Geschafft lag ich in Samirs bequemen Bett auf der Seite. Statt mich zu meiner Wohnung zu fahren, fuhr er direkt zu seinem Haus, das er ja mit Lorca teilte. Sein Zimmer kam mir schwer bekannt vor. Lag wohl daran, dass ich letztens nach meiner Bewusstlosigkeit hier aufgewacht war. Samir lag mir gegenüber und ich versuchte ihn mit meinen Blick zu durchbohren. Ich hatte auf meine Frage immer noch keine Antwort bekommen.
Samirs Augen wurden ernst: „Ja, ich kenne ihn sehr gut.“ „Wen meinst du?“, fragte ich. Schließlich waren da zwei Vampirjäger gewesen. Vielleicht sogar mehr, wer wusste das schon?
„Den Älteren oder auch einfach nur Zoran genannt.“
„Zoran...“, murmelte ich gedankenverloren. Irgendwie passte der Name zu dem grauhaarigen aber doch kräftig wirkenden Mann. Samir nickte.
„Er ist der Anführer seiner kleinen Gruppe. Umfasst vielleicht 4 bis 5 Jäger. So genau weiß ich es nicht.“
„Warum weißt du das nicht?“ Samir seufzte. Es klang traurig.
„Ich kenn nur Zoran persönlich und Lorca auch. Lorca ist nicht gut auf ihn zu sprechen. Einen Hinweis hatte ich dir schon gestern gegeben.“
Kurz musste ich überlegen welchen Hinweis Samir meinte.
„Du meinst, wo ich sagte, er wäre ziemlich abweisend und du mir sagtest, der Grund wäre ein verloren gegangenes Wesen?“
Samir nickte. Seine Augen wirkten abwesend, als wäre in seiner Vergangenheit versunken. Er schien mit sich zu hapern.
Auf einmal erregte eine Bewegung an der Tür meine Aufmerksamkeit. Lorca stand mit verschränkten Armen an der offene Tür. Seine Gesichtszüge waren ausdruckslos, doch auch irgendwie gequält.
„Ich werde es ihm erzählen, Samir“, bestimmte er. Samir nickte, froh, dass er es nicht hinter dem Rücken seines Bruders tat.
Warum wollte er es mir dann erzählen, wenn er es auch nicht gleichzeitig gegen den Willen seines Bruder machen wollte? Denn offenbar betrifft es hauptsächlich Lorca. Was war schreckliches passiert?
„Marc.“
Ich schreckte auf und sah schnell zu Lorca, der mich angesprochen hatte. Er hatte einen undefinierten Gesichtsausdruck.
„Ich erzähl das nur, damit Samir dir nichts verheimlichen muss. Da für Vampire ‚Vertrauen’ der wichtigste Schatz im Leben darstellt, verstehe ich meinen Bruder und möchte kein Hindernis für ihn sein.“
Bei seinen Worten wurde mir warm und ich blickte Samir dankbar an.
Vertrauen... auch wieder nur ein Wort, aber ich verstand es gut. Er erwiderte den Blick, voller Zuneigung und Liebe. Ich beugte mich zu ihm und küsste ihn. Ich war überwältigt von seinem Vertrauen, dessen ich gar nicht bewusst war.
Lorca hatte ein seltsam zufriedenes Lächeln auf dem Lippen. Doch als ich genauer hinsah, war es weg. Wahrscheinlich hatte ich eine Sinnestäuschung.
„Zoran...“, murmelte Lorca und es war Wut heraus zu hören.
„Vor ein paar Jahren hatte ich ein wundervolles Mädchen kennen gelernt. Sie war voller Lebensfreude und ich liebte ihre reizende Art. Und sie liebte mich. Dies änderte sich nicht ,als ich ihr erzählte, was ich war. Im Gegenteil schien es die Liebe zwischen uns sogar gefestigt zu haben“, erzählte er.
„Aber dann musste dieser verdammte Jäger, Zoran, auftauchen.“ Seine Hände ballten sich zu Fäusten, seine Arme zitternden unter der Anspannung.
„Er stellte sie vor der Wahl: Leben oder Tod. Und um mich zu schützen wählte sie den Tod.“ Das Zittern wurde stärker. „Ich konnte nichts machen.“
Unvermittelt drehte Lorca sich um und verschwand aus dem Zimmer. Laut knallte die Tür zu und es war Totenstille. Nach ein paar Minuten wagte ich die Ruhe zu unterbrechen, aufgewühlt von der Geschichte.
Mein Blick wanderte von der geschlossene Tür hin zu meinem Freund. Samir sah seinem Bruder nicht nach, sondern auf dem Bett hinunter. Ein schmerzlicher Ausdruck in den Augen. Ich rückte näher an ihn heran, der Leidensdruck gefiel mir nicht. Auch hatte ich das Bedürfnis Lorca nach zu gehen, einfach bei ihm zu sein. Doch ich blieb, wo ich war. Woher kam dieses Gefühl?
