Cover

Vielleicht sollte ich es mir gleich eingestehen und sagen, was ich von mir und meinem Leben und dem Rest halte, was für wahr und was für falsch, wie sonst könnte ich damit beginnen, mich zu besinnen und sagen, dass ich ein Mensch wie jeder andere bin, und mein Leben dennoch eine merkwürdige Geschichte ist – ich spiele zwar eine große Rolle darin, mit Sicherheit aber nicht die Hauptrolle; die spielen meine Ohren, Augen und Hände, mein Glied, mein Sternzeichen, all die Gedanken und Gefühle und Empfindungen, all die Mutmaßungen, Triebe und Vorlieben, Obsessionen, Bedürfnisse, Enttäuschungen und Missverständnisse, all die ganzen Bewandtnisse und Verletzungen, für die ich bislang keine Worte hatte und nicht weiß, ob ich sie je haben werde. Aber wann anfangen, habe ich mich gefragt, wann, wenn nicht jetzt, nach Hause gehn, ’nen Kaffee machen und Bruckners Fünfte auflegen, auf den alten Plattenspieler mit Radio und doppeltem Cassettendeck, aus der Zeit mit Barbara noch, mensch, 15 Jahre ist das schon her. Wann, wenn nicht jetzt, mit so was wie der Wahrheit anfangen, mitten in den Sud hinein, in dem ich gerade stecke, diese scheiß Damenwelt, mitten hinein in diese res eroticis. Ausgerechnet dort bei den Frauen soll ich eine Wahrheit finden?, habe ich mich gefragt und mein Vorhaben allein schon durch diese Frage in Gefahr gesehen. Affig, dachte ich, die Wahrheit ist weiblich und lässt sich gerade dort nicht finden o- der, sagen wir mal, nur sehr schwer, mit einem langen Atem, oder mit einer langen Lüge. Trotzdem muss ich’s versuchen, egal was dabei herauskommt. Um nicht die ganze Zeit so verdammt allein zu sein, am Schreibtisch und sonst wo mit dem Kuli oder so, werde ich dir, Ulle, das alles schreiben oder, besser noch, aufs Diktaphon sprechen, das geht schneller. Weil du mich nun schon ein Leben lang kennst, muss ich dir wenigstens nicht alles erklären und dir die Angelegenheit noch weniger beschreiben, damit du dir ein Bild davon zu machen: von meiner jetzigen Umgebung, meinen heimlichen Träumen und etwas verwirrten Vorstellungen; ebenso wenig von Eva und Ines und von meiner ungebändigten Vor- liebe für Philosophen, verhüllte Brüste und andere tragische Gestalten. Hoffentlich wirst du nicht selber eine tragische Gestalt. Du weißt ja, Ulle, dass du viel gefährdeter bist als ich, vielleicht sogar mit jeder Zeile mehr. Auf jeden Fall darf ich nicht anfangen mit Lieber Ulle, dann wirst du sofort die Augen verdrehen und keine Lust mehr haben, mir weiter zuzuhören. Mensch Ulle, was bringt einem eine klare Antwort, wenn man sein Leben eh als einen einzigen und fortwährenden Auflösungsprozess begreift. Schlimm, findest du nicht? Aber pass auf: Das Schlimmste – es kommt nicht erst noch, es ist da, schon lange unter uns, in mir, immerzu, wie Fleischhaken hinter Kar- nevalsmasken. Xaver sagte es gleich am Anfang unseres Gesprächs. Wir standen nebeneinander, bis zum Bauchnabel von einem Holzzaun getrennt. Fünf Sätze, mehr nicht, und Xaver vermochte mir zu sagen, dass ich die Sache begraben solle, sie (als Sache?) abhaken wie einen erledigten Amtsgang, oder wie die Milch, den Joghurt, das Brot und den Käse, vom Einkaufs- zettel in den Wagen, abhaken und weiterleben, einfach so. Er machte es sich verdammt einfach, findest du nicht? Aber, seufzte ich, und mir wurde dabei heiß und kalt, noch heißer, fast zitternder Schweiß, egal, wo ich hinfühlte mit den Fingern meiner Sehnsucht. Die Julisonne brannte auf uns nieder, Gelb auf Rot. Meine Wangen glühten. Einige Grade mehr und ich wäre verdampft. Wer erlebt schon seinen eigenen Tod bei hundert Grad Celsius, durch Aufkochen, an irgendeinem Gartenzaun, nur weil sie, Ines, nicht zu mir zurückkommen will! Xaver lächelte und überging so meinen tiefen Seufzer. Er schien gar kein Mitleid mit mir zu