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Bloodslave
Sklavin der Nacht

Kapitel 1

She was not one of them.
She never had a friend.
She was the one, that got teased.
She was not one of them.
She always stands alone,
nobody gave her a chance.
She was always pushed around.
She was not one of them. Blutengel Lucifer

„Raven Black, bitte nach der Stunde ins Direktorat kommen. Raven Black.“, tönte es aus dem Lautsprecher. Raven seufzte tief. Das dritte Mal in diesem Monat sollte sie beim Direktor antanzen. „Es hat doch sowieso keinen Sinn.“, dachte sie.
Die Klingel beendete die Stunde. Raven packte ihre Tasche zusammen und machte sich auf den Weg. Ihre Mitschüler lärmten auf dem Gang, es war Schulschluss.
„Hey, Vampir. Sollst du schon wieder den Direx beißen?“, Jaqueline grinste hämisch.
Sie hatte blondiertes Haar, blaue Augen und trug ein knappes, pinkes Minikleid.
„Nun, das kann sein. Aber du machst ganz andere Sachen, wenn du mit alten Männer allein in einem Raum bist.“, konterte Raven und beschleunigte ihre Schritte, um die Klassenzicke und ihren Hofstaat hinter sich zu lassen.
„Sie unterstellt mir, eine Hure zu sein, diese dumme Schlampe.“, beschwerte diese sich, doch Raven war schon um die nächste Ecke gebogen.
Sie klopfte an der Direktoratstür und wurde hereingebeten. „Setzen sie sich.“, brummte Mr. Miller hinter seinem Schreibtisch.
„Ich weiß nicht, wie oft wir dieses Gespräch noch führen müssen, Miss Black.“, er nahm einen Schluck von seinem Kaffee: „Ihre Leistungen nehmen immer weiter ab. Noch vor zwei Jahren waren sie Klassenbeste, es kann also nicht daran liegen, dass sie dumm sind. Sie müssen sich wieder mehr auf die Schule konzentrieren.“
Raven strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Was sollte sie antworten? Die Wahrheit konnte sie nicht sagen. Niemals.
„Sehen Sie sich an. Sie sind blass, haben Augenringe. Sie sollten in ihren Freizeit kürzer treten. Ich bitte sie in ihrem Willen darum. Sonst müssen wir ihre Eltern einschalten.“
„Das wird nicht nötig sein, Mr. Miller. Ich werde mich um mehr Konzentration bemühen.“, murmelte das Mädchen.
„Dann hoffen wir, dass ihre Bemühungen Früchte tragen werden. Schönen Tag, Miss Black.“
„Ebenfalls. Auf Wiedersehen, Mr. Miller.“
Raven verließ schnellen Schrittes den Raum und machte sich auf den Weg zur S-Bahn.
„Schon zwanzig nach eins. Vlad wird sauer sein.“, dachte sie und begann zu rennen. Auf ihre Tasse Kaffee würde sie heute verzichten müssen. Am Morgen hatte sie nichts gegessen. So wie immer. Sie hatte viel abgenommen in den letzten zwei Jahren. Aber zurzeit war es besonders schlimm.
„Nur weil Vlad so schlecht gelaunt ist.“, knurrte sie leise und setzte sich auf die Bank an der Haltestelle. Zwei Minuten warten. Zwei kostbare Minuten von Vlads Zeit, die vergeudet wurden.
„Hey, Vampir. So ganz allein hier?“, Jaqueline tauchte mit drei muskulösen Kerlen auf.
„Danke, das du dich so um mich kümmerst, aber auf deine Gesellschaft kann ich verzichten.“
Einer der Typen spuckte auf den Boden und schlenderte dann übertrieben cool auf sie zu.
„Schlampe. Lass deine Finger weg von Jaqueline.“, zischte er.
„Und wer bitte bist du? Ihr Zuhälter?“, Raven hatte für den Typen in weiten Hosen und Cap nur einen spöttischen Blick übrig.
Seine Faust traf ihre Schläfe. Sie rührte sich nicht. Sie war schlimmeres gewohnt. Viel Schlimmeres.
„Mach dein dummes Maul nicht noch mal auf. Guck dich an. Du siehst aus, als würdest du auf der Straße leben. Also halt dein Maul.“
Raven zog die Augenbrauen hoch, stand auf, und stieg in die S-Bahn, die gerade angekommen war. Wie oft hatte sie diese Szene schon miterlebt? Sie hatte nicht mitgezählt, aber es war ihr auch egal. Vlad war der Einzige, der ihr wehtun konnte. Mit Worten und Taten.
Es kam ihr so vor, als würde die Bahn heute extra langsam fahren. Schon halb zwei. Normalerweise war sie jetzt schon da.
„Eine Information an die Fahrgäste. Dieses Fahrzeug hat einen technischen Defekt. Bitte alle aussteigen.“, nuschelte der Fahrer durch den Lautsprecher.
„Verdammt.“, knurrte Raven, packte ihre Tasche und verließ die Bahn. Sie würde ganze fünfzehn Minuten laufen müssen. Das Mädchen begann zu rennen so schnell sie konnte. Jede Minute Verspätung würde mehr Ärger bedeuten. „Verdammt.“, keuchte sie erneut und blieb an einer roten Ampel stehen. „Geht denn heute alles schief?“
Ihr Handy klingelte.
„Raven Black.“
„Hallo. Hallo. Raven. Wer is Raven?”
Es war ihre Mutter. Sie war mal wieder total betrunken. Raven war es gewohnt, dass sie vergaß, wer ihre eigene Tochter war.
„Deine Tochter, Mum. Deine Tochter.“
Kristin Black lachte glucksend.
„Ich habe eine Tochter.“
„Ja, Mum. Bis heute Abend.“
Raven legte auf. Die Ampel schaltete gerade wieder auf Rot.
„Verdammt.“
Als es endlich Grün wurde, rannte Raven los. Sie rannte als wären die Hunde der Hölle hinter ihr her. „Sie sind nicht hinter mir her, sie warten auf mich. Und ich beeile mich auch noch, um zu ihnen zu kommen. Welche Ironie.“, dachte sie.
Vor einem großen Neubau blieb sie stehen, lehnte sich gegen die Haustüre und musste erst einmal tief Luft holen. Als sie sich einigermaßen beruhigt hatte, drückte sie auf die Klingel. Mit einem Summen öffnete die Tür sich und sie betrat die große Vorhalle.
„Raven. Da bist du ja. Der Lord wartet schon. Beeil dich, Kind.“
Beth, die gut gebaute Haushälterin mit den roten Haaren und den gutmütigen brauen Augen kam ihr auf den Treppen entgegen.
„Die Bahn hatte einen technischen Defekt.“, keuchte das Mädchen.
„Mir brauchst du das nicht sagen, Liebes. Ich habe zwar keine Ahnung, wie er heute gelaunt ist, aber ich würde wetten, dass er nicht begeistert sein wird.“
Beth seufzte, nahm ihr den Mantel ab und klopfte an Vlads Arbeitszimmertür.
„Lord Vlad. Raven ist hier, Herr.“
„Komm herein, Kind.“, Vlad klang gut gelaunt, was aber noch lange nicht hieß, das er es auch wirklich war.
Mit zitternden Fingern öffnete sie die Tür und schloss sie dann wieder hinter sich. Das Arbeitszimmer war ein großer Raum mit großen Fenstern, jedoch waren die Rollläden herunter gelassen. Genau gegenüber der Tür stand der riesige, schwarze Schreibtisch, an den Wänden waren Regale.
Vlad stand am Fenster hinter seinem Schreibtisch und wirkte so, als würde er nach draußen blicken.
„Du bist zu spät, Mädchen.“, stellte er fest, ohne sie anzusehen.
„Es tut mir Leid, Herr. Mr. Miller wollte schon wieder mit mir sprechen.“
Vlads lange, schlanke Finger fuhren über das steinerne Fensterbrett.
„Dieser Mann wird langsam zu einer Plage, nicht wahr?“
Raven war sich sicher, das er gerade gelächelt hatte. Ein gutes Zeichen!?
Der Lord drehte sich um. Er hatte smaragdgrüne Augen, die durch die blasse Haut noch bedrohlicher wirkten, und langes, blondes Haar, das wer zu einem Pferdeschwanz gebunden trug. Sein Gesicht war fein geschnitten und er hatte hohe Wangenknochen. Er wirkte wie knapp über zwanzig. Heute trug er, wie fast immer, einen schwarzen Anzug.
„Setz dich doch.“, sagte er und Raven war schlau genug, um nicht zu widersprechen. Man durfte ihm nie widersprechen, wenn man sein Leben liebte.
„Worum ging es?“
„Nun, er hat mich erneut auf meine schlechten Leistungen und meine vielen Fehlstunden angesprochen.“
„Was hast du ihm geantwortet?“
„Ich habe gesagt, dass ich mich um eine Besserung bemühen werde.“
Vlad beugte sich zu ihr herunter und stützte sich mit den Armen an der Schreibtischkante ab. „Was hättest du auch anderes sagen sollen.“, er lächelte und Raven konnte seine schneeweißen, perfekten Zähne sehen.
Plötzlich knurrte ihr Magen. Vlads Miene wurde ernst.
„Du hast schon wieder nichts gegessen, Kind. Mach, dass du in die Küche kommst. Eigentlich wollte ich dir noch einige wichtige Sachen bekannt geben, aber du musst erstmal was essen.“
„Ja, Herr.“, Raven verließ eilig das Zimmer und machte sich auf den Weg zur Küche.
Vlad war grausam und gewaltbereit, aber er achtete immer darauf, dass sie etwas aß. Sie selbst hielt nicht viel von Nahrung und ernährte sich meistens nur von Kaffee. Ohne Beths Kochkünste wäre sie wahrscheinlich schon verhungert.
„Wäre auch nicht so schlimm.“, dachte das Mädchen und betrat den riesigen Speisesaal, einen hellen Raum mit hellem Fliesenboden und seltsamen, blauen Deckenlampen. Schnell ging sie weiter zur Küche, wo sie gewöhnlich aß, weil sie den Speisesaal so wahnsinnig ungemütlich fand.
„Da bist du ja, Mädchen. Du siehst richtig verhungert aus. Ich hätte dich ja am liebsten gleich hier her geholt. Komm, ich habe Pizza gebacken.“, Beth schob sie in die Küche und auf ihren Stuhl. Wenige Sekunden später stand eine Familienpizza vor ihr auf dem Tisch.
„So viel kann ich doch nicht…“, wollte Raven protestieren.
„Du kannst. Sonst wirst du mir noch magersüchtig.“, unterbrach Beth sie und setzte sich ebenfalls an den Tisch.
Raven wagte es nicht, zu widersprechen und begann zu essen. „Schmeckt richtig gut.“, dachte sie: „ Vielleicht sollte ich doch darüber nachdenken, wieder regelmäßig zu essen.“
Schritte näherten sich hastig und Benjamin, Vlads Assistent, stürmte in die Küche.
„Beth. Die Gäste treffen schon heute ein. In einer knappen Stunde. Dann soll der Kaffeetisch gedeckt sein.“
„Das ist unmöglich. Wie soll ich alleine so schnell so viele Kuchen backen?“
Benjamin seufzte tief. „Wie weiß ich selbst nicht. Aber du musst.“ Er drehte sich auf dem Absatz um und eilte durch den Speisesaal.
Beth sank in ihren Stuhl. „Das schaffe ich nie. Nie. Der Meister reißt mir den Kopf ab.“
Raven wischte sich an einer Servierte ihre Hände ab und stand auf.
„Ich helfe dir, Beth. Wir kriegen das schon hin.“
Beth lächelte. „Ach, Kind. Du machst schon genug durch. Leg dich noch hin, bevor die Gäste kommen. Dann hast du nämlich keine Ruhe mehr.“
Raven schüttelte den Kopf. „Auf die Stunde Schlaf kommt es jetzt auch nicht mehr an. Auf. Ich helfe dir. Kein Widerspruch.“