„Was tat Zoran?“
Samir drückte mich an sich und grub sein Gesicht in meine Halsgrube. Seine Stimme klang dumpf, aber ich verstand jedes Wort.
„Zoran wusste es vielleicht nicht, doch er stellte sie wirklich vor eine Wahl. In seinem verdrehten Denken hielt er es nicht für möglich, dass man auch zu ‚Monstern’ halten konnte oder auch noch für sie kämpfte.“ Er seufzte.
„Lorca und Zoran trafen sich zufällig und es kam zu einem Kampf. Lorca gewann knapp und der Jäger lag blutend auf dem Boden. Mein Bruder wies ihn an, dass er ihn auch töten könnte, doch wäre er nicht so eine Bestie wie manche Vampirjäger. Dann ging er auf Lyra zu, die zufällig dabei war. Er hielt den Hinweis für klar genug und wollte mit ihr verschwinden. Doch weit kam er nicht. Wie hätte er auch ahnen können, das ein Mensch so hinterhältig sein konnte. Auch ich hatte sowas noch nie erlebt, noch glauben können.
Zoran zog eine Beretta, geladen mit Silberkugeln. Wollte ihn, feige wie er war, in den Rücken schießen. Lorca stand vor Lyra und wollte sie berühren. Bekam nichts von der tödlichen Gefahr mit. Doch Lyra sah, was geschah, und wusste gleichzeitig, dass sie Lorca niemals rechtzeitig warnen konnte. So tat sie das einzige, was ihr in diesem Moment einfiel. Sie fasste Lorca an den Armen und drehte sich mit ihm, mit aller Kraft. Als die Umdrehung zuende war, hörte Lorca den lauten Schuss und spürte wie das Mädchen zusammen zuckte.
Entsetzt musste mein Bruder zusehen, wie Lyra in seinen Armen starb. Er wusste, dass jede Hilfe zu spät war. Als es vorbei und er seiner Umgebung wieder bewusst wurde, war der Vampirjäger verschwunden. Ich vermute, er hatte keine weitere Kugel und wollte nicht weiter sein Leben auf Spiel setzen. So ein elender Feigling...“
Voller Unglaube hörte ich zu. Samirs Griff wurde in den letzten Sätze immer kräftiger, bis ich dann ein Keuchen nicht unterdrücken konnte.
Sofort wurde die Umklammerung weicher. Samir blickte mich schuldbewusst an, doch gleichzeitig bemerkte ich die aufgewühlte Emotionen unter der Oberfläche brodeln.
Warum berührte ihn das so stark? Er war doch nicht dabei gewesen, oder?
Samir erriet meine Gedanken.
„Marc, denk immer daran. Wir sind Vampire und Zwillinge. Was mein Bruder fühlt, das fühle ich auch. Unsere Verbindung ist sehr stark.“
„Ich verstehe.“ Ich hatte es wirklich vergessen, aber jetzt wurde es mir bewusst, was Zwillinge wirklich verband oder eher gesagt speziell diese beiden Brüder.
„Es tut mir Leid.“ Ich wünschte niemand müsste sowas durch machen. Ein solch sinnloser Mord und der Mörder kam ungeschoren davon! Kein Wunder, dass Lorca so kalt und abweisend war.
Samir schüttelte den Kopf. „Es ist Vergangenheit und Zeit kann Wunden heilen“, murmelte er.
Meine Gedanken kreisten in wilden Spiralen. Das war doch unglaublich. Und das sollten Menschen sein? Es klang eher nach grausamen, gedankenlosen Bestien mit einem kalten Herz. Ob die anderen Jäger bei Zoran auch so waren? Ich wusste nicht warum, doch als ich daran dachte, tauchte vor meinen Augen das Bild von Andrew auf. Warum kam er plötzlich in meinen Gedanken vor?
„Ich bring dich zu deiner Wohnung.“
Ohne dass ich bemerkt hatte, hatte Samir seinen Kopf gehoben und blickte von oben auf mich herab. Irritiert starrte ich ihn. Wie kam er jetzt darauf.
„Hä?“, war meine geistreiche Frage darauf. Und warum sah er mich mit so einem besorgten Ausdruck im Gesicht an?
Doch im nächsten Moment lächelte er wieder und umfasste vorsichtig mein Gesicht. Wie immer waren seine Lippen weich und nachgebend.
