Ohne
Krimi nie ins Bett
denn es ist besonders nett
sich vor dem Schlafen noch zu gruseln
wenn Diebe Mörder um dich
wuseln
*
Diesmal trafen sie sich bei Vera, der Ältesten ihrer Frauengruppe. Anne, stets nach der neuesten Mode gekleidet, Claudia, die wieder mit ihrem Übergewicht kämpfte, obwohl es nur aus einem Kilo bestand, und die hübsche, rothaarige Susanne. Die vier saßen im großen sonnendurchfluteten Wintergarten, tranken gemütlich Kaffee und aßen mit viel Genuss eine fruchtig-frische Kirschsahnetorte, die Vera nach einem Rezept aus der ‚Welt der Frau’ mit viel Aufwand eigens für diesen Nachmittag gebacken hatte.
Marie, die ebenfalls zu ihrer Gruppe gehörte und seit Kurzem verwitwet war, hatte vor fünf Minuten angerufen und ihnen mitgeteilt: „Bin noch auf dem Heger Friedhof. Bisschen später wird es werden, aber ich komme ganz bestimmt noch. Fahre nur noch kurz nach Hause und ziehe mich um.”
Die anwesenden Damen freuten sich über Maries Anruf. Etwas Aufheiterung würde ihr sicher guttun. So früh den geliebten Ehemann zu verlieren, das war ein schwerer Schicksalsschlag gewesen. Und da Marie keine Kinder hatte, stand sie mit ihren achtundvierzig Jahren mit einem Mal ganz allein da. Ob sie je wieder heiraten würde, schien den Anwesenden nach einhelliger Meinung fraglich.
Um ihr die Zeit der Trauer ein wenig zu erleichtern, beschlossen die mitfühlenden Damen an diesem Nachmittag, sie abwechselnd zu verschiedenen Veranstaltungen mitzunehmen. Theater oder Kino würde Marie über die Zeit der Einsamkeit hinwegtrösten, sie auf andere Gedanken bringen. Wenn auch nicht mit größter Begeisterung verpflichtete sich jede von ihnen zu Aktivitäten. Wie schnell kann man schließlich selber in so eine Situation geraten, Hilfe und Zuspruch benötigten? Wer weiß das schon?
Es klingelte.
„Das wird sie sein”, meinte Vera
Die Damen waren soeben mit ihren Überlegungen und guten Vorschlägen für die junge Witwe zu Ende gekommen. Rasch sammelte man sich und setzte ‚dezente’, dem Trauerfall angemessene Mienen auf.
Vera ging zur Haustür und öffnete sie. Gerade wollte sie Marie in einem mitleidenden Ton begrüßen, da … ‚Das kann doch nicht sein!’ …
Verdutzt schaute sie einmal, zweimal auf die Frau, die dort vor ihr stand. Sie konnte kaum fassen, was sie sah.
Marie ignorierte die Überraschung und ging fröhlich winkend an Vera vorbei. Aufgedreht und gut gelaunt begrüßte sie die anderen Damen im Wintergarten. Auch die waren fassungslos über den Anblick, der sich ihnen bot. Susanne ließ vor Schreck die Kuchengabel fallen. Claudia war so geschockt, dass sie sich verschluckte und gerade noch rechtzeitig vor dem Hustenanfall die Kaffeetasse hinstellen konnte. Anne vergaß sogar, ihren Mund wieder zuzumachen.
Vera, die inzwischen hinter Marie stand und der das Verhalten der Freundinnen peinlich war, stieß sie vorwurfsvoll an. Aber wer erwartete auch eine trauernde Witwe im luftig bunten Sommerkleid?
Nachdem Marie sich gesetzt und Vera ihr Kaffee eingeschenkt hatte, folgte die nächste Überraschung. „Ihr braucht euch keine Sorgen um mich zu machen, meine Lieben! Ich habe bereits einen netten und liebenswerten Mann für mein zukünftiges Leben gefunden. Damit es kein dummes Gerede gibt, erzähle ich es euch am besten gleich selbst. Und es ist wirklich ein neues Leben! Mein Verstorbener, ihr kanntet ihn alle, war ja fürsorglich und treuherzig, hat aber immer alles sehr langfristig geplant, war nie spontan, eben Beamter. Abwarten, das war die Devise seines Lebens. Und er ist so ganz anders, mein Zukünftiger, ein richtig flotter Kerl“, teilte die junge Witwe den Anwesenden in bester Stimmung mit.
Ein wenig verstört und pikiert schauten sich die Damen untereinander an. Schließlich war der von ihnen geschätzte Ehemann Maries erst seit fünf Wochen unter der Erde, und die schönen Blumenkränze mit ihren schwarz beschrifteten Beileidsschleifen lagen noch auf dem Grab. Man war einfach sprachlos.
Zugleich war jede von ihnen erleichtert und atmete heimlich auf. Nun brauchten sie sich nicht mehr besonders um Marie zu kümmern. Der Plan, sie überallhin mitzunehmen, war nun zum Glück überflüssig geworden. Es wäre ihnen bestimmt oft lästig geworden. Marie war immer so anspruchsvoll!
Als Erste konnte Susanne ihre Neugierde nicht mehr unterdrücken. Fast schien sie ein wenig eifersüchtig, ja neidisch, als sie fragte: „Wo hast du denn so schnell einen neuen Mann gefunden? Ich suche seit Jahren nach einem geeigneten Ehemann, aber bisher hat sich das als sehr schwierig erwiesen!”
Marie wurde rot, druckste ein wenig herum. „Na ja … Also, … es ist der nette Junggeselle, der auf der Etage gegenüber von uns wohnt und von dem ich euch schon ab und zu erzählt habe. Der, der sich immer so rührend um seine alte, kranke Mutter kümmert. Er pflegt sie sogar selbst!”
‚Mutter ..., ja ja …’, dachte Susanne. ‚Bestimmt hat er sich mehr um Marie, seine einsame hübsche Nachbarin gekümmert, denn ihr Ehemann kam … war oft reichlich spät aus seinem Büro im Rathaus nach Hause gekommen.’ Laut äußerte sie ihre Gedanken lieber nicht. Sie erinnerte sich, dass Marie schon vor etwa einem halben Jahr mit glänzenden Augen von dem tollen Mann vis-à-vis geschwärmt hatte. ‚Wer weiß, vielleicht ist es ja damals schon mehr als nur Begeisterung gewesen.’
Nachdem alle die Neuigkeit einigermaßen verarbeitet, das Für und Wider einer festen Verbindung mit diesem Mann besprochen hatten, gratulierten die Damen Marie und wünschten ihr aufrichtig viel Glück für die neue Beziehung. Sie war schließlich eine von ihnen und trotz mancher Gegensätze hielten sie immer wie Pech und Schwefel zusammen.
Maries Gedanken bei der Gratulation für die künftige Partnerschaft bemerkte niemand. ‚Ach, wie gut, dass niemand weiß ... Natürlich hätte ich den Notarztwagen in jener Nacht, als Klaus den schlimmen Herzanfall bekam, gleich anrufen können. Aber ich habe endlich das gemacht, was er mir immer wieder als die Devise seines Lebens gepredigt hat, die auch für mich so wichtig wäre: Einfach erst mal abwarten …’
„Hat es nicht gerade geklingelt?” Marlies schreckte im Gartenstuhl auf und schaute fragend zu Bernhard. Der zuckte uninteressiert mit den Schultern. „Hab’ nichts gehört!“
Nun war das Klingeln nicht mehr zu überhören. Anhaltender, drängender durchbrach jemand die Ruhe. Umständlich faltete Bernhard seine ‚Auto Motor & Sport’ zusammen und murmelte vorwurfsvoll: „Muss ich wohl selber gehen. Du rührst dich ja doch nicht!”
„Nein, lass nur. Ich gehe schon!” Marlies quälte sich bereits aus dem Gartenstuhl, da ihr Mann keine Anstrengung unternahm, zur Haustür zu gehen. Mit einem letzten Blick auf ihr Äußeres im Flurspiegel öffnete sie die Haustür und wurde augenblicklich mit zahlreichen Küsschen überfallen.
„He, ihr seid ja doch da!” Jutta, klein, quirlig, mit neuer fransig-roter Sommerfrisur, strahlte ihre Freundin an, plauderte drauflos. Plötzlich stutzte sie: „Wie siehst du denn aus? Hast du geweint?”