Raven klopfte sich das Mehl aus den Klamotten und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Mach dich schön. Die Gäste kommen bald.“ Mit diesen Worten hatte Benjamin sie aus der Küche geschmissen. Beth und sie hatten drei Kuchen gebacken, Kaffe gekocht und den großen Tisch im Speisesaal gedeckt.
Jetzt stand das Mädchen vor dem Spiegel in ihrem Zimmer und seufzte tief. „Da kann man nicht mehr viel schön machen.“, dachte sie. Ihr Spiegelbild war dürr und blass, unter den Augen hatte sie tiefe Ringe. Das Haar war strähnig und sie trug einen ausgefransten, schwarzen Pullover.
Die Tür ging auf und Beth kam herein. „Jetzt schmeißt mich der Kerl schon aus meiner eigenen Küche.“, schimpfte sie. „Hoffentlich verbrennt er sich die Finger an dem heißen Kuchenblech.“
Raven lächelte. Was würde sie nur ohne Beth tun.
„Komm, Mädchen. Mal sehen, was wir aus diesem Geist noch so machen können.“


Kapitel 2

Du siehst in meine leeren Augen,
doch meine Seele siehst du nicht
du willst mein Herz erforschen,
doch du siehst nur mein Gesicht L’ame immortelle Niemals


„Willkommen, Neffe. Ich bin erfreut euch schon heute empfangen zu dürfen.“, hörte sie Vlads Stimme in der Eingangshalle.
„Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite, ich hoffe, unsere frühe Anreise macht euch keine Umstände.“, antwortete eine jüngere Stimme.
„Aber nein. Kommt mit in den Speisesaal.“
Mehr hörte sie nicht, anscheinend war der Lord mit seinen Gästen in den Speisesaal gegangen. Beth hatte ihr erzählt, dass Vlads Schwester mit ihrem Sohn zu Besuch war. Eigentlich hätten die beiden erst am nächsten Tag anreisen sollen. Mit ihnen kamen einige Bedienstete.
Raven stieg langsam und unsicher sie Treppe hinunter. Benjamin hatte gesagt, dass der Lord sie zu Tisch erwartete. Aber das konnte sie sich nicht vorstellen, Vlad behandelte sie sonst immer wie Dreck. „Vielleicht heben seine Gäste ja seine Stimmung.“, überlegte sie. Inzwischen war sie in der Eingangshalle angekommen und steuerte langsam die Tür zum Speisesaal an.
Benjamin vertrat ihr den Weg. „Moment. Du sollst erst hereinkommen, wenn der Herr nach dir verlangt. Ich werde dich dann herein holen."
Damit verschwand er hinter der Tür.
Raven seufzte genervt. Sie hatte sich so beeilt und Beth hatte ihr innerhalb von fünf Minuten eine Hochsteckfrisur gezaubert. Dazu trug sie einen langen, schwarzen Rock und ein Oberteil aus Samt und Spitze, ebenfalls in schwarz. Wenigstens verbat Vlad ihr nicht ihren Stil. Sonst hätte sie nichts mehr gehabt, an das sie sich klammern konnte.
Das Mädchen legte ihren Kopf an die Tür, um mit zu bekommen, was im Saal vor sich ging.
„Nun, Schwester. Ihr gebt also euren Sohn in meine Obhut.“
„Das habe ich vor. Ihr könnt ihn besser in unsere Bräuche einweihen als ich. Außerdem ist mein Mann in einen politischen Konflikt verwickelt und ich muss ihn unterstützen.“
Sie hörte das Klirren von Besteck.
„Ich habe die Villa herrichten lassen, dort werdet ihr wohnen.“, sagte Vlad, anscheinend zu seinem Neffen Gewand.
„Ich danke euch. Ich hoffe ich mache keine Umstände.“
„Aber nein. Schwester, euer Sohn hat glänzende Manieren. Es wird mir eine Freude sein, ihn zu lehren.“
Sie hörte Schritte, Beth goss Kaffee nach. Wieder Schritte.
„Nun, meine Lieben möchte ich euch jemanden vorstellen. Benjamin, würden sie Raven bitte herein holen?“
Benjamin tat, wie ihm befohlen und öffnete die Tür. „Lord Vlad verlangt nach euch, Miss Black.“, gurrte er und Raven hätte ihn dafür am liebsten geschlagen.
Sie betrat den ihr so verhassten Speisesaal mit zitternden Knien. Sie wusste nicht, was sie erwarten würde. Neben Vlad saß eine große, blonde Frau mit blasser Haut. Ihr Gesicht sah aus, wie das von Vlad, nur das sie weiblichere Züge hatte.
Sie trug einen eleganten, schwarzen Hosenanzug mit Nadelstreifen. Raven hätte am liebsten den Kopf geschüttelt. Genau wie Vlad trug sie die neuste Mode, doch ihre Worte waren wie aus einer anderen Zeit. Das passte einfach nicht zusammen.
Den beiden gegenüber rührte ein junger Mann in seinem Kaffee. Er war vielleicht zwei oder drei Jahre älter als das Mädchen und hatte langes, schwarzes Haar, das offen über seine Schultern viel. Er trug ein schwarzes Hemd, mehr konnte sie von ihm nicht sehen.
Unsicher steuerte Raven auf den Tisch zu. Sie blieb neben Vlad stehen und machte einen Knicks. „Herr.“, murmelte sie mit gesenkten Blick.
„Schwester. Darf ich euch Raven vorstellen.“ Sie knickste vor Vlads Schwester, die sie mit einem abfälligen Blick musterte.
„Miss Black, dass ist meine Schwester Ivana. Und dieser gut aussehende junge Mann ist mein Neffe, Graf Natanael.“
Raven knickste erneut und Natanael schenkte ihr ein arrogantes Lächeln. Ihr fiel auf, dass er Vlads Augen hatte. Dasselbe smaragdgrün, dass die Augen so mysteriös wirken lies. Aber seine Gesichtszüge waren weich und schön. Raven musste sich eingestehen, dass sie ihn wahnsinnig attraktiv fand.
„Setzt euch doch.“, forderte er sie auf. Sie blickte zu Vlad und als dieser nickte, kam sie Natanaels Bitte nach.
„Greift zu, Raven.“, sagte Vlad. Sie traute sich nicht, zu widersprechen, obwohl sie noch satt war.

Nach einer halben Stunde war sie erlöst. Benjamin zeigte den Gästen ihre Zimmer. Auch Vlad verließ den Raum. In der Tür drehte er sich noch einmal um.
„Komm in zehn Minuten in mein Arbeitszimmer.“, zischte er mit der gewohnten Bosheit in der Stimme. Dann verschwand er in der Eingangshalle.
Raven wusste, was jetzt auf sie zukam. Sie stand auf und ging zum Fenster, öffnete es und blickte hinaus auf die Straße. Unten liefen die Menschen hastig vorbei. Vor einem Supermarkt gegenüber stand eine Frau mit einem Kinderwagen und einem kleinen Kind an der Hand. Sie lächelte ihre Tochter an und strich ihr übers Haar. Raven wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Ihre Mutter war nie so gewesen. Sie war kein Wunschkind gewesen und hatte das auch zu spüren bekommen. Als sie drei Jahre alt gewesen war, hatte ihre Mutter angefangen, Drogen zu nehmen. Seit dem litt sie unter den Stimmungsschwankungen der Frau, die sie eigentlich aufziehen hätte sollen. Eine Kindheit hatte sie nie gehabt. Kaum war sie stark genug gewesen, hatte sie ihre Mutter von Sauftouren nach Hause schleppen müssen, um sie ins Bett zu bringen.
Der Vater hatte die Mutter schon immer geschlagen und durch den Drogenkonsum wurde es schlimmer. Nicht selten hatte sich Raven zwischen die beiden gestellt und alles abbekommen, die Schläge des Vaters und den Spott der Mutter.
Harmonie in der Familie war ein Fremdwort für sie und wenn sie auf der Straße solche Bilder sah, musste sie immer an ihre Kindheit denken, die sie sonst so gut wie möglich verdrängte.
Beth legte von hinten die Arme um sie. Beth war für Raven zu einer Ersatzmutter geworden, sie liebte diese Frau mehr als alles andere.
„Nicht weinen, Kind. Wir haben doch so lange gebraucht, um dich zu schminken.“, tadelte sie lachend und ein Lächeln huschte über das Gesicht des Mädchens.
Sie drehte sich um und drückte Beth kurz an sich.
„Ich muss los, der Lord wartet auf mich.“, flüsterte sie.
Beth drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Ich bin immer bei dir.“, sie flüsterte ebenfalls und es kam Raven irgendwie so vor, als wäre das alles eine Szene aus einem schlechten Film.
Ihre Füße waren schwer wie Blei, als sie langsam die Treppe zum ersten Stock hinaufstieg. Sie wusste genau, was kommen würde, und trotzdem, vielleicht genau deswegen, hatte sie Angst. Anfangs hatte sie gedacht, es sei besser, bei Vlad als bei ihren Eltern zu sein. Doch dieser Meinung war sie schon lange nicht mehr.
Oben angekommen klopfte sie an der Tür des Arbeitszimmers. Vlad öffnete ihr die Tür und sie trat ein. Er drehte den Schlüssel im Schloss um und stellte sich hinter sie. Raven legte den Kopf zur Seite und strich eine Haarsträhne weg. Sie spürte Vlads Atem an ihrem Hals, dann war da nur noch Schmerz. Seine Zähne drangen schnell und gewaltvoll in ihren Hals, sie musste sich zusammenreißen, um nicht zu schreien. Auch nach ein paar Minuten ließ der Schmerz nicht nach. Vlad hatte seine Hände grob um ihre Oberarme gelegt und bohrte seine Fingernägel in ihre Haut. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis er seinen Biss endlich lockerte und die Zähne schließlich ganz aus ihrer Haut zog.
Blut rann ihren Hals hinunter bis in den Ausschnitt. Die Wunde schloss sich sofort, doch der Schmerz blieb. Dann gaben ihre Knie nach. Vlad hatte zu viel Blut genommen, wie immer.
Er packte sie und drückte sie in einen Stuhl.
„Das war das letzte Mal.“, zischte er. „Du wirst ab morgen meinem Neffen dienen. Er ist noch unerfahren und ich möchte ihm keine Blutsklavin geben, die er noch einlernen muss.“
Raven starrte ihn an, ohne zu wissen, was sie davon halten sollte. Von Vlad weg zukommen war ihr größter Wunsch, aber was würde bei Natanael auf sie zu kommen? Ein unerfahrener Vampir. Waren seine Bisse womöglich noch schmerzhafter? Und Natanael glich seinem Onkel sehr. Es würde sich also nichts an ihrem qualvollen Dasein ändern. Nichts.
„Sehr wohl, Herr.“, murmelte sie. Für mehr Worte fehlten ihr die Kraft.
„Und nun geh auf dein Zimmer. Ich werde die gute Nachricht beim Abendessen verkünden.“, Vlad nahm keine Rücksicht auf ihren Zustand und das Mädchen schleppte sich mit letzter Kraft in ihr Zimmer, wo sie vor dem Bett zusammenbrach.


