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Todesnacht

„Na komm schon, Anna. Oder hast du etwa Angst?“

Anna hatte tatsächlich Angst. Aber die ließ sie sich vor ihrer besten Freundin Laura natürlich nicht anmerken. „Nein, ich habe keine Angst“, setzte Anna an und schob eilig „Wirklich nicht!“ hinterher, als Laura sie mit gespielter Skepsis in der Dunkelheit des Waldes musterte.

Laura grinste verwegen und nahm lässig einen tiefen Schluck aus der Getränkedose in ihrer Hand. „Na, das werden wir schon noch herausfinden“, hauchte sie Anna in ihrer mystischsten Gruselstimme ins Ohr. „Du weißt doch noch, was damals dort passiert ist, oder? Die alte Geschichte? Von dem kleinen Mädchen, das sich eines Nachts die alte verwucherte Hütte hier im Wald ansehen wollte und dann Tage später brutal zugerichtet tot auf der Türschwelle gefunden wurde?“ Laura blickte Anna tief in die Augen und grinste erneut ihr verwegenes Lächeln.

Nicht zum ersten Mal an diesem Abend musste Anna schwer schlucken. Natürlich kannte sie die Geschichte. Überall hatte es damals in der Zeitung gestanden. Wochenlang wurde in ihrem Dorf über nichts anderes mehr gesprochen. Ein richtiger Mörder, hier in ihrem kleinen Städtchen. Und dann auch noch einer, der sich an kleinen Mädchen vergriff. Es war der Skandal des Jahres gewesen und selbst damals hatte Anna schon mitbekommen, wie furchtbar ein solches Ereignis für ihr verschlafenes Dorf war. Annas Mutter hatte ihr damals verboten den großen finsteren Wald am Rande ihres Städtchens jemals wieder alleine zu betreten. Aber das hatte Anna sowieso nicht vorgehabt. Sie hatte viel zu viel Angst davor selber in eine solche Situation zu geraten und daher den Wald mit seinem wuchernden Dickicht aus Ästen und dem Labyrinth aus einsamen Feldwegen jahrelang gemieden.

Doch mittlerweile lag der schreckliche Mord an dem jungen Mädchen etliche Jahre zurück. Die Erinnerungen der Dorfbewohner an die Gräueltat verblassten und Anna war erwachsener geworden. Zwar fühlte sie sich in dieser Nacht zwischen den finsteren Bäumen, die wie langfingrige Schatten nach ihr zu greifen schienen, immer noch unbehaglich. Doch schließlich hatte sie ihre beste Freundin Laura mit dabei. Was konnte da schon passieren?

Anna schwankte leicht und wäre fast auf einer glitschigen Wurzel ausgerutscht, die kaum sichtbar aus dem schlammigen Waldboden ragte. Vermutlich hätte sie weniger trinken sollen. Zusammen mit Laura und ein paar anderen Freunden hatte sie vorhin bei einer Freundin gefeiert und sich dazu verleiten lassen, mehr zu trinken als sie es eigentlich gewohnt war. Während Laura das ganze hochprozentige Zeug scheinbar mühelos in sich hineinschütten konnte, wurde Anna oft schon nach dem ersten Bier schlecht. Und dabei war es vorhin nun wahrlich nicht geblieben. Als Laura also die Strecke durch den Wald als kürzesten Rückweg nach Hause vorgeschlagen hatte, wollte Anna eigentlich erst protestieren. Aber ermutigt vom Alkohol und beschämt davon sich immer noch vor dem dunklen Wald und seinen Geheimnissen zu fürchten, hatte sie großspurig zugestimmt. Doch vorhin hatte Laura nichts davon erwähnt, ausgerechnet an der alten Hütte vorbeigehen zu wollen. Genau dort, wo sich damals der Mord ereignet hatte. Anna wollte einfach nur den normalen und gut beleuchteten Weg benutzen und schnellstmöglich nach Hause. Dort konnte sie sich bestimmt sowieso erst einmal auf eine Strafpredigt ihrer Mutter gefasst machen. Aber als Laura sie eben gefragt hatte, konnte Anna ihr natürlich nicht erzählen, wie sehr sie die alte Hütte fürchtete. Auch wenn sie sich selbst im Stillen immer wieder einredete, dass ihr Verhalten kindisch, lächerlich und vollkommen unangebracht war.