„Ja, … wir haben uns wieder mal gestritten. Bernhard war schon wieder so ekelhaft gemein zu mir.” Marlies schluckte ihre aufsteigenden Tränen hinunter.
Mitfühlend legte Jutta den Arm um Marlies. „Und worum ging’s diesmal? Erzähl!“
„Ach, wie immer! Es ging wieder um den Garten, ums Geld. Jetzt muss ich schon um jede neue Pflanze kämpfen. Schrecklich, und es wird immer schlimmer!”
„Dann mach doch einfach nichts mehr, lass alles liegen. Schon’ dich lieber.“
„Du hast gut reden. Was glaubst du, wie es dann bald im Garten aussehen wird! Bernhard macht doch fast nichts.”
„Na, hör mal! Lass dir doch nicht alles gefallen! Bestell einfach einen Gärtner, damit dein Mann endlich weiß, was er spart, wenn du den Garten selber machst.” Jutta drückte ihre zerknirschte Freundin an sich, strich ihr liebevoll über die Wange und sagte aufmunternd: „Kopf hoch! Lass dich bloß nicht unterkriegen, meine Liebe.”
Arm in Arm gingen die beiden nach draußen.
„Hallo, Bernd! Na, wie geht’s?”
Widerwillig schaute Bernhard von seiner Zeitung auf: „Ach, du bist es. Was habt ihr denn so lange da drinnen geredet?”
„Frauensache!”
„Was soll das heißen? Kannst du nicht vernünftig antworten?” Verärgert über die Antwort seiner Frau rückte Bernhard seine Brille zurecht und widmete sich wieder der ‚Auto Motor & Sport’.
Jutta ließ sich derweil auf die weichen Kissen eines grünen Gartensessels fallen. ‚Na, das hätte der mal zu mir sagen sollen!’, dachte sie und schlug die Beine lässig übereinander. ‚Ein Scheusal ist das!’
‚Blöde Pute!’ Bernhard war noch immer verärgert, dass er nicht mitbekommen hatte, worüber die Frauen im Flur geredet hatten. Gleichwohl linste er unauffällig über den Zeitungsrand. ‚Hübsche Beine hat sie ja, … aber dieser kurze Fummel. Man kann ja fast überall hinsehen. Gott sei Dank zieht Marlies so etwas nicht an. Das würde ich ihr auch strikt verbieten.’
Aufmerksam schaute Jutta derweil in die Runde. „Mensch, euer Garten ist echt ’ne Wucht, immer blüht etwas. Oooh ... aah, vorne das Beet! Habt ihr das neu gestaltet?“
„Nein, mit Perwoll gewaschen!” Abfälliger hätte Bernhard seine Bemerkung nicht fallen lassen können.
Seine Frau sah ihn vorwurfsvoll an, ehe sie sich ihrer Freundin zuwandte. „Das ist das Corpus Delicti. Ich habe das Beet gestern neu angelegt. War ganz schön anstrengend. Zuerst musste ich den alten, verholzten Fliederbusch ausgr...”
„Ausgraben!”, fuhr Bernd ihr über den Mund. „Das brauchtest du überhaupt nicht! Aber du musst ja dauernd alles im Garten ändern. Ich habe dir gleich gesagt, dass es zu viel Arbeit macht. Aber du hörst ja nicht auf mich.”
„Du lieber Himmel! Der Busch war doch viel zu a...”
„Alt, willst du sagen. So ein Quatsch! Der hätte noch glatt einige Jahre geblüht.”
„Die neuen roten Begonien machen sich aber gut, sehen viel schöner aus, Bernd”, schaltete sich Jutta in den Zwist ein.
„Halt du dich da raus, Jutta! Was verstehst du denn davon?” Bernhard stand kurz vor einem seiner gefürchteten Wutanfälle. ‚Was geht die alte Pute unser Garten an. Hat keine Ahnung, aber mir was sagen wollen!’
„Na hör mal, Bernd! Meine Mutter hat auch einen Garten und die sagt, Begonien halten sehr lange und blühen bis zum Herbst.”
„Und ...?”
