Ich bin schuld, ich bin schuld, hämmerte es in seinem Kopf. Wie dumm er doch gewesen war! Zu glauben, er könnte den Fall ohne Erwachsenenhilfe lösen. Er warf einen kurzen Blick auf seinen Vater. Zerschunden und blutend saß er zusammengesunken auf dem Rücksitz und hielt die Augen geschlossen. Alexander wurde das Herz eng. Plötzlich hatte er das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können. Panik erfüllte ihn. Mein Gott, was sollte er nur tun? Wie waren sie nur in diese ausweglose Situation geraten? Von jetzt an würden sie nirgendwo mehr sicher sein.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst, Papa! Oder?“ Alexander blickte von seinem Teller auf. Seine Gabel blieb auf dem Weg zum Mund in der Luft schweben und er sah seinen Vater über den langen Esszimmertisch an.
Professor von Hardenberg nahm seine Lesebrille von der Nase und rieb sich müde die Augen. „Ich fürchte, doch. Heute Nachmittag hatte ich ein langes Gespräch mit Professor Hollerbach. Sie benötigen schnellstens Ersatz für Klaus Reiter. Und da ich der einzige noch verfügbare Spezialist auf diesem Gebiet bin…“
Charlotte, Alexanders neunjährige Schwester, nahm die Ohrstöpsel ihres MP3-Players heraus. An den Gesichtern ihrer Eltern und ihres Bruders hatte sie erkannt, dass etwas im Busch war. „Was ist denn los?“ Fragend schaute sie ihre Mutter an, die sich neben den Vater an den Tisch gesetzt hatte.
„Nun“, begann Frau von Hardenberg, „Papa hatte uns doch erzählt, dass sein Kollege Klaus Reiter letzte Woche in Abu Dhabi spurlos verschwunden ist. Er war praktisch wie vom Erdboden verschluckt, hat weder eine Nachricht hinterlassen noch irgendwelche Sachen aus seinem Haus mitgenommen. Selbst sein Reisepass lag noch in seiner Schublade im Büro. Und das Projekt, an dem er dort gearbeitet hat, muss natürlich weiterlaufen. Wird die Anlage nicht rechtzeitig fertig, droht dem Konzern eine Millionenstrafe. Deshalb hat Professor Hollerbach euren Vater gebeten, nach Abu Dhabi zu gehen. Und zwar so schnell wie möglich!“
Wütend knallte Alexander seinen Löffel in den Teller. „Geht das schon wieder los? Wieso eigentlich immer wir? Gerade mal zwei Jahre sind wir jetzt hier in Berlin und nun sollen wir schon wieder weg! Meine Klasse ist so super. Und was ist mit meinem Freunden? Einen Freund wie Julius hatte ich noch nie. So ein verdammter Mist.“ Aufgebracht und mit zornigem Blick schaute Alex seine Eltern an. „Ihr könnt alleine gehen, ich bleibe hier. Ich kann doch auf ein Internat hier oder vielleicht bei Julius Familie wohnen.“
Charlotte starrte ihren Bruder an. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Aber ich will nicht ohne dich weg, Alex. Dann bleibe ich auch hier.“ Schniefend zog sie die Nase hoch, die ganz rot geworden war. Wie immer, wenn sie weinte.
Magnus von Hardenberg setzte seine randlose Brille wieder auf und blickte seine Kinder aus seinen klugen braunen Augen aufmerksam an. Es war ihm klar gewesen, dass diese Neuigkeiten nicht mit Jubelschreien aufgenommen werden würden. Es war nie einfach, alles Vertraute wieder aufzugeben. Sie hatten sich in Berlin in letzter Zeit alle sehr wohl gefühlt und eigentlich seit wenigen Monaten erst so richtig eingelebt. Die alte Villa in Frohnau war endlich zu ihrem Zuhause geworden, alles war an seinem Platz.
„Ich kann dich sehr gut verstehen, Alexander. Wir sind auch traurig. Aber dass Mama und ich ohne euch gehen, kommt gar nicht infrage. Wir sind eine Familie. Entweder wir gehen alle oder keiner. Außerdem ist dieser Auslandsaufenthalt auf zwei Jahre beschränkt, vielleicht kann die Firma das Projekt sogar schon eher abschließen. Wir könnten unser Haus behalten und in den Ferien immer hierhin kommen. Ben und Mary Poppins würden wir natürlich mitnehmen.“
Charlottes Tränenfluss stoppte abrupt. Erleichterung machte sich auf ihrem kleinen Gesicht breit. Ben war ihr heiß geliebter Retriever und Miss Poppins ihre rotweiß getigerte Katzendame.
Barbara von Hardenberg räumte die letzten Teller in die Spül-maschine und wischte sich die Hände am Küchentuch ab, bevor sie zu ihrem Sohn ging und sich auf den freien Stuhl neben ihm setzte. Sie legte den Arm um seine Schulter. „Schau, Alexander, ich weiß genau, wie du dich fühlst. Es ist so schwer, immer wieder von vorne anfangen zu müssen und immer wieder der Neue zu sein. Aber euer Vater hat nun mal diesen Beruf und der beinhaltet Versetzungen und Umzüge. Wir müssen aber auch alle ehrlich zugeben, dass wir von seinem Job gut leben können. Es ist ja nicht alles immer schlecht gewesen, oder? Wir haben tolle Menschen und Orte in den letzten Jahren kennengelernt. Denk doch nur mal an Daniel Legrand. Ihr mailt euch doch immer noch, oder?“ Sie strich ihrem Sohn über die widerspenstigen blonden Haare.
Alexander, der furchtbar schnell aufbrausen, sich aber auch genauso schnell wieder beruhigen konnte, grinste seine Mutter an. „Eigentlich hast du recht, Mama.“ Er wurde schnell wieder ernst. „Aber am Anfang ist es immer so schwer, in eine neue Klasse zu kommen. Alle starren einen ein an und tuscheln. Man fühlt sich, als käme man von einem anderen Stern.“ Charlotte nickte zustimmend. „Ja, genau. Und die meisten kennen sich schon seit dem Kindergarten und wollen gar keine neuen Freunde in ihrer Mitte!“
Barbara überlegte einen Moment, ehe sie ihren Kindern antwortete: „Das dürfte in Abu Dhabi aber anders sein. Die meisten Familien sind nur für eine befristete Zeit dort, genau wie wir. Da ist ein ständiges Kommen und Gehen an der Schule. Die Kinder sind deshalb Neuen gegenüber sehr viel offener. Sie sind ja selber noch nicht so lange dort.“ Alexander sah seine Mutter aufmerksam an und nickte schließlich. „Klingt irgendwie logisch, was du da sagst. Und für zwei Jahre werde ich es wohl irgendwie aushalten. Hauptsache, wir kommen in den Ferien immer nach Berlin, sodass ich meine Freunde sehen kann. Das müsst ihr uns versprechen!“ Als seine Eltern sich beeilten, ihm dies hoch und heilig zu versichern, kehrte auch sein Humor wieder zurück. Und außerdem können wir Papa nicht alleine nach Arabien schicken, der käme ohne uns ja sofort unter die Räder oder vielmehr unter die Kamelhufe, so zerstreut wie er ist!“
Nachdem die Kinder den Tisch abgeräumt hatten und hinauf in ihre Zimmer gegangen waren, schenkte Magnus von Hardenberg seiner Frau und sich ein Glas Rotwein ein. „Das haben wir uns jetzt verdient, Barbara. Komm, wir setzen uns einen Moment in den Wintergarten, bevor ich noch eine Runde mit Ben drehe.“ Der Wintergarten, ein achteckiger, gläserner Pavillon mit Blick auf den großen Garten und die alten, hundertjährigen Bäume, nachträglich an die alte Villa angebaut, war der schönste Raum des Hauses.
Barbara seufzte leise. „Nicht nur den Kindern, auch uns wird der Abschied schwerfallen, Magnus.“ Magnus nahm die Hand seiner Frau und drückte sie kurz. „Ich weiß, mein Schatz. Es wird für uns alle nicht einfach. Aber ich mache mir um unsere Kinder keine Sorgen. Eigentlich lieben sie doch Herausforderungen und Abenteuer. Erinnerst du dich noch an unsere Zeit auf Malta, als sie dem Geheimnis der Grabdiebstähle auf die Spur gekommen sind? Was waren wir doch stolz, als der Polizeipräsident von Valetta sie für ihre Hilfe belobigt hat!“
Lächelnd sah er seine Frau an. „Und glaube mir, Liebes, auch in Arabien wird es für unsere beiden sicherlich keine Langeweile geben.“ Mit diesen Worten stand er auf und pfiff kurz nach dem Hund. „Komm, Ben, Gassi gehen!“ Sofort kam der Golden Retriever angetobt und sprang um sein Herrchen herum. Ben liebte es, in der Dämmerung spazieren zu gehen. Überall knisterte und knackte es im Gebüsch und es gab soviel zu schnüffeln und zu erkunden. Schließlich war er ja genauso neugierig wie der Rest der Familie.
Am nächsten Morgen wachte Charlotte schon früh auf. Durch die großen Fenster konnte sie sehen, dass es langsam dämmerte. Sie hatte mal wieder vergessen, ihre Vorhänge zuzuziehen. Die Äste der Birke warfen lange dunkle Schatten in ihr Zimmer. Es musste demnach ungefähr sechs Uhr sein. Also blieb genügend Zeit, sich noch einmal gemütlich in die Decke einzukuscheln und über die bevorstehenden Ereignisse nachzudenken.