Annas Blick fiel zurück auf Laura, die leicht torkelnd durch den Wald wankte und sie beide immer weiter ins finstere Dickicht führte. „Bloß gut, dass sie den Täter damals gefasst haben“, redete sich Anna mit bemüht sachlicher Stimme selber Mut zu und wandte sich dann an Laura: „Stell dir bloß vor, er würde heutzutage immer noch durch den Wald schleichen und auf neue Opfer warten.“ Laura drehte sich zu ihr um und verstellte breit grinsend die Stimme zu einem schiefen Singsang: „Oh, vielleicht tut er das ja … wer weiß schon, ob er nicht ausgebrochen ist und nun nach neuem Blut dürstet?“ Anna entglitten für einen Moment vor Angst die Gesichtszüge und Laura lachte sie laut brüllend aus. „Oh Mann, du solltest wirklich mal dein eigenes Gesicht sehen, Anna. Du bepisst dich ja fast schon vor lauter Angst. Nun mach dir mal nicht ins Höschen.“ Kichernd zerdrückte sie die Getränkedose in ihrer Hand und schleuderte sie achtlos gegen einen nahen Baum.

Die Sichel des Mondes war mittlerweile hinter dichten Wolken verschwunden, was den Trampelpfad vor Annas Füßen nur noch finsterer werden ließ. Hier, abseits der Hauptwege, gab es keine Beleuchtung mehr und entsprechend langsam kamen sie voran. Anna konnte Laura in einiger Entfernung vor sich grölen und kichern hören, während sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte, um in der Dunkelheit nicht auf dem schlüpfrigen Matschweg auszurutschen. Sie kannte sich in dieser Ecke des Waldes nicht aus. Doch allzu weit konnte es nicht mehr sein. Plötzlich wurde ihr Oberkörper nach unten gerissen und sie landete mit lauten Klatschen in einer Pfütze. Erschrocken spähte sie mit hämmerndem Pulsschlag durch die Dunkelheit. Aber dort war niemand zu erkennen - oder?

Dann fiel ihr Blick auf ihre Schuhe und sie erkannte, dass sie bloß über ihre eigenen offenen Schnürsenkel gestürzt war. Eilig rappelte sie sich auf, die Hose vom klebrigen Matsch durchnässt. Beschämt fummelte sie mit klammen Händen ihre Schnürsenkel eilig zu einer Schleife zusammen. Erst jetzt fiel ihr auf, dass Laura gar nicht bei ihr stand und sich über ihr dämliches Missgeschick kaputtlachte. „Laura…?“, rief Anna zögerlich in den Wald und als keine Antwort kam schrie sie erneut, diesmal aus voller Kehle: „LAURA?!“

Doch auch nach dem zehnten Ruf in die Finsternis kam keine Antwort zurück. Nur der Wind schickte ein unheilvolles Flüstern durch den Wald und ließ Anna in ihren durchnässten Klamotten vor Kälte und Angst erschaudern. Von einem unwillkürlichen Adrenalinstoß gepackt, lief Anna los. Mitten hinein in die Dunkelheit vor ihr. Dreck und Schlamm spritzen ihr ins Gesicht als sie durch die glitschigen Pfützen rannte, aber es war ihr egal. „Laura!“ schrie sie immer wieder und das Echo ihrer Worte hallte von den nahen Bäumen zurück. „Lauraaaa!“

Nach einiger Zeit blieb Anna abrupt stehen und stützte sich keuchend auf ihre Knie. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie gerannt war, und wie oft sie gerufen hatte. Aber ihre Kehle brannte vom Schreien und ihre Füße schmerzten qualvoll in ihren vollkommen durchweichten Schuhen. Panisch und mit aufgerissenen Augen drehte sie sich um sich selbst und versuchte fieberhaft vertraute Umrisse zwischen den Bäumen in der Finsternis auszumachen. Dann plötzlich erkannte sie schemenhaft etwas in der Dunkelheit, keine 40 Meter von ihr entfernt. Annas Herz setzte einen Schlag aus. Das war sie, kein Zweifel.

Neben ihr ragte die Hütte aus dem Waldboden.

Sie musste genau an der Stelle sein, wo vor Jahren das kleine Mädchen von einem Irren zerfleddert worden war. Es war dieselbe Hütte, die Anna jahrelang in ihren Albträumen verfolgt hatte. Kalt und stumm. Ein drohendes Versprechen in der Finsternis.

