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1. Kapitel – Olivia (Dienstag 5. Juli)

Es wurde schon dunkel, am Horizont färbte sich der Himmel indigoblau.
Die Sonne war bereits untergegangen, doch noch immer war es warm. Die Straße, stundenlang von der Sonne erwärmt, brannte unter meinen nackten Füßen. Meine Schuhe, einfache Sandaletten, trug ich in den Händen. Das weiße Sommerkleid umspielte neckisch meine Oberschenkel.
Noch immer wünschte ich es mir länger. Nur ein Stück, nur ein kleines Stück. Aber meine Mutter wollte es so. Und gegen meine Mutter hatte ich keine Chance, sie war nun mal so. Sie wollte immer alles bestimmen, alles unter Kontrolle haben.
Meine Schritte wurden langsamer, als die Straße vor mir abrupt endete. Ich stand an einem Waldrand. Nur wenige Meter von mir entfernt befand sich eine grasumwucherte Holzbank. Vorsichtig machte ich einen großen Schritt, um nicht in Brennnesseln zu treten und setzte mich auf die Bank.
Es war still, so still. Ab und zu knackte es im Wald hinter mir, wenn ein Lebewesen, ob Tier oder Mensch, auf trockene Zweige und Äste trat.
Auch die Bank war angewärmt, die Bäume hatten ihr keinen Schatten spenden können.
Langsam zeichnete ich mit einem Finger die Maserung des Holzes nach. Bis ich mit der Fingerspitze plötzlich auf eine Erhebung im Holz traf, etwas Kaltes, Metallenes. Ein Schild.
Es stand etwas darauf geschrieben, fast schon war die Schrift verschwunden.