„Was heißt hier ‚und’ ...?”, fragend sah Jutta Bernd an.
„Ganz einfach, dann reißt Marlies sie wieder heraus. Für den Herbst müssen dann Stiefmütterchen gekauft werden. Und wer bezahlt das alles? Ich natürlich!”
„Ist ja ätzend! Du tust mir richtig leid, du armer Kerl.” Jutta konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, wusste sie doch um das Gehalt des Abteilungsleiters bei einer kirchlichen Osnabrücker Irgendwasbehörde.
„So ganz stimmt das auch nicht!”, warf Marlies zaghaft ein. „Den Kunstdünger, den habe ich neulich von meinem Taschengeld gekauft.” Über ihren eigenen offenen Widerspruch überrascht, senkte Marlies den Kopf, betrachtete ihre rauen Hände und fühlte mit einem Mal wieder den stechenden Schmerz in ihrem Rücken. Kaum vernehmbar murmelte sie: „Und wenn deine Freunde kommen und alles bewundern, tust du immer so, als würdest du den Garten allein bearbeiten.”
Abschätzend sah Jutta den Mann ihrer Freundin an. ‚Dieser große, dicke Kerl, sein Bauch wäre bestimmt kleiner, wenn er sich ein bisschen mehr bewegen würde. Sein Hemd könnte er dann auch wieder komplett zuknöpfen, was bestimmt besser aussehen würde!’ Interessiert fragte sie: „Und wer mäht bei euch den Rasen?”
„Ich natürlich”, tönte es stolz aus Bernhards Mund.
„Stell dir vor, Jutta, er hat sich einen großen Rasenmähertraktor mit Auffangkorb gekauft.”
„Du brauchst gar nicht so schnippisch zu reagieren, meine liebe Marlies, eine sinnvolle Anschaffung war das!”
„Was soll daran wohl sinnvoll gewesen sein? 2.500 Euro für so ein Ding.”
„Da sieht man wieder, dass du keine Ahnung hast! Schon mal was von Arbeitszeitersparnis gehört? Ich brauche den Rasenschnitt nicht mehr zusammen zu harken, das spart mehr als die Hälfte der Zeit, die wir sonst gebraucht haben!”
„Was, das riesige Ding neben der Garage ist deins? Alle Achtung!”
Schallend lachte Jutta auf, klopfte sich auf die Schenkel, drehte sich um und blickte demonstrativ auf die vielleicht zwanzig Quadratmeter große Rasenfläche im Garten in der Reihenhaussiedlung im Ortsteil Schölerberg von Osnabrück. „Weißt du, Bernd, allmählich kann ich Marlies verstehen. Sie muss um Geld für Blumen betteln und du gibst Unsummen für dein technisches Spielzeug aus. Wie wär’s, wenn du stattdessen den Garten einbetonierst und grün anstr...”
„Du redest dummes Zeug”, unterbrach Bernhard sie wütend.
„Wieso? Das wäre doch was! In die Mitte stellst du eure große Trompetenblume. Wo ist sie eigentlich?”
„Wenn du endlich deine blöde Sonnenbrille absetzen würdest, könntest du sie auch sehen. Sie steht schräg hinter dir.” ‚Blöde Kuh’, dachte er, stand auf und brach die unteren, welken Blätter der Blume ab. Sie störten seinen angeborenen Ordnungssinn.
Nun war Jutta beleidigt, dachte aber nicht im Traum daran, die Brille abzusetzen. Auch mit den verdunkelten Gläsern konnte sie deutlich sehen, wie ihm der Pflanzensaft über die Finger lief.
Bernhard knüllte die abgebrochenen Blätter zusammen und warf sie auf den Tisch. Flüchtig wischte er seine Hände an der dunkelblauen Jeans ab, stopfte sich die letzten gezuckerten Brombeeren, die Marlies ihm – wohl zur Versöhnung nach ihrem letzten Streit – auf einem Teller hingestellt hatte in den Mund und leckte sich genüsslich die süßklebrigen Finger ab. Mit ungläubigen Augen schaute Marlies zu.
Jutta konnte es nicht lassen, angriffslustig fragte sie: „Weißt du nicht, dass Trompetenblumen giftig sind?”
