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Ich glaube das mit Nils ist bereits mehr als nur Freundschaft. Es ähnelt einer Beziehung. Wir würden für den jeweils anderen sterben, ihm blind vertrauen, Verständnis ohne Worte. Wie Brüder.
Ich höre auf darüber nachzudenken und öffne die Augen. Nils sieht mich besorgt an. Mein Blick fällt auf mein T-Shirt. Es ist hochgerutscht und er sieht meine hervorstehenden Rippen. Verschämt richte ich es wieder und hole meine Tasche. >>Ich geh dann mal<< Nils hüpft auf und sieht mich weiterhin sorgenvoll an. Er will mit mir zum Arzt. Nervös kratze ich mich im Nacken und stimme zögernd zu. Wir verabreden uns für morgen Nachmittag bei mir. Er war noch nie bei mir. Mal sehen wie er darauf reagiert. Ich verabschiede mich und gehe nach Hause.
Noch müde öffne ich die Haustür und sehe nach Mom. Sie liegt immer noch im Wohnzimmer.
Seltsam.
Ich knie mich neben sie und klopfe ihr auf die Wange.
Nichts.
Zitternd greife ich nach ihrem Puls, spüre ihn nur ganz schwach, fast gar nicht. Mit Tränen in den Augen renne ich zum Telefon, rufe die Rettung und gleich danach Nils. Keine zwei Minuten später wird die Tür aufgerissen und Mom auf die Trage. Stumm stehe ich daneben und muss das ganze erst verdauen. Man sagt mit dass Mom einen Herzinfarkt hatte, und das schon vor längerer Zeit, und das es sehr schlecht um sie stehe.
Der Rettungswagen fährt los und ich bleibe in der Tür stehen. Dann sehe ich Nils der wie verrückt auf mich zu rennt. Schnaufend kommt er bei mir an und zieht mich ins Haus hinein. Ich zeige ihm mein Zimmer, er setzt sich auf die Bettkante und nimmt mich ohne zu zögern in die Arme. Ich kralle mich in seine Jacke und beginne hemmungslos zu weinen. Vorsichtig beginnt er mir den Rücken zu streicheln, ich weine nur noch mehr. Erst Dad, dann Mom. Das ist nicht fair. Ich hole mir Taschentücher und schnäuze mich herzhaft.
Langsam gehe ich ins Bad und ziehe mir das Shirt über den Kopf. Skeptisch betrachte ich mich im Spiegel. Rot geweinte, geschwollene Augen, laufende Nase und zitternder Körper. Ich setze mich auf die Fliesen und lehne mich an die Badewanne. Vorsichtig greife ich nach der Rasierklinge. Soll ich es tun oder nicht. Die Möglichkeit ist verlockend. Zitternd setze ich an, doch dann denke ich an Nils. Nein, das kann ich ihm nicht antun. Weinend schleudere ich die Klinge in die Ecke und vergrabe mein Gesicht in den Händen. Leise klopft jemand an die Tür, vermutlich Nils. Ich spüre dass er sich zu mir setzt, langsam meine Hand sucht und sie fest drückt. Er streicht mir durch die Haare und über die Wange.
Moment.
Das kenne ich.
Ich reiße meine Augen auf und sehe Dad. Ob Einbildung oder nicht, schluchzend werfe ich mich in seine Arme und erzähle von Mom.
Ich bin wohl eingeschlafen, denn als ich aufwache liege ich in meinem Bett. Ein Arm hat sich um meinen Bauch geschlungen. Ich drehe den Kopf und sehe Nils schnarchen wie einen Weltmeister. Obwohl ich mehr als traurig bin muss ich lachen. Er schrckt hoch und sieht mir in die Augen.
>>Ich will Mom besuchen.<<
Ich stehe auf, nachdem Nils seine Hände mit knallrotem Kopf weggezogen hat, und ziehe meine Schuhe an. Nils folgt mir. Ich bin froh dass er mitkommt.
Im Krankenhaus fragt er nach Mom. Sie ist in der Intensivstation. Es steht schlecht um sie. Ich schlucke hart und gehe zu ihr, Nils kommt nicht mit. Er soll nicht mitkommen.
Zittern mache ich die Tür zu ihrem Zimmer auf. Unzählige Schläuche und Maschinen sind an sie angeschlossen. Ich hole mir einen Sessel und setzte mich neben sie.
Meine Mom.
Ich fange schon wieder an zu heuel. Wie viele Scheißtränen hab ich denn noch? Leise fluchend wische ich sie weg und greife nach Mom`s Hand. Sie ist kalt und bleich. Ich lege ihre Hand auf meine Wange und weine Leise weiter. Schniefend erzähle ich ihr von unseren Ausflügen, als Dad noch lebte. Eigene Erinnerungen keimen auf, und ich muss, trotz der vielen Tränen, lächeln. Plötzlich spüre ich dass Mom sich bewegt. Gespannt beobachte ich sie. Langsam öffnen sich ihre augen und sie sieht mich mit flackerndem Blick an. In diesem Moment könnte mein Herz vor lauter Glück zerspringen. Freudig beuge ich mich über sie und drücke ihr einen Kuss auf die Backe. Sanft lächelt sie mich an und zieht mich zu sich. Sie flüstert mit etwas ins Ohr. >>Ich habe dich immer geliebt, mein Schatz. Wein nicht so viel.<< sie wird immer leiser, schlussendlich sackt sie vollkommen zusammen. Die Maschinen spielen verrückt, verzweifelt rufe ich die Schwestern. Grob werde ich aus dem Raum geschubst und laufe zu Nils. Kurz bevor ich ihn erreiche sacke ich zusammen. Die Tränen laufen mir in Sturzbächen über das Gesicht und ich rolle mich zusammen. Kurz höre ich Nils noch nach mir schreien, dann wird alles schwarz.
