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Janina atmete tief durch. Der salzige Geruch des Meeres stieg ihr in die Nase und ließ sie alle Sorgen vergessen. Der Wind schickte schwache Böen über das Land, doch in dieser milden Frühlingsnacht war ihr angenehm warm. Sie ließ sich noch mehr in der schlichten Holzbank versinken, die einsam auf dem Deich stand und blickte hinaus auf das schwarz glänzende Wasser. Die Sterne spiegelten sich in den Wellen und warfen ein diffuses Licht an den Horizont. Niemand sonst war heute Abend hier. Es war ein Moment nur für Janina. Und für ihre geliebte Mutter, die in ihren Gedanken neben ihr auf der Bank saß und milde lächelte.

Janina musste sich eine Träne verdrücken. Drei Jahre waren nun seit dem Autounfall vergangen und immer noch tat es weh. Nicht nur die Blessuren, die sie als Beifahrerin damals mit davongetragen hatte. Die Wunden waren verheilt und die Narben verblassten. Aber den Tod ihrer Mutter hatte Janina bis zum heutigen Tage nicht verkraften können. Stumm hatte sie damals die Beisetzung verfolgt und wochenlang kein Wort mehr geredet. Die Stille war ihr zu einem Hort des Trostes geworden und so machte sie sich nun an jedem Todestag ihrer Mutter auf den Weg zu dieser Bank, blickte auf das ruhige Meer und hing ihren Erinnerungen nach. In der Ruhe des Abends breitete sich ein melancholisches Gefühl in ihