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Die Stadt lag wie ein dunkler Schatten zwischen den Felsen. Wie ausgestorben schienen die Straßen, die noch vor Tagen voller Menschen gewesen waren. Die Häuser waren leer, die an der Küste lagen bereits unter Wasser. Seit Wochen regnete es in Strömen, der kleine Fluss war über die Ufer getreten und auch das Meer drohte die alten Mauern zu verschlingen, noch in dieser Nacht.
Nahe einem großen Haus stand ein Mann. Nur sein Umriss war zu erkennen, er war groß und trug einen langen, dunkel Mantel. Sein Hut der war verrutscht und der dunkle Bart triefte vor Wasser.
Johan hatte sich geweigert die Stadt zu verlassen. Er war hier geboren und er wollte bleiben. Er wollte seinen kleinen Laden nicht einfach aufgeben, ihn nicht den Dieben überlassen, die hierher kommen würden, wenn das Wasser verschwunden war. Eigentlich hätte er sich bewusst sein müssen, dass nichts mehr ihn hier halten konnte. Er würde sterben. Noch in dieser Nacht.
Doch es war nicht nur wegen des Ladens hier geblieben. Seine Frau war der Grund. Er hatte sie hier verloren und er wollte bei ihr sein, wenn er starb. Also war er hier geblieben, während alle anderen ihre Sachen gepackt hatten. Immer mehr Bewohner der Stadt waren vor den Fluten geflüchtet, hatten ihre Häuser zurück gelassen. Auch Johans zweite Frau war mit ihnen gegangen, zusammen mit den zwei Kindern.
Der Regen hatte wieder zu genommen und das Kind in Johans Armen bewegte sich im Schlaf. Er hatte darauf geachtet, dass seine Tochter nicht nass wurde, doch er selbst stand bereits bis zu den Knien im Wasser, immer wieder musste er dagegen ankämpfen, dass ihn die Kräfte des Meeres nicht mitrissen. Er presste sie näher an seinen wärmenden Körper. Sie war so still. Ob sie begriff, was um sie herum geschah? Ob sie wusste, dass in dieser Nacht das Meer eine ganze Stadt verschlingen würde? Ob sie verstand, dass dies Tod bedeutete, für alle, die noch hier waren?
Sie schlug ihre Augen auf, sie hatten die Farbe des Meeres, grau wie Sturmwolken, blau wie die Tiefen des Ozeans. Noch immer schwieg sie, schlang ihre dürren Arme um den Nacken ihres Vaters. Johan hatte es nicht übers Herz gebracht, sie fort zu schicken, doch jetzt nagte das Gewissen an ihm. Wenn seine Hoffnungen umsonst gewesen waren, dann hatte er damit ihr Todesurteil unterschrieben.
Schon wenige Stunden später trieben die Fluten die beiden Menschen auf ein Hausdach. Die Straßen standen schon vollkommen unter Wasser. Doch auch hierhin würde ihnen das Meer folgen.
„Der Ozean holt sich alles zurück, was ihm genommen wurde.“, dachte Johan. Schweren Herzens stellte er seine geliebte Tochter auf die Beine, sodass sie bis zu den Knien im Wasser stand.
Das Gesicht des Kindes war ohne Angst, als es tiefer ins Wasser ging, angezogen von einer Macht, der es nicht widerstehen konnte. Am Himmel ging gerade die Sonne auf, tauchte das Wasser in rötliche Farben.
Mit einem weiteren Schritt viel das Mädchen vom Hausdach, der Vater versuchte, es noch fest zu halten, doch es stürzte in die Tiefe. Johans Brust zersprang fast vor Schmerz, doch er wusste, dass er ihr nicht folgen konnte.
„Schwimm, kleine Meerjungfrau. Schwimm nach Hause. Und grüße deine Mutter von mir.“
Als er diese Worte sprach, brach die Wolkendecke auf und es hörte zu regnen auf. Auch das Meer zog sich zurück. Die Sonne fiel in goldenen Strahlen auf den Fischschwanz hinab, der unter ihm durch das Wasser glitt, die golden Schuppen glänzten , warfen das Licht zurück und erhellten die ausgestorbene Stadt. Bald waren Johans Tränen das einzige Wasser in der ganzen Stadt. In dieser Nacht hatte sich das Meer eine seiner vielen Töchtern zurück geholt.

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Tag der Veröffentlichung: 12.06.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Jule, meine kleine Meerjungfrau xD

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