Man sagt, dass er ganz friedlich sei,
doch ihm ist es ganz einerlei.
Das Töten,
ja, das hält er vonnöten.
Er nimmt den Totschläger zur Hand,
starrt an sein Opfer – unverwandt –
und schlägt es dann zu Matsche
mit der Fliegenklatsche.
von Dete Sühlmann
Ich sitze in einem kleinen braunen Kasten, der mittig am Anfang der Bühne im Osnabrücker Theater eingebaut ist. Natürlich mit dem Rücken zu den Zuschauern, die mich nicht sehen sollen. Sehen können mich nur die Sänger oder Schauspieler auf der Bühne, denn ich bin eine Souffleuse, eine Vorsagerin. Wenn jemand einen ‚Hänger‘ oder einen ‚Aussetzer‘ hat, muss ich ihm schnell den passenden Text zuflüstern.
In dieser Saison hat Anja, die Hauptdarstellerin, ihren amüsanten Text so gut wie gar nicht gelernt – und das macht mich wütend, denn ich kann ihn inzwischen auswendig. Ich habe dem jungen Spielleiter des Theaterstücks sogar vorgeschlagen, dass er mich für diese Rolle engagieren soll. Schließlich bin ich viel hübscher und leichtfüßiger als die etwas übergewichtige und hochnäsige Anja. Doch er hat mich nur milde angelächelt und gesagt: „Nichts für ungut, aber das kannst du nicht. Du bist doch nur eine Souffleuse!“
Na, der wird sich noch wundern, was ich so alles kann.
Vor Beginn der heutigen Abendvorstellung war ich kurz in Anjas Garderobe und habe an ihrem langen purpurnen Bühnenkleid etwas verändert. Jetzt sitze ich in meinem braunen Kasten und warte angespannt, dass sich der schwere rote Samtvorhang hebt.
Das neue, moderne Theaterstück kommt bei den Zuschauern gut an. Nur bei mir nicht, denn wie schon bei den vorherigen Aufführungen hat Anja auch heute oft Aussetzer, und ich muss ihr mit dem Text weiterhelfen. Am Ende des zweiten Akts sieht sie mich wieder einmal direkt an, kommt auf mich zu, steht vor mir – beziehungsweise vor dem braunen Kasten – und ich sehe, dass sie leicht die Schultern hochzieht.
Ich beeile mich, ihr den weiteren Text zuzuflüstern, und füge außerdem hinzu: „Du musst aber weiter bis zum Bühnenrand vorgehen.“
Als sie einen Schritt zur Seite macht, liegt ein kleines Stückchen Faden vom Saum ihres langen Kleides direkt vor mir.
Ich denke noch: ‚Soll ich oder soll ich nicht …?‘ Aber da liegt meine Hand schon schwer auf dem Fadenende, während Anja weitere Schritte in Richtung Bühnenrand macht. Der nächste Schritt landet im losen Saum ihres langen Kleides. Sie stolpert, verliert das Gleichgewicht und fällt kopfüber nach unten in den Orchestergraben. Ein spitzer Schrei! Ein dumpfer Aufprall! Stille …
Selbst dem Publikum ist das Lachen vergangen.
Während Anja von zwei Rot-Kreuz-Helfern auf einer Trage abtransportiert wird, überlegen einige Zuschauer lautstark, ob der Sturz in den Orchestergraben am Ende des zweiten Akts wohl vom Regisseur so eingeplant war.
Der Spielleiter hat sich inzwischen zu mir in den engen braunen Kasten gezwängt und flüstert aufgeregt: „Du musst sofort ihren Part übernehmen. Schaffst du das?“
„Sicher, ich werde mir Mühe geben. Wer soll mich denn hier vertreten?“
„Das macht die Maskenbildnerin. Lass das Textbuch liegen und komm endlich. Du musst dich ja noch umziehen, bevor gleich der dritte Akt beginnt.“
Die Theaterschneiderin hat das zweite lange Kleid aus Anjas Garderobe geholt und, da es für mich viel zu weit ist, einen breiten Gürtel mitgebracht, sodass es mir jetzt einigermaßen passt und ich mich darin wohlfühle.