haben. – Du wirst noch viele Frauen kennenlernen, sagte er nur. Es ist zwecklos, sie zurückholen zu wollen, glaub es mir. – Was? – Abhaken. – Wie? Abhaken. – Ich weiß, dass du dich dagegen sträubst, sagte er mit gelassener Stimme, sie beruhigte mich, machte mich aber auch verdammt wütend, du wirst sehen, dass es so kommen wird, wie ich es dir jetzt sage! Dieses Mal ist es kein Spiel mit faulen Zitronen wie bei der letzten Schrappnell (oh, wie poetisch, du Ironiker, dachte ich), ihr habt euch geliebt, und vielleicht liebt ihr euch immer noch, aber Liebe ohne körperliches Verlangen ist Freundschaft, Punkt, finde dich ab damit, hör auf damit, nur an deinen Schwanz zu denken, du weißt, wie ich es meine, sie als die Schönste und Einzige in deinem Leben zu sehen, mit dem einen Auge, das ihr kein neues Verliebtsein, schon gar keine neue Liebe, aber auch kei- ne neue Umarmung gönnt. Sie wird dich für den Rest ihres Lebens nicht mehr vergessen, glaub es mir, sie war nun mal für dich die erste Frau, die dir auf eine weibische und hinterhältige Art – vielleicht ist es sogar dasselbe – gezeigt hat, was eine Harke ist. Steck aber jetzt den Kopf nicht zu tief in den Sand. Sieh nach vorn. Da hinten wartet die nächste. Vielleicht eine viel schönere. Eine Liebe, die scheitert, sagte er dann, so leise, dass ich ihn kaum verstand, ist eine so reiche Erfahrung, dass sie aus einem Friseur einen Konkurrenten des Sokrates macht. Ich stand wie angewurzelt da, musste mich mit einer Hand am Zaun festhalten und mit meinen Tränen kämpfen. Ich hasste es, so verzweifelt und traurig zu sein. Eine einzige Träne hätte mich in diesem Augenblick ertränkt. So stand ich da, neben Xaver am Zaun, bedrückt von seinen Worten, und spürte, dass er nichts anderes als die Wahrheit sagte. Irgendwann würde ich alles ein- sehen können. Irgendwann. Nur jetzt nicht. Dafür war es viel zu früh, viel zu verwundet. Ich konnte mir nicht vorstellen, jemals noch einmal lachen zu können. Xaver legte seine Hand auf die meine und bedeutete mir, mich nicht mehr weiter quälen zu sollen: kein anderer Mensch ist dein Leben. Ich verstand es, brachte aber keinen Ton heraus. Zu sehr war ich damit beschäftigt, meine Tränen zu unterdrücken. Ich presste dabei Luft in meinen Bauch und spannte gleichzeitig sämtliche Muskeln an. Ich hatte große Lust, in diesem Moment mit ihm mein Schweigen zu genießen. Doch ich konnte nicht. Ich wollte ihm noch so vieles sagen, über sie, über mich, uns, der tiefe Fall in das dunkle Loch, in dem ich steckte, aber es ging nicht, ich konnte nicht. Du weißt ja, sagte er dann – ich hatte ihm schon etliche Löcher in sein dezent buntes Sommerhemdchen gestarrt –, wer zu lange leidet, der bemitleidet sich zuletzt nur selbst. Die Zeit ist dazu da, damit das, was du jetzt durchmachst, irgendwann zur Erinnerung wird. Abgehakt. Und weißt du, wozu Erinnerungen da sind? Ich schüttelte den Kopf. Um irgendwann nicht mehr damit umgehen zu können; sie lassen dich nie in Ruhe. Ich legte meine Hand in seinen Nacken, zog ihn leicht an mich heran und gab ihm einen Kuss auf seine etwas glänzende und nach zu viel Rasierwasser riechende Wange. Du bist der beste Friseur, den ich kenne, sagte ich. Wir lachten beide und verabredeten uns für den nächsten Abend, zu einer Flasche Hennessy, bei ihm zu Hause. Da beobachten uns nicht so viele Nachbarn, sagte er und stahl sich davon. Allein mit mir hielt ich es nicht aus. Die mir Mut zusprechenden Worte ließen immer noch nicht von mir ab; sie demütigten mich in ihrer Heuchelei. Doch in jedem Moment, auch dem schreck- lichsten, dem Tode am nahsten, gärt sein Widerspruch. Als ich meine Hose anzog, hörte ich das Klacken der Briefkastenklappe im Flur, es war der Postbote. Ich erkannte sein gelbes Fahrrad durch das milchige Glas der Haustüre. Ein Brief