Arabien. Leise sprach Charlotte das Wort aus. Hörte sich ge¬nauso schön an wie Schokolade oder Winterabend. Sie dachte an die Märchen aus Tausendundeiner Nacht. In den Geschichten wurde von Palästen, wunderschönen Prinzessinnen und Kamelkarawanen erzählt. Aber das war Jahrhunderte her. Wie musste man sich das heutige Arabien vorstellen? Sie würde ihren Bruder nach der Schule bitten, mit ihr mal im Internet unter Abu Dhabi nachzuschauen.
Charlotte drehte sich auf die andere Seite und ließ die Hand am Bett hinuntergleiten. Ihre Finger stießen auf seidig weiches, warmes Fell. Ben schnaufte leise. Heute Nacht hatte der Hund auf dem dicken Wollteppich vor ihrem Bett geschlafen. Der Golden Retriever verteilte seine Gunst gleichmäßig auf die ganze Familie. Mal schlief er in Alexanders Zimmer, mal im Zimmer der Eltern und mal bei ihr. Wie gut, dass sie die Tiere mitnehmen konnten.
Charlotte sah nach dem Wecker, der auf ihrem Nachttischchen stand. Sechs Uhr zwanzig. In zehn Minuten würde sie aufstehen müssen. Anna und ihre Freundinnen würden aber Augen machen, wenn sie die Neuigkeiten heute vor der Schule erzählte. Als sie aus dem Bett sprang und die geschwungene Holztreppe hinunter ins Badezimmer lief, musste sie noch kurz an den Kollegen ihres Vaters denken, Klaus Reiter. Hoffentlich war ihm nichts passiert.
„Komm, Charlie, beeil dich mal! Wenn wir weiter in diesem Schneckentempo vorwärts gehen, kommen wir garantiert zu spät“, maulte Alexander seine Schwester an. Sie hatten gerade den Zeltinger Platz überquert und bogen in die mit Kastanien gesäumte Allee ein, die zur Schule führte. Charlie beeilte sich, zu ihrem Bruder aufzuschließen. „Was glaubst du, Alex, wann geht es denn wohl los?“
Der Dreizehnjährige zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, aber wie ich Papa verstanden habe, stehen die dort unten mächtig unter Druck und brauchen dringend seine Hilfe. Ich glaube, Papa wird diese Woche schon fliegen. Mama hat heute Morgen mit dem Umzugsunternehmen gesprochen. Wir brauchen ja einen Container für unsere Möbel. Die werden verschifft und sind bestimmt drei Wochen auf hoher See unterwegs.“
Charlotte nickte. „Stimmt. Schade, dass wir nicht auch mit dem Schiff reisen können. Wäre bestimmt spannend, auf so einem Containerschiff als Passagier mitzufahren. Und wer weiß“, aufgeregt stieß sie ihren Bruder an, „vielleicht haben sie Papas Kollegen ja auf so ein Schiff verschleppt. Deshalb gibt es auch keine Spur von ihm!“
Alexander grinste seine kleine Schwester an. „Du hast mal wieder eine blühende Fantasie, Charlie. Ich glaube, du liest zu viele Krimis.“ Er hielt kurz inne, während er seinem Kumpel Julius zuwinkte, der vor dem Schultor auf ihn wartete. „Aber eigentlich ist die Idee gar nicht so übel. Denn wie sollte er ohne Pass das Land verlassen haben können? Ich glaube, da haben wir wieder einiges vor uns, Schwesterchen! Aber jetzt lass uns erstmal die Neuigkeiten loswerden.“
Die Hardenberg-Kinder waren heute das Gesprächsthema Nummer eins in der Evangelischen Schule Frohnau. In Windeseile hatte sich herumgesprochen, dass Alex und Charlie Berlin in Richtung des Arabischen Golfes verlassen würden. Charlottes Freundin Anna brach in Tränen aus und konnte nur durch Charlies Versprechen beruhigt werden, sie jedes Jahr in den Sommerferien zu besuchen.
„Charlie, ich will nicht, dass du gehst. Mit dir und Alex macht es immer so viel Spaß! Erinnerst du dich noch an die Schulrallye im letzten Sommer? Das war so eine tolle Idee deines Bruders. Er hat uns kreuz und quer durch Frohnau geschickt und uns auf falsche Fährten gelockt, bis wir den Schatz dann endlich im Reitstall am Poloplatz gefunden haben.“ Annas Augen leuchteten, als sie an diesen schönen Tag zurückdachte. „Und das Lampionfest abends auf dem Schulhof. Weißt du noch? Eurer Ben hat heimlich so viele Würstchen gefressen, dass er die nächsten Tage nur noch auf den kalten Fliesen lag, um seinen dicken Bauch zu kühlen!“
Als Alexander und Charlotte am frühen Nachmittag nach Hause kamen, öffnete die Mutter ihnen die Tür. Ben kam schwanzwedelnd auf sie zugelaufen.
„Da seid ihr ja. Kommt rein, ich habe Spaghetti Bolognese gemacht. Mensch, Alex. Kannst du nicht einmal deine Sachen ordentlich aufhängen, anstatt sie immer auf den Boden zu schmeißen?“ Seufzend hob Barbara von Hardenberg die Jacke ihres Sohnes auf und folgte ihren Kindern in die große Wohnküche. Während sie aßen, erzählte die Mutter, was sie am Vormittag in die Wege geleitet hatte: „Papa hat seinen Flug für Donnerstag gebucht, also übermorgen. Er fliegt über Frankfurt nach Abu Dhabi. Die Zeit drängt, denn die Emiratis machen Druck und es gibt immer noch keine Neuigkeiten von Klaus Reiter. Heute Morgen habe ich ein Umzugsunternehmen für uns beauftragt. Einen Teil der Möbel lassen wir hier, damit wir in den Ferien auch noch hier wohnen können.“
Die Mutter hielt kurz inne und griff dann nach Notizblock und Bleistift. „Da fällt mir noch was ein. Wir müssen für Ben und Poppy einen Tierarzttermin vereinbaren. Die beiden brauchen ein amtstierärztliches Zeugnis, damit sie in die Vereinigten Arabischen Emirate einreisen dürfen.“
Charlie schaute ihre Mutter an. „Arme Mama. Du musst an so viel denken. Und alles ohne Papas Hilfe. Hast du schon bei unserer Schule angerufen? Die Neuigkeiten sind jedenfalls wie eine Bombe eingeschlagen, stimmt’s, Alex?“ Alex nickte und aß langsam die letzten Spaghetti auf. „Und wann geht’s für uns dann los? Können wir dann wenigstens noch eine Abschiedsparty für unsere Freunde geben?“, fragte er seine Mutter.
Diese zögerte mit der Antwort. „Euren Direktor habe ich natürlich als Erstes angerufen. Er bedauert unseren Wegzug sehr und wird eure Klassenlehrer unterrichten. Ihr bekommt für die neue Schule in Abu Dhabi ein Zwischenzeugnis ausgestellt. Papa kümmert sich von dort aus um eure Anmeldung. Außerdem macht er sich dann auch gleich auf die Suche nach einem Haus für uns.“
Sie schenkte den Kindern noch etwas Orangensaft ein und fuhr dann fort: „Die Möbel, die wir mitnehmen, werden in zehn Tagen abgeholt. Papas Sekretärin hat unsere Flüge auch schon gebucht, für den 24. Mai. Das wäre in 14 Tagen. Ihr seht, es geht alles ziemlich schnell.“ Sie nahm beide Kinder fest in die Arme. „Aber wir werden auf jeden Fall noch eine Abschiedsfeier für unsere Freunde geben. Versprochen!“
Zwei Tage später brachten die Geschwister zusammen mit ihrer Mutter den Vater zum Flughafen Berlin-Tegel. Da sie ihren Papa ja schon in zwölf Tagen wiedersehen würde, nahm auch Charlotte den Abschied leicht und vergoss diesmal keine Tränen. Alexander war seine nah am Wasser gebaute kleine Schwester manchmal etwas peinlich.
Magnus von Hardenberg wirkte zuversichtlich. Er freute sich auf die neue, spannende Aufgabe. Und vielleicht war Klaus Reiter ja bis zu seiner Ankunft wohlbehalten wieder aufgetaucht. Nachdem er eingecheckt und sein Gepäck aufgegeben hatte, begleitete ihn die Familie noch bis zur Sicherheitskontrolle. Er küsste seine Frau und hockte sich vor Alexander und Charlotte, um sie zu umarmen. „Bis bald, meine Lieben. Sobald ich in Abu Dhabi gelandet bin, melde ich mich bei euch. Versucht, euch von dem Stress der nächsten Zeit nicht zu sehr mitnehmen zu lassen. Ich liebe euch.“ Nach diesen Worten verschwand ihr Vater durch die Sicherheitsschleuse.