Als sich der rote Samtvorhang zum dritten Akt gehoben hat und mein Partner auf der Bühne steht, gehe ich mit hocherhobenem Kopf auf ihn zu und sage: „Entschuldigung, leider müssen Sie mit mir vorliebnehmen. Meine ältere Schwester ist im Moment indisponiert!“
Er stutzt einen Moment, nimmt dann meine Hand und antwortet: „Kein Problem, meine Liebe!“ Und schon befinden wir uns beide wieder im Original-Text.
Am Schluss der amüsanten Geschichte werden mein Partner und ich mit einem frenetisch anhaltenden Beifall belohnt, sodass wir uns ein paar Mal verbeugen müssen.
Ein herrliches, erhebendes Gefühl. Endlich stehe ich im Rampenlicht, winke dem applaudierenden Publikum zu und verbeuge mich noch mal.
Bedingt durch ihre schweren Verletzungen beim unglücklichen Sturz in den Orchestergraben ist Anja leider im Notarztwagen auf der Fahrt zum Osnabrücker Marienhospital gestorben. So habe ich ihre Rolle übernommen, denn als neu aufgehender Stern am Osnabrücker Theaterhimmel konnte ich auf keinen Fall ‚Nein‘ sagen.
Falls Sie auf die Idee kommen und sich fragen, warum ich den Faden festgehalten habe? Ganz einfach, als erfahrene Hobby-Schneiderin wusste ich, dass heutzutage alle Säume mit einem Kettenstich genäht sind, der sich superleicht aufribbeln lässt.
„O Gott, Corona wird immer schlimmer. Wir gehen keinen Schritt mehr nach draußen.“
„Auch nicht in den Garten?“, erkundigte sich Kerstin bei Frank.
„In den Garten schon, sonst wächst uns ja das Unkraut über den Kopf. Aber bitte nicht am Zaun mit der Nachbarin reden, wie du es sonst üblicherweise machst.“
„Mit Maske ist es doch okay!“
„Nein, auch mit Maske ist es nicht in Ordnung. Ich kenne euch doch, wenn ihr über etwas lacht, zieht ihr womöglich die Maske etwas herunter, und das geht auf keinen Fall. Ich glaube, du solltest doch lieber im Haus bleiben, und ich arbeite im Garten. Gleich werde ich unsere Tochter Britta anrufen, damit sie für uns etwas einkaufen geht.“
„Die weiß doch gar nicht, was wir brauchen“, entgegnete Kerstin.
„Du notierst alles auf einem Zettel, den legen wir in einen Korb mit Geld und stellen ihn vor die Tür. Die Lebensmittel holen wir dann ins Haus, wenn sie die Sachen nach dem Einkauf vor unserer Tür abgestellt hat.“
„Nein, das mache ich nicht mit. Glaubst du tatsächlich, ich will mit dir die nächsten Monate eingesperrt sein? Auf keinen Fall! Ich muss zwischendurch an die frische Luft.“
„Ist doch kein Problem. Wir machen überall die Fenster auf.“
„Nein, nein und noch mal nein! Ich will auch ab und zu mit meinen Enkelkindern spazieren gehen.“
„Kommt überhaupt nicht infrage!“
„Doch, das lasse ich mir nicht verbieten. Falls ich mich anstecken sollte und es schlimm wird, dann sterbe ich halt. Besser ich als die Kleinen, die noch ihr ganzes Leben vor sich haben und jetzt in ihrer Isolation verrückt werden.“
Mit verärgerter Miene ging Frank zum Küchenfenster, öffnete es und schaute nach draußen. Als er keinen der Nachbarn entdecken konnte, drehte er sich zu Kerstin um und sagte: „Ich gehe schnell raus und fege den Hof. Durch die langanhaltende Trockenheit liegen fast alle Blätter der Felsenbirne auf den Pflastersteinen, und das sieht sehr unordentlich aus.“
‚Der spinnt allmählich‘, dachte Kerstin. ‚Irgendwann bringen ihn sein Aufräumtick oder seine Angst vor dem Tod noch um. Außerdem lasse ich mich doch nicht von ihm einsperren. Als Hausfrau muss ich selbst sehen, was für Gemüse oder Salat ich kaufen will. Mit Abstand und Maske sollte es doch überhaupt kein Problem sein, wenn ich zwischendurch ein paar Kleinigkeiten für den Haushalt besorge.