Kapitel 3

Ihre Schönheit lässt mich frieren
Ihre Bleichheit macht mich schweigen
Draußen geht der Frost mit schwerem Schritt vorbei
Sie trägt Eis auf ihren Lippen
Reif kriecht hoch an Fensterscheiben
Und ich seh das Schiff der Königin am Kai Subway to sally Schneekönigin


Natanael schlug mit seiner linken Faust auf das Fensterbrett. „Dieses Haus ist hässlich, Mutter.“, zischte er und drehte sich zu Ivana um. „Dein Bruder redet und denkt wie ein Mensch, der vor hunderten von Jahren gelebt hat und doch lebt er in so einem modernen Haus. Einem Klotz.“
Die Gräfin lächelte und setzte sich auf das weiße Holzbett. „Nun, mit unserer Heimat kann man es nicht vergleichen. Aber hier wirst du ja nicht wohnen müssen.“ Sie strich vorsichtig über das Betttuch. „Du weißt, dass du auf keinen Fall nach Transsilvanien zurückgehen kannst, solange dein Vater die Wogen nicht geglättet hat.“
„Ich kann ihm helfen, Mutter. Warum bringst du mich hier her, weit weg von meinen Freunden, meinen Untertanen? Ich verstehe dich nicht.“, Natanael hatte seine Hände noch immer zur Faust geballt.
„Du bist der zukünftige Graf, dir darf nichts geschehen.“, Ivana stand auf umarmte ihren Sohn. „Außerdem bist du mein Sohn. Ich liebe dich. Ich will dich nicht verlieren.“
Es klopfte an der Türe.
„Madame. My Lord. Das Abendessen ist bereitet. Wenn sie sich bitte in den Speisesaal begeben würden.“, hörten die beiden den Assistenten Vlads sagen.
„Sehr wohl.“, antwortete Natanael und ging zu Tür.
„Du wirst mich nicht verlieren, Mutter.“, flüsterte er und verschwand auf dem Gang

Vlad war bereits da, als Natanael mit seiner Mutter am Arm im Speisesaal betrat.
„Neffe. Schön euch zu sehen. Schwesterherz.“, er verbeugte sich leicht, Ivana knickste.
„Setz euch. Ich habe eine gute Nachricht zu verkünden.“
Der Junge setzte sich auf denselben Platz, auf dem er schon wenige Stunden vorher gesessen hatte. Der Stuhl neben ihm war leer. Das blasse Mädchen hatte dort gesessen. Das blasse Mädchen mit den tollen Augen.
„Wo ist denn Raven?“, fragte er an seinen Onkel gewandt.
„Sie wird uns schon bald mit ihrer Anwesenheit erfreuen, hoffe ich.“, antwortete dieser mit einem Lächeln.
Die Köchin kam herein. „Herr. Raven ist körperlich nicht in der Lage mit euch zu essen.“, hörte der junge Graf sie flüstern.
Vlads Gesicht verwandelte sich in eine verzerrte Maske.
„Sie wird kommen. Sofort.“, zischte er.
„Aber Herr.“, die Frau war blass geworden.
„Sofort.“, dieser Ton ließ keine Widerrede zu. Die Frau eilte aus dem Saal.
Kaum fünf Minuten später öffnete sich die große silberne Flügeltüre wieder. Raven wurde von der Köchin gestützt. Ihr Gesicht hatte eine gräuliche Farbe angenommen, es schien, als könnten ihre Beine sie kaum halten. Die Augen hatte sie geschlossen, sie vertraute darauf, wohin die Andere sie führte. Am Liebsten wäre Natanael aufgesprungen und hätte ihr geholfen, doch er wusste um die Etikette, auf die sein Onkel so viel Wert legte. Ein
Adeliger half keinem einfachen Bürger nicht. Auch nicht im 21. Jahrhundert.
„Miss Black. Ich bin erfreut euch zu sehen.“, hörte er seine eigene honigsüße Stimme. Raven versuchte zu knicksen, doch sie kippte nach hinten und wäre gestürzt, hätte die Köchin, er hatte erfahren, dass sie Beth hieß, das Mädchen nicht fest gehalten.
„Setz euch.“, sagte Vlad. Er schien ungerührt von ihrem schlechten Zustand zu sein.
„Nun, lieber Neffe. Meine Aufgabe in den nächsten Monaten, ist es, euch über die Sitten und Bräuche unserer Rasse in Kenntnis zu setzen. Aber auch über die Regeln und die Gesetze. Und dazu gehört auch die lange Tradition der Blutsklaven.“
Natanael saß, wie seine Mutter zusammenzuckte. Und plötzlich verstand er warum. Raven war Vlads Blutsklavin. Und er misshandelte sie. Wenn er an die Blutsklaven seiner Eltern dachte. Sie kamen alle zwei oder drei Tage für ein paar Stunden vorbei und verließen das Haus so gesund und munter, wie sie es betreten hatten. Doch Raven hatte schon bei ihrer ersten Begegnung kränklich ausgesehen. Und über ihr jetziges Befinden brauchte man nicht zu sprechen.
„Auch ihr werdet einen Sklaven brauchen, mein Lieber.“, fuhr Vlad fort.
Natanaels Blick streifte Raven. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt, ihre Hände waren zu Fäusten geballt. Die Augen hatte sie geschlossen. Und sie war trotz allem wunderschön.
„Mit Zwanzig seit ihr noch sehr jung, ihr habt eure Verwandlung früh gemacht. Deswegen möchte ich nicht, dass ihr einen unerfahrenen Blutsklaven bekommt. Miss. Black wird von nun an euch dienen.“, hörte der Junge Vlads Stimme wie aus weiter Ferne. Sein Blick ruhte noch immer auf dem menschlichen Mädchen, das von der Nachricht ungerührt zu sein schien.
Doch Natanael war überrascht. Sein Onkel gab ihm seine Blutsklavin? Normalerweise besorgte sich jeder Vampyr sein Blut selbst.
„Ich danke euch, Onkel.“, er bemühte sich, neutral zu klingen.
.


Kapitel 4

When the dark does
what the dark does best,
It's darkness!
Let the dark do
what the dark does best,
Let there be darkness! Deathstars Cyanide


Raven versuchte sich auf das Gespräch zu konzentrieren, doch in ihrem Kopf hämmerte der Schmerz. Am Liebsten hätte sie die Knie angezogen und die Arme darauf gelegt und ihren Kopf an ihren kalten Händen gekühlt. Doch sie musste aufrecht sitzen bleiben. „Eigentlich habe ich ja nichts zu verlieren. Ich kann tun, was ich will.“, dachte sie zynisch. Verschlimmern konnte sich ihr Zustand nicht. Sie hatte den ganzen Nachmittag in ihrem Zimmer auf dem Boden gelegen, bis Beth sie fand. Sie war zu schwach gewesen, um aufzustehen. Außerdem war es ihr sowieso egal gewesen. Am liebsten würde sie noch immer da liegen, statt sich diese geheuchelten Unterhaltungen anhören zu müssen. Doch sie konnte nichts ändern.
Das Klingeln eines Handys riss sie aus ihrer Starre. Sie hörte, wie die Gräfin eine Entschuldigung murmelte und den Saal verließ.
Nur wenige Zeit später kehrte sie zurück.
„Ich muss zurück nach Transsilvanien, Bruder. Mein Ehemann hat mich um Unterstützung gebeten, die Aufstände sind schlimmer geworden.“, erklärte sie hastig.
„Ich werde euer Auto vorfahren lassen. Benjamin.“, erwiderte Vlad. „Ich bringe euch zur Tür. Natanael, würdet ihr euch um Mrs. Black kümmern?“
Nein, sie wollte nicht. Sie konnte alleine nach oben gehen. Und wenn sie kriechen müsste. Das wäre noch würdiger, als sich nach oben bringen zu lassen, von einem Heuchler, der seinem Onkel und seiner Mutter sonst wohin kroch.
„Sehr wohl, Onkel.“, hörte ich ihn. Er sprach mit dieser hochnäsigen Stimme, die sie so wütend machte. Sie hörte eine Tür zufallen. Dann war es still. Das Einzige was sie hörte, war ihr Herzschlag und Geräusche aus der weit entfernten Küche.
Plötzlich berührte sie eine Hand an ihrer Schulter. Sie zuckte zusammen. Wie konnte er sich so lautlos anschleichen?
„Oh, tut mir leid. Warte, ich helfe dir.“, jetzt klang seine Stimme ganz normal. Nun ja, eigentlich war sie wunderschön. Ziemlich tief und weich.
Raven hatte erwartet, dass er sie stützen würde, doch Natanael hob sie hoch und schritt durch den Raum. Sie schien kein Gewicht für ihn zu haben. Ohne nachzudenken legte sie die Arme um seinen Hals und vergrub ihr Gesicht in seinem Haar. Sie spürte, wie Tränen über ihre Wangen liefen. Sie war seit Jahren nicht mehr in den Arm genommen worden. Und auch, wenn sie Natanael noch immer für einen arroganten Schnösel hielt, genoss sie es.
Wenig später waren sie in ihrem Zimmer angelangt und er legte sie aufs Bett. Raven schloss wieder die Augen. Plötzlich drehte sich ihr der Magen um. Sie rannte zum Badezimmer, selbst erstaunt, wie sie es geschafft hatte, auf ihren Beinen zu laufen. Dort übergab sie sich.
Da tauchten Arme auf, die sie hielten, Finger, die ihr Haarsträhnen aus dem Gesicht strichen und eine Stimme, die beruhigend auf sie einredete. Sie war dankbar dafür.
Nachdem sie ihren gesamten Mageninhalt dem Kloschüsselgott geopfert hatte, sank sie nach hinten, die Arme fingen sie auf.
Erneut trug Natanael sie zu ihrem Zimmer. Dann verschwand er. Raven schloss die Augen und schlief ein. Sie träumte von seinem Gesicht. Davon, dass er sie in den Armen hielt.
Als sie wieder aufwachte, war es bereits dunkel. Sie blickte auf ihren Wecker. Es war bereits zehn. Vlad war vermutlich schon weg, und auch sie musste los. Als sie sich umdrehte erschrak sie. Eine Gestalt saß im Dunkeln an ihrem Bett. Natanael.
„Geht’s wieder?“, fragte er und er klang besorgt.
„Ja. Danke…Mein Herr.“, fügte sie schnell hinzu. Sie durfte ihre Manieren nicht vergessen. Er war ihr neuer Herr, sie musste im gegenüber Respekt zeigen.
„Ich danke euch. Ich würde nun gerne nach Hause gehen.“
Natanael stand auf. „Ich begleite dich.“
Das Mädchen widersprach nicht, weil sie keinen Ärger. Draußen auf dem Flur nahm sie ihren Mantel vom Haken und lief neben Natanael die Treppe nach unten.