Weil Alex und seine Schwester die Atmosphäre am Flughafen so aufregend fanden und liebend gerne selber ins Flugzeug gestiegen wären, bummelte ihre Mutter noch mit ihnen durch die kleine Ladengalerie im Abflugbereich und bestellte ihnen eine Cola im Airport-Café. Von ihrem Platz am Fenster hatten sie einen tollen Blick auf die startenden Flugzeuge. In Alex’ Bauch begann es zu kribbeln, ein wohliges Gefühl der Vorfreude stieg in ihm auf. In knapp zwei Wochen würden auch sie im Flugzeug sitzen und in dieses heiße, unbekannte Land fliegen, in dem Datteln auf den Palmen wuchsen und Männer lange weiße Kittel trugen. Er war vor Erwartungen ganz aufgeregt.
Am nächsten Morgen um sieben Uhr meldete sich Magnus von Hardenberg aus Abu Dhabi. Er war gut angekommen und saß gerade in einem Taxi, welches ihn ins Hilton Hotel brachte. „Stellt euch vor, hier ist es früh am Morgen und schon fast 30 Grad warm, richtiges Wüstenklima. Das Meer habe ich auch schon gesehen! Es ist türkisblau, ich würde am liebsten gleich reinspringen. Aber das geht leider nicht. Ich mache mich kurz frisch und muss dann gleich zur Niederlassung. Heute Nachmittag habe ich übrigens einen Maklertermin und schaue mir zwei Häuser an. Drückt mir die Daumen, vielleicht ist ja schon das richtige für uns dabei. Bis heute Abend, meine Liebsten!“
Es stellte sich heraus, dass es doch mühsamer war als gedacht, ein geeignete Bleibe für die Familie zu finden. Der Vater verbrachte viele Nachmittage mit Besichtigungsterminen, bis er schließlich ein schönes Haus mit kleinem Garten im Zentrum von Abu Dhabi fand.
In der Zwischenzeit waren die drei beziehungsweise fünf Zurückgebliebenen auch nicht untätig gewesen. Alexander und Charlotte hatten die Einladungskarten für ihre Abschiedsfeier geschrieben und an ihre Klassenkameraden und Freunde verteilt. Das Fest würde zwei Tage vor ihrem Abflug stattfinden, am 22. Mai. Es sollte im Garten unter den alten Kastanienbäumen gefeiert werden, natürlich unter dem Motto „Arabische Nächte“.
Die Möbel wurden am 20. Mai abgeholt. Ben und Mary Poppins erhielten die benötigten Impfungen und Bescheinigungen von ihrem langjährigen Tierarzt Dr. Vogel. Die Katze würde in einem kleinen Käfig in der Kabine mitfliegen dürfen, der arme Ben musste jedoch ins sogenannte Belly, den Laderaum unter der Passagierkabine. Charlotte und ihre Mutter fuhren noch schnell nach Tegel, um in dem riesigen Laden für Heimtierbedarf eine Transportbox Größe XXL für den Golden Retriever zu kaufen.
Abends telefonierte Barbara von Hardenberg mit ihrem Mann. „Ich glaube, wir haben an alles gedacht. Mir fällt jedenfalls nichts mehr ein. Jetzt kümmern wir uns nur noch um die Vorbereitungen für die Abschiedsfeier. Wir machen ein arabisches Buffet und zum Glück hilft Birgit uns dabei.“ Birgit war Barbaras beste Freundin und wohnte mit ihrem Mann und den drei Söhnen zwei Straßen weiter in der Glienicker Allee.
„Und wie war dein Tag heute?“, fragte Barbara ihren Mann. „Ich bin wirklich froh, wenn ihr bald kommt“, antwortete dieser. „Auch wenn es nur zwei Wochen Trennung sind – ihr fehlt mir. In das Projekt konnte ich mich schon ganz gut einarbeiten. Aber weil mir noch ein Ordner fehlte, musste ich heute an Klaus Reiters Schreibtisch, Barbara. Und als ich in den Schubladen nach den Unterlagen suchte, bin ich auf etwas Merkwürdiges gestoßen. Unter einem großen Stapel Papier fand ich einen weißen Schnellhefter mit gesammelten Zeitungsartikeln aus den „Gulf News“. Alle beschäftigen sich mit den Mitgliedern der Herrscherfamilie. Fotos, die diese Angehörigen auf Empfängen und Feiern zeigen, sind säuberlich ausgeschnitten und mit Datum und Ort versehen.
Ich verstehe das nicht. Warum interessierte sich Klaus Reiter für diese Leute? Das passt überhaupt nicht zu seiner Persönlichkeit. Hinzu kommt, dass ich in dem Ordner handgeschriebene Zettel gefunden habe. Dort stehen nur Zahlen, dazu Datumsangaben, aus denen ich einfach nicht schlau werde. Vielleicht ist das etwas Verschlüsseltes, ein Code. Ich kann mir das nicht erklären.“
Barbara, die sich die Schilderungen ihres Mannes ruhig angehört hatte, antwortete nach kurzem Nachdenken. „Das klingt alles nicht gut. Ich denke, man kann schon längst nicht mehr davon ausgehen, dass Klaus Reiter nur ein paar Tage ausspannen wollte und vergessen hat, sich abzumelden. Was sagt denn die Polizei dazu? Wer hat ihn denn vermisst gemeldet?“
Als Alexander ins Wohnzimmer kam, hörte er, wie seine Mutter aufgeregt ins Telefon sprach. „Das kann ich nicht glauben, Magnus! Warum hat ihn denn keiner als vermisst gemeldet? Was ist, wenn der Mann verletzt ist und irgendwo auf Hilfe wartet ? Die Ara Group möchte den Fall diskret behandeln? Was soll denn das heißen? Wenn du mich fragst, da soll irgendetwas vertuscht werden.
Magnus, tu mir bitte den Gefallen und mische dich nicht ein. Noch nicht. Warte, bis wir kommen. Ich möchte mir keine Sorgen um dich machen müssen. Halte dich einfach an die Arbeitsanweisungen von Professor Hollerbach.“
Als sie auflegte, konnte man ihr die Anspannung ansehen. In dem Gesicht meiner Mutter kann man lesen wie in einem Buch, dachte Alexander. Jede Gefühlsäußerung spiegelte sich in ihrer Mimik wieder, ob sie wollte oder nicht. Und Charlotte hatte diese Eigenheit von ihrer Mutter geerbt. Alexander schob Miss Poppins beiseite und setzte sich neben seine Mutter aufs Sofa. „Was ist los, Mama? Du siehst ein bisschen fertig aus.“
Barbara sah ihren Sohn an und lächelte kurz. „Danke fürs Kompliment, Großer. Ich habe gerade mit Papa gesprochen. Keine Sorge, mit ihm ist alles in Ordnung. Nur Klaus Reiters Verschwinden wird immer mysteriöser. Die Ara Group, das ist das emiratische Unternehmen, das die Anlage von Papas Firma gekauft hat, wollte keine Vermisstenanzeige bei der örtlichen Polizei aufgeben. Das wäre schlechte Publicity, meinten sie als Begründung. Das ist doch wohl ein schlechter Scherz! Es geht hier um ein Menschenleben! Auf jeden Fall habe ich deinem Papa dringend geraten, erst einmal nur seinen Job zu machen und sich nicht in die Sache einzumischen.“
Alexander stimmte zu. „Da hast du recht. Wir wissen ja auch gar nicht, worum es überhaupt geht. Es kann immer noch eine ganz harmlose Erklärung geben. Denn wenn erst einmal ein Stein ins Rollen gebracht wurde, kann das schnell böse Folgen für alle haben. Ich habe im Internet nachgelesen, dass die Emiratis sehr stolze Menschen sind. Ihre Familienehre und ihr guter Name sind ihnen sehr wichtig. Wenn man ihnen etwas Unrechtes unterstellt, können sie bestimmt sehr nachtragend sein. Das ist bei ihnen nicht viel anders als bei uns. Mit Anschuldigungen muss man immer sehr vorsichtig sein.“
Barbara sah ihren Sohn an und nickte anerkennend. Er ist dreizehn Jahre alt und durchschaut die Zusammenhänge schon wie ein Erwachsener, dachte sie. Und er hat sich schon über das Land und die Menschen informiert, in dem er bald leben wird. Manchmal überraschte er sie sehr. So vernünftig! Von wem hatte der Junge das bloß? Von ihr jedenfalls nicht.
