass er recht behalten würde.
„Scheiß auf das Zarengold! Wir finden auch woanders genug Beute!“
„Halt’s Maul!“, fuhr ihn Ferdinand scharf an, „ich sage, wir warten!“
Im Hintergrund hörte er andere Männer seiner Mannschaft murren, die das Gespräch verfolgt hatten.
„Hier! Trink!“, rief Ferdinand versöhnlich und warf eine Buddel Rum schwungvoll genau in Ketten-Hannes Arme hinunter. Dieser ließ sich nicht zweimal bitten und es schien, als hätte er den Disput vergessen. Dafür trat ein anderer, sehr viel jüngerer Mann heran, der schmächtig und kraftlos wirkte, dessen arrogante Körperhaltung gepaart mit wachsam blickenden Augen jedoch jede Menge Ehrgeiz verriet.
„Käpt’n, Hannes hat recht! Wir können hier noch ewig herumhängen und dabei erfrieren, ersaufen, verhungern oder verdursten – es wird kein Schiff kommen.“
Bedächtig wendete sich Ferdinand zu dem jungen Freibeuter, bedächtig und langsam kletterte er auf das Deck hinunter. Dann trat er dicht vor Wilfrid Zeew, der ihn misstrauisch beobachtete und sagte so ruhig wie es ihm inmitten des tosenden Meeres möglich war und ohne seinem Blick auszuweichen: „Ich sage – es wird kommen! Und ich bin der Kapitän, wie du richtig bemerkt hast!“
Spontan begannen die Männer der Mannschaft, die dabei zugegen waren, laut „Ein Schiff wird kommen“ zu grölen, einen Schlager, der erst mehrere Jahrhunderte später bekannt und beliebt werden sollte, wobei sie sich unterhakten, ausgelassen schunkelten und anmutig ihre Beine im Takt hoben.
„Ruhe, verdammt!“, schrie der berühmte Kapitän, „Wollt ihr mich verarschen?“
„Jaaaa!“, hörte er eine vorwitzige Stimme.
Ich sollte unbedingt wieder jemanden kielholen lassen, längsseits, dachte er grimmig und seine meergrauen Augen blitzten kalt. Die Besatzung wurde zu aufmüpfig. Aber er war sich auch darüber im Klaren, dass er jeden von ihnen brauchte, wenn er seinen Plan erfolgreich durchführen wollte. So ein Schiff konnte er nicht alleine kapern.
„Hört mal zu Leute. Ich verspreche euch, nur eine Woche noch. Wenn bis dahin nichts passiert ist, dann segeln wir südwärts.“
Die Männer antworteten nicht, doch er sah einige zustimmend nicken. Na also! Ein kleiner Aufschub war besser als gar keiner.
***
Ich hatte mich noch nicht ganz vom Schrecken des gestrigen Tages erholt, da kam ich nach mehrmaligem Überdenken zu dem Ergebnis, dass es wohl am besten wäre, alles zu vergessen. Gedankenversunken knabberte ich an meiner Pizza Capricciosa, die der Pizzabote vor zehn Minuten anstatt eines Frühstücks gebracht hatte. Natürlich war diese russische Stimme, die ich gehört hatte, sehr unheimlich, aber wer weiß, vielleicht war es ja nur ein Handwerker, der etwas im Keller zu tun hatte. Mein Nachbar sicher nicht, denn der sprach reines Deutsch. Wahrscheinlich hatte ich mich nur in irgendwas hineingesteigert. Nachdenklich wiegte ich den Kopf und kaute auf einer Olive. Wenn der Keller nun zum Beispiel Treffpunkt der Russenmafia war? Mit denen wollte ich nichts zu tun haben. Es war zwecklos, wenn ich meinen Müll loswerden wollte, blieb mir nichts anderes übrig, als mich erneut nach unten zu begeben. Einmal um den ganzen Häuserblock mochte ich ihn nicht tragen. Ich seufzte und griff nach der Bildzeitung, welche mir der Pizzabote mit dem Pizzakarton überreicht hatte.
‚Ich war JFK!’ prangte als riesige Überschrift auf der Titelseite – ‚Die Bekenntnis eines früheren Lebens’. So ein Quark. Schnell blätterte ich weiter. Einige Seiten darauf erregte ein kurzer Artikel meine Aufmerksamkeit.
‚Wrack des Kanonenboots Wassilissa vor der russischen Baltikküste gefunden’, die Unterwasserarchäologen sind zur Zeit mit der Kartierung, Inspektion und Inventarisierung beschäftigt, las ich. Es konnten einige, noch verkorkte Weinflaschen, sowie alte Kanonenkugeln geborgen werden. Gleichzeitig hatte man nur wenige Meter vom Wrack entfernt einen abgestürzten Flieger aus dem zweiten Weltkrieg entdeckt, welcher fast vollständig von Schlick begraben, bisher allen Ortungsversuchen widerstanden hatte.
Ich erfuhr außerdem, dass die Ostsee das wrackhaltigste Meer der Erde ist und die meisten Wracks vor der felsigen Küste Rügens liegen. Interessant. Wer weiß, was dort so alles auf dem Meeresgrund schlummert. Ob der Wein wohl genießbar ist? Gesättigt leckte ich einen Streifen Soße von meinem Daumen.
Der Himmel wölkte grau hinter den Gardinen und der ersten Streifen Regen klatschte gegen die Fensterscheibe. Ich packte den zweiten Müllsack und beeilte mich, hinunterzukommen, bevor das Unwetter richtig loslegen würde. Vor der Stahltür mit dem symbolischen Knochengesicht erfüllten mich neuerlich bange Gedanken, doch ich gab mir einen innerlichen Tritt. Der Lichtschalter klickte und die Funzel sprang surrend an. Ich durchquerte den Kellergang bis zu der Stelle, wo die weiße Mülltüte leuchtete, welche ich in meiner Panik hatte hier stehen lassen. Sie war geöffnet und anscheinend durchwühlt worden, denn der sandige Putz war ringsumher auf dem Kellerboden verteilt. Fast nur nebenbei bemerkte ich, wie meine Furcht einer unmerklichen Wut wich. Ich verstand das alles nicht und ich wollte es auch nicht verstehen. Es hatte beinahe den Anschein, als würde jemand hinter mir her spionieren und der einzige, der mir dazu einfiel, war der liebe Herr Luchterhand. Allerdings fragte ich mich, was er in meinen Bauabfällen zu finden hoffte.
Zähneknirschend raffte ich den Plastiksack zusammen und beförderte ihn ebenso wie den zweiten in die Mülltonne. Als ich in den Keller zurückkehrte und die Hoftür abschloss, bemerkte ich aus dem Augenwinkel, dass die grobe Brettertür zum Kellerverschlag meines Nachbarn, welcher sich gleich daneben befand, ein kleines Stückchen offen stand. Das Vorhängeschloss baumelte lose in der Lasche. Da ich nichts hörte, schob ich die Tür vorsichtig
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Susanne Scharnbeck
Bildmaterialien: Susanne Scharnbeck
Tag der Veröffentlichung: 27.05.2013
ISBN: 978-3-7309-2992-6
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