Sie schwiegen den ganzen Weg über. Raven war es nicht erlaubt, Natanael anzusprechen. Als Blutsklavin musste sie darauf warten, dass er etwas sagte. Doch eigentlich war die Stille sehr angenehm. Die Nacht war warm und der Vollmond schien am sternenklaren Himmel. Das Mädchen war todmüde, obwohl sie stundenlang geschlafen hatte.
Das Klingeln seines Handys zerriss die angenehme Stille.
„Natanael Bathory…Ja, sicher…Ich bin sofort bei euch.“, dann legte er auf.
„Mein Onkel verlangt nach mir. Ich hoffe, du findest allein nach Hause.“
„Sicher, Herr.“, antwortete sie und er verschwand in der Dunkelheit. Es waren ja kaum mehr zweihundert Meter bis „nach Hause“. „Eigentlich habe ich kein zu Hause. Weder hier noch bei Vlad.“, dachte sie und beschleunigte ihre Schritte.
Sie sperrte die Haustür auf, schleuderte ihre Stiefel in eine Ecke und ging ins Wohnzimmer. Sie schlief auf der Couch. „Bei Vlad hab ich zumindest ein Bett.“
Der Fernseher lief noch und ihre Mutter lag auf dem Sofa. Eine leere Flasche Vodka lag neben ihr auf dem Boden.
„Mum.“, flüsterte sie. „Mum.“
Kristin öffnete verschlafen die Augen.
„Raven.“, flüsterte sie. „Meine Tochter.“ Sie wirkte nüchtern.
„Dein Vater hat getrunken und jetzt ist er weg.“ Das erklärte die Vodkaflasche.
Sie setzte sich auf und deutete auf den Platz neben sich. „Setz dich, mein Mädchen.“
Raven tat, wie ihr geheißen, Kristin legte ihr eine Wolldecke über den Schoß und nahm sie in den Arm.
„Ich hab viel kaputt gemacht, nicht wahr?“, sagte sie und starrte zum Fenster.
„Die Drogen haben viel kaputt gemacht, Mum.“, antwortete Raven mit zitternder Stimme. Nie zuvor hatte ihre Mutter sie in den Arm genommen.
„Ja. Ich sollte damit aufhören.“
Langes Schweigen.
„Ich gehe ins Bett. Schlaf schön, mein Schatz. Du weißt, dass ich dich liebe.“ Kristin stand auf und verschwand im Schlafzimmer.
„Ich liebe dich auch, Mum.“, flüsterte Raven. Sie wusste, dass ihre Mutter es nicht mehr gehört hatte.
Das Mädchen starrte noch lange an die Decke. Es wusste, dass morgen wieder alles sein würde wie früher. Doch das Kristin Black sich einmal wie eine Mutter benommen hatte, war ein kleiner Hoffnungsschimmer. Raven schlief mit einem Lächeln im Gesicht ein.

Um sechs Uhr riss ihr Wecker sie aus dem Schlaf. Sie drehte sich, am Verschlafen, um.
„Verdammt.“, murmelte sie und schaltete ihn ab. Dann kroch sie aus dem Bett und tapste ins Bad. Als sie in den Spiegel blickte, erschrak sie. Ihre Haut war fast ganz weiß, sie hatte tiefe Augenringe. Eigentlich war sie diesen Anblick schon gewöhnt, doch gerade jetzt war es besonders schrecklich. Die Schminke vom Vortag hatte sich in ihrem ganzen Gesicht verteilt. „Ich sehe aus wie ein Zombie.“, dachte sie und stieg in die Dusche. Das warme Wasser tat ihrem ausgemergelten Körper gut.

Raven ging in die Küche. Sie war in ihren schwarzen Bademantel gewickelt und hatte Hunger. Das erste mal seit langem. Als sie den Kühlschrank öffnete, empfing sie gähnende Leere. „War ja zu erwarten.“, gähnte das Mädchen. „Dann also ins Café.“
Eine halbe Stunde später, Raven hatte sich die Haare geföhnt und sich geschminkt. Heute trug sie ein schwarz-rotes Spitzenkleid, ein schwarzes Korsett und Plateaustiefel. Sie verließ die Wohnung und ging die Straße entlang. Die Bewegung tat ihr gut, langsam wurde sie wach. Nebel lag wie ein Tuch über der Stad. Man konnte kaum zehn Meter sehen. Das schreien der Krähen, die im nahen Park auf den kahlen Bäumen saßen, war der einzige Laut. Raven liebte den Herbst. Die bunten Blätter, das Geräusch des Regens an ihrer Fensterscheibe und den Geruch von nassem Teer. Als Kind hatte sie immer im Regen getanzt und auch jetzt tat sie es noch ab und zu. Sie fand das Gefühl der nassen Kleider auf ihrer Haut angenehm. Außerdem waren die Straßen der kleinen Stadt bei Regen immer menschenleer. Nur ein paar Penner drängten sich dann unter die Vordächer der Bushaltestellen und ein paar geschäftige Leute huschten von einem Laden in den anderen um nicht allzu nass zu werden.
Doch jetzt regnete es nicht. Nur der Nebel war da. Und die Krähen. Raven genoss die mystische Stimmung in allen Zügen. Sie ging langsam die Straßen entlang. Das Laub raschelte unter ihren Füßen.
“Put all your angels on the edge
Keep all the roses, I’m not dead
I left a thorn under your bed
I’m never gone
Go down the world, I’m still around
I didn’t fly, I’m coming down
You are the wind, the only sound
Whisper to my heart
When hope is torn apart
And no one can save you
I walk alone
Every step I take
I walk alone
My winter storm
Holding me awake
It’s never gone
When I walk alone”
Raven sang leise ihr Lieblingslied von Tarja Turunen. „I walk alone. Wie wahr, wie wahr.“, dachte sie, doch der Gedanke stimmte sie nicht traurig. Sie war es gewohnt. Es war nichts Neues für sie, allein zu sein. So sehr ihr der Nebel gerade noch behagt hatte, wurde ihr ganz plötzlich mulmig zu Mute. Sie hatte das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Und das beunruhigte sie seltsamerweise. „Angsthase. Ist doch klar, dass du nicht der einzige Mensch bist, der am Samstag in der früh aus dem Haus geht.“, fuhr sie sich an, beschleunigte aber gleichzeitig ihre Schritte. Da wahren Gestalten im Nebel. Gestalten, die nicht von ihr gesehen werden wollten. Sie wusste es einfach, sie spürte ihre Anwesenheit, obwohl sie sie nicht sah oder hörte.
Dann tauchte der Typ vor ihr auf. Er war groß und muskulös. Sein Boxer-Gesicht war von Narben überzogen. Sein kurzes Haar triefte vor Fett und er hatte einen schrecklichen Mundgeruch. Bevor das Mädchen reagieren konnte, packte er sie an den Armen, drehte ihr diese auf den Rücken und schob sie vor sich her. Raven war im ersten Moment so überrascht, dass sie sich nicht wehrte. Doch nur Sekunden später versuchte sie, sich seinen Armen zu entziehen. Sie trat aus, doch der Mann verstärkte seinen Griff nur und sie sank mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden. Er brummte etwas Unverständliches.
„Lassen sie mich los.“, zischte sie. Es kam ihr noch in dem Moment lächerlich vor, in dem sie es aussprach. „Lassen sie mich los.“ „Na dass wird ihn beeindrucken.“, sie lachte innerlich und es kam ihr grotesk vor.
„Ich muss mich entschuldigen, aber unser junger Freund hier, spricht unsere Sprache nicht.“, ertönte eine Stimme vor ihr. Schwarze Herrenschuhe tauchten vor ihr auf. Sie ließ ihren Blick nach oben wandern. Da stand ein Mann in einem grauen Anzug. Er hatte schwarzes Haar, das er zu einer perfekten Frisur gekämmt hatte. Außerdem hatte er eine ziemlich hässliche Nase.
„Wer sind sie? Was wollen sie von mir?“, krächzte Raven. Der Griff des Boxers hatte sich nicht gelockert und sie stöhnte immer wieder vor Schmerz auf.
Der Kerl im Anzug knurrte, der andere legte seinen Arm um ihren Hals. Es gab kein Entkommen.
„Gut. Dann sterbe ich jetzt. Was habe ich schon zu verlieren. Nichts.“, dachte sie.
„Du hast etwas an dir, das wir haben wollen, Kleine.“, der mit der hässlichen Nase lachte hämisch.
„Mit den Stiefeln bin ich nur gut fünf Zentimeter kleiner als sie.“, konterte Raven gekonnt.
Der Mann lachte: „Du hast Humor. Das gefällt mir.“
Er kam nicht näher, blieb immer auf Abstand. Der andere dagegen, festigte seinen Griff immer mehr. Raven blickte auf seine nackten, behaarten Arme hinunter. Ohne nach zu denken biss sie zu. Mit aller Kraft, bis sie Blut schmeckte. Der Mann schrie, doch sie lies nicht locker. Schließlich konnte er sich von ihr losreisen. Das Mädchen nutzte diese Gelegenheit und rannte los.
Schon nach kaum zwanzig Metern bereute sie ihre Schuhwahl. Das hohe Plateau war bei der Flucht sehr hinderlich. Sie hatte Glück, denn die beiden Männer schienen keine sonderlich guten Sportler zu sein. Raven dagegen war geübt. Sie rannte immer, wenn sie stark genug war. An den Tagen, an denen Vlad ihr kein Blut stahl, das gab ihr das Gefühl von Freiheit. Sie musste zwar jeden Tag zu ihm, doch er trank nur alle zwei Wochen von ihr. Er wollte, dass sie immer bei ihm war, damit ihr nichts passierte. So ironisch es auch klang, aber er machte sich sorgen um sie. „Besser gesagt, um mein Blut.“
Im Nebel waren ihre Verfolger nur verschwommene Schatten. Aber sie waren da. Raven hatte den Stadtpark erreicht und lief den Weg entlang. Der Kies verriet ihren Aufenthaltsort. Das Mädchen rannte um eine Kurve und presste sich hinter einen Baum, in der Hoffnung, die Männer würden an ihr vorbeilaufen. Und ihr Plan ging auf. Keuchend und Schnaufend schnauften sie an ihr vorbei, der Anzugträger fluchte leise.
Raven legte ihre Stirn gegen die kühle Rinde und verschnaufte. Ihre Füße schmerzten.
Plötzlich spürte sie einen Lufthauch in ihrem Nacken, dann legten sich kalte Hände auf ihre Schultern. Sie wirbelte herum. Vor ihr im Nebel stand Natanael. Zwischen ihnen waren kaum fünf Zentimeter Abstand. Raven versuchte sich zu sammeln, um ihm das Verhalten entgegen zu bringen, das er verdiente, aber sie war zu verwirrt, über sein Erscheinen.
„Herr…“, stotterte sie.
„Nenn mich Natanael. Was waren das für Männer?“, seine Stimme war weich. Wie Samt.
„Ich weiß es nicht, H… Natanael. Sie wollten irgendwas von mir, aber ich weiß nicht, was. Nun ja. Ich kann es mir denken.“
Natanael nahm sie ganz unerwartet in den Arm. „Das tut mir leid. Wäre ich nur vorher da gewesen.“
Da lag sie in seinen Armen. Und sie genoss es so sehr. Wie lange hatte sie schon keiner mehr richtig umarmt? Er war ein Fremder und doch fühlte sie sich bei ihm sicher.
„Geht es dir gut? Haben sie dir was angetan?“
Er musterte sie von oben bis unten. Sein Blick war besorgt.
„Nein, es ist alles in Ordnung. Ihr solltet euch Gedanken um die Männer machen.“
Jetzt lächelte er. „Dein Humor gefällt mir.“
Seine Stimme war göttlich.
„Was habt ihr eigentlich hier gemacht?“, erlaubte sie sich zu fragen.
„Ich liebe Nebel. Also habe ich beschlossen, einen Spaziergang zu machen. Der Herbst ist etwas Faszinierendes.“
Er sprach ihr aus der Seele. Auch sie dachte so. Und bis eben hatte sie geglaubt, sie sei die einzige, die das tat.
Natanaels Handy klingelte. Während er telefonierte, hatte sie Zeit ihn zu mustern. Er trug seine Haare heute offen, sie fielen ihm in leichten Wellen bis knapp über den Bauchnabel. Er trug einen weiten, schwarzen Stoffmantel und schwarze Stiefel. Sein Gesicht war blasser als am Vortag, seine Augen waren durch den Nebel zu sehen, wie Katzenaugen.
„Wow.“, flüsterte Sie.
„Hast du etwas gesagt?“, fragte er. Sein Handy verschwand in seiner Manteltasche.
„Nein, Herr.“, murmelte sie peinlich berührt und blickte zu Boden.
„Vlad wird uns vorne am Parkplatz abholen lassen. Die Villa ist soweit fertig, wir können einziehen.“
„Wir?“, Raven hatte nichts von einem Umzug mit bekommen.
„Ja. Ich dachte du wusstest, das du jetzt mir…“, Natanael stockte.
„Dienst.“, beendete das Mädchen seinen Satz.
„Dienst.“, wiederholte er. „Wenn du es so nennen willst.“