In diesem Moment durchschnitt ein kehliger Aufschrei die Stille des Waldes, wie ein gewaltiger Peitschenhieb. Anna brauchte keine Sekunde, um zu realisieren, dass der Schrei von der rückseitigen Wand der Hütte kam … und dass sie die Stimme kannte, besser als jede andere Stimme auf dieser Welt. Ohne nachzudenken, rannte sie los. „LAURA!“

Es waren eigenartige Sekunden als Anna zu der Hütte sprintete. Sie war panisch geängstigt von dem, was sie auf der Rückseite erwarten würde. Die Kälte kroch über ihren gesamten Körper und stellte die feinen Härchen auf ihrer Haut auf. Trotzdem sog sie gierig die kalte Nachtluft in ihre Lungen und rannte weiter, mit rutschigen Füßen auf dem unebenen Waldboden und wild pochender Halsschlagader. Ihr Kopf war vollkommen leer und in der Dunkelheit des Waldes verspürte sie nur noch Angst. Angst um Laura. Angst um sich selbst. Angst vor der verdammten Hütte und dem, was auf der anderen Seite lauerte.

Schwer keuchend erreichte Anna die Längsseite der Hütte. Ein erneuter Aufschrei ließ sie wie paralysiert innehalten und gebannt lauschen. Doch das ohrenbetäubende Hämmern ihres eigenen Herzens macht es unmöglich zu erahnen, was sich dort hinter der Ecke ein paar Meter von ihr entfernt abspielte. Hilfesuchend blickte sie zum Himmel, an dem der Mond nicht einmal mehr zu erahnen war. Anna atmete ein letztes Mal tief durch und zwang ihre zitternden Beine dazu die letzten Schritte um die Hüttenwand zu machen, den nassen Körper dicht an das raue Holz gepresst.

Ein erneuter Schrei hallte durch den Wald als Anna endlich um die Ecke bog und Laura am Boden kauern sah. Doch es war nicht Laura, die den Schrei von sich gab. Es war sie selber und sie konnte nicht mehr aufhören. Nicht, nachdem sie jetzt Laura gesehen hatte. Ihre beste Freundin Laura, wie sie sich wimmernd am Boden krümmte, bloß noch ein Haufen Fleisch in einer Lache glänzenden roten Blutes. Vollkommen unfähig dem Entsetzen in ihrem Blick durch weitere Schreie Ausdruck zu verleihen. Ihr Gesicht war eine entstellte panische Fratze. Ihr Arm stand nutzlos in einem unmöglich verdrehten Winkel von ihrem Körper ab und sie war gänzlich besudelt mit Dreck und Blut. Wo vor wenigen Minuten noch Lauras rechter Oberschenkel gewesen war, klaffte nun ein fleischiger Stumpf, aus dem frisches Blut über Lauras Körper quoll und in den Waldboden sickerte.

Anna blickte mit panisch aufgerissenen Augen auf die bizarre Szenerie, unfähig sich zu bewegen oder auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Ihre Lippen formten „Oh mein Gott!“, aber ihre Stimme versagte und so hauchte sie bloß ungehörte Laute in die Finsternis. Annas Beine knickten unter ihr weg und sie brach taumelnd an der Hüttenwand zusammen. Doch es war nicht Laura, die sich zerhackt und blutend am Boden krümmte, die ihr am meisten Angst machte. Es war der Mann, der sich wie ein monströser Schatten über ihre Freundin gebeugt hatte und wieder und wieder mit irgendeinem Gegenstand auf sie einschlug. Jeder Aufprall auf Lauras Körper wurde von einem fleischigen Klatschen begleitet. Ein widerliches Stakkato des Grauens, das in Annas Kopf wiederhallte und ihr die Sinne raubte.

