Es war einmal ein kleines Mädchen, das wohnte mit seinem Bruder und den Eltern in einer Reihenhaussiedlung am Rande einer großen Stadt.
Vanessa war ein hübsches Kind mit wirren, blonden Locken, einer kecken Stupsnase und einem süßen Schmollmund. Ihre blauen Augen sprühten vor Unternehmungslust.
Im Hochsommer lief sie am liebsten den ganzen Tag in einem kurzen rosa Kleidchen herum. Es hatte große aufgesetzte Taschen, in denen sie alles sammeln konnte, was sie unterwegs fand: abgeknickte Blütenköpfe, farbige Kieselsteine, tote Marienkäfer und eine rotblonde Locke, die sie dem Cockerspaniel aus der Nachbarschaft heimlich abgeschnitten hatte.
Vanessas Lieblingskleid sah so ähnlich aus, wie die Kleider der Elfen in ihrem Bilderbuch. Und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als das Feen- und Elfenland einmal mit eigenen Augen zu sehen.
Nach dem Mittagessen holte sie ihren Rucksack aus dem Kinderzimmer, klemmte sich das Bilderbuch unter den Arm und marschierte nach draußen auf die Terrasse.
Dort setzte sie sich in Papas weichgepolsterten Liegestuhl, nahm das Buch auf den Schoß und sah sich die vielen bunten Bilder an.
Die Feen, Elfen und drolligen Wurzelkinder wohnten in einer Fliegenpilzkolonie am Rande des dichten Buchenwaldes, gleich neben dem grün schimmernden Weiher, in dem die dicken Frösche zu Hause waren.
Vanessa liebte die Elfe Sommerwind besonders, denn diese war immer zu lustigen Streichen aufgelegt. Sie hatte ein zitronengelbes Kleidchen mit einer weit schwingenden Rüsche am Saum.
Die Freundin der kleinen Elfe hieß Zittergras. Ihr hellgrünes Chiffonkleid hatte auch eine Saumrüsche.
Im Gegensatz zu Sommerwind war sie immer brav und zitterte vor Angst, wenn diese wieder etwas angestellt hatte.
Vanessa rieb sich die Augen und blätterte gähnend die nächste Seite auf.
Doch was war das? Die Elfen und Wurzelkinder sprangen auf einmal wild durcheinander. Sie wurden größer und größer, während ihre Augen kleiner und kleiner wurden. Vanessa schlief ein. Im Traum war sie auf dem Weg ins Feenland.
Sommerwind und Zittergras hüpften übermütig am steilen Wiesenhang herum und ließen die warmen Sonnenstrahlen auf ihren durchsichtigen Flügeln tanzen.
Plötzlich beugte sich Zittergras erschrocken vor und rief: „Schau mal nach
unten, Sommerwind. Da kommt jemand den Hügel herauf.“
„Wo denn, wo denn? Ich sehe niemanden.“
„Komm her!“ Zittergras zeigte aufgeregt mit dem Finger nach unten. „Schau, dort vorne, wo die Margeriten blühen.“
„Ein kleines Mädchen“, sagte Sommerwind erstaunt.
Zittergras versteckte sich schnell hinter der blauen Glockenblume und rief: „Komm her, beeil dich!“ Ängstlich duckte sie sich und berührte dabei den Blütenstängel. Die Glockenblume klingelte laut. Die kleine Elfe hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund.
Inzwischen lief Vanessa mit bloßen Füßen über das weiche Gras den Hügel hinauf. Oben breitete sich im gleißenden Sonnenlicht eine wunderschöne, bunte Blumenwiese vor ihr aus. Das Feenland! Sie lachte hell auf. Alles sah genauso aus wie in ihrem Bilderbuch. Doch wo waren nur die Elfen? Suchend schaute sie sich um.
Aus ihrem Versteck, hinter den Blättern der Glockenblume, sahen Zittergras und Sommerwind das kleine Mädchen in ihrem rosa Kleid zwischen dem
Wiesenschaumkraut und den vielen gelben Butterblumen stehen.
Die beiden tuschelten miteinander. Wie kam ein Menschenkind, das einen Rucksack dabei hatte, zu ihnen ins Feenreich?
Die Elfen waren aber so neugierig, dass sie ihre Angst vergaßen und zaghaft näher kamen.
„Hallo du! Wer bist du?“ fragte Sommerwind mutig und zog Zittergras hinter sich her. Das Mädchen nahm den Rucksack ab und setze sich zu den Elfenkindern ins Gras.
„Ich bin Vanessa, meine Freundinnen sagen Nessie zu mir. Bin ich froh, euch endlich zu sehen. Ich kenne euch doch aus meinem Bilderbuch.“
„Guten Tag.“ Artig gab Zittergras dem Menschenkind die Hand. „Du siehst lieb aus, ich werde auch Nessie zu dir sagen. Was hast du denn in deinem Rucksack? Ein Geschenk für uns?“
Nessie schnürte den prall gefüllten Rucksack auf und ließ die Elfenkinder hinein sehen.
Ratlos schüttelten die beiden den Kopf. Einen Sack voller Kletten!
„Was willst du denn damit?“ fragte Sommerwind erstaunt.
Nessie lachte schelmisch. „Habe ich vorhin gesammelt. Ich will meinem großen Bruder Sebastian einen Streich spielen. Diese stacheligen, haarigen Kleber werde ich in seinem Bett verstecken. Wisst ihr, er ärgert mich immer, und das lasse ich mir nicht mehr gefallen.“
Das konnten die beiden Elfen gut nachfühlen. Sie wurden auch immer von Quaks, dem Frosch, geärgert.
„Stellt euch vor, heute Morgen hat Sebastian tatsächlich zu mir gesagt, ich hätte Ähnlichkeit mit einem Ungeheuer aus England. So einer dicken Wasserschlange, die immer dort
auftaucht, wo sie keiner vermutet“, klagte Nessie und verzog das Gesicht.
Sommerwind lächelte. „Hier bist du auch aus den Nichts aufgetaucht. Soweit ich mich erinnern kann, ist noch nie ein Mensch im Feenland gewesen. Wie hast du das bloß geschafft?“
„Das weiß ich auch nicht so genau, aber meine Mama hat neulich gesagt, wenn man fest an etwas glaubt, gelingt es auch. Wie ihr seht, hat es geklappt.“
Von da an schlief Vanessa jeden Mittag mit ihrem Bilderbuch im Liegestuhl auf der Terrasse und besuchte im Traum die niedlichen Elfenkinder im Feenland.
Im Feenland lief Nessie mit großen Schritten den steilen Hügel hinauf. Sie hatte sich verspätet. Blöd, dass Mama ausgerechnet heute Kartoffelpuffer zu Mittag backen musste. Das dauerte immer so lange.
Ihr Bruder Sebastian hatte sich gleich die ersten geschnappt und sie gegen ihre Angriffe auf seinen Teller verteidigt. Sie musste warten, bis Mama die nächste Portion fertig hatte.
Diese goldgelben Puffer schmeckten einfach himmlisch, dazu ein großer Klecks Apfelmus. Oma hatte es selber gekocht und ihnen heute Morgen gebracht.
Ob die Elfenkinder auch Puffer mochten? Nessie ließ heimlich einen ganz dicken in ihrer
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Anne Koch-Gosejacob
Bildmaterialien: Anne Koch-Gosejacob
Satz: Anne Koch-Gosejacob
Tag der Veröffentlichung: 07.12.2018
ISBN: 978-3-7438-8941-5
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