Um sich nicht weiter mit Frank zu streiten, hatte Kerstin mit dem Einkauf durch ihre Tochter nachgegeben. Tochter Britta machte einmal in der Woche für sie einen Großeinkauf und stellte den Korb mit den Waren auf die Treppe vor der Haustür.
Aber im Laufe der Monate wurde es immer schlimmer mit Franks Vorschriften. „Tu dies nicht, tu das nicht. Lass die Haustür nicht so lange auf, ich will ja nicht an dem schrecklichen Virus sterben.“
„Wie willst du dich infizieren, wenn keiner in der Nähe ist?“
„Der Wind könnte das Virus ins Haus tragen, es schwirrt doch draußen überall in der Luft herum.“
„Dass ich nicht lache, du bist ja genauso durchgeknallt wie die Leute, die bestreiten, dass es das Virus überhaupt gibt. Weißt du was: Du stirbst eher an deiner Angst als an Corona. Falls es aber tatsächlich mal so kommen sollte, dann ist es eben Schicksal. Damit musst du dich abfinden, ändern kannst du es dann sowieso nicht mehr.“
Ein paar Tage später stolperte Frank auf der Kellertreppe über einen dort abgestellten Besen, weil er aus Sparsamkeit wieder mal kein Licht angemacht hatte. Er versuchte sich am Geländer festzuhalten, rutschte ab, fiel vornüber, prallte mit dem Kopf auf dem grauen Betonboden auf und brach sich das Genick.
„Wenn es sein soll, soll es eben so sein“, tröstete Oma Anneliese die trauernden Hinterbliebenen. „Zeit und Ort sind vorbestimmt, oder wie viele sagen: Es war halt Schicksal!“
Doch hinter vorgehaltener Hand flüsterten einige Nachbarn, dass jemand aus dem Haus den Besen dort vielleicht absichtlich hingestellt hätte, denn alle kannten Franks Eigenarten, hatten selbst oft darunter leiden müssen.
Geimpfte sind nicht bessre Leute,
nur weil sie solidarisch sind.
Sie schützen sich und andre heute,
so leben morgen Greis und Kind.
Die Ungeimpften sind nicht schlechter,
nur weil sie Ignoranten sind.
Sie sind Immunsystemverfechter,
für gute Argumente blind
und mehrenteils verrückt geworden.
Sie fallen allen nur zur Last.
Und doch: Man soll sie nicht ermorden!
Für’s Erste reicht ja auch der Knast.
Cornelius W. M. Oettle
„Gehen wir heute Abend zum Italiener Pizza essen?“, fragte Anja ihren Mann.
„Geht nicht. Dank Corona haben wir eine Ausgangssperre.“
„Schade …! Hatte ich vergessen. Wie wär’s denn nachmittags mit Kaffee und Kuchen im Café ‚Erste Sahne‘ in Haste? Da können wir zu Fuß hingehen.“
„Geht auch nicht. Nur die Bäcker und Lebensmittelgeschäfte dürfen öffnen! Außerdem könnte ich eh nicht mit. Bin ja nicht geimpft.“
„Mist!!! Dann muss ich ja wohl oder übel auch an meinem Geburtstag das Abendessen selber zubereiten.“
„Was willst du denn kochen?“
„Ich werde für uns zwei Schnitzel schön goldgelb braten und von dem Sud die Soße zubereiten. Dazu gibt es kleine gekochte Rosmarin-Kartoffeln. Als Gemüse nehme ich Erbsen und Möhren aus der Dose, die werde ich warm machen und in Butter und Petersilie schwenken. Schmeckt bestimmt alles genauso gut wie im Restaurant. Zum Essen können wir ja Rotwein trinken. Du kannst die Flasche schon mal aus dem Keller holen. Sie liegt ganz unten im Regal.“
„Gute Idee! Damit stoßen wir auf deinen Geburtstag an, mein Schatz.“
Um 19 Uhr hatte Anja die Schnitzel geklopft und in Ei und Paniermehl gewälzt. Die Pfanne mit dem aufgelösten Butterschmalz stand schon auf der Herdplatte, sodass sie das Fleisch hineinlegen konnte. Dabei spritzte das heiße Fett über den Pfannenrand bis auf den Küchenboden.