Und dann war es vorbei. Die plötzliche Stille war eine unvergleichliche Wohltat für Anna. Erst als langsam ihre Sinne zurückkehren, wurde ihr langsam klar, was das plötzliche Innehalten des Mannes bedeuten musste. "Laura.", hauchte sie leise wimmernd in die kalte Nachtluft. Urplötzlich schossen ihr Tränen in die Augen und von schweren Heulkrämpfen geschüttelt schlug sie ihren Körper gegen die Hüttenwand. Flehend, mit dem körperlichen Schmerz die grauenhafte Wahrheit betäuben zu können. Tränen und Rotz liefen ihr als glitschiger Strom über das Gesicht und sie versuchte vergebens zwischen den Tränen einen Blick auf Laura zu erhaschen. Ihre beste Freundin, die dort irgendwo in der Dunkelheit vor ihr liegen musste. Aufgeschlitzt, zerschunden und verblutet. Doch die Tränen und die Finsternis machten Anna blind.

Und daher roch sie ihn auch, noch bevor sie ihn sehen konnte.

Er stank nach Alkohol und Schweiß, ebenso wie nach Blut und Innereien. Der Waldboden raschelte leise als er näherkam. Anna spürte, wie sich ihr Sichtfeld verdunkelte, als er sich langsam über ihr aufbaute. Sie hätte reagieren sollen. Sie hätte irgendetwas unternehmen müssen. Aber sie konnte nicht. Sie lag einfach nur regungslos da, den Rücken gehen das harte Holz der Hütte gepresst, die Beine hilflos und taub im Matsch vor sich. Er würde sie töten, das war klar. Schließlich hatte er auch Laura schon brutal geprügelt, aufgehackt und dann verbluten lassen. Zitternd bereitete sich Anna auf seinen Hieb vor. Vollkommen unfähig einen klaren letzten Gedanken zu fassen. Unfähig sich von ihrem Leben zu verabschieden.

Doch der Schlag blieb aus. Wimmernd in der nächtlichen Kälte hob Anna langsam ihre Hände ans Gesicht. Ihr schien als hätte sie ihren Arm seit Jahren nicht mehr bewegt. Ächzend vor Anstrengung tasteten ihre Finger nach ihren verquollenen Augen, fanden sie schließlich und wischten die Tränen grob beiseite. Sie blinzelte in die Dunkelheit vor ihren Augen, versuchte vergebens den Schatten zu erkennen, der sich mittlerweile bedrohlich nah über ihr aufgebaut hatte. Sein Geruch war zu einem beißenden Gestank geworden, der Anna in der Nase brannte und bis in ihre Eingeweide drang, die sich schmerzhaft zusammenzogen. Anna wurde schwindelig. Fast hätte sie das Bewusstsein verloren. Dann, urplötzlich, drang wie aus weiter Ferne seine Stimme an ihre Ohren.

„Ihr kriegt sie nicht. Ihr kriegt sie nicht. Ihr kriegt sie NICHT!“

Es war ein eigenartig hoher Singsang, der Anna im Kopf pochte und nur schwerlich das Rauschen des Blutes in ihren Ohren übertönen konnte. Sie sammelte all ihre verbliebenen Kräfte und fragte mit zitternder Stimme: „Wen kriegen wir nicht? Wer … wer sind sie?“

„Meine Tochter!“, fauchte der Schatten. Die Worte klangen seltsam gepresst. „Niemand nimmt mir meine Tochter. Nicht noch einmal. Nicht! Noch! Einmal!“ Mit einer ruckartigen Bewegung beuge er sein Gesicht direkt über Anna. Der Gestank wurde noch schlimmer und fast hätte Anna sich über ihre durchweichten Klamotten erbrochen. Nicht, dass es jetzt noch einen Unterschied gemacht hätte.

Ihre Gedanken rasten. Sie dachte an Laura, die wenige Meter von ihr entfernt tot in einer Pfütze aus Blut und Schlamm lag. Die Überreste ihrer Gliedmaßen in alle Himmelsrichtungen ausgestreckt. Sie dachte an ihre Mutter, die zuhause auf die Heimkehr ihrer Tochter wartete und bestimmt schon ganz krank vor Sorge war. Und sie überlegte fieberhaft, wie sie diesem Verrückten erklären konnte, dass sie ihm, seiner Tochter oder wem auch immer nie etwas antun wollten. Sie waren doch einfach nur durch den Wald gegangen. An dieser verdammten Hütte vorbei, die jetzt ihr Grab werden würde.