Kapitel 5


Too late, this is not the answer.
I need to pack it in.
I can't pull your heart together,
With just my voice alone. Apocalyptica Broken Pieces


Sie liefen schweigend nebeneinander her. Natanael wusste, das Vlad Raven beigebracht hatte, dass sie eine Dienerin war. Und er wusste auch, dass sie von ihm dachte, er würde sie als seine Sklavin sehen. Aber das tat er nicht. Blutsklave war ein Ausdruck aus alter Zeit und er hatte nicht erwartet, dass einige Vampire noch heute Sklaven hielten. Schon gar nicht Vampire aus seiner Familie. Vlad kontrollierte jeden Schritt des Mädchens. Sie war selten ganz alleine. Dabei wusste er genau wie alle anderen, dass er die einzige wirkliche Gefahr für sie war.
Und auch sonst war sein Onkel ein seltsamer Mann. Er lebte zurück gezogen, hatte nur Kontakt zu einigen reichen und wichtigen Vampiren und natürlich zu seinem Personal.
Krallte er sich deswegen so an Raven? Weil sie die einzige Person war, der er vertraute. Von seiner Mutter wusste Natanael, das Vlad Bathory Raven als junges Mädchen gefunden und aufgezogen hatte. Nur nachts hatte er nach Hause zu ihren drogenabhängigen Eltern gebracht, damit diese nichts bemerkten.
Als sie vierzehn Jahre war, starb Vlads früherer Blutsklave an Blutverlust. Dann machte er das Mädchen zu seiner Sklavin, dass er wie seine eigene Tochter aufgezogen hatte. Warum wusste niemand. Vermutlich nicht einmal er selbst.
Die beiden erreichten den Parkplatz. Noch immer sagte keiner ein Wort. Beide waren sie in Gedanken versunken. Inzwischen hatte sich der Nebel etwas gelichtet und die Sonne blitze kaum merklich durch die Bäume.
Vlads Limousine stand kaum fünf Meter vor ihnen, Benjamin stieg gerade aus.
„Graf Bathory.“, er verbeugte sich. „Miss Raven. Ich wusste nicht, dass ihr hier seid. Aber das ist gut, ich wollte euch sowieso abholen.“, schleimte er.
„Er ist unerträglich.“, dachte Natanael, legte seine Hand auf Ravens Rücken und schob sie zum Auto.
Auch die Fahrt zur Villa verlief schweigend. Er blickte zu Raven hinüber. Sie sah aus dem Fenster und schien irgendwo in einer Traumwelt gefangen. Ihre Finger klopften im Rhythmus auf ihren Oberschenkel. Der schwarze Nagellack auf ihren langen, spitzen Fingernägeln, war ein bisschen abgeblättert, aber er fand, dass das irgendwie gut aussah. Sie sah gut aus. Auch wenn sie seiner Meinung nach noch etwas mehr Speck auf den Rippen gebrauchen könnte.
Als sie zu ihm hinüber sah, wandte er den Blick ab und starrte nach draußen.
Häuserblocks rasten an ihnen vorbei. Firmengebäude. Dann wurde die Gegend ländlicher. Sie kamen in eine kleine Reihenhaussiedlung, bogen dann auf einen Feldweg ab. Dann öffnete sich vor ihnen ein schmiedeeisernes Tor und sie fuhren einen Kiesweg hinauf.
Die Villa tauchte vor ihnen auf. Sie war ein ziemlich altes Gebäude mit einer Veranda und vielen Erkern. Natanael mochte sie auf Anhieb. Sie war definitiv gemütlicher als Vlads tristes, neumodisches Haus mitten in der Stadt.
„Willkommen.“, sagte Benjamin, während er ihm die Tür aufhielt. Vor lauter Staunen hatte Natanael nicht gemerkt, dass sie angehalten hatten. Raven stand bereits vor dem Haus. Auch sie schien begeistert, ihre Augen leuchteten.
Vlad erwartete sie im Wohnzimmer, einem großen, gemütlichen Raum mit Kamin.
„Neffe. Schön, dass ihr hier seid. Ich hoffe, es gefällt euch hier. Benjamin wird euch alles zeigen, ich muss mich leider schon wieder verabschieden. Wir werden uns morgen sehen, wenn ich euch in den Vampirkodex einlerne.“
Er schenkte Raven keinen einzigen Blick, als er den Raum verließ.
„Folgt mir.“, murmelte Benjamin.
„Wir kommen alleine zurecht, Benjamin. Sie können gehen.“
Der Assistent seines Onkels schien etwas hin und her gerissen zwischen seinem und Vlads Befehl, doch schließlich ging er in Richtung Tür.
„Morgen werdet ihr gegen zehn abgeholt, Graf.“, sagte er, verbeugte sich und verschwand.
„Dieser Kerl ist nervig.“, grinste Natanael. Raven lächelte zustimmend. Er mochte sie.
„Dann sehen wir uns mal um.“

Natanael saß in einem alten Lehnsessel mit schwarzem Bezug und starrte nach draußen. Es regnete. Die Regentropfen waren wie Musik an der Fensterscheibe. Das Feuer knisterte im Kamin.
Er sah, wie Raven in die Limousine stieg. Sie warf noch einen letzten Blick zurück. Dann fuhr das Auto den Kiesweg entlang und verschwand, er war allein. Seine Mutter war früh am Morgen überstürzt aufgebrochen. Es gab Probleme. Natanael wäre so gerne mit ihr gegangen. Er wollte sich um seine Untertanen kümmern und nicht hier sitzen, und nichts tun. Doch andererseits wusste er, dass er auf Raven aufpassen musste. Er konnte sie nicht noch länger Vlads Händen überlassen. Keine Sekunde länger.
Er hatte sie aufgefordert, ganz in der Ville einzuziehen und sie war seinem Befehl gefolgt. Er war ihr Herr. Aber das wollte er nicht sein. Jetzt war sie weg, ihre restlichen Sachen von zu Hause holen.
Plötzlich kam ihm der Gedanke, ihr könnte etwas passieren. Die Männer im Park. Was, wenn sie wiederkamen? War sie ein Zufallsopfer gewesen?
„Ganz ruhig, Nathan. Raven war nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Es war ein Zufall.“, versuchte er sich zu beruhigen.
Über eine Stunde später lief er nervös vor dem Fenster auf und ab. Ihm kam es selbst seltsam vor, dass er sich so viel Sorgen um ein Mädchen machte, das er kaum kannte. Lag es daran, dass sie jetzt seine Blutsklavin war. Entstand dadurch eine Bindung? Das konnte nicht sein. Dazu hätte es doch ein Ritual oder etwas Ähnliches gebraucht. Vlad hatte lediglich einen Vertrag unterzeichnet, in dem stand, dass er seinen Blutsklaven abgab, und sich einen neuen suchen würde. Bis dieser gefunden war, musste Benjamin hinhalten.
Natanael verstand nicht, warum Vlad ihm nicht einfach einen neuen Sklaven suchte, und Raven bei sich behielt. Er hatte insgesamt seine Schwierigkeiten mit den Vampirgesetzen. In den letzten Jahren hatte er sich mehr mit den Menschen und Regeln in der Grafschaft, die er einmal übernehmen sollte, beschäftigt. Er hatte eine Art Kunstblut getrunken, weil er lange mit dem Gedanken nicht klar gekommen war, einem Menschen weh zu tun.
Deswegen hatte seine Mutter ihn hier her geschickt. Und weil die Vampirjäger der Blood Hunters das Leben in seiner Heimat zurzeit erschwerten.
Es regnete immer noch, als die Limousine wieder den Kiesweg entlang gefahren kam. Natanael nahm einen Schirm und ging ihr entgegen.


Kapitel 6

Wer hat in meinen Kopf geschaut,
und dich aus meinem Traum gebaut?
Deine Haut ist kühl und weich,
deine Augen Sternen gleich. Farin Urlaub Atem


Da stand er im Regen, einen schwarzen Schirm in der Hand und wartete auf sie. Dieser Anblick rührte Raven. Selbst Vlad hätte so etwas nie getan, als er noch wie ein Vater für sie gewesen war. Ihre Eltern schon gar nicht. Die hatte es nicht mal interessiert, dass sie ihre Sachen gepackt hatte und ausgezogen war. Sie waren im Wohnzimmer gesessen, mit irgendeinem Kerl, vor ihnen drei Flaschen Wodka. In der Hand einen Joint. Sie hatten gelacht, als sie die Tür zum letzten Mal hinter sich geschlossen hatte. Aber Raven war nicht traurig gewesen. Sie war von ihnen geliebt worden. Und sie liebte sie auch nicht. Sie versuchte es zumindest.
Natanael kam auf sie zu, ein Lächeln auf dem Gesicht. Ihr wurde warm ums Herz, wenn sie ihn lächeln sah. Ihr wurde wieder bewusst, wie schön er war. Er war der dunkle Prinz, den sich jedes Goth-Mädchen wünschte. „Hör auf, so zu denken. Er ist nicht irgendwer, er ist dein Herr.“, mahnte sie sich.
Nathan brachte sie zum Haus, Phil, der Chauffeur, schleppte ihre Koffer und Taschen in den ersten Stock.
Vlad hatte ihr ein großes, helles Zimmer zugewiesen. Man konnte den großen Park und den riesigen Teich sehen. An dessen Rand stand eine Trauerweide. Raven liebte Weiden. Als sie noch klein gewesen war, war ihr Lieblingsfilm Pocahontas gewesen. Großmutter Weide war der jungen und mutigen Indianerin zur Seite gestanden. Ab diesem Moment hatte Raven damit angefangen, mit den Bäumen zu reden. Weil sie immer zu hörten. Weil sie nie schrieen oder fluchten. Oft lehnte sie an einem Baum, strich über die kalte, raue Rinde und genoss die Stille, fern von Menschen, fern von allem, was sie so sehr an ihrem Leben hasste.
Das Mädchen packte ihre Jacke und rannte die Treppe hinab. Der Regen hatte beinahe aufgehört, es tröpfelte nur noch leicht. Sie huschte zwischen den Sträuchern umher wie ein Schatten. Sie umrundete den Teich und strich die hängenden Zweige des Baumes zur Seite. Wie ein Vorhang glitten sie hinter ihr wieder an Ort und Stelle.
Raven setzte sich auf eine der Wurzeln und kuschelte sich an den Stamm. Wie oft war sie schon so da gesessen und hatte nachgedacht. Zu oft.
Irgendwann wurde ihr kalt und sie kehrte ins Haus zurück. Nathanael saß am Kamin, ein Block auf seinem Schoß. Als sie den Raum betrat, blickte er kurz auf und lächelte ihr zu.