„Was willst du denn hier?“, fragte Anja ihren Mann, der gerade die Küchentür öffnete und im Begriff war, zur Spüle zu gehen.
Keine Antwort!
„Geh da nicht vorbei! Ist bestimmt glatt!“
Im gleichen Moment rutschte er aus, knallte der Länge nach auf den gefliesten Küchenboden und rührte sich nicht mehr. Um seinen Kopf bildete sich eine dunkelrote Blutlache, die langsam größer wurde.
Anja stand wie erstarrt. Den Fleischklopfer, den sie für die Schnitzel gebraucht hatte, hielt sie in der Hand. Wollte ihn gerade in die Spüle legen. ‚Wenn mich jetzt jemand sieht‘, dachte sie und murmelte: „Ach, was soll’s. Scheiß Tag! Oder …? Und das an meinem Geburtstag. Rufe ich jetzt den Hausarzt oder gleich das Beerdigungsunternehmen an? Eigentlich egal. Er hat sich ja selber außer Gefecht gesetzt.“
Das einzige Gute für Anja war, als alleinstehende Frau konnte sie nach dem Unfall trotz andauernder Corona-Pandemie wieder alle ihre Bekannten und Freundinnen besuchen, denn sie war schließlich schon zweimal geimpft. Ihr Mann hatte sich bislang geweigert, wollte sich nicht einmal testen lassen. Hielt alles für einen Schwindel. Deshalb mussten sie auch immer zu Hause bleiben. Aber damit war jetzt endgültig Schluss.
„Du, Heinz!“
„Mmmh?“
„Was hast du heute Morgen vor?“
Heinz zuckte mit den Schultern und schwieg. Nach einer Weile machte sich der lange Zentralheizkörper unter dem breiten Küchenfenster gluckernd bemerkbar.
Helga schaute demonstrativ hin, biss verärgert in ihr Laugenbrötchen, das dick mit guter Butter und selbst gemachter Erdbeermarmelade bestrichen war, und meinte kauend: „Lass endlich die Luft aus der Heizung, dieses Gluckern geht mir allmählich auf die Nerven.“
Heinz zog die Augenbrauen hoch und schwieg weiter.
Wütend sah sie zu ihm hin und forderte ihn mit bebender Stimme auf: „Mein Gott, leg endlich die Zeitung weg und rede mit mir. Ist es vielleicht meine Schuld, dass du dich unterfordert fühlst, wenn du mir im Haushalt oder im Garten hilfst? Bin ich für deinen vorzeitigen Ruhestand verantwortlich? Die brauchten dich einfach nicht mehr. Du bist zu alt für diesen Job. Es ist aus und vorbei, sieh es doch endlich ein!“
Statt Antwort zu geben, blätterte Heinz geräuschvoll die Zeitung um und las die Börsenberichte. So etwas interessierte ihn, nicht ob der Garten winterfest war oder alle Tulpen fürs nächste Frühjahr rechtzeitig in die Erde kamen. Diese ungewohnte Arbeit hatte ihm gestern einen gewaltigen Muskelkater beschert, von seinen rauen Händen ganz zu schweigen.