Eva McGee
Dezember 1981 – Juli 1996
RIP

Lange starrte ich auf das Schild, dessen Schrift ich nur lesen konnte, weil mein Handy schwach leuchtete. Wer war Eva McGee gewesen? Sie war jung gewesen, nicht mal fünfzehn, als sie starb. Ihr ganzes Leben hätte noch vor ihr gelegen. Aber was war passiert? Und warum stand ihr Name auf einer Bank abseits der Häuser, ganz nahe dem Wald?
Hatte sie sich einst in diesem Wald verlaufen?
Oder war sie einfach krank gewesen und hatte den Wald so sehr gemocht, als sie noch lebte?
Ich wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen, als ich Schritte hörte. Schleppende Schritte, unwillige Schritte.
Neugierig hob ich den Kopf.
Zu sehen war nichts. Nur hören konnte ich weiterhin dieses gruselige Schleifen der Füße.
Etwas weiter entfernt tauchte plötzlich aus einer verlassenen Straße, die für ihre heruntergekommenen Häuser und Wohnungen bekannt war, ein Mann auf. Er trug ein Holzfällerhemd und zerschlissene Jeans.
Er hatte ein Mädchen bei sich und was er mit ihr tat, ließ mir die Haare zu Berge stehen.
Unfähig mich zu bewegen, blickte ich dem Mädchen direkt in die Augen. Stumm schrie es um Hilfe, panisch versuchte es, die Hände des Mannes, die es festhielten, abzuschütteln.
Doch es schaffte es nicht. Der Mann, der mich nicht bemerkte, zerrte das Mädchen einfach weiter, als wäre es eine Puppe. In den Wald hinein.
Eine Hand hatte er auf den Mund seines Opfers gepresst, damit es nicht schreien konnte.
Das Mädchen war hübsch, soweit ich das erkennen konnte. Das schwarze Haar war zu einem strengen Zopf zusammengebunden. Eine einfache Trainingshose und ein graues Top bedeckten den Körper. Anscheinend war sie joggen gewesen … als ihr etwas dazwischenkam.
Ich schauderte.
Noch als der Mann mit dem Mädchen schon längst in den Tiefen des Waldes verschwunden war, bekam ich den hilflosen, flehenden Blick nicht aus meinem Kopf. Diese schwarzen Knopfaugen ließen mich nicht mehr los. Ich fühlte sich so unendlich schuldig, so dreckig.
Als mein Handy klingelte, erschrak ich.
Der Klingelton war viel zu laut und viel zu fröhlich für diese Situation. Er zerriss die Stille.
Ich blickte auf das Display. »Mum«, stand dort.
Kurz überlegte ich, den Anruf einfach wegzudrücken, aber dann wurde mir klar, dass ich so nur noch mehr Fragen provozieren würde.
Seufzend ging ich ran. »Hallo? «
»Olivia?! « Meine Mutter, Grace, klang aufgebracht. »Wo steckst du? Du hast die Geschenkübergabe verpasst! «
Mist!
»Tut mir leid, ich bin sofort da. «
Nachdem ich aufgelegt hatte, zog ich mir schnell meine weißen Sandaletten an und lief im Laufschritt zu dem Haus meiner großen Schwester zurück, wobei meine Absätze auf den Pflastersteinen klackerten.
Der weiße Bungalow war hell erleuchtet und von schon von weitem hörte ich das überdrehte Lachen meiner Mutter.
Bevor ich eintrat, atmete ich noch einmal tief ein und aus. Meine Haare kämmte ich notdürftig mit den Fingern und inständig hoffte ich, niemand würde mir den Konflikt in meinem Inneren ansehen.
In der Eingangshalle war es voll, überall standen Menschen. Alle waren irgendwie mit mir verwandt, größtenteils waren sie Schwestern, Tanten, Cousinen und Nichten von meiner Mutter, die die jüngste in ihrer Familie war. Ihre Mutter, meine Großmutter, sah mich sofort und kam auf mich zugerauscht. Die Wolke aus dem allerteuersten Parfüm, die sie um schwebte, nahm mir die Luft und ich hatte Mühe, nicht los zu husten.
»Mein Schatz«, säuselte sie und nahm mich in eine knochige Umarmung.
»Hallo Großmutter, was eine Freude, dich zu sehen«, antworte ich steif und lächelte gezwungen.
Zu meinem Glück entdeckte ich grade meine Schwester am anderen Ende des Raumes und verabschiedete mich vorerst wieder von meiner Großmutter mit einem Küsschen.
»Cleo! «, rief ich und stürmte auf meine Schwester zu, die mit geröteten Wangen bei ihrem Freund Matthew stand. »Tut mir leid, dass ich vorhin abgehauen bin, aber- «
»- du hast das hier alles nicht mehr ausgehalten, ich versteh schon«, beendete sie meinen Satz und zwinkerte mir zu.
Sie war mit ihren grade gewordenen fünfundzwanzig Jahren acht Jahre älter als ich und trotz des Altersunterschiedes meine Seelenverwandte.
Ich fand, dass wir uns nicht grade ähnlich sahen, aber egal wem wir begegneten, alle hielten uns immer vor, wir sähen aus wie Zwillinge.
Das machte mich immer ein bisschen glücklich.
Cleo war mein Vorbild und so auszusehen wie sie, war eine Ehre.
Ihre blonden Haare fielen ihr meist wild über die Schultern, aber manchmal an Tagen wie heute waren ihre Haare glatt und glänzten im Licht.
»Ich hab noch dein Geschenk«, sagte ich grinsend und öffnete meine Clipframe Bag, um ein kleines Päckchen rauszuholen. Es war rund und nur knapp einen Zentimeter hoch und hatte einen Durchmesser von einem halben Zentimeter.
Ich reichte es ihr, wobei ich ihr nochmals alles Gute wünschte.
Gespannt beobachtete ich sie dabei, wie sie die rosafarbene Schleife von dem Päckchen zog und vorsichtig den Deckel abhob.
Sie warf einen flüchtigen Blick auf das Armband, das sich in der Verpackung befand und schaute mich dann erschrocken mit großen Augen an.
»Olivia! «, rief sie vorwurfsvoll aus (Olivia war immer eine Art Alarmsignal), »du sollst doch nicht so viel Geld ausgeben! «
