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Abschied von meiner Jugend

Da stand ich nun also. Leicht hibbelig in meinem besten Anzug, während mir wegen der unerbittlich brennenden Sonne dicke Schweißtropfen über den Rücken rannen. Dabei hatte ich die große Entlassungsfeier eigentlich gerade hinter mich gebracht und die ganze Aufregung gut überstanden. Das gerade erhaltene Abiturzeugnis in meiner Hand flatterte ganz leicht im Wind. In dem Gewühl um mich herum konnte ich viele meiner Freunde erspähen. Eingerahmt von ihren stolzen Familien, scherzend mit ihren Freunden oder im Gespräch mit einer Lehrkraft. Meine Güte, wie war es nur zu diesem Tag gekommen? Wie schick wir doch alle aussahen, keine Spur von den üblichen Jeans und Kapuzenpullovern. Unwillkürlich musste ich grinsen. Doch während ich mich ehrlich und aus voller Seele über diesen Tag freute, trat dennoch eine kleine Träne wehmütig in meinen Augenwinkel. Ich drehte mich noch einmal um und warf einen letzten verklärten Blick zurück auf das große baufällige Gebäude, das für mich neun Jahre lang ein Stück Heimat bedeutet hatte. Wie konnte es bloß sein, dass jetzt alles vorbei war? Nach all den Jahren … Es war an der Zeit Abschied zu nehmen.

 Ich fühlte mich in all den Jahren der Institution Schule eigentlich nie mehr verbunden als alle anderen Jugendlichen meines Alters auch. Es war ein cooler Ort, um seine Freunde zu treffen und gemeinsam in den Pausen zu lachen. Um Neuigkeiten auszutauschen und zusammen Spaß zu haben. Eher weniger, um konzentriert zu lernen und sich einen möglichst guten Schulabschluss zu erarbeiten – so viel Ehrlichkeit muss sein. Folglich versandete meine während der Grundschulzeit noch herausragend gut gestartete Schulkarriere schon während der Orientierungsstufe am Gymnasium ziemlich schnell in der typischen Mittelmäßigkeit. Ich hatte ein paar starke und ein paar weniger gute Fächer, sah angesichts lockenderer Freizeitangebote die Schule größtenteils als Zeitverschwendung an und hatte spätestens ab der Pubertät zusammen mit allen meinen Klassenkameraden den Arbeitseifer eines handelsüblichen Langzeitarbeitslosen erreicht.

 Entsprechend waren auch meine letzten drei Jahre in der Oberstufe komplett durchschnittlich. Während ich mir durch die schriftlichen Deutschklausuren immer mal wieder zu persönlichen Erfolgserlebnissen verhelfen konnte, erklären sich die Naturwissenschaften und ich gegenseitig den Krieg, was sich dann zumeist auch unschön im Halbjahreszeugnis niederschlug. Während der vielen Jahre am Gymnasium hatten mir verschiedenste Klassenkonstellationen, gemeinsame Ausfahrten und vermutlich auch das Schicksal etliche Freunde beschert, die ich nun mein Leben lang nicht mehr missen möchte. Dennoch war unser letztlicher Abiturjahrgang mit seinen vier unterschiedlichen Profilen hinter der Fassade ungefähr so harmonisch wie ein Laubbläser auf einem Streicherkonzert. Warum also zitterten mir jetzt die Knie, wo ich zwischen all diesen Wegbegleitern stand, die ich teilweise für lange Jahre oder sogar niemals wiedersehen würde, was mir bei einigen nur recht sein konnte?

 Es war der Schmerz des Abschieds. Abgesehen von meiner Freizeit habe ich im Grunde den gesamten bewusst erlebten Teil meines Lebens damit verbracht zur Schule zu gehen. Die tägliche Fahrt mit dem Rad über die immer selben Straßen gehörte für mich ebenso zu meinem Alltag, wie die Käsebrötchen aus der Cafeteria in der Pause oder die verhasste Spanischstunde am Freitagnachmittag. Mit einem Schlag wurde mir klar, dass dieses Kapitel meines Lebens nun abgeschlossen war und ich es nicht mehr würde zurückerlangen können. All diese wunderbaren Stunden, in denen ich zusammen mit meinen Freunden und Klassenkameraden gelacht habe, all diese Klausuren und Projekte und Unterrichtsstunden … das alles lag nun hinter mir und war Teil eines Lebensabschnitts, der auf der Entlassungsfeier gerade eben seine letzten glücklichen Atemzüge ausgehaucht hatte. Die Träne in meinem Augenwinkel wurde größer.

 Langsam wanderten meine Finger zur Innentasche meines Sakkos, in der ich die Rede für die eben gerade abgeschlossene Abiturientenentlassung verwahrt hatte. Meine Rede war extrem gut angekommen, bei Schülern und Eltern ebenso wie bei den Lehrern. Ich hatte rückblickend von unserer gemeinsamen Schulzeit erzählt, die Leute mit kleinen Anekdoten zum Schmunzeln gebracht und meinen Mitschülern dann aus ganzem Herzen alles Gute für die Zukunft gewünscht. Doch erst jetzt – nach der Feier und in den Sekunden des endgültigen Abschieds - verstand ich, dass man mir bei der Übergabe des Abiturzeugnisses nicht nur die Tür zu einem vollkommen neuen Lebensabschnitt aufgestoßen hatte. Man hatte ebenso die Tür zu meiner Schulzeit verschlossen. Ganz leise nur, aber dennoch bestimmt und dauerhaft. Und nun war sie fort.

Doch in meinem Kopf würde ich mir diese Momente bewahren und an ihnen festhalten. Und wohin mich mein Lebensweg nun auch führen mag, stets werde ich mich daran erinnern können, wo und mit welchen Leuten dieser Weg begann.

Als die kleine Träne sich schließlich aus meinem Augenwinkel löste und voller Melancholie zu Boden fiel, fühlte ich mich trotz des Abschieds glücklicher als jemals zuvor. Man kann nicht zu neuen Ufern aufbrechen, ohne etwas hinter sich zurückzulassen. Und genau deshalb musste ich nun loslassen, so schwer es mir auch fiel. Als ich mich schließlich zum Gehen wandte und die Träne schlussendlich auf dem Boden aufprallte, fiel mit ihr zusammen die Tür zu meiner Schulzeit ganz leise und endgültig hinter mir ins Schloss.

Wie gut, dass ich den Schlüssel zu dieser Tür in meinen Erinnerungen und in meinem Herzen trage – ein Leben lang.

Und dann ging ich lächelnd den ersten Schritt. Weg von der Schule. Und hinein in einen neuen Lebensabschnitt.

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 12.07.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle, die mich während meiner Schulzeit begleitet haben.

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