Er schielte über den Zeitungsrand und überlegte, was sie heute wohl alles für ihn geplant hatte. Nie ließ sie ihn in Ruhe.
„Du musst dich sinnvoll beschäftigen!“ Diesen Satz hörte er nun schon seit etlichen Wochen. Er stöhnte auf, sehnte sich nach seinem Büro mit seinem Schreibtisch, wo er immer alles in Ruhe erledigen konnte, ihn niemand bevormundete. Doch dort hatte sich inzwischen auch alles geändert. Ein junger, dynamischer Kollege war an seine Stelle getreten. Heinz hatte bitter aufgelacht, als er von dem aufstrebenden Nachfolger gehört hat. Ja, jung mussten sie heute schon sein. Resigniert atmete er laut durch.
Helga beugte sich vor, drückte die Zeitung herunter und fragte: „Ist dir nicht gut, Heinz? Willst du dich lieber wieder hinlegen? Ich brühe dir einen Kamillentee auf und bringe ihn dir ans Bett.“
Stumm schaute er sie an. Dann faltete er bedächtig die Zeitung zusammen, legte sie auf den Tisch, räusperte sich ein paar Mal und entgegnete barsch: „Mir geht es gut, kümmere du dich lieber um deine eigenen Sachen.“
Helga verschluckte sich fast an ihrem Kaffee. Langsam stellte sie die Tasse zurück, erhob sich und antwortete beleidigt: „Das werde ich auch machen. Ich kann deine miese Stimmung nicht mehr ertragen. Du merkst ja nicht einmal, dass ich frische Brötchen geholt und den Tisch nett gedeckt habe. Verschanzt dich nur hinter deiner Zeitung.“Wütend schob sie ihren Stuhl, auf dem sie bis eben gesessen hatte, zurück unter den Tisch. Dann lief sie in die Diele, nahm den grauen Wollmantel von der Garderobe, zog ihn hastig über, griff nach ihrer Tasche und verließ fast fluchtartig das Haus. Draußen schlug ihr die feuchte Novemberkälte ins Gesicht, vermischte sich mit ihren Tränen. Sie schob den Kragen hoch, presste die Tasche vor den Bauch und wollte zu ihrer Freundin Marie rennen, die auf der anderen Straßenseite wohnte.
Heinz hatte immer noch den lauten Knall der Haustür in den Ohren, der sich jetzt mit quietschenden Reifen mischte und mit einem scheppernden, blechernen Klang endete.
Stille breitete sich aus, kroch an seinen Armen empor, weiter den Hals hinauf und machte sich in seinem Gehirn breit. Er saß da wie gelähmt.
Erst als er aufgeregte Stimmen auf der Straße hörte, löste sich seine Erstarrung.
„Mein Gott, Helga!“
Er sprang auf und stürmte nach draußen. Um keine Zeit zu verlieren, nahm er drei Stufen auf einmal, stolperte und wäre fast gestürzt. Seine Gedanken überschlugen sich.
‚Warum habe ich sie nicht zurückgehalten?‘
Nach Luft ringend zwängte sich Heinz durch den Kreis der neugierigen Nachbarn, sah seine Frau bleich und regungslos auf der Straße liegen. Hastig kniete er sich neben sie, fühlte ihren kaum wahrnehmbaren Puls.
„Schnell, schnell, ein Arzt!“
„Ist schon geschehen.“ Ein junger Mann zeigte auf sein Handy.
„Sollte man sie nicht auf die Seite legen?“ Besorgt sah Heinz zu ihm hoch.
„Lieber nicht! Der Krankenwagen muss jeden Moment kommen“, meinte er und versuchte Heinz zu beruhigen, während der mit fahrigen Fingern die feuchten Haare aus dem Gesicht seiner bewegungslos daliegenden Frau strich.
„Arme Frau!“, murmelte einer der Nachbarn.