Hell. Warum muss es so verdammt hell sein. Ich öffne langsam die Augen und kneife sie auch gleich wieder zu. So hell. Vorsichtig starte ich eine zweiten Versuch. Das erste was ich sehe, ist Nils. Er schläft mit dem Kopf auf meinem Fuß. Ja, ja, das ist mein großer Bruder, den ich nie hatte. Leicht bewege ich meinen Fuß, Nils wacht auf und haut sich den Kopf an der Eisenstange an. Ich lache, höre aber sofort wieder auf, da ich bohrende Kopfschmerzen habe. Nils erklärt mir, das ich einen Nervenzusammenbruch und eine leichte Kopfverletzung habe. Blitzartig fällt mit Mom ein. Leise frage ich nach ihr, er blickt mich nur traurig an.
Emotionslos starre ich aus dem Fenster.
Nein.
Nicht Mom.
Ich weiß wieder wie ich mich damals gefühlt habe. Damals, als Dad starb.
Ich nehme keine Farben, keine Sonne mehr war. Alles ist trist und grau.
Mom ist tot.
Ich spüre nichts mehr, nicht die Wärme, die Umarmung von Nils. Ich starre aus dem Fenster. Ich kann nicht einmal mehr weinen. Gar nichts, alles ist taub und gefühllos.
Nach ein paar Tagen werde ich entlassen, Nils holt mich ab. Steif gehe ich die Strassen entlang, Nils rennt mir hinterher. Langsam steige ich die Stufen zur Haustür hinauf. Mit jeder werden die Erinnerungen schmerzhafter. Die Tür knarzt als ich sie öffne. Nicht abgeschlossen. War ja klar. Warum auch. Ich trete ein und sehe mich um. Alles wie vorher. Schnell gehe ich am Wohnzimmer vorbei, schnurstracks in mein Zimmer, Nils folgt mir immer noch. Meine Tasche wird neben das Bett geschleudert, ich setze mich aufs Bett. Denke nach über die letzten Tage.
Scheiße.
Schon wieder fange ich an zu heulen. Liebevoll nimmt Nils mich in den Arm und streicht mir durch die Haare. Es beruhigt mich etwas und ich schlafe kurz darauf ein. Als ich wieder aufwache liege ich im Bett, habe meine Arme um Nils geschlungen und meinen Kopf auf seine Brust gelegt. Ich sehe ihn an, er lächelt zurück. Vorsichtig lege ich mich wieder hin, kuschle mich näher an Nils. Mein großer Bruder, immer für mich da.
Lange starre ich die Bettkante an und fahre mir durch die Haare. Verdammt, ich habe meine Verletzung vergessen. Scharf ziehe ich die Luft ein, bekomme einen besorgten Blick geschenkt. Ich richte mich auf und strecke mich. Nils umarmt mich von hinten. Wann wir das mit dem Arzt klären. Keine Ahnung. Ich zucke mit den Schultern.
Nils muss nach Hause, er hat Besuch. Schmerzhaft verabschieden wir uns. Fest drückt er mich an sich, stupst mir auf die Nase.
Weg ist er.
Ich weiß nicht was ich tun soll, gehe in den Wald. Langsam stapfe ich durch den Schnee und versuche die Dinge der letzten Tage zu verdrängen. Ich gehe zu einem riesigen Baum, der über und über mit Efeu bedeckt ist. Vorsichtig setze ich mich hin, betrachte den Wald in seine vollen Schönheit.
Der Wolf stupst mich an. Gedankenverloren streichle ich sein Fell. Plötzlich stellt er sich auf seine Hinterläufe und nimmt die Gestalt von Dad an. Meine Kinnlade klappt herunter, ich starre ihn an. Ächzend setzt er sich zu mir. >>Wie groß du geworden bist.<< Seine Stimme klingt, als ob sie jahrelang nicht benutzt worden ist. Er streicht mit über die Wange, sieht mich mit warmen, braunen Augen an. Dad sieht noch genau so aus wie vor zehn Jahren. Ein weiteres Mal werfe ich mich in seine Arme, frage ihn weshalb er sich erst jetzt zeigt. Er erzählt mir davon, dass er nach seinem Tod als Wolf wiedergeboren wurde, in einem Wolfsclan aufgenommen wurde, sich dort an die Spitze gearbeitet hat und schließlich gegen die Regel dass man sich nicht mit Menschen treffen darf verstoßen hat. Ich drücke mich fester an ihn und sauge seine Anwesenheit in mich auf. Nachdenklich sieht er mich an. >>Du hast die Augen deiner Mutter.<< Fassungslos starre ich ihn an, mir treibt es Tränen ihn die Augen. Sanft wischt er sie weg und verschwindet langsam hinter den Bäumen.
„Ich will auch in den Clan.“
Mein erster Gedanke nachdem Dad verschwunden ist. Ich sehe mir wieder die Pfote an. Sie schimmert wie ausgelaufenes Öl in der Sonne.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 31.08.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Lisa..der Wolf ist für dich. Vicky..der Rest gehört ganz allein dir. Hab euch beide unendlich viel lieb.

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