Sie stand auf und ging Richtung Küche. „Ich brauche jetzt erst einmal einen starken Kaffee und was Süßes auf diesen Schreck. Möchtest du auch was?“
Am Morgen des 22. Mai standen die Hardenbergs früh auf. Während die Kinder duschten und sich anzogen, war Barbara bereits mit Ben die Runde gegangen und hatte auf ihrem Spazierweg an der Bäckerei Lindner angehalten und frische Brötchen und die „Berliner Morgenpost“ gekauft. Ein letztes Mal noch wollten die drei gemütlich im Wintergarten frühstücken, mit allem was dazu gehörte. Alex sollte Rührei mit Speck zubereiten und Charlie den Tisch besonders sorgfältig decken. Sie wollten noch einmal mit allen Sinnen die Atmosphäre dieser schönen alten Villa in sich aufnehmen und diese Erinnerung dann mit nach Abu Dhabi neh¬men, leider heute ohne Magnus. Als sie am Tisch beisammensaßen, die Sonnenstrahlen sich ihren Weg durch die Blätter der alten Kastanie bahnten und der Tau auf dem Rasen glitzerte, hatten alle drei einen Kloß im Hals. Alex räusperte sich und sagte: „Als wollten das Haus und der Garten uns noch einmal zeigen, wie wunderschön es hier ist.“
Die Mutter stellte ihre Kaffeetasse ab und blickte auf einen Punkt weit in der Ferne. „Genau dieses Gefühl habe ich auch. Als wollten sie uns nicht gehen lassen.“ Sie blickte hinüber zu ihrer Tochter. „Und was meinst du?“
Charlotte schob den Teller mit dem Rührei zur Seite. „Ich finde, wir sollten uns den Abschied nicht noch schwerer machen. Wir gehen doch nicht für immer weg, oder?“ Sie nahm ein Stückchen Speck und schob es Ben unter dem Tisch zu, ohne dass ihre Mutter es sehen konnte. „Wenn wir wie die Trauerklöße hier herumsitzen, stecken wir unsere Freunde heute Abend mit dieser Laune an und es wird nur noch geheult werden. Schrecklicher Gedanke! Wie sagt Opa Friedrich immer? Sich regen bringt Segen. Oder: Auf die Dauer hilft nur Power.“
Damit sprang sie auf und begann, den Tisch abzuräumen. Barbara von Hardenberg und ihr Sohn sahen sich an und mussten lachen. „Wenn wir dich nicht hätten, Charlie.“ Gemeinsam räumten sie auf und begannen mit den Vorbereitungen für das Buffet. Es sollte Kichererbsenpüree, Auberginenpüree und gefüllte Weinblätter als Vorspeise geben. Dazu würde dünnes, arabisches Brot gereicht. Als Hauptspeise waren gefüllte Fleischbällchen und gegrilltes Hühnchen mit gebratenen Kartoffeln angedacht. Birgit, Barbaras Freundin, hatte als Süßspeisen Halwa, Brotpudding und gefüllte Dattelkekse zubereitet.
Am Nachmittag fuhren Charlotte und ihre Mutter zum Bahnhof Berlin-Mitte, um ihre Großeltern abzuholen, die aus Hamburg angereist kamen. Friedrich und Sophie von Hardenberg waren Magnus’ Eltern. Die Kinder mochten sie sehr, auch wenn sie etwas hanseatisch steif und altmodisch waren. Die von Hardenbergs waren eine alte Hamburger Familie und Friedrich von Hardenberg emeritierter Professor für Archäologie. Die Kinder hatten manchmal den Eindruck, dass ihm die Vergangenheit weitaus wichtiger war als die Gegenwart. Sophie, seine Ehefrau seit nunmehr 47 Jahren, nahm seine Begeisterung für Gegenstände, die seit Tausenden von Jahren verstaubt in der Erde gelegen hatten, gelassen hin.
Pünktlich um fünfzehn Uhr drei fuhr der ICE aus Hamburg in den Bahnhof ein. Charlotte entdeckte ihre Großeltern als Erste, was auch nicht besonders schwierig war, denn Opa Friedrich war ein sehr großer Mann von über einem Meter neunzig und hielt sich zudem sehr gerade. Sie rannte auf die beiden zu und umarmte sie stürmisch.
„Oma, Opa, wie schön, dass ihr gekommen seid. Ich bin ja so aufgeregt! Alex ist zuhause geblieben, weil er noch die Lampions im Garten aufhängen und die Fackeln verteilen muss!“ Oma Sophie lächelte ihre Enkelin an und strich ihr über den Mittelscheitel. „Charlotte, Kind! Doch nicht so wild. Du wirfst uns ja um.“ Prüfend schaute sie Charlie an. „Groß bist du geworden. Und deine Haare sind bestimmt zehn Zentimeter gewachsen, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben!“
Auf ihre Haare war Charlotte sehr stolz. Dunkelblond, dick und glänzend fielen sie weit über die Schultern. In der Schule oder zum Sport hatte sie die Haare meist zu einem Pferdeschwanz gebunden, doch heute trug sie sie zur Feier des Tages offen.
Barbara von Hardenberg hatte inzwischen ihre Tochter eingeholt und umarmte ihre Schwiegereltern. „Sophie, Friedrich, ich freue mich. Ich hoffe, die Fahrt war nicht zu anstrengend.“
„Nein, diesmal kann man der Bundesbahn keine Vorwürfe machen. Keine Verspätungen oder langen Wartezeiten“, antwortete ihr Schwiegervater. „Aber die jungen Leute, die mit uns im Abteil waren … Kein Benehmen mehr heutzutage. Lümmelten auf den Sitzen herum und jedes zweite Wort aus ihrem Mund war ein Fäkalwort! Wäre so einer unter meinen Studenten gewesen, ich hätte ihn aus der Vorlesung geworfen!“ Wie zur Untermalung seiner Aussage stieß er mit seinem Spazierstock, den ein silberner Löwe als Knauf zierte, Löcher in die Luft. Zum Glück befanden sich keine Menschen mehr auf dem Bahnsteig.
Charlie musste heimlich grinsen und zwinkerte ihrer Mutter zu. Das war Opa Friedrich wie er leibte und lebte. Eigentlich war er ein liebenswerter Mensch, er kam aber mit der heutigen Zeit nicht wirklich zurecht. Seine Frau Sophie, die zum Glück Nerven wie Drahtseile hatte, musste sich oft stundenlang seine Monologe über den Untergang des Abendlandes anhören. Am besten war es, man ließ ihn reden. Nach einer Weile fiel ihm dann auf, dass seine Sätze ins Leere liefen und keine Zuhörer mehr da waren. Auch heute nahm Barbara das Reisegepäck ihrer Schwiegereltern auf und strebte mit Sophie und Charlotte zum Ausgang, während ihr Schwiegervater folgte und weiter in seinen Bart brabbelte.
Zwanzig Minuten später fuhren sie die Einfahrt ihres Hauses hinein und Alexander kam mit Ben aus dem Garten gelaufen, um seine Großeltern zu begrüßen. Nachdem sich Opa und Oma etwas frisch gemacht hatten, tranken sie gemeinsam auf der Terrasse den ostfriesischen Tee, den Oma Sophie eigens aus Hamburg mitgebracht hatte.
„Was ist denn mit Constanze und Wladimir? Kommen die beiden nicht auch zur Abschiedsfeier?“, erkundigte sich die Großmutter, während sie ein Stückchen des köstlichen Käsekuchens auf ihre Gabel spießte. Opa Friedrich, der kurzzeitig im Gartensessel eingenickt war, riss bei der Erwähnung der beiden Namen die Augen auf und schnaubte.
Constanze war Barbaras Mutter und Wladimir ihr zehn Jahre jüngerer Lebensgefährte. Barbara war von Constanze allein großgezogen worden und sehr stolz auf ihre unabhängige, erfolgreiche Mutter. Constanze Lazar war Malerin und Bildhauerin mit eigenem Atelier in Düsseldorf und hatte Wladimir kennengelernt, als sie ein Modell für ihre neueste Arbeit gesucht hatte. Bei beiden war es Liebe auf den ersten Blick gewesen, und obwohl kaum einer dem ungleichen Paar eine Chance gegeben hatte, waren sie mittlerweile seit acht Jahren unzertrennlich.
„Nein, leider nicht“, antwortete Barbara auf Sophies Frage. „Constanze eröffnet morgen ihre Ausstellung und kann deshalb nicht aus Düsseldorf weg. Aber sie hat versprochen, dass beide uns bald in Abu Dhabi besuchen kommen.“
„Und, wie geht es den beiden so?“, mischte sich Friedrich, der nach seinem Nickerchen wieder hellwach zu sein schien, ins Gespräch ein. „Ich muss dir sagen, Barbara, als ich das erste Mal den Lebensgefährten deiner Mutter gesehen habe, dachte ich, jetzt ist sie vollkommen verrückt geworden. Er sieht ja nun mal aus wie ein Türsteher aus dem Rotlichtmilieu. Diese Tätowierungen auf den Oberarmen und dann noch dieser russische Akzent. Dabei ist deine Mutter doch so eine gebildete Frau. Sie hätte etwas ganz anderes haben können.“
„Jetzt hör aber mal auf, Friedrich, du verdirbst uns mit deiner Miesepeterlaune noch den ganzen schönen Nachmittag“, unterbrach ihn seine Frau. „Das Thema haben wir doch schon zigmal durchgekaut. Wir wissen mittlerweile, dass du Wladimir nicht leiden kannst.“ Und trotzig fügte sie hinzu: „Ich kann Constanze schon verstehen. Auch wenn er keinen Universitätsabschluss hat“, ein kurzer Seitenblick auf ihren Mann, „so ist er doch ein herzensguter Mensch, der alles für seine Frau tun würde. Und das er früher Kirmesboxer war, nun ja. Heute ist der Beruf des Boxers doch schon gesellschaftsfähig geworden. Ich denke da an Henry Maske und die Klitschko-Brüder. Oder was meint ihr dazu?“
Alexander und Charlotte stimmten ihrer Großmutter aus vollem Herzen zu. Sie liebten Wladimir heiß und innig. Nicht nur, dass er bärenstark war und man mit ihm eine echte Schau machen konnte, nein, er erzählte ihnen auch wunderbare Geschichten aus seiner Zeit auf der Reeperbahn.