für mich. Ich spürte es. Nein, nicht von ihr. Schön wär’ es gewesen. Aber enttäuschend. Auch das wusste ich. Aus dem Briefkastenschlitz ragte, wie aus meiner offenen Hose, ein weißer Lappen heraus, von ... von ... von ... hob ihn vom Boden auf und las meinen Namen, den ich immer zuerst lese, erst dann den des Absenders auf der Rückseite des Couverts. Gruß Heiner. Ich bohrte meinen Finger in die vom Speichel unbeleckt gebliebene obere Ecke und riss ihn auf. Liebe Co-Singularität! (mensch Heiner, dachte ich, wann wirst du endlich normal – lass mir bitte meine Unausstehlichkeiten – ja gut, du hast sie verdient.) Ich sitze hier im Erfrischungsraum (keine einzige Schecke weit und breit, dafür nur krakeelende Afrikaner aus dem gelben Süden, sie scheinen mich umzingelt zu haben). Habe mir gerade mal wieder in der Bibliothek Literatur verschafft (Kimmerle: Das Andere und das Denken der Verschiedenheit) – er will nicht vergehen, der einsame intellektuelle Kampf mit dem Papier, mein Überlebenskampf, der einzig mögliche Sinn: weiterzuat- men. Ich fühle mich zurzeit ganz gut. Mit anderen Worten: Meine Tiefen sind licht. Ich wünschte, Du wärst hier, und wir könnten reden, vielleicht über Baubo, die Amme der Demeter, die über den Verlust der Wahrheit mit der Zuwendung ihrer Möse hinwegtröstet. Sie hält sie dir einfach ins Gesicht. Ich hoffe, du kommst bald wieder hierher, oder willst du nach der Fabrikar- beit noch eine Woche bei deiner Mutter dranhängen? Doch wohl nicht, oder? Was willst Du denn noch in Deinem Kaff?? (Heiners Worte taten mir gut. Mir war, als umarmten sie mich.) Meine Beziehung zu Frauen ist eine Mischung aus unendlicher Bewunderung und höllischer Verachtung. Ich glaube, so geht es vielen. Mich aber unterscheidet von den meisten, ganz sicher, dass es bei mir nie in der Waage ist, eines überwiegt immer, und genau das ist der Grund, warum ich nie an eine rankomme, verstehst du? Und alles nur aus Angst? Bin ich wirklich solch ein Hosenscheißer? - Verkneif dir dein Grinsen, du Tittengigolo. Wie sieht es eigentlich bei dir aus? Hast du Dich in Bezug auf dein Weib entschieden? Hast du überhaupt noch die Möglich- keit, dich für oder gegen sie zu entscheiden? Ich habe sie in der Altstadt gesehen, Händchen haltend mit dem Kleinen, den du mir mal gezeigt hast. (Heiners Worte taten mir überhaupt nicht gut. Sie waren wie ein Schlag ins Gesicht; ebenso in die Magengrube, und tiefer noch.) Ich weiß, dass du viel darüber nachdenkst, aber manchmal ist ein Anstoß von außen notwendig, um weiter zu kommen. Willst du sie überhaupt noch? Oder nur ihren Körper, ihre fetten Brüste, ihre Schreie im Bett? Sei mir nicht böse, aber als dein Freund muss ich dir schreiben, was ich davon halte – und hoffe, dass du bald wieder hierher kommst und wir darüber reden können.
Allmählich wird es hier voll. Erstaunlich, wie vielen Leuten man den Vollidioten ansieht. Aber vielleicht sieht man uns ja auch so einiges an, oder? Warst du noch mal beim Arzt? Du hast in deinem letzten Brief, der vor mir auf dem Tisch liegt, von erneuten Schwindelgefühlen geschrieben. Vielleicht ist es ja nur der Schwindel, den der ewige Walzer der Welt in uns hervorruft. (Verzeih mir bitte mein pathetisches Gehabe, aber manchmal tut es einfach gut, hebt ab.) Ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt hier verschwinde; zu viele schöne Frauen sind in der Zwischenzeit aufgetaucht (sicherlich riechen sie, dass du der Adressat bist). Um die Seite noch vollzubekommen, mache ich mich mal wieder größer als ich bin. Alles Liebe, Wahre und Gute Heiner (der Lärm hier wird unerträglich – auf bald)

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 19.12.2008

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
meiner mam meiner marizz meiner karla

Nächste Seite
Seite 1 /