Raven strauchelte. Beinahe wäre sie gefallen. Sie fluchte leise, setzte ihren Lauf dennoch fort. Er durfte sie nicht erwischen. Sie musste entkommen. Sie musste so schnell rennen, wie sie nur konnte. Sie sprang über ein paar Bücher, die am Boden lagen. Er war nur ein paar Schritte hinter ihr. Dann legten sich Arme von hinten um sie, sie fiel, dann lagen sie beide auf dem Sofa.
„Gib mir meinen Haargummi zurück.“, lachte Nathan und bohrte ihr seinen Zeigefinger in die Seite.
„Niemals.“, kreischte sie und wandte sich unter ihm.
„Doch.“, seine Stimme war zu einem Knurren geworden.
Plötzlich öffnete sich die Türe und Vlad stand vor ihnen. Sein Blick war finster. Beschämt setzten sich die beiden auf. „Onkel. Ich…Wir hatten euch nicht so früh erwartet.“
Vlad lächelte kalt. „Das merke ich.“
Raven schauderte. Sie hatte vergessen, wie kalt ihr früherer Herr gewesen war. Nathanael hatte ihr in den letzten Tagen gezeigt, wie toll es war, jemanden zu haben, der für sie da war, der sich um sie sorgte. Er war ein wahrer Freund. Sie wusste schon jetzt, dass sie ihn liebte. Mehr als sie jemals zuvor geliebt hatte.
Heute war der Tag gekommen. Nathan sollte sie beißen. Unter Vlads Aufsicht. Traute er seinem Neffen nicht? Wollte er sich an Ravens Schmerz erfreuen? Sie wusste es nicht.
„Bringen wir es hinter uns.“, Vlad legte seinen Mantel ab und setzte sich in einen der Sessel ihnen gegenüber.
Nathanael strich ihr eine Haarsträhne hinters Ohr und beugte sich zu ihr hinab. Sein kühler Atem streifte sanft ihre Haut, und sie konnte nicht anders, als leise zu seufzten. Dann berührten seine Lippen ihren Hals, sie machte sich bereit für den Schmerz. Seine Zähne bohrten sich langsam und vorsichtig ihn ihre Haut, sie spürte es kaum. Der Biss war nicht mit denen von Vlad zu vergleichen. Nathan saugte sanft, es war wie eine Liebkosung. Raven schloss ihre Augen.

Kapitel 7

Energize me with a simple touch
Or with an open heart
Energize me, fire up this flame
That's burning between us After Forever Energize me


Ihr Blut lief seine Kehle hinunter. Es war, als wäre er tagelang durch die Wüste gewandert, ohne einen Tropfen Wasser und habe jetzt endlich eine Oase erreicht. Er zog sie gierig näher an sich, presste seinen Mund an ihren Hals. Blut rann ihm aus dem rechten Mundwinkel und über sein Kinn, bis es seine Brust hinunter lief und sein weißes Hemd rot färbte.
In diesem Moment wusste Nathanael, dass er dieses Mädchen niemals verlassen würde. Wäre er bei Sinnen gewesen, hätte er sich darüber gewundert, aber Raven, ihr Blut, raubte ihm den Verstand.
Da lag sie in seinem Arm, die Augen geschlossen. Er hörte ihr Herz leise schlagen. Leiser, unregelmäßiger. Erschrocken ließ er von ihr ab, küsste sanft ihre Wunde, die sich sofort schloss. Er atmete schwer. Er hätte sie umbringen können. Sie hätte sterben können. Panik machte sich in ihm breit.
Vlad klatschte. Langsam und, wie es schien, genüsslich. Er hatte ein böses Lächeln aufgesetzt. „Ich Gratuliere. Ihr habt selbst gemerkt, wann es Zeit ist, aufzuhören. Ihr seit wahrlich ein starker Vertreter unserer Art.“ Er stand auf und ging in Richtung Tür. „Wir sehen uns morgen.“ Dann war er verschwunden, ohne das Nathan noch irgendetwas sagen hätte können.
Der Blick des Jungen fiel auf Raven, die in seinem Arm lag und sich nicht rührte. Die Panik war wieder da. Hektisch fühlte er ihren Puls, rüttelte sie sanft am Arm. Plötzlich nahm sie seine Hand.
„Es geht mir gut, Nathan.“, ihre Stimme war kaum zu hören, aber sie lächelte. Er betrachtete ihr Gesicht. Ihr Kopf lag auf seinem Oberschenkel, ihre Hand lag in seiner. Er betrachtete ihr Gesicht, während sie langsam einschlief. Eine Haarsträhne umspielte ihre rechte Wange. Sie hatte eine kleine Narbe neben ihrer linken Augenbraue, sie fiel kaum auf. Der Lidstrich war verwischt, durch eine Träne, die sich ihren Weg hinunter zu Ravens Kinn gesucht hatte. Zu ihren Lippen. Ihren wunderschönen, zart rosanen Lippen. Bevor er darüber nachdenken konnte, legte er seinen Mund vorsichtig auf ihren. Es war nur eine kurze Berührung. Sie hatte sie nicht einmal bemerkt. Aber Nathanael hätte die Zeit am liebsten angehalten. Und insgeheim hoffte er, es würde nicht der letzte Kuss sein.

Nathan wusste nicht, was ihn geweckt hatte. Er blinzelte. Er befand sich noch immer im Wohnzimmer. Das Feuer im Kamin war inzwischen abgebrannt, im Raum war es wohlig warm. Er lag auf dem Sofa, Raven in seinen Armen. Sie hatte ihn geweckt, als sie ihre Hand, die immer noch in seiner lag, im Schlaf bewegt hatte Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
„An diesen Anblick könnte ich mich gewöhnen.“, dachte er.
Das Mädchen murmelte etwas im Schlaf und schreckte dann hoch. Sie setzte sich auf und warf einen hektischen Blick zur Wanduhr. „Scheiße.“, fluchte sie. „Ich muss in die Schule. Den Bus habe ich schon verpasst.“
Sie sprang auf und eilte nach oben in ihr Zimmer. Nathan schmunzelte. Dann ging er zum Bad im Erdgeschoss und machte sich ebenfalls fertig. Gerade kam er aus dem Bad, als Raven die Treppe hinunter gepoltert kam. Sie trug einen knielangen, schwarzen Rock, Netzstrümpfe, und ein schlichtes, schwarzes Top. Darüber eine kurze Jacke. Ihre Haare hatte sie zurück gebunden, doch einige Strähnen hatten sich bereits wieder aus dem Zopf gelöst. Sie kramte hektisch in ihrer Tasche. „Wo ist meine Busfahrkarte. Verdammt. Jetzt komme ich zu spät. Verdammt.“, fluchte sie.
„Komm, ich fahre dich.“, Nathanael schlüpfte in seine Motorradjacke, ließ den Hausschlüssel in seine Tasche gleiten und hielt ihr die Tür auf. „Danke. Das ist lieb.“, Raven schulterte ihren Rucksack und eilte hinter ihm her.
Seine geliebte Maschine stand in einem kleinen Schuppen unweit der Villa. Er hatte sie extra einfliegen lassen. Sie war sein ganzer Stolz. Er packte Ravens Ordner in die Satteltasche, schob sie aus der Garage. Raven setzte sich hinter ihn und schlang die Arme um ihn. Dann fuhr er los. Den Kiesweg entlang, über einige Landstraßen und dann hinein in die Stadt. Nathan genoss das Gefühl, endlich wieder Motorrad fahren zu können.
Sie brauchten kaum zwanzig Minuten. Punkt zehn vor acht hielten sie vor dem Schultor an. Raven stieg ab, reichte ihm den Helm, den er ihr gegeben hatte. „Danke für Mitnehmen.“, sie lächelte vor sich hin, als sie im Schulgebäude verschwand.
Nathanael beschloss, noch einen Kaffee zu trinken. Er ging zu der Bäckerei, gleich neben der Schule. Vlad hatte ihm um neun zum „Vampirunterricht“ bestellt. Insgeheim hatte er gar keine Lust, er hätte lieber etwas mit Raven unternommen. Er hatte sie in den letzten Tagen sehr lieb gewonnen. Sie war so ein toller Mensch. Und sie war in den letzten Tagen richtig aufgeblüht. Die Augenringe waren nicht mehr ganz so dunkel und ihre Augen leuchteten und schienen nicht mehr ganz so traurig. Insgeheim war er stolz auf sich. Er wünschte sich, er könne ihr weiterhin helfen. Vielleicht konnte er ihr etwas Glück in ihr schweres Leben zu bringen.
Er saß an einem Tisch, eine Tasse Kaffee und ein Gebäck vor sich, dass er noch nie gesehen hatte, das aber fantastisch schmeckte. An einem Tische saß ein Mann, der ihn die ganze Zeit musterte. Trotz der Sonnenbrille, die er trug, spürte der Junge seinen Blick. Nathan kannte sein Gesicht irgendwoher. Er wusste nicht, woher. „Ich bin doch erst seit knapp einer Woche hier.“, dachte Nathan, erhob sich und verließ das Café. Das Narbengesicht blieb sitzen.


Kapitel 8

If I go crazy then will you still
Call me Superman.
If I’m alive and well, will you be
There holding my hand.
I’ll keep you by my side
With my superhuman might 3 doors down kryptonite

Raven saß auf ihrem Platz und kritzelte vor sich hin. Die Englischstunde näherte sich ihrem Ende. Sie hatte nicht wirklich viel mitbekommen. Genau wie in den Stunden zuvor waren ihre Gedanken waren bei Nathan gewesen. Bei seinen Augen. Bei seinem Lächeln.
Auf ihren Block war eine ganze Kolonie an schwarzen Herzen entstanden, aus deren Körpern schwarzes Blut floss, welches sich über den unteren Rand des Blattes ergoss. Das Mädchen fuhr mit dem Finger über das größte Herz, in dessen Mitte der Schatten eines Pentagramms zu erkennen war. Sie lächelte.
Die Klingel beendete die Stunde, die Klasse stürmte hinaus. In der dritten Stunde hatten sie Sport. „Miss Black. Haben sie noch eine Minute für mich?“, hörte sie ihre Englischlehrerin, Mrs. Brown sagen. Das Mädchen ging zum Lehrerpult.
„Miss Black. Ich habe ihren Aufsatz korrigiert. Sie haben sich wirklich Mühe gegeben und ich freue mich, ihnen eine Eins geben zu können. Und ich bitte sie, machen sie so weiter.“
„Ja, das werde ich tun.“
Mit diesen Worten verließ sie das Klassenzimmer. Auf dem Weg zur Sporthalle kaufte sie sich noch eine Nussschnecke. Sie hatte Hunger.
Ihre Klassenkameraden waren bereits in den Umkleiden, als Raven über den Schulhof schritt. Da entdeckte sie die beiden Gestalten am Schultor und duckte sich hinter ein parkendes Auto. Es waren die beiden Männer. Der Boxer und der Kerl mit der hässlichen Nase. „Was machen die denn hier?“
Sie schienen auf jemanden zu warten. Der Boxer malte mit seinem Fuß Muster auf den Teer, während der andere nervös hin und her lief und etwas Unverständliches vor sich hin murmelte.
„Die warten auf mich. Es war doch kein Zufall.“, Raven schauderte. Was wollten die Männer von ihr? Gehörten sie zu Vlad? Wollte er sie ausspionieren? Nein, dann hätten sie sie nicht angegriffen. Aber was konnte es dann sein? Das Mädchen wusste, das sie so schnell wie möglich zum Unterricht kommen musste. Und weg von den Kerlen. Sie schlich hinter den Autos entlang und versuchte, keinen Lärm zu machen.
Plötzlich stolperte sie. Sie konnte sich einen Schmerzensschrei gerade noch verkneifen, dennoch stöhnte sie auf. Sie war mit dem Knie auf den gepflasterten Schulhof geknallt.
Der Boxer drehte sich sofort zu ihr um. Raven drückte sich enger an den BMW hinter ihr und hoffte inständig, er würde sie nicht sehen. Sie würde mit der Verletzung nicht einmal mehr fliehen können.
„Kann ich ihnen irgendwie behilflich sein?“ Noch nie hatte Mr. Millers Stimme in ihr so eine Erleichterung ausgelöst. Sie hörte, wie einer der Männer etwas brummte, dann waren sie verschwunden. Der Direktor schüttelte den Kopf und kehrte ins Schulgebäude zurück.