„Natürlich weiß ich das. Neuerdings scheint alles giftig zu sein, was ich anfasse. Nicht wahr, meine Liebe?” Grinsend tätschelte er seiner Frau das Knie, richtete sich dann auf und meinte im Befehlston: „Übrigens, ich habe Hunger. Es wird Zeit fürs Abendbrot!”
Marlies reagierte erst einmal nicht auf seine Aufforderung. Versonnen starrte sie auf die große, duftende Blume. ‚Was habe ich im Gartenlexikon gelesen? Engelstrompeten oder auch ‚Trompeten von Jericho’ enthalten Alkaloide wie Atropin und Sco... Scopo... egal, jedenfalls ein hochgiftiger Stoff!’
Unsanft stieß Bernhard sie an. Erschrocken sah Marlies auf und wurde rot, so als ob sie Angst davor hätte, dass er ihre Gedanken hören könnte.
„Hast du mir überhaupt zugehört? Zeit fürs Abendbrot. Also ein Salatteller, etwas Brot und ein kühles Bier würden mir gefallen!” Aus der Hosentasche zog Bernhard ein ordentlich gefaltetes Taschentuch und tupfte sich die feuchte Stirn ab.
„Dann will ich euch mal nicht länger stören.” Jutta erhob sich.
Auch Marlies stand auf, nahm die grünen, giftigen Blätter vom Tisch und begleitete die Freundin zur Tür.
„Tschüß, meine Liebe. Und lass dich nicht mehr ärgern von dem!”, verabschiedete sich Jutta, nicht ohne die etwas abwesend wirkende Freundin noch einmal mitleidig zu umarmen.
Marlies ging in die Küche, warf die welken Blumenblätter in den Abfalleimer und wusch sich gründlich die Hände. Dann nahm sie eine Glasschüssel aus dem Schrank und begann, Tomaten, Gurken und Eisbergsalat zu zerkleinern. Dabei musste sie ständig an den albernen Streit im Garten denken. Sie schluckte ... ‚Nein, nicht weinen’, sagte sie sich und reckte sich nach der Essigflasche auf dem Bord. Doch unbarmherzig drängte sich ihr immer wieder die Szene von heute Vormittag auf. Beinahe hätte Bernhard ihre orangefarbene Lieblingsrose geköpft, die sie so aufopfernd gepflegt und gehätschelt hatte und die nun endlich einige schöne, duftende Blüten bekommen hatte. Ahnungslos war sie in den Garten gegangen, um zu sehen, was Bernhard machte. Plötzlich entdeckte sie, dass fast alle Zweige ihrer Lieblingsrose abgeschnitten auf dem Boden lagen. Und das nur, weil sie vergessen hatte, den Blütenflor aufzufegen, den der Wind gestern auf die Terrasse geweht hatte. Sein Ordnungs- und Reinlichkeitsfimmel war wohl gestört gewesen. Für einen Moment hatte sie die Augen geschlossen und gedacht, ihr Herz würde stehen bleiben. Es hatte ihr in der Seele wehgetan, so als hätte er ihr selbst etwas abgeschnitten. Mit ausgebreiteten Armen hatte sie sich vor die Rose gestellt, um sie vor den wütenden Attacken ihres Mannes zu schützen. Der jedoch hatte sie mit funkelnden Augen angesehen und geschrien: „Verschwinde, albernes Weib. Stell dich nicht so an wegen der dusseligen Rose, ist schließlich nur dorniges Gestrüpp.”
Aber sie hatte sich geweigert, war stehen geblieben. Nach einiger Zeit hatte er aufgegeben, die Schere im hohen Bogen in die Rabatte geworfen und war wutschnaubend ins Haus gestapft. Schluchzend hatte sie die abgeschnittenen Rosenteile aufgesammelt und auf den Kompost gebracht. Eine abgebrochene Blüte hatte sie behutsam aufgehoben, in die Küche mitgenommen, auf einen flachen Teller mit Wasser gelegt und auf die Arbeitsplatte gestellt.