„Möchtest du noch ein Stück Kuchen, Opa?“, versuchte Charlotte ihren Großvater abzulenken. „Und erzähl doch mal, wie war das noch, als ihr bei den Ausgrabungen um den Kölner Dom den Mosaikfußboden entdeckt habt?“ Niemand in der Familie von Hardenberg konnte derart meisterhaft vom Thema ablenken wie Charlie. Prompt fiel Opa Friedrich auf den Köder herein und begann eine seiner langatmigen Erzählungen zum Thema Archäologie. Alle entspannten sich und ließen sich von den Worten des Großvaters berieseln.
Gegen siebzehn Uhr klingelte es an der Haustür. Birgit stand draußen mit einem großen Weidenkorb, der mit etlichen Schüsseln gefüllt war. „Hallo, meine Lieben! Ich dachte mir, ich komme lieber etwas früher und helfe euch beim Aufbau. Stefan kommt mit den Jungs in einer Stunde nach. Sie haben noch Fußballtraining.
Barbara, ich darf gar nicht daran denken, dass dies der vor¬letzte Abend ist. Vorbei die Zeiten, in denen ich einfach bei dir vorbeischauen und einen Kaffee mit dir trinken konnte. Ich könnte heulen.“ Birgit lachte bei ihren Worten, aber der Ernst des Gesagten war nicht zu verkennen.
Sie trat in die Diele und legte ihre Jacke auf die alte Dielentruhe. Birgit und Barbara hatten sich durch ihre Jungs kennengelernt. Frierend hatten sie an einem kalten Novembernachmittag auf dem Fußballplatz gestanden und ihren Sprösslingen beim Spiel zugeschaut. Beide waren sich auf den ersten Blick sympathisch gewesen. Die große, ruhige Birgit mit ihren dunklen Haaren und den klugen braunen Augen war schnell Barbaras beste Freundin geworden. Es ist eigentlich kaum vorstellbar, dass wir uns bald nicht mehr jeden Tag sehen können, dachte Barbara, als sie die Freundin zur Begrüßung umarmte. Wie soll ich das bloß aushalten?
Beide gingen durch das Wohnzimmer auf die Terrasse, wo Birgit die Schwiegereltern ihrer Freundin begrüßte. Sie tranken alle noch eine Tasse Tee, bevor sie das Buffet auf langen Tapeziertischen aufbauten und die Getränke aus dem Keller hinaufholten. Die Gäste würden in zwei Stunden kommen.
Das Abschiedsfest wurde ein voller Erfolg. Dieser Abend würde allen noch lange in Erinnerung bleiben. Der Garten sah überirdisch schön aus, beleuchtet von unzähligen Lampions und Fackeln. Das flackernde Licht warf lange Schatten auf den Rasen und schien die Nacht zum Leben zu erwecken. Obwohl erst Ende Mai, war die Luft lauwarm wie im Hochsommer. Ben begrüßte jeden Gast persönlich und lief zwischen den einzelnen Tischen umher, um überall ein Leckerchen zu ergattern. Mary Poppins dagegen zog es vor, das Geschehen von ihrem Lieblingssessel im Wintergarten zu beobachten. Das alles war ihr einfach zu viel Lärm.
Alexander und Charlotte freuten sich. Alle Freunde und Klas-senkameraden waren gekommen, sogar ihre Klassenlehrer. Zum Abschied hatten die Kinder den beiden Schnorchelsets geschenkt und ein Foto ihrer jeweiligen Klasse.
Birgit hatte eine Bauchtänzerin engagiert, die unter großem Beifall auf der Terrasse ihren Auftritt hatte. Es gab arabische Musik und das Buffet fanden alle klasse, vor allem die Süßspeisen. Nur Charlie mochte partout keine Dattelkekse. „Iih“, schüttelte sie sich, „wie kann man das denn freiwillig essen?“ Sie nahm sich ein paar Hähnchenbollen und etwas Brot, packte alles in eine Serviette und verzog sich mit Anna in das kleine Baumhaus, das ihr Vater ihnen vor einem Jahr gezimmert hatte.
„Wirst du mir denn auch schreiben, Charlie?“, fragte Anna, als sie aufgegessen hatten. „Oder wirst du mich vergessen? Es wird bestimmt alles sehr aufregend dort sein und du wirst so viel erleben. Da wirst du keinen Gedanken mehr an Berlin verschwenden.“ Ihre Augen glitzerten feucht.
„Auf gar keinen Fall. Großes Indianerehrenwort!“ Empört sah Charlie ihre Freundin an. „So langsam müsstest du mich aber kennen, Anna. Ich bin doch keine treulose Tomate! Ich werde dir einmal die Woche eine E-Mail schicken. Alex kann mir dann auch zeigen, wie man Fotos sendet. Damit du weißt, wie es dort aussieht!“ Gedankenverloren sah sie durch das kleine Fenster des Baumhauses hinauf in den Sternenhimmel. Die Nacht war tatsächlich sternenklar, wie schön.
„Mensch, ich bin ja selber so gespannt. Wenn man sich vorstellt, dass mein Papa vielleicht gerade auf denselben Mond und dieselben Sterne blickt, wenn er nicht schon schläft. In der Wüste soll es ganz still sein und man soll das Gefühl haben, als wäre man ganz alleine auf der Welt. Die Sterne wirken viel größer als hier, sagt man.“ Charlie fröstelte auf einmal. „Und stell dir nur mal vor, man geht dort verloren.“
Alexander hingegen hing nicht solch tiefschürfenden Gedanken nach. Er war ja immer der Meinung, dass seine Schwester viel zu sensibel und nachdenklich war. Mit seinen Freunden Julius, Malte und Lennart spielte er Fußball, bis Ben den Ball entdeckte und unbedingt meinte, mitspielen zu müssen. Nachdem die drei das Buffet geräubert hatten, spielten sie eine Runde Kricket mit den Großeltern. Oma Sophie wollte immer schummeln, was von seiten der Jungen mit großem Gelächter kommentiert wurde, da sie sich dabei etwas dumm anstellte und jedes Mal erwischt wurde.
Irgendwann war dann die Stunde des Abschieds gekommen. Es wurde gelacht, umarmt, geküsst und viel geweint. Dann waren alle Gäste, bis auf Oma und Opa, die schon im Gästezimmer schliefen, gegangen. Alex und Charlie halfen ihrer Mutter, das Geschirr ins Haus zu tragen. Alle drei waren todmüde und fielen wie Steine ins Bett. Charlotte vergaß sogar, sich die Zähne zu putzen.
Am Tag des Abflugs standen Barbara und die Kinder sehr früh auf. Birgit wollte sie gegen sieben Uhr abholen und zum Flughafen bringen. Zum Glück fuhr die Freundin einen großen Kombi, denn allein Bens Flugbox nahm eine Menge Platz ein. Dazu kamen drei Koffer, Poppy in ihrer Tasche und natürlich die Hardenbergs.
Vor Aufregung bekamen alle zum Frühstück nichts hinunter. Barbara schaute zum vierten Mal in ihre Handtasche und überprüfte, ob sie auch wirklich alles dabei hatte. Reisepässe, Flugtickets, Impfausweise der Tiere, Handy und Portemonnaie.
„Mama, jetzt ist es aber gut. Du hast doch gerade erst nachgeschaut. Glaubst du vielleicht, es hat in der Zwischenzeit jemand die Sachen aus deiner Handtasche geklaut?“ Alexander wollte sich von der Nervosität nicht anstecken lassen. Frauen, dachte er bei sich und wünschte, sein Vater wäre hier. Nun würde er als einziger Mann dafür sorgen müssen, dass alles reibungslos ablief und sie sicher in Abu Dhabi ankommen würden.
Gestern Abend hatten sie die Großeltern zum Bahnhof gebracht, die versprachen, in drei Monaten nach Abu Dhabi zu kommen. Opa Friedrich hatte Alexander seine Hand auf die rechte Schulter gelegt: „Ich verlasse mich auf dich, Alexander. Sieh zu, dass du deine Mutter und deine Schwester heile zu deinem Vater bringst, ja“? Er hatte sich etwas hinuntergebeugt und geflüstert: „Ich persönlich halte ja nichts von dem ganzen Emanzipationsgerede. Frauen sind nun mal das schwächere Geschlecht und wir müssen auf sie aufpassen, damit sie keine Dummheiten machen.“
Alex hatte sich verstohlen nach seiner Mutter und seiner Schwester umgesehen. Ein Glück! Sie hatten das Gespräch nicht mitbekommen. Einen Streit zum Abschied war das Letzte, was er sich wünschte. Seine Mutter hätte solche Sprüche nicht unkommentiert gelassen, dessen war er sich sicher gewesen. Fünf Minuten später hatte er drei Kreuze gemacht, weil seine Großeltern endlich in ihrem Abteil saßen und alles friedlich abgegangen war. Puh, er hatte sich mit der Hand über die Stirn gewischt. War ganz schön anstrengend, die Verantwortung zu tragen.
Zum Schluss gingen sie noch einmal durch alle Zimmer. Die Heizung und der Strom waren abgestellt, die Möbel mit Bettlaken abgedeckt. „Unser Haus wirkt jetzt schon, als würde es im Dornröschenschlaf liegen“, bemerkte Charlotte. „Schlaf gut, altes Haus, bis wir wiederkommen!“
Die beiden Frauen mussten zweimal wieder aus- und einladen, um das Gepäck ordentlich ins Auto zu bekommen. Am Ende saß Ben hochzufrieden bei den Kindern auf dem Schoß, denn das sparte Platz.