„Noch mal zum Mitschreiben, Marc. Ich fahr dich jetzt zu deiner Wohnung und du packst deine Sachen, weil du eine Weile hier bleibst. Es war zwar dunkel, aber ich kann mir nicht sicher sein, ob der Vampirjäger, der dich überfallen hatte, auf irgendeine Weise wieder erkennt. Dann wärst du in Gefahr und dies will ich nicht riskieren. Verstehst du?“
Erst wollte ich protestieren. Denn wie sollte ich mein Verbleib Rick erklären? Aber dann tat ich es doch nicht. Zum einen aufgrund der begründeten Gefahr und zum anderen... gefiel mir der Gedanke für eine Weile Tag und Nacht in seiner Nähe sein zu können. Trotzdem gab ich nicht so leicht nach.
„Wie lange, denkst du, soll ich hier bleiben?“
Samir machte ein nachdenkliches Gesicht. „Grob geschätzt mindestens zwei Wochen. Höchst vermutlich werden sie jede Nacht nach uns Ausschau halten. Nach ungefähr sieben Tagen werden sie vermuten, dass wir nicht mehr in der Stadt sind. Sie bleiben nie lange an einem Ort, wenn sie denken es erfolgreich von Vampiren befreit zu haben. Da die Zeitspanne von mir nur eine Vermutung ist, bleibst du mindestens vierzehn Tagen.“
Sein Blick wurde bittend, aber auch gleichzeitig auffordernd.
„Natürlich nur, wenn du auch zustimmst. Denn gegen deinen Willen möchte ich nicht entscheiden.“
Er hatte verdammt nochmal Recht. Natürlich werden die Jäger versuchen uns zu erwischen. Wer weiß, was sie sich in ihrer verdrehten Denkweise einbildeten?
Bestimmt nicht, dass ich freiwillig mit einem Vampir unterwegs war.
„Nun gut, dann sollten wir langsam los. Und ich hoffe, du weißt, dass du mich die ganzen Tage an der Backe hast“, meinte ich scherzend.
„Es könnte mir nichts besseres passieren.“ Es schien, als wäre er von einer schweren Last befreit wurden.
Während der Fahrt im Auto, musste ich an Lorca denken. Ich hatte ihn seit seinem emotionalen Ausbruch nicht gesehen. Vielleicht war er auch gar nicht mehr im Haus. Ich machte mir Sorgen um ihn. Hoffentlich steigerte er sich nicht zu sehr in seine Vergangenheit. Das von vorhin schien alte Wunden aufgerissen zu haben. Warum nochmal machte ich mir so viele Gedanken und Sorgen?
Ich merkte, wie das Auto langsamerer wurde und erblickte meine Wohnung.
War ich der ganzen Fahrstrecke psychisch abwesend gewesen, dass ich es nicht mitbekam? Auch Samir sah etwas überrascht um sich.
War auch er in einer anderen Welt gewesen? Aber er war doch der Fahrer!
Als hätte er meine Gedanken erraten, legte er eine Hand auf meine Schulter.
„Keine Angst. Selbst wenn wir von der Fahrbahn abgekommen wären hätte ich schnell reagieren“, grinste er mich frech an.
„Ja, klar“, meinte ich ironisch, bevor er mich aus dem Auto schob, nachdem er neben der Bordsteinkante hielt. Ich sah ihn etwas verwirrt, weil er keine Anstalten machte auszusteigen.
„Willst du im Auto sitzen bleiben?“
„Nein, ich muss noch schnell wohin. Meinem Chef Bescheid sagen, dass ich Urlaub nehme. Er meinte sowieso letztens, dass es überfällig wird. Pack du nur deine Sachen und was du sonst noch brauchst. Ich werde dann in einer halben Stunde vor deiner Haustür stehen.“
„Okay, ich werde mich beeilen.“
Ich schlug die Tür zu und wartete bis Samir hinter der nächsten Kurve verschwand.
Ich atmete tief die eiskalte Luft ein. Die Straße lag im Dunkeln, sowie auch die Lichter in den Häusern erloschen waren. Kein Wunder, da es langsam auf 2 Uhr nachts zuging. Ich hörte ein näher kommendes Brummen, höchstwahrscheinlich ein Fahrzeug.
Etwas in mir, die Instinkte, raten mir ein Versteck zu suchen. Ohne das ‚Warum’ beantworten zu können, stellte ich mich hinter eine große Tonne. Jetzt konnte man mich von der Straße aus und zusätzlich im Dunkeln nicht sehen.
Scheinwerfer beleuchten nun die Straße vor mir und ein schweres, schwarzes Auto fuhr mit geringer Geschwindigkeit an mein Versteck vorbei. Direkt vor meiner Tonne wurde noch einmal an Geschwindigkeit abgenommen und mein Atem stockte. Doch, wer auch immer in dem dunklen Wagen saß, hielte nicht.
Warum auch? Es war unmöglich, dass sie mich entdeckt hätten.
Plötzlich gaben die Unbekannten Gas und rasten um die nächste Häuserecke.