Raven humpelte aus der Schule. Die Sportstunde hatte sie bei den Schulsanitätern verbracht, die ihr Knie gesäubert und einen kleinen Stein daraus entfernt hatten. Jetzt trug sie einen fetten Verband, der ihrer Meinung nach übertrieben war. Die restlichen beiden Stunden Kunst hatte sie mit nachdenken verbracht. Nachdenken über die Männer. Doch immer wieder hatten sich Gedanken an Nathan in ihre Überlegungen geschlichen und sie von dem eigentlichen Thema abgelenkt. Nun war der Tag endlich überstanden und sie sehnte sich nach ihrem Bett. Nach ihrem zu Hause.
Irgendwie war es verrückt, aber sie fühlte sich in der Villa so wohl wie nirgendwo sonst. Und das, obwohl sie erst seit knapp einer Woche dort wohnte.
„Woran das wohl liegt?“, grinste sie.
Die Antwort kam gerade mit einem breiten Grinsen auf sie zu. Nathan hatte sein Motorrad am Straßenrand abgestellt und seinen Helm unter den Arm geklemmt.
„Guten Tag, Schönheit.“, flüsterte er und strich eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Dann fiel sein Blick auf ihr Knie, die zerfetzte Leggins.
„Was hast du denn schon wieder gemacht.“
„Ähmm… Lange Geschichte. Ich erzähle sie dir zu Hause.“, antwortete das Mädchen. Im selben Moment wurde ihr bewusst, wie glücklich sie sich schätzen konnte. Sie hatte ein zu Hause. Zusammen mit Nathanael.
„Gut. Ich hab Spagetti gekauft. Die gibt’s dann zum Abendbrot.“
Er half ihr, den zweiten Helm anzuziehen. Die ganze Zeit blickte er in ihre Augen. Seine angenehm kühlen Finger streiften ihre Haut und ein wohliger Schauer fuhr durch ihren Körper. Als sie sich hinter Nathan auf das Motorrad setze, entdeckte sie Jaqueline, die mit erstauntem Blick an der anderen Straßenseite stand. Sie schmiegte sich enger an Nathan und sog seinen Duft ein. Dann fuhr er los und sie schloss die Augen.

Als Raven die Küche betrat, stand Nathan an den Herd gelehnt. Er trug eine schwarze Schürze, auf die ein kleines Teufelchen mit einem Kochtopf gedruckt war. Darunter stand in weißen Lettern: Teuflisch gut.
„Probier mal.“, forderte er sie auf und hielt ihr einen Löffel mit Tomatensoße hin. Sie kostete.
„Und da sag noch einer, Vampire könnten nicht kochen.“
Nathanael verbeugte sich. „Danke, Danke, Herzlichen Dank, liebe Fans. Und das nächste Mal zeige ich ihnen, wie man Pfannkuchen am besten wendet.“
Raven lächelte und holte zwei Gläser aus dem Wandschrank. „Was willst du trinken?“, fragte sie. „Keine Ahnung. Das was du trinkst.“, kam die Antwort von Nathan, der wieder in seinen Nudeln rührte.
„Na toll. Das bringt mich weiter.“ Das Mädchen öffnete den Kühlschrank. Vlad hatte viel einkaufen lassen. Die gesamte Küche war voll gestellt. Und das obwohl Nathanael nicht einmal etwas Essen oder Trinken musste.
Sie setzten sich an den Tisch und begannen wortlos zu essen.
„Was ist jetzt eigentlich mit deinem Knie passiert?“, durchbrach Nathan die Stille.
Raven schluckte. Sie hatte die Ereignisse des Tages schon verdrängt gehabt.
Sie nahm einen Schluck Cola und begann zu erzählen. Während sie redete, wurde sein Blick ernster, dann nahm er ihre Hand und liebkoste ihre Handfläche mit seinem Daumen. Seine Finger waren noch immer kühl, obwohl es in der Küche warm war.
„Naja. Das seltsame ist, das ich den Verdacht habe, dass die Kerle auf mich gewartet haben.“, beendete das Mädchen die Gesichte.
Nathans Gesicht sah besorgt aus. „Geh zur Polizei.“, knurrte er schließlich. Er schien wütend zu sein. Warum wusste sie nicht. Und sie wollte nicht zur Polizei gehen.
„Sie haben mir doch nichts getan. Was soll ich denn sagen? ...Zwei Männer standen vor meiner Schule? Und sie haben mich im Park angesprochen?“
Nathan war ruckartig aufgestanden, jetzt jagte seine Faust auf den Esstisch hinab. „Sie haben dich angefasst. Sie wollten sonst was mit dir tun.“, seine Stimme klang scharf, keine Spur samtig mehr. Warum reagierte er so?
Sie stand ebenfalls auf, umrundete den Tisch und schlang die Arme um ihn.
„Hey. Beruhig dich wieder.“ Das Mädchen war sich sicher, dass nicht ihre Worte, sonder allein ihre Stimme und ihre Umarmung ihn aus seiner Wut holten.


Kapitel 9

What i like, is to know your body’s lieing next to mine
To see you smile without a reason why
Yeah, that’s what I like Gotthard what I like


Als sie am nächsten Morgen in die Küche kam, war Nathan schon wach. Er hatte den Frühstückstisch gedeckt und es roch herrlich nach gebratenen Speck und Ei. Raven hatte schon fast vier Kilo zugenommen, und sie war wohl das einzige Mädchen der Welt, das sich darüber richtig freute. Sie schien nicht mehr ganz so mager, nicht mehr ganz so verletzlich. Als der Vampir sie bemerkte, lächelte er sie kurz an und stellte dann die Spiegeleier auf den Tisch. Nachdem das Mädchen gegessen hatte, räumte sie das Geschirr weg. Die ganze Zeit hatten Nathans Blicke auf ihr geruht. Fragend, nachdenklich, suchend. Raven wusste nicht, wieso er sie so musterte und es war ihr irgendwie unangenehm. Eilig verließ sie die Küche, rannte beinahe in ihr Zimmer. Dort angekommen verließ sie es sofort wieder, lief die Treppe nach unten und verschwand im Garten. Der Tag war neblig, doch es regnete nicht. Ihr Weg führte sie sofort zu der Weide, sie ließ sich gegen deren Stamm sinken. Irgendwie hatte sie ein seltsames Gefühl. Sie fühlte sich so sehr zu Nathanael hin gezogen, doch ihr Verstand sagte ihr, dass er ihr Herr war. Sie durfte keine Gefühle für ihn hegen. Sie durfte es einfach nicht.
In diesem Moment wurden die Zweige des Baumes vorsichtig zur Seite geschoben und der Vampir trat in den Raum, den die langen, herabhängenden Äste bildeten.
„Raven. Ich… ich muss mit dir reden. Du hast mich heute früh ignoriert, warum?“
Er ließ sich neben sie auf den Rasen fallen.
„Ich habe euch nicht ignoriert, Herr.“
Nathan seufzte auf. „Jetzt fängt das wieder an.“
Im nächsten Moment war er ganz nah bei ihr. „Ich bin also dein Herr. Und ich kann dir befehlen, was ich möchte und wie ich es möchte, richtig?“
Sie nickte. Das war es, was er tun sollte. Dann würden ihre dummen, kindlichen Gefühle für ihn bald wieder verschwinden. Dann würde er so werden wie Vlad. Und sie hatte ihre heile Welt wieder, brauchte sich nicht an Zärtlichkeit und Höflichkeit zu gewöhnen.
„Ja, Herr.“
„NATHAN, zur Hölle.“, jetzt war er wütend. „Ich will von deinem Gequatsche, ich sei dein Herr, nichts mehr hören.“
Dann war er von einem Moment auf den anderen wieder ruhig.
„Hör mir zu, Raven.“, vorsichtig strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich weiß, dass es für dich seltsam sein muss, dass dein… Herr … freundlich zu dir ist. Ich habe in den letzten Wochen gemerkt, wie mein Onkel ist. Aber ich, Raven. Ich mag dich wirklich sehr. Und ich möchte nicht, dass du nur deinen Herren in mir siehst.“
Sanft zog er sie auf die Beine und da standen sie nun. Der Wind wühlte in ihren Haaren, sang ihnen ein Lied, während es langsam zu regnen begann.
„Ist das alles, was ich für dich bin? Dein Herr?“
Bevor sie darüber nachdenken konnte, hatte sie den Kopf geschüttelt. Jetzt lächelte der Vampir. Und im nächsten Moment lagen seine Lippen auf ihren. Völlig überrumpelt und von ihrem Herzen übernommen erwiderte das Mädchen die sanfte, tastende Berührung, öffnete ihren Mund, als seine Zunge um Einlass bat. Seine Hände lagen an ihrem Gesicht, ihre an seinen Hüften. Und die Sehnsucht zog sie mit sich, ließ sie alles vergessen. Das war, wonach sie sich gesehnt hatte. Seine Nähe, seine Zuneigung, sein Kuss, so sanft wie der Flügelschlag eines Schmetterlings und doch so stark, dass er bis tief in ihr Herz vordrang.
Der ganze Tag schien wie ein Traum. Die Wolken hatten sich gelichtet, der Regen hatte aufgehört und der Nebel war verschwunden. Zaghaft bahnten sich die Strahlen der Sonne einen Weg hinab zur Erde und wärmten die Haut der beiden Liebenden, die dort standen, in einer engen Umarmung gefangen. Raven hatte dieses Gefühl in ihrer Brust, von dem sie nicht wusste, was es war. Sie kannte es von früher, sie hatte schon einmal so gefühlt. Es war Glück, dass sie durchströmte. Und da war noch etwas anderes. Liebe. Tiefe Liebe, die sie für Nathan empfand, ohne es vorher gewusst zu haben. Als er sich irgendwann von ihr löste, nahm er sie an der Hand und zog sie unter dem Blätterdach hervor. Er führte ihre verschränkten Finger zu seinem Mund, küsste ihren Handrücken. Seit ihrem Kuss hatten sie nicht gesprochen, doch es brauchte keiner Worte. Was hätte sie auch sagen sollen? Zwischen ihnen war alles klar. Es gab nichts misszuverstehen an diesem Blick, der mehr sagte, als tausend Worte. Die tiefe seiner Augen, das dunkle Grün, das so leuchtete wie nie zuvor.
Lächelnd ging sie neben ihm her, den Blick noch immer auf seine Augen gerichtet, in ihnen verloren. Sie kannte die Gefühle nicht, die ihr inneres beherrschten, aber sie wusste, dass es Liebe war. Sie liebte diesen Kerl, unwiderruflich, aber es machte ihr keine Angst, obwohl sie noch nie so empfunden hatte.