Birgit ließ die Hardenbergs samt Gepäck am Abflug-Terminal aussteigen, damit sie schon mal einchecken konnten, während sie einen Parkplatz suchte. Als sie zu ihnen stieß, waren die drei bereits am Lufthansa Check-in-Schalter und bekamen ihre Bordkarten für beide Flüge ausgehändigt. Ben war mitsamt der Box gewogen worden und paar Minuten später hatten sie ihn zum Sperrgepäckschalter gebracht und sich von ihm verabschiedet. Flughafenmitarbeiter nahmen den Golden Retriever in Empfang und brachten ihn hinunter zum Flugzeug, da er ja nur im Laderaum mitfliegen durfte. Die Kinder hatten seine geräumige Box vorher liebevoll mit einer warmen Decke ausgelegt und ihm Wasser in einer Spezialflasche mit Saugvorrichtung und Futter hineingestellt.
„Wir müssen zum Gate 20. Boarding, also Einsteigen, ist in fünfzehn Minuten. Alex, du trägst bitte Poppy. Charlie, nimm du den Rucksack.“ Ihr Mutter hatte vor Aufregung ganz rote Wangen bekommen. „Birgit, lass dich drücken. Vielen, vielen Dank für alles. Wir werden jetzt nicht heulen, ja? Ich melde mich morgen bei dir. Wir sehen uns bald wieder, liebste Freundin!“ Birgit konnte nur stumm nicken. Sie umarmte alle drei und ging zum Ausgang. Sie drehte sich nicht um.
Der Airbus 320, der sie nach Frankfurt brachte, war voll mit Ge-schäftsreisenden in grauen Anzügen, aber die freundliche Check-in-Mitarbeiterin hatte ihnen eine Dreierreihe gegeben, sodass sie nebeneinander sitzen konnten. Barbara sank erschöpft in ihren Sitz und schloss kurz die Augen. „Das ist alles zu viel für eure alte Mutter. Ich bin schon ganz erledigt.“
Charlie verdrehte die Augen. Alte Mutter! Sie wusste, dass ihre Mutter diesen Satz nur scherzhaft gemeint hatte, trotzdem nervten sie diese Sprüche. Sie fand ihre Mutter jung und hübsch, und das sollte auch bitteschön für immer und ewig so bleiben.
In Frankfurt angekommen, hatten die Hardenbergs drei Stunden Transitzeit. Die wollten sie nutzen, um in Ruhe im Mövenpick etwas zu frühstücken und im Buchladen nach Büchern und Zeitschriften Ausschau zu halten. Ansonsten mussten sie sich um nichts mehr sorgen. Das Gepäck war durchgecheckt worden und um Ben kümmerte sich die Tierstation bis zum Weiterfl ug. Während Mutter und Tochter wieder einmal die Toilette aufsuchten, setzte sich Alexander auf eine Bank und beobachtete fasziniert den Menschenstrom, der durch die Abflughalle floss. Wahnsinn, dachte er. So viele Menschen, so viele verschiedene Nationalitäten und Hautfarben. Dadurch, dass sie in Berlin, in der Haupt-stadt, gelebt hatten, kannte er Menschenmassen und buntes Völ-kergemisch. Aber das hier war noch viel extremer. Gerade eben ging eine Großfamilie in Stammestracht vorbei. Er vermutete, dass sie aus Namibia kamen, auf jeden Fall aus Afrika. Sie sahen farbenfroh und fröhlich aus. Alex blickte ihnen hinterher, bis zwei Männer seine Aufmerksamkeit erregten.
Der eine schien Deutscher zu sein, auf jeden Fall Europäer. Er trug einen dunklen Anzug und eine große Sonnenbrille. In der Hand hielt er einen silbernen Aktenkoffer, den ein auffälliges Wappen auf jeder Seite zierte. Es zeigte einen goldenen Falken auf weißgrünschwarzem Untergrund. Der andere Mann sah aus wie ein Araber: groß, mit dunklem, fast schwarzem Haar und dunklen, buschigen Augenbrauen, die über der Nasenwurzel zusammenwuchsen. Seine Nase war schmal und am Ende leicht gebogen. Auch er trug eine Sonnenbrille. Beide wären nicht weiter aufgefallen, hätten sie nicht so krampfhaft versucht, unauffällig zu bleiben.
Alex musste grinsen. Jetzt drückten sie sich in eine Ecke zwischen zwei Werbetafeln. Sie redeten heftig aufeinander ein, wobei der Araber wild gestikulierte. Schließlich übergab der Deutsche, Alex nannte ihn insgeheim Schmidt, dem Araber den silbernen Aktenkoffer. Der Araber blickte ihm kurz in die Augen und entfernte sich Richtung der Abfluggates. Schmidt, der Deutsche, ging hastig in die entgegengesetzte Richtung.
Was die wohl im Schilde führen, fragte sich Alex, der einen guten Riecher für kriminelle Machenschaften hatte. Ehe er noch weiter darüber nachdenken konnte, tauchten seine Schwester und seine Mutter auf und sie fuhren mit dem Fahrstuhl auf die Ebene null, um dort frühstücken zu gehen.
„Erster Aufruf des Lufthansa Fluges 626 nach Abu Dhabi über Bahrain. Die Gäste werden gebeten, sich zum Ausgang B26 auf der unteren Abflugebene zu begeben.“
Charlie zupfte ihre Mutter am Ärmel: „Hast du gehört, Mama? Die rufen unseren Flug auf. Wir müssen uns beeilen.“
„Keine Sorge, mein Schatz“, beruhigte Barbara ihre Tochter und hielt dem Bundesgrenzschutzbeamten lächelnd ihre drei roten Reisepässe hin. „Einsteigen ist doch erst in zehn Minuten und wir müssen nur noch um die Ecke gehen und mit der Rolltreppe hinunterfahren. Dann sind wir schon da.“
Am Abfluggate wandte sich Barbara von Hardenberg noch einmal an die Gate-Mitarbeiterin und erkundigte sich, ob Ben bereits in den Laderaum gebracht worden war. Die nette junge Frau nahm den Hörer in die Hand und telefonierte mit dem Kollegen, der für die Abwicklung des LH 626 Fluges zuständig und draußen beim Flieger war. Lächelnd legte sie kurze Zeit später auf. „Alles in bester Ordnung, Frau von Hardenberg. Ihr Hund ist bereits an Bord, in dem abgetrennten geheizten Bereich, der für Tiere vorgesehen ist. Mein Kollege war ganz begeistert von ihrem Hund. Er meinte, dass er selten so einen schönen Retriever gesehen hat.“
Im Hintergrund hörte man Mary Poppins leise in ihrer Tragetasche maunzen. Es schien ihr nicht zu gefallen, dass nur über Ben geredet wurde. Sofort steckte die fürsorgliche Charlie ihre Hand in die Tasche und fuhr Poppy beruhigend über den Kopf. „Du bist die beste, schönste Katze der Welt, Poppy. Kein Grund, eifersüchtig zu sein“, flüsterte sie ihr leise zu.
Die Boeing 747 war viel größer als der kleine Flieger am Morgen. Alexander fand, dass der „Jumbo“, so wurde er genannt, das schönste Flugzeug war. Die Form erinnerte an einen riesigen majestätischen Wal. An die vierhundert Gäste hatten im Flugzeug Platz und die Passagiere der first class, der ersten Klasse, mussten die Treppe nach oben gehen, um zu ihren Sitzen zu gelangen. Über Finger stiegen die von Hardenbergs und die anderen Gäste in das Flugzeug, am Eingang freundlich begrüßt von der Purserette, der Chefstewardess. Als Alexander und Charlotte durch den rechten Gang nach hinten zu ihren Sitzen gingen, schauten sie sich neugierig um. In so einem großen Flieger hatten sie noch nie gesessen. Sie mussten durch zwei Bordküchen laufen, in denen das Essen, die Getränke und das Geschirr für die Passagiere in Boxen und Rollwagen gestaut wurden.
An ihren Sitzen angekommen, war Alexander gnädig und überließ seiner kleinen Schwester den Fensterplatz. Er wollte sich gerade hinsetzen, als er den arabischen Mann mit dem silbernen Aktenkoffer sah, den er am Vormittag beobachtet hatte. Er trug immer noch die große Sonnenbrille und setzte sich auf seinen Platz, ohne den Koffer abzulegen.
Vor dem Start begrüßte der Kapitän seine Gäste an Bord. Die Flugzeit nach Bahrain, dem ersten Stopp, sollte sechseinhalb Stunden dauern. Von Frankfurt aus sollte es zunächst nach Österreich gehen, dann weiter über die Türkei und schließlich den Iran und Saudi-Arabien nach Bahrain. Der Zwischenstopp würde eine Stunde dauern, in der einige Passagiere aussteigen würden und das Flugzeug betankt werden sollte. Zum Schluss wünschte der Kapitän noch einen angenehmen Flug und versprach, dass er sich während des Fluges noch einmal melden würde.