Als der Wagen verschwand, setzte wieder mein Verstand ein. Behutsam normalisierte sich meine Atmung und ich schüttelte über mich selbst den Kopf.
Warum hatte ich mich verborgen? Dies war doch nur ein Fahrzeug. Und aufgrund des Fahrstils möglicherweise gesteuert von ein paar Betrunkene.
Wütend auf mich, stolperte ich ins Mietshaus und schloss meine Wohnungstür auf. Ohne Licht zu machen, ging ich durch die Zimmer, bis ich mein Schlafzimmer erreichte. Unter dem Bett zog ich einen großen Koffer hervor und begann wahllos Sachen hinein zu werfen. Es dauerte keine 10 Minuten bis ich das nötigste hatte und mich erschöpft auf dem Boden setzte, da mein Gepäck auf dem Bett lag.
Müde schloss ich für einen Moment die Augenlider und lehnte mich ans Bett. Beinahe wäre ich eingeschlafen, hätte ein aufsehenerregendes Geräusch mich nicht aus der wohltuende Müdigkeit gerissen.
Schritte...
Gespannt legte ich meinen Kopf auf eine Seite und horchte angestrengt.
Schritten waren eigentlich nicht ungewöhnlich, aber dass sie in meiner Wohnung erklangen, beunruhigte mich.
Leise stand ich auf und bewegte mich zu der angelehnten Tür. Das Geräusch war verstummt, doch an eine Einbildung wollte ich nicht glauben.
Nervös wurde mir bewusst, dass das Zimmer, wo ich mich befand als einziges erhellt war. Schneller als ich denken konnte, hatten meine Finger den Lichtschalter gefunden und drückten ihn.
Finsternis umhüllte mich und ich stand reglos an der Tür.
Was sollte ich jetzt tun? War da wirklich ein Eindringling? Wie lange verdammt nochmal brauchte Samir noch?
Ein Klirren ließ mich erschrocken zusammen zucken. Es kam aus der Küche.
Ich musste sofort von hier verschwinden!
Aufs Äußerste gespannt, öffnete ich die Tür in Zeitlupe. Wollte ein verräterisches Quietschen verhindern, was mein Standort verraten hätte. Doch vielleicht wusste der Unbekannte es schön längst. Hatte er vorher das Licht gesehen? Nein, sonst wäre er hier und nicht in der Küche.
Lautlos trat ich auf dem Flur. Die Geräusche waren verstummt und die Stille lag wie ein erstickendes Tuch auf mir.
Ich wusste nicht, ob der Eindringling noch in der Küche oder woanders rum geisterte. Ich spürte, wie die Angst mir die Kehle zu schnürte.
Mit lautlosen Schritte bewegte ich mich auf die Wohnungstür zu.
Plötzlich hörte ich ein Rascheln vor mir.
Mit angehaltenen Atem presste ich mich an die Wand und versuchte mich so schmal wie möglich zu machen. Irgendjemand schlich vor mir den Flur entlang und zwar auf mich zu.
Und dieser war wirklich fast lautlos, doch die Aufregung schärfte meine Sinne enorm. Fieberhaft tastete ich nach einem schweren Gegenstand. Ich ergriff etwas, eine Vase.
Ohne nachzudenken, holte ich mit dem schweren Ding aus und schlug zu.
Ich hörte ein schmerzhaftes Stöhnen, als ich traf und wie ein Körper zu Boden stürzte. Die Stimme kam mir bekannt vor. Egal, ich durfte die Chance nicht vorbei ziehen lassen. Ich stieg über die Person und strauchelte, als eine kräftige Hand mich Knöchel packte. Mit einem heftigen Ruck befreite ich mich und schaffte es irgendwie nicht zu fallen. Das Herz klopfte mir bis zum Hals.
Ich rannte zu der aufgebrochenen Wohnungstür und wollte sofort das Mietshaus verlassen. Doch etwas krachte völlig unerwartet in mich und schleuderte mich mit Wucht gegen die Wand neben der Tür. Ich keuchte vor Schmerzen und sank unwillkürlich zusammen. Im ersten Moment der Kräfte beraubt.
„Hallo, Marc. Schön, dich kennen zu lernen“, sprach eine Stimme, die mir völlig fremd war. Sie waren zu zweit gewesen!
Jemand hockte sich vor mich hin und tastete nach meinem Hals. Ich versuchte mich zu wehren, war aber noch immer von dem Aufprall mit der harten Wand benommen, sodass ich nur eine ungenaue Armbewegung zustande bekam. Finger fanden eine bestimmte Stelle im Halsbereich und drückten zu.
Im nächsten Moment sah ich schwarze Punkte vor meinen Augen, die immer größer wurden und dann alles verschlangen.
Bewusstlos sackte ich zusammen.
Tag der Veröffentlichung: 05.02.2010
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