„Wieso arm?“, mischte sich ein anderer ärgerlich ein. „Sie ist doch direkt vor den Wagen gelaufen. Die Fahrerin hat gebremst, das Auto herumgerissen, die Frau dann doch noch mit dem rechten vorderen Kotflügel erwischt. Dann ist sie unkontrolliert auf der anderen Straßenseite gegen einen Baum geknallt. Ein Glück, dass es Airbags gibt, sonst wäre die Fahrerin bestimmt tot gewesen.“
Heinz warf einen Blick auf seine Frau, stand dann auf und erkundigte sich: „Woher wollen Sie das alles wissen?“
„Ich war direkt hinter der Fahrerin und hatte große Mühe, meinen eigenen Wagen rechtzeitig anzuhalten.“
Erst jetzt registrierte Heinz die vollkommen aufgelöste junge Frau, die am Straßenrand hockte und weinte. Aber bevor er weiter darüber nachdenken konnte, kamen die Polizei und der Notarztwagen.
Helga wurde vorsichtig auf eine Trage gehoben, in den Wagen geschoben und mit Blaulicht zum Krankenhaus in die Innenstadt gebracht.
Heinz eilte zum Haus zurück, holte die Autoschlüssel, stieg in seinen Mazda CX 5 und während er hinter dem Notarztwagen herfuhr, brummelte er vor sich hin: „Selber schuld. Was rennt sie auch ohne zu gucken über die Straße. Hoffentlich schafft sie es nicht, damit ich endlich meine Ruhe habe und mein Rentendasein in vollen Zügen genießen kann, und zwar ohne dass Helga mir jahrein, jahraus predigt, was ich tun oder lassen soll!“
„Sarah, kannst du mein blau kariertes Hemd waschen? Ich würde es gerne morgen Abend anziehen. Mit ein paar Kollegen will ich mich in der Altstadt treffen, nachträglich ein Bier auf meinen Geburtstag ausgeben. Außerdem werde ich gleich in die Stadt fahren, um dafür einen Tisch in der ‚Grünen Gans‘ zu reservieren.“
„Kein Problem, mein Schatz! Ich muss heute sowieso waschen.“
Als Sarah eine Stunde später ihre Blusen und Leons Hemd in die Waschmaschine im Kellerraum des Hauses legte, bemerkte sie, dass etwas in der Brusttasche seines Hemdes steckte.
Neugierig, und weil sie dachte, es könnte vielleicht bei der Wäsche abfärben, griff sie hinein und holte ein leicht zusammengeknülltes Kaugummipapier hervor.
Leon liebte Kaugummi. Sie selbst hatte ihm schon oft diese bestimmte Sorte vom Kaufmann mitgebracht, während Leon sie an manchen Wochenenden mit ihren Lieblingsblumen überraschte. Kleine Aufmerksamkeiten, die eine perfekte Ehe ausmachen. Sie passten halt gut zusammen.
Nachdem Sarah das Hemd zu den Blusen in die Maschine gesteckt hatte, ging sie zum Mülleimer und wollte das Stück Papier hineinwerfen. Dabei sah sie, dass auf der hellen Rückseite etwas geschrieben stand. Sie zog das Papier auseinander, strich es mit den Fingern glatt und las drei Worte, schüttelte den Kopf und las sie noch einmal.
‚Ich liebe dich‘, stand dort.
Sie lächelte und dachte: ‚Das ist aber eine nette Überraschung.‘
Doch im selben Moment entdeckte sie, dass es nicht Leons Handschrift war – und dass hinter dem letzten Wort ein kleines K gekritzelt war.
Augenblicklich gefror ihr glückliches Lächeln zu einer starren Maske. ‚Hat Leon eine Freundin? Hat sie diese Worte geschrieben? Womöglich nachdem sie sich beide das Kaugummi geteilt haben?‘
Sarah konnte es nicht fassen. Wütend zog sie Leons Hemd aus der Maschine, schmiss es auf den Boden und schrie:
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Anne Koch-Gosejacob
Cover: Anne Koch-Gosejacob
Tag der Veröffentlichung: 11.12.2023
ISBN: 978-3-7554-6353-5
Alle Rechte vorbehalten