Kapitel 10

Vlad war nervös. Er konnte sich nicht entsinnen, jemals zuvor nervös gewesen zu sein. Es war einfach nicht seine Art, sich von irgendetwas aus der Ruhe bringen zu lassen. Doch dass man seinetwegen eine Ratssitzung einberufen hatte, war wirklich ungewöhnlich. Vor allem, weil er wusste, dass es wegen Raven war. Der zweite Ratsvorsitzende Loveless, sein Untergebener, eröffnete die Sitzung. Fünfzehn der wichtigsten und mächtigsten Vampire der Welt waren anwesend, unterschiedlichste Gestalten. Die meisten von ihnen waren Männer, nur Lady Viola und Lady Edith waren anwesend. Sein Schwager und seine Schwester fehlten.
„Lord Vlad. Diese Sitzung findet euretwegen statt. Zwei Jäger der Bloodhunter, wenn auch zwei äußerst unbegabte, sind hinter eurer Blutsklavin her. Könnt ihr mir einen Grund dafür nennen?“
„Lords, Ladys. Wie sie hoffentlich schon erfahren haben, dient Mrs. Raven Black seit geraumer Zeit meinem Neffen. Ich habe sicher nichts damit zu schaffen.“
Loveless lächelte ihn süffisant an.
„Dieser Auftrag wurde nach unseren Informationen aber bereits vor Monaten erteilt, als sie noch euch diente. Und wisst ihr, was der Grund dafür war?“
Vlad schüttelte würdevoll den Kopf.
„Euch zu erpressen. Sagt mir, Lord Vlad. Was ist dieses Mädchen für euch, dass man euch erpressen könnte, wenn es um ihre Leben ginge?“
„Sie ist meine ehemalige Sklavin. Das ist alles, was die mir bedeutet.“
Wieder dieses falsche Grinsen auf Loveless Gesicht.
„Lügen sie nicht, Vlad. Wir kennen den Grund. Ihr liebt dieses Kind. Ich wünschtet, sie wäre eure Geliebte.“
Ein murmeln ging durch den Saal, dass erst verebbte, als Loveless seinen Holzhammer benutzte, um Ruhe zu schaffen. „Meine Informationen sind verlässig, und jeder hier im Raum hat sie einsehen können. Wir haben ein Urteil gefällt, Lord Vlad.“
Vlad starrte dein kleinen, dicklichen Mann mit dem Fischgesicht und der riesigen Horne an.
„Ohne meine Stimme ist das Urteil nichtig.“, zischte er.
„Ganz und gar nicht Mylord, denn das Urteil betrifft euch, also zählt eure Stimme nicht.“
Loveless erhob sich mit geschwollener Brust.
„Mylords, Myladys. Wir können es uns nicht leisten, dass der mächtigste und einflussreichste Vampir in unseren Reihen erpressbar ist, eines Mädchens wegen. So ergeht folgender Beschluss. Mrs. Raven Black wird exekutiert, damit sie auf keinen Fall, in die Hände der Bloodhunter fällt.“
„Nein.“, Vlads Schrei löschte alle sonstigen Geräusche aus. „Nein. Ihr werdet ihr nicht zu nahe kommen.“
„Das ist bereits gesehen, Lord. Und auch ihr müsst euch dem Urteil des Rates beugen.“


Es war alles so schnell gegangen, dass Raven sich nicht einmal wehrte, als man sie abholte. Sie hätte gegen die Vampire sowieso keine Chance gehabt. Nathaniel hatte an der Tür gestanden und ihr mit Tränen in den Augen hinterher gesehen. Doch er hatte sich nicht bewegt.
Was zur Hölle war hier los? Warum schien Nathan so verzweifelt? Wusste er mehr als sie?
Beinahe zwei Stunden fuhren sie in einem schwarzen Wagen, dann wurde sie in ein altes Haus gebracht. Dort sperrte man sie in ein Zimmer, sagte ihr, sie hätte zu warten. Worauf wusste sie nicht.
Und dann kamen Vlad und Nathan. Beide schienen aufgelöst zu sein, der junge Mann hatte geweint. Sofort schickte er seinen Onkel wieder hinaus, kniete sich vor Raven, während die Tür von außen verschlossen wurde.
„Nathan. Was ist los, ich versteh das nicht.“
Der Vampir sah sie an, nahm ihr Gesicht zwischen die Hände und küsste sie.
„Du hast mir doch von diesen Männern erzählt, die dich gejagt haben. Der Rat der Vampire hat herausgefunden, dass es Bloodhunter waren, Vampirjäger. Sie waren hinter dir her, weil sie dich als Waffe gegen Vlad einsetzen wollten. Sie wollten ihn erpressen.“
„Aber weswegen bin ich hier, warum hat man mich eingesperrt?“
„Ich…“
„Nathaniel, deine Zeit ist um. Lass mich noch mit ihr sprechen, sie wollen dich nicht länger zu ihr lassen.“, ertönte Vlads Stimme von draußen, schon hörten sie den Schlüssel.
„Ich kann nicht bleiben Raven. Vlad wird es dir sagen, ich…“, Tränen rannen über sein Gesicht. „Ich kann sie nicht aufhalten. Ich liebe dich, Raven. Und ich wünschte, ich könnte etwas für dich tun.“
Hastig presste er seine Lippen auf ihre, im nächsten Moment drehte er sich um, verließ den Raum und sie war mit Vlad alleine.
Ihr alter Meister. Der Mann, den sie Jahre lang für ihren Retter gehalten hatte, der Mann, der sie doch nur ausgenutzt und misshandelt hatte. Der Mann, dem sie so viel Schmerz, so viele Wunden zu verdanken hatte.
„Raven.“, er blieb in einer Ecke des Raumes stehen.
„Sie werden dich töten.“
Das Mädchen erstarrte. Sie konnte diesen Worten nicht glauben. Warum zur Hölle sollte jemand so etwas tun? Und warum tat Vlad nichts dagegen? Er… Ihre Gedanken schwirrten durch einander, vor ihren Augen wurde es kurz schwarz.
„Warum…“, krächzte sie. Warum wollte man ihr jetzt das Leben nehmen, wo sie das erste Mal wirklich glücklich war? Nathan liebte sie. Und jetzt sollte sie einfach sterben.
„Ich liebe dich, Raven.“
Vlads Stimme war leise, brüchig.
„Ich liebe dich, und die Bloodhunter wollten mich damit erpressen. Der Rat… er hat beschlossen, dich zu töten, damit dass nicht möglich ist. Ich habe alles Mögliche in meiner Macht stehende getan…ich liebe dich, Raven. Und dafür töten sie dich.“
„Aber…“, sie schluckte. Noch nie hatte sie sich mit dem eigenen Tod befasst. Würde es schnell gehen? Würde sie danach noch etwas fühlen? Oder wäre sie einfach weg, nur noch eine Hülle? Plötzlich verspürte sie einen Durst, den nicht zu lindern schien, Hunger, den nichts auslöschen konnte. Sie wollte leben. Das erste Mal in ihrem Leben sehnte sie sich nach Freude, Leid, Glück und Unglück zugleich. Sie wollte einfach nur weiterleben.
„Hier, trink das.“
„Wozu, wenn ich doch sterbe?“
„Trink.“, Vlads Stimme war wieder die alte, sie duldete keinen Widerspruch. Also nahm sie das Glas mit Wasser, dass er ihr reichte. Kaum hatte sie es an die Lippen gesetzt, wurde ihr schwarz vor Augen und das Glas viel aus ihrer Hand. Sie sah nicht, wie Vlad es auffing, ihren Körper auf das Bett legte. Und sie sah auch nicht mehr, wie er ihr einen Kuss auf die Wange hauchte.


Als sie erwachte, war es, als hätte ihr Körper kurz vor ihrem Tod noch einmal all seine Kraft in sich aufgebaut. Sie fühlte sich stark, ihre Bewegungen fühlten sich geschmeidig an und ihr Herz schlug schnell. Es schlug das letzte Mal.
Nathan saß an ihrem Bett, hielt ihre Hand. Sie lächelte ihn an, versuchte es zumindest, doch sie wurde sich in diesem Moment erneut bewusst, dass sie ihn verlieren würde. Nein, er würde sie verlieren, einfach so, grundlos.
Die Tür wurde aufgerissen, zwei Männer traten herein.
„Es ist soweit Sir Bathory.“, knurrte der eine, dann packten beide Raven an den Armen und führten sie hinaus. Nathans Blick war ohne jeden Ausdruck.
Es sollte in einer großen Halle gesehen. Nur der Henker, fünf Wachleute und Loveless waren anwesend. Nathan und Vlad standen da, die Gesichter geneigt, mit Tränen in den Augen.
„Loveless, lasst Gnade walten.“, versuchte es Vlad noch einmal, doch der Ratsvorsitzende lächelte nur dieses kalte, grässliche Lächeln.
Man band Raven weder fest, doch legte man ihr ein Tuch über die Augen. Sie hatte sowieso keine Chance zu entkommen, nicht unter lauter Vampiren. Der Henker kam mit einem langen Dolch zu ihr. Sie hatte gehofft, dass man ihr einfach Gift geben oder sie schnell töten würde. Aber man wollte sie erstechen. Angst, panische Angst kroch in ihr hoch. Angst vor dem Tod, Angst vor dem Schmerz, Angst vor dem Verlust.
Sie schloss die Augen, öffnete sie wieder, schloss sie, beim Anblick des Henkers. Und dann setze der Schmerz ein, bohrte sich tief in ihre Brust. Sie hatte geglaubt, die Leere würde sie einfach ausfüllen, sie würde fallen. Doch da war nur der Schmerz des Messers, das in ihr Herz drang und dann wieder heraus gezogen wurde. Sie fiel noch nicht einmal zu Boden. Was war los?
„Sie ist ein Vampir.“, kreischte Loveless und der Henker ließ verdutzt den Dolch sinken.
„Wer war das, wer wandelte sie zu einem Vampir?“, schrie der Mann weiter.
„Ich.“, plötzlich war es still im Raum, Vlad trat vor sie.
„Ich habe sie gewandelt. Ich betäubte sie in ihrer Zelle und schenkte ihr den unsterblichen Kuss.“
Raven spürte, dass sie gepackt und fortgezogen wurde. Nathan. Der Vampir flüchtete mit ihr, keiner der Anderen bemerkten ihr verschwinden.
„Ergreift ihn.“, hörte man Loveless kreischen.
Als sie sich durch die Gänge kämpften, hörten sie Vlads Todesschreie, als ihn die andren für seine Schandtat bei lebendigem Leibe verbrannten.
Raven stiegen die Tränen in die Augen, das alles war zu viel für sie. Vlad hatte sie geliebt, ihr Leben gerettet, sie zu einem Vampir gemacht. Und jetzt war er selbst tot.


Sie flohen Hals über Kopf, hatten kaum etwas bei sich. Und ihre Flucht würde Ewigkeiten dauern. Raven war unrechtmäßig ein Vampir, Nathaniel hatte sie befreit. Sie waren für immer Flüchtlinge, der Rat würde immer nach ihnen suchen. Aus dem Mädchen und dem Sohn eines Grafen waren Straßenkinder geworden, sie lebten unter Brücken, in Parks, waren nie zu lange an einem Ort. Doch sie waren zusammen, dass war genug Heimat für sie beide.

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Tag der Veröffentlichung: 30.10.2010

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