Marlies schaute zu ihr hin. Die Rose war heute voll erblüht, sah in ihrer Farbe und Form edel aus und duftete wundervoll. Es kam ihr vor, als nickte ihr die Blüte dankbar zu. Sie meinte sogar, eine flüsternde Stimme zu hören, die ihr sagte: „Es wird Zeit, dass du andere Saiten aufziehst, meine Liebe. Du musst uns und deinen Garten vor diesem Menschen schützen!”
‚Ich glaube, jetzt spinne ich langsam.’ Marlies lachte laut auf, rührte den Salat um und schmeckte ihn ab. ‚Nicht schlecht, allerdings könnte er ein bisschen würziger sein. Etwas Pfeffer, etwas Essig oder vielleicht ...? Nein ... ! Oder doch ...? Es wäre die Gelegenheit!’
Die jahrelangen Bevormundungen, Demütigungen und Betteleien um Geld, um jedes Stück Eigenständigkeit müssten ein Ende haben. Kurz entschlossen öffnete sie den Mülleimer und griff hinein.
„Warum deckst du nur für mich, hast du keinen Hunger?” Bernhard war in die Küche gekommen und sah auf dem Esstisch nur ein Gedeck stehen.
„Mir ist für heute der Appetit vergangen! Ich geh’ ins Bett. Dein Bier musst du dir schon selber holen.”
Mitten in der Nacht wurde Marlies wach, hörte ihren Mann stöhnen und sich im Bett wälzen.
„Ist dir nicht gut?“, fragte sie ihn.
„Mir ist schwindelig und furchtbar übel. Ich war schon zweimal zur Toilette und musste mich auch übergeben. Schlucken kann ich auch nicht richtig. Ich glaub, mein Hals ist richtig zugeschwollen.”
„Stell dich nicht so an! Hast gestern Abend sicher wieder zu viel Bier getrunken.”
Schwerfällig versuchte Bernhard sich aufzusetzen, aber er hatte keine Kraft, war wie gelähmt. Plötzlich begann er zu röcheln, griff sich an den Hals und schnappte nach Luft.
Das war zu viel für Marlies. Sie stand auf, ging mit einem letzten Blick auf ihren sich windenden Mann ins Gästezimmer, legte sich auf die Liege, zog die braune Wolldecke über die Ohren und versuchte trotz nagender Gewissensbisse weiterzuschlafen.
Am anderen Morgen horchte Marlies an der Schlafzimmertür. Totenstille!
Leise begann sie vor sich hinzusummen, ging ins Wohnzimmer, zog die Schiebetür zur Terrasse weit auf und atmete tief durch. Die frische, kühle Morgenluft tat ihr gut. Barfuß lief sie schließlich über die ordentlich gepflasterte Terrasse, blieb vor der hohen, rosafarbenen Trompetenblume stehen und flüsterte: „Meine Liebe, ich kaufe dir einen wunderschönen großen Keramiktopf, denn Geld spielt ab heute keine Rolle mehr!“
In ihrem kurzen, dünnen Nachthemd wanderte sie weiter durch den Garten und strich sanft mit den Fingern über die leicht geöffneten, wie schweres Parfüm duftenden Blüten ihrer Rosen, auf denen kleine Tautropfen wie Diamanten in der Morgensonne glitzerten. Ab und zu bückte sie sich, zupfte hier und da ein Unkrauthalm und genoss den stillen, friedlichen Beginn des neuen Tages.
Nach einiger Zeit gab sie sich einen Ruck. Mit hoch erhobenem Haupt schritt sie zurück ins Wohnzimmer, rief ihren alten Hausarzt an und bat ihn, sofort zu kommen. Ihr Mann …
„Tod durch Herzversagen“, stellte der fest. „Sein Übergewicht hat ihn umgebracht.“
Durch den dunklen, grauen Keller kehrte Robert zurück in das Bürogebäude am Kollegienwall, schnitt unten im Vorraum, in dem die schwarzen Mülleimer standen, die dünnen, weißen Sanitätshandschuhe in kleine Stücke und steckte sie zuunterst in einen der fast vollen Mülleimer, in dem schon oben auf ein paar verdreckte Gummihandschuhe der Putzfrau lagen. Er wusste, dass die Eimer innerhalb der nächsten Stunde geleert würden. Vorsichtshalber entfernte er noch aus einem der Staubsauger, die an der Wand lehnten, den prall gefüllten Papierbeutel, kippte den staubigen Inhalt zusätzlich in den Mülleimer und klappte leise den Deckel zu.