»Der fünfundzwanzigste ist etwas Besonderes«, rechtfertigte ich mich. »Und du bist schließlich meine Lieblingsschwester! «
»Deine einzige Schwester«, korrigierte sie mich, aber an der Art, wie sie lächelte, erkannte ich, dass sie gerührt war. Gerührt von dem feinen, silbernen Armband, in dessen Innenseite unsere Namen eingravieren waren.
Als sie mich fest in die Arme nahm und ich ihr Shampoo roch, konnte ich einen Moment lang vergessen, was ich zuvor am Wald gesehen hatte. Meine Schwester nahm mir – mal wieder – alle Sorgen, durch eine einfache, simple Umarmung. Warum konnte es nicht immer so einfach sein?
Über Cleos Schulter hinwegblickend sah ich Matthew, der mir zulächelte. Von Anfang an hatte er die enge Bindung zwischen meiner Schwester und mir akzeptiert – im Gegensatz zu ihrem Vorherigen Freund.
Cleo und Matthew waren nun schon seit drei Jahren zusammen. Drei Jahre ohne Trennung, drei Jahre ohne Schmerz, drei Jahre mit nur wenig Streit. Drei glückliche Jahre.
Insgeheim wünschte ich mir immer irgendwann so ein Glück wie meine Schwester zu haben.
Cleo strich mir noch einmal zärtlich über den Rücken und ließ mich dann los. Mit einer ihrer nun freien Hände griff sie nach Matthews Hand. Sie sahen so glücklich aus, wie sie dort nebeneinander standen, mit verschlungenen Händen und seligen Lächeln.
»Guck nicht so eifersüchtig«, sagte Cleo lachend, der meine Blicke aufgefallen waren. »Los, geh schon zu Jamey, Mum wird es eh nicht merken. «
Flüchtig grinste ich ihr nochmal zu – auf diese Worte hatte ich gewartet. Schon längst hatte ich Jamey in der Ecke erspäht, er trug einen schwarzen Anzug und hielt ein Sektglas in der Hand. Neben ihm stand, zu meinem Leidwesen, sein bester Freund Denton. Denton trank generell viel zu viel und hatte schon um die zwanzig Freundinnen in den achtzehn Jahren, die er schon lebte. Allerdings sah er auch gut aus, ziemlich gut.
Aber niemals besser als Jamey!
Jamey war mein Freund, mein Gott, mein Geliebter, meine große Liebe.
Mein Alles.
Langsam trat ich näher an die beiden heran, Jamey stand mit dem Rücken zu mir. Denton, der mir gegenüber stand, zwinkerte mir zu und diese Art, auf die er zwinkerte, ließ mir übel werden. Durch das Zwinkern irritiert, drehte sich auch Jamey um. Als er mich sah, breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus, das ihn noch tausendmal schöner erscheinen ließ.
Wir küssten uns.
Wie immer roch er nach seinem teuren Rasierwasser, seine Haut war weich und kein bisschen stoppelig. Er war mein Jamey.
»Gibt’s was Neues? «, fragte er mich leise, wie immer.
»Nein«, schwindelte ich. Kurz befürchtete ich, er würde mich durchschauen, er kannte mich so gut und ohnehin konnte ich nicht gut lügen. Aber er sagte nichts.
Nur in seinen Augen flackerte etwas auf, das ich nicht beschreiben konnte. Es sah aus wie schlechtes Gewissen. Ich zwang mich nicht weiter darüber nachzudenken und begrüßte Denton mit einem flüchtigen Kuss auf seine kratzige Wange. Ich tat es nur, weil es die Höflichkeit von mir verlangte. Weil ich es nicht anders gelernt hatte.
Das fremde Mädchen ging mir den ganzen Abend nicht mehr aus dem Kopf. Ganz egal, was Jamey sagte, ganz egal, wie viel Sekt ich trank, ganz egal, wie oft Jamey und ich uns küssten. Immer, die ganze Zeit über, sah ich die dunklen Augen des Mädchens wieder vor mir, die stumm um Hilfe schrien.
Aber Jamey bemerkte nichts. Er hatte viel getrunken, was gar nicht zu ihm passte. Normalerweise war er brav, wenn unsere Eltern dabei waren.
Unsere Familien waren alle irgendwie befreundet, wenn man das so nennen konnte. Sie kannten sich von Wohltätigkeitsveranstaltungen und festlichen Bällen. Das blieb halt nicht aus, wenn Leute wie meine Eltern, unter Ihresgleichen bleiben wollten. In den Kindergarten war ich nie gegangen und seit klein auf durfte ich nur mit anderen Kindern spielen, die so waren wie wir. Reich und erfolgreich. Das hatte sich nie geändert.
Ich hasste meine Eltern dafür, dass sie mich in ihrer Welt gefangen hielten. Ich kam nicht raus aus diesem Leben, ich war gefangen. Gefangen in meiner Zukunft. Mein Leben war schon genau geplant: High-School-Abschluss auf der Privatschule, die ich besuchte, dann auf eine Universität gehen, wie Brown, Yale, Columbia, Princeton oder Stanford. Wenn ich doch aufs College gehen sollte, dann aber nur nach Dartmouth. Die Entscheidung stand mir letztendlich frei.
Das war aber auch die einzige Entscheidung, die ich treffen durfte.
Aber ein Jahr hatte ich noch Zeit. Noch ein Jahr High-School stand mir bevor. Nur noch ein Jahr.
»Alles okay? Du bist so still heute. «
Und ausgerechnet war es nicht Jamey, der fragte, sondern Denton.
»Hast wohl deinen aufmerksamen Tag. « Böse funkelte ich ihn an, obwohl er mir ja eigentlich gar nichts getan hatte.
Er merkte es.
»Was hast du eigentlich? Was hab ich dir getan? «Ich antworte ihm gar nicht erst, verließ einfach das Haus meiner Schwester ohne mich von irgendwem zu verabschieden und ging nach Hause.
Mein Bett wartete auf mich.

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Tag der Veröffentlichung: 21.04.2011

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