„Ich würde so gerne mal einen Blick ins Cockpit werfen“, meinte Alexander zu seiner Mutter. „Das wird wohl nicht möglich sein, Großer“, meinte diese. „Seit den Terroranschlägen vom elften September 2001 müssen die Cockpittüren während des Fluges verriegelt bleiben. Nur mit einem speziellen Zugangscode können die Türen geöffnet werden. Damit will man verhindern, dass Terroristen oder Entführer ins Cockpit gelangen können. Das hat uns Onkel Achim doch erzählt.“
Onkel Achim war der Schwager von Barbara und mit Magnus Schwester Katrin verheiratet. Achim war selbst Pilot und Katrin Flugbegleiterin. Die beiden reisten ständig in der Weltgeschichte herum und hatten selber keine Kinder. Deshalb wurden Alexander und Charlotte sehr von ihnen verwöhnt, wenn sie einmal, was eher selten war, bei ihnen zu Besuch waren. Als Barbara den enttäuschten Blick ihres Sohnes sah, legte sie den Arm um seine Schulter und sagte: „Aber vielleicht gibt es für euch eine Möglichkeit in der Transitzeit. Ich werde während des Fluges mit einer der Flugbegleiterinnen sprechen.“
Nachdem die Boeing 747 ihre Reiseflughöhe erreicht hatte, gab es zunächst Getränke und anschließend wurde ein heißes Mittagessen serviert. Danach startete das Filmprogramm, so dass Alexander und Charlotte die Zeit nicht lang wurde. Poppy döste ruhig in ihrer Tragetasche, nur ab und zu hörte Barbara ein leises Maunzen. Zwischendurch blickte sich Alex immer wieder verstohlen nach dem Mann mit dem silbernen Aktenkoffer um, der drei Reihen hinter ihm saß. Dieser schlief die meiste Zeit des Fluges, behielt aber die Sonnenbrille auf. Den Aktenkoffer konnte Alex nicht mehr entdecken, wahrscheinlich hatte er ihn zu seinen Füßen abgelegt.
Seine Mutter hatte Wort gehalten und mit einer der Flugbe-gleiterinnen gesprochen, einer netten Frau mit blonden hochgesteckten Haaren. Diese hatte dann im Cockpit angerufen und gefragt, ob es im Transit wohl möglich sei, die Piloten zu besuchen. Und so kam es, dass Alexander und Charlotte nach der Landung in Bahrain, als die meisten Gäste ausgestiegen waren, nach vorne gebracht wurden. Kurze Zeit später kam der Kopilot, zu erkennen an den drei Streifen auf seinen Schulterklappen, die Treppe hinunter und begrüßte die beiden. „Ja, Servus, ich bin Maximilian Ströter. Ihr seid die kleinen neugierigen Passagiere? Dann kommt mal mit.“
Alex und seine Schwester folgten dem Piloten die Treppe hinauf. Oben konnten sie auf dem Weg ins Cockpit auch sehen, wie die first class aussah. Nur wenige große Liegesessel gab es hier, in denen man bestimmt herrlich schlafen konnte. Auch eine eigene Küche für die wenigen Gästen war eingerichtet. Die Cockpittür stand offen und auf dem linken Sitz saß der Kapitän und unterhielt sich gerade per Sprechfunk mit dem Bodenpersonal.
Als er fertig war, drehte er sich um und lächelte die Harden-berg-Kinder an. „Das ist aber schön, dass ihr uns mal besuchen kommt. Kommt ruhig herein, dann erkläre ich euch ein bisschen was.“
Alexander war schwer beeindruckt. Das Cockpit der 747 war ziemlich groß und überall wimmelte es von Knöpfen und Schaltern. Vor den Sitzen der Piloten waren die Steuerknüppel und das Radar zu sehen. Wie man sich dort nur zurechtfinden konnte! Wenn man aus den Cockpitfenstern schaute, konnte man erkennen, wie riesig dieses Flugzeug war. Das waren bestimmt zwölf Meter bis nach unten.
Kapitän Oliver Harrer hatte selbst Kinder in Alexanders und Charlottes Alter und es machte ihm viel Freude, den beiden alles zu zeigen und zu erklären. Nach zehn Minuten schüttelte er Alex und Charlie die Hand und verabschiedete sich von ihnen. „Macht’s gut, ihr beiden. Und viel Spaß in Abu Dhabi. Ich bin sicher, es wird euch dort super gefallen!“
Der Flug von Bahrain nach Abu Dhabi dauerte nur eine knappe Stunde. Charlie konnte von ihrem Fensterplatz aus hier und da beleuchtete Punkte in der Wüste erkennen. Es war mittlerweile stockdunkel draußen. Als schließlich die Anschnallzeichen angingen, sah sie vor sich ein Lichtermeer auftauchen. Das musste Abu Dhabi sein! „Mama, schau mal. Das muss Abu Dhabi sein. Und da, das ist das Meer. Siehst du den großen Tanker dort draußen? Ich kann die Landebahn schon sehen! Endlich sind wir da.“
Um dreiundzwanzig Uhr fünfundvierzig Ortszeit setzte die Lufthansa LH626, aus Frankfurt kommend, pünktlich auf der Landebahn des Abu Dhabi International Airport auf.
Als die Hardenbergs das Flugzeug verließen und durch den Finger ins Ankunftsterminal liefen, kam ihnen ein Schwall schwülfeuchter Luft entgegen. „Mensch, ist das heiß hier“, stöhnte Charlie, die ihren kleinen Koffer hinter sich herzog, „dabei ist es doch schon Nacht.“
Alex zog sich sein Sweatshirt aus und stopfte es in seinen Rucksack. „Das hätte ich auch nicht gedacht. Aber schau mal, der Flughafen sieht ja irre aus. Wie ein riesiges Ufo oder eine Krake.“
Sie gingen weiter und als sie ins Flughafengebäude traten, wurde es plötzlich angenehm kühl. Hier liefen die Klimaanlagen. Barbara von Hardenberg sah sich suchend um. „Ah, hier steht es ja. Wir müssen nach rechts, dort geht es zur Passkontrolle und den Gepäckbändern. Jetzt schaut euch mal diese Halle an. Das ist ja unglaublich.“ Ihre Mutter blieb stehen und sah staunend zur Decke hinauf. Das Terminal eins des Abu Dhabi Flughafens sah aus wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Die Decke der Halle war mit unzähligen dunkelblauen und weißen Mosaiksteinchen bedeckt. In der Mitte befand sich eine riesige, nach oben aufspringende Säule, die vom Erdgeschoss bis in die untere Abflugebene ging, in blau und golden gehalten. Außen herum reihten sich kleine Shops, die typisch arabische Souvenirs anboten, aber auch Zeitschriften und Bücher. Obwohl es schon auf Mitternacht zuging, herrschte in der Halle noch rege Betriebsamkeit. Indische Frauen in Saris liefen umher, Pakistanis in ihren obligatorischen hellbraunen, dünnen Baumwollhemden und Hosen.
„Mama“, flüsterte Charlotte, „sind das dort Emiratis?“ Sie deutete mit ihrem Kopf leicht nach links. Barbara sah unauffällig in die Richtung und nickte. „Ja, ganz genau. Die Männer tragen hier die Dischdasch, ein weißes Leinengewand mit langen Ärmeln. Dazu kommt der Kopfschmuck, ein meist rotweißes Tuch, das mit einer schwarzen Kordel gehalten wird. Die emiratischen Frauen sind verschleiert. Sie tragen eine Abaya, ein langes schwarzes Gewand, das sie von Kopf bis Fuß einhüllt. Oft tragen sie auch noch ein schwarzes Tuch vor ihrem Gesicht. Dann kann man noch nicht einmal ihre Augen sehen.“
Charlotte schüttelte ungläubig den Kopf. „Aber wie können die Frauen denn dann überhaupt sehen, wo sie hinlaufen? Es muss doch komplett dunkel unter diesem Schleier sein! Aber ich brauche das doch nicht zu tragen, oder?“
Ihre Mutter schüttelte lachend den Kopf. „Keine Sorge, Charlie. Du kannst auch weiterhin deine bequemen Jeanshosen und Poloshirts tragen. Die Emiratis sind im Gegensatz zu den Saudis sehr liberal. Dort müssten auch wir uns komplett verschleiern, wenn wir auf die Straße gehen würden. Schaut, da ist die Passkontrolle.“
Ein freundlicher junger Emirati in Landestracht stempelte die Pässe ab und fragte Alexander auf Englisch, ob sie Urlaub machen würden. Alex musste einen Moment nachdenken, bis ihm die englischen Vokabeln einfielen und antwortete dann stolz: „No Sir, we came from Germany and we are going to live in Abu Dhabi.“ Der Beamte lachte ihn an und schüttelte ihm die Hand: „Have fun!“
Das war also mein erstes Gespräch mit einem Einheimischen, dachte Alex und fand, dass er seine Sache doch schon ganz gut gemacht hatte. Seine Mutter und Charlie waren inzwischen schon mit Poppys Reisetasche am Gepäckband zwei angekommen und warteten auf die Koffer. Barbara hatte ihr Handy eingeschaltet und sprach mit ihrem Mann. „Magnus, wir sind es. Ja, hat alles prima geklappt. Wir sind schon am Gepäckband und warten auf die Koffer. Wo bist du denn? Direkt wenn wir rauskommen, auf der rechten Seite? Ja, in Ordnung. Wir müssen dann noch zum Frachtterminal, dort können wir Ben in Empfang nehmen und müssen die Papiere für beide Tiere beim Veterinäramt abstempeln lassen. Wenn du weißt wo das ist, umso besser. Ah, da sind ja schon unsere Koffer. Alles klar, bis gleich, Magnus!“
Ein paar Minuten später schoben sie den Gepäckwagen in die Ankunftshalle, wo schon Dutzende von Menschen auf Angehörige und Freunde warteten.