Eilig wusch er sich in dem abgestoßenen Emaille-Waschbecken die Hände, trocknete sie flüchtig an dem blaukarierten Handtuch ab und schlich statt durch den Haupteingang, durch das angrenzende Treppenhaus nach oben ins Büro.
Als er vor Jahren die andere Hälfte des Hauses dazugekauft hatte, ließ er sich im zweiten Treppenhaus eine Geheimtür einbauen, die direkt in sein Büro führte und im Raum als Aktenregal getarnt war. Da er es oft mit zwielichtigen ausländischen Geschäftsleuten zu tun hatte, war diese fast unsichtbare Tür für ihn als Fluchtweg gedacht. Durch sie konnte er heute unbemerkt in sein Büro zurückkehren.
Seine junge Sekretärin Louisa, die schon mehrmals ungeduldig auf die Uhr gesehen hatte, hörte sofort auf zu tippen, als er den protzig eingerichteten Raum betrat. Mit ihren rabenschwarzen Augen sah sie ihn erwartungsvoll an.
Robert umschritt den schweren Eichenschreibtisch, ließ sich aufatmend in seinen dicken Ledersessel fallen, zog den goldenen Ehering vom Finger, öffnete die unterste Schreibtischschublade, warf ihn achtlos hinein und flüsterte mit leiser, belegter Stimme: „Es hat geklappt! Sie liegt einbetoniert in der Tiefgarage des neuen Kaufhauses am Kamp.“
Glücklich lächelnd stand Louisa auf, ging um den Schreibtisch herum und stellte sich hinter ihn. Geschmeidig wie eine Katze legte sie ihre schlanken, von der Sonne gebräunten Arme um seinen Hals, schmiegte sich eng an ihn und flüsterte: „Ich wusste, dass wir es schaffen, dass du es schaffst, mein wundervoller, kluger Geliebter. Jetzt steht uns nichts mehr im Wege!”
Sie setzte sich auf seinen Schoß und küsste ihn leidenschaftlich, sah sich dabei als neue Ehefrau in seiner eleganten Villa am Rubbenbruchsee auf der Terrasse sitzen und mit seinen Freunden, einigen honorigen Männern der Stadt, plaudern. Ab jetzt würde sie stets nach der neuesten Mode gekleidet sein, schicke Sachen aus München oder Mailand tragen, die ihre Figur so richtig zur Geltung bringen würden. Louisa stellte sich vor, wie bei ihrem Anblick den geilen alten Böcken fast die Augen aus dem Kopf fallen würden.
Plötzlich klopfte es an der Tür. Gerade noch rechtzeitig konnte sich Louisa von Robert lösen und einen Schritt zur Seite gehen, ehe Fräulein Schmidt, die neue Schreibkraft, mit festem Schritt eintrat. Sie reichte Louisa die handschriftlichen Aufzeichnungen eines Telefonats, das sie mit einem Kunden wegen dringender Notarunterlagen geführt hatte.
Robert lobte seine Angestellte, und Frau Schmidt war sichtlich stolz, dass sie den Auftrag zur vollen Zufriedenheit ihres neuen Chefs erledigt hatte. Wenn man sie später zum Verschwinden von Frau Breitschwanz befragen würde, könnte sie sicherlich bestätigen, dass ihr Chef, Doktor Robert Breitschwanz, die ganze Zeit mit der Sekretärin, Fräulein Louisa Maier, im Büro gewesen und gearbeitet hätte. Er war ja so ein netter, arbeitsamer Mensch!
Lässig, mit der Schulter gegen die alte Mauer gelehnt, stand Luca da. Gelangweilt malte er mit seiner schwarzen Lackschuhspitze kleine Kreise auf den sandigen Boden, während in seinem Mundwinkel eine halb aufgerauchte Zigarette hing. Es war die gleiche Sorte, für die auf dem Plakat in der Nähe mit einem bunten Slogan geworben
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Anne Koch-Gosejacob
Lektorat: Geest-Verlag
Tag der Veröffentlichung: 01.05.2018
ISBN: 978-3-7438-6720-8
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