„Hören sie …“, setzte Anna an. Doch es war zu spät. Bevor sie die Bewegung des Schattens überhaupt registriert hatte, donnerte etwas auf sie nieder und traf sie mit voller Wucht im Gesicht. Anna konnte ihre Nasenknochen splittern fühlen und ein Schwall von Blut ergoss sich über ihre Lippen. Adrenalin durchschoss ihre Adern als der Schmerz im Gehirn ankam. In einem hilflosen Versuch von Gegenwehr schnappte sie nach Luft und öffnete ihre Lippen. Doch da wurde sie schon vom zweiten Schlag niedergerissen, fast blind vor Tränen, Blut und Finsternis. Sie gab einen spitzen Schrei von sich und versuchte mühsam ihre Hände schützend vor das Gesicht zu halten. Doch es ging alles zu schnell und ihre Arme schienen schwerer als je zuvor zu sein. Annas Bewusstsein begann zu schwinden. Fast schon war es eine Erlösung als ihr der finale dritte Schlag mit einem widerwärtigen Krachen die Schädelplatte spaltete. Ein warmer Strom ergoss sich über ihr entstelltes Gesicht, während sein Knüppel mit einem dumpfen Schmatzen in ihr Gehirn eindrang. Anna Augen rollten nach hinten und jeglicher Widerstand erstarb. Das nasswarme Klatschen als sie von der Hüttenwand abrutschte und seitlich in ihre eigene Blutlache fiel, war das letzte, was Anna jemals hören sollte.

Epilog

Zwei Tage später hatte die kleine Stadt ihre größte Schlagzeile seit etlichen Jahren. Die Titelseite der Tageszeitung wurde von einem seitenfüllenden Portrait der sogenannten „Todesnacht“ eingenommen, der zwei unschuldige Mädchen zum Opfer gefallen waren. Ausgerechnet an genau derselben Stelle, wo vor Jahren schon einmal ein junges Mädchen gewaltsam ihr Leben lassen musste. Neben dem reißerischen Protokoll der Todesnacht veröffentlichte man die Lebensgeschichte des vermutlichen Täters – des Vaters des ersten Mädchens, das vor Jahren an der Hütte am Wald vergewaltigt und getötet worden war. Im Laufe der Jahre hatte sich der Verlustschmerz des trauenden Vaters offenbar zur krankhaften Psychose entwickelt. Besessen vom Hass auf den Mörder seiner Tochter und der irrwitzigen Wahnvorstellung sein Mädchen könnte noch am Leben sein und an der Hütte im Wald auf ihn warten, hatte er sich an ihrem siebten Todestag nachts in den Wald begeben, um dort nach ihr zu suchen. Als er die Mädchen dann durch die Büsche kommen hörte, schnappte er komplett über und griff sich die nahe Axt eines Waldarbeiters, um sie abzuwehren und seine imaginäre Tochter zu schützen, die seiner Meinung nach in der Hütte auf ihn wartete. Es war eine furchtbare Art der Ironie, dass der Mann in seinem blinden Todeswahn ausgerechnet zwei Mädchen im Alter seiner eigenen Tochter tötete. Und damit sogar den Mörder seiner eigenen kleinen Mädchens noch an Grausamkeit übertraf. 30 Seiten hinter der Titelstory fanden sich die von Kondolenzschreiben eingerahmten Nachrufe zweier komplett fassungsloser Familien. Zerbrochen am Verlust ihrer Töchter.

Als Reaktion auf die unfassbaren Morde entschied man sich dazu die alte Hütte abzubrennen, um den Ort des dreifachen Schreckens zumindest symbolisch vernichten zu können. Niemand wusste mehr, wer die alte verwitterte Hütte damals gebaut hatte oder warum sie niemand jemals zu nutzen schien. Doch die Hütte war in allen Nächten dort gewesen und hatte als stummer Zeuge das Grauen miterlebt, das den unschuldigen Mädchen wiederfahren war. In der Asche der niedergebrannten Hütte wurden neue Bäume geplflanzt. Einerseits um den Ort des Grauens endgültig aus dem Wald zu tilgen und in Vergessenheit geraten zu lassen, welche Schrecken sich hier in zwei dunklen Nächten ereignet hatten. Und um neue Hoffnung zu säen. Genau auf den Ruinen des Ortes, an dem innerhalb eines Jahrzehnts das Blut dreier unschuldiger Mädchen als Opfer des menschlichen Wahnsinns in den kargen nächtlichen Waldboden gesickert war.

Impressum

Texte: Tobias Greiser
Tag der Veröffentlichung: 27.06.2013

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