„Papa, Papa!“, schrie Charlotte, lief auf ihren Vater zu und fiel ihm um den Hals. Magnus von Hardenberg drückte seine Kleine ganz fest und musste mit der einen Hand die Brille auf seiner Nase wieder zurechtrücken, die bei der stürmischen Begrüßung verrutscht war.
„Meine Schätze“, sagte Magnus und umarmte dann seine Frau und seinen Sohn, „ich bin so froh, dass ihr endlich da seid. Ich habe euch wirklich vermisst! Wie war euer Flug? Seid ihr sehr müde?“ Er nahm ihnen den schweren Gepäckwagen ab und schob ihn Richtung Ausgang. Während sie mit dem Fahrstuhl ins Untergeschoss fuhren, erzählten die Kinder und Barbara, was sie alles erlebt hatten.
Unten angekommen mussten sie einen langen Gang hinunterlaufen, bis sie ins Freie treten konnten. Wieder schlug ihnen die heiße schwüle Luft entgegen. „Dort, in der zweiten Reihe, steht der Wagen. Ihr werdet staunen“, meinte der Vater und freute sich diebisch über ihre fragenden Gesichter.
Den Parkplatz säumten riesige Palmen und sorgfältig angelegte Blumenbeete. „Wie schön“, meinte Barbara vergnügt und zeigte auf die üppig blühenden Bougainvilleas, „und ich hatte schon Sorge, dass alles sandig und verdorrt ist. Dabei sieht es hier aus wie im Botanischen Garten in Berlin.“
Aus den Augenwinkeln sah Alexander einen großen weißen Mercedes an ihnen vorbeifahren. Die Scheiben waren verdunkelt, doch als der Fahrer das Fenster hinunterließ, um die Parkgebühren am Wärterhäuschen zu bezahlen, konnte er einen Blick in das Innere des luxuriösen Wagens werfen und erschrak. Auf dem Beifahrersitz saß der Emirati mit dem silbernen Aktenkoffer. Und immer noch trug er die riesige Sonnenbrille, die sein halbes Gesicht bedeckte, obwohl es nach Mitternacht war. Alexander sah auf das Nummernschild, das im Gegensatz zu den anderen rot war und in der Mitte einen weißen Balken hatte.
„Papa, was bedeutet es, wenn ein CD im Nummernschild steht?“, fragte er seinen Vater, der bereits den Autoschlüssel aus der Hosentasche zog. „CD heißt Corps Diplomatique und bedeutet, dass dies ein Botschaftswagen ist“, erklärte sein Vater.
„Tata, tata, was sagt ihr nun?“, rief Magnus und zeigte schwungvoll mit der rechten Hand auf einen riesigen weißen Geländewagen. Er strahlte über das ganze rundliche Gesicht und schien sich zu freuen wie ein Kind. „Das ist jetzt unser, ein sogenannter SUV, ein Landcruiser mit Vierradantrieb und 320 PS. Ist das nicht klasse? Damit können wir Touren in die Wüste unternehmen.
Barbara, guck doch nicht so sparsam. Hierzulande muss man einfach solch einen Wagen fahren. Du wirst gleich merken, wovon ich rede. Der Wagen ist ja nicht nur besonders groß, sondern auch besonders sicher. Und die fahren hier alle wie die Verrückten, da wäre ein kleineres Auto viel zu gefährlich.“ Treuherzig sah er seine Frau an. Die musste, wie immer bei diesem Blick, lachen und drückte seinen Arm. „Wenn das natürlich so ist, mein Schatz, war das ja ein reine Vernunftanschaffung.“
Alexander und Charlotte waren total begeistert. So etwas gab es in Deutschland nicht. Sie kletterten mit Poppys Reisetasche auf den Rücksitz und schauten sich im Wagen um, während ihr Vater die Koffer auf die Ladefläche hievte. „Jetzt fahren wir noch schnell zum Frachtterminal und sehen zu, dass wir Ben einsammeln. Dann können wir endlich nach Hause fahren.“
Nach einer weiteren Stunde hatten sie einen überglücklichen Ben zurück in ihrer Mitte. Magnus von Hardenberg hatte von einem Büro zum nächsten laufen müssen, um die diversen Stempel für die Einreise zusammenzubekommen. Zum Schluss hatte der zuständige Veterinär noch einen Blick auf den Golden Retriever und Mary Poppins geworfen und sie dann endlich gehen gelassen.
Mittlerweile war es fast ein Uhr dreißig morgens und Charlie konnte kaum noch die Augen offenhalten. Sie lehnte ihren Kopf an die Fensterscheibe und ließ die Landschaft an sich vorüberziehen. Palmen und Rasenfl ächen fl ankierten die Straßenränder, die Autobahn war hell erleuchtet. Auf der rechten Seite tauchte nach einiger Zeit eine weiße, unglaublich schöne Moschee auf. So eine prachtvolle Moschee hatte Charlotte noch nie gesehen. Die vier Minarette und die goldene Kuppel wurden von Flutlichtern angestrahlt. Charlie wusste nicht, ob sie noch wach war oder schon träumte.
„Das ist die Sheikh Zayed Moschee, zu Ehren des 2004 verstorbenen Scheichs erbaut. Es ist die zweitgrößte Moschee der Welt und die Errichtung hat Hunderte Millionen Euro gekostet. Was ihr dort glitzern seht, ist wirklich pures Gold“, erklärte ihnen der Vater. „Wir werden sie demnächst einmal besichtigen.“
Die letzten Worte ihres Vaters bekam Charlie schon gar nicht mehr mit. Sie war eingeschlafen. Alex hatte die Augen auch schon geschlossen, döste aber nur vor sich hin. Ihn beschäftigte immer noch der mysteriöse Emirati. Warum war er von einem Botschaftswagen abgeholt worden? Während sich seine Gedanken im Kreise drehten, hörte er in der Ferne seine Eltern leise miteinander reden.
„Gibt es Neuigkeiten, Magnus? Es vergeht keine Stunde, in der ich nicht an Klaus Reiter denken muss.“ „Nein, nichts. Als hätte er nie existiert. Ich habe mich an deinen Rat gehalten und nichts weiter unternommen. Lass uns morgen, wenn wir ausgeschlafen sind, darüber reden.“ Und er bog von der 28. Straße in eine Einfahrt ein. Eine Schranke versperrte ihnen den Weg und hohe Mauern ragten ringsherum auf. Aus dem Wärterhaus kam ein uniformierter Wachmann und hob grüßend die Hand. Er hatte Magnus von Hardenberg erkannt und öffnete die Schranke.
Das neue Zuhause der Familie befand sich in einem compound, einer Ansammlung von Einfamilienhäusern, die um einen Swimmingpool und ein Clubhaus gruppiert waren. Kleine Straßen, umsäumt von Grünflächen und Springbrunnen, führten zu den einzelnen Villen. An Villa Nummer 20 hielt der Vater an. „Aussteigen, ihr Schlafmützen. Wir sind zuhause.“
Ben sprang mit einem Satz aus dem Auto und lief erst einmal zur Rasenfläche vor dem Haus, um sich zu erleichtern. Dann schnüffelte er ausgiebig an den Grünpflanzen, um die Nachrichten, die seine neuen Hundenachbarn hinterlassen hatten, zu lesen. Als er merkte, dass seine Familie schon ins Haus ging, lief er schnell hinterher und sprang die Treppe zur Haustür hoch. So interessant es hier auch roch, seine Familie, die er doch gerade erst wiederbekommen hatte, konnte er auf keinen Fall in der ersten Nacht im neuen Zuhause alleine lassen!
Als Alex am nächsten Morgen wach wurde, wusste er zunächst nicht, wo er war. Ein unangenehmes Gefühl, diese totale Orientierungslosigkeit. Er hatte viele wilde Träume gehabt, in denen er auf der Flucht war. Vor wem wusste er nicht mehr. Er konnte sich nur an riesige bedrohliche Schatten erinnern, die immer nähergekommen waren. Als er vergeblich versucht hatte, eine Tür zu öffnen, um den Verfolgern zu entkommen, war er Gott sei Dank aufgewacht.
Alexander sah sich im Zimmer um. Es war ein ziemlich großer Raum mit hohen Fenstern und weißen langen Vorhängen, die zugezogen waren. Im Zimmer befand sich weiter nichts als das Bett, in dem er lag, und ein Einbaukleiderschrank. Wo bin ich?, fragte er sich in einem Anflug von Panik. Ich kann mich nicht erinnern, wie ich hierher gekommen bin.
In der einen Ecke des Raumes entdeckte Alexander seinen Koffer, der geöffnet auf dem Boden lag. Plötzlich fiel ihm alles wieder ein. Mensch, ich bin ja in Abu Dhabi, in unserem neuen Haus. Und es gibt keine Möbel hier, weil sie noch auf hoher See sind, in dem Container, den wir von Berlin aus losgeschickt haben.
Erleichterung machte sich in Alexander breit. Nicht, dass er noch genauso hysterisch würde wie seine kleine Schwester. Die vermutete hinter jedem Baum einen Verbrecher. Aber die Sache mit dem Emirati gestern und
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 18.01.2012
ISBN: 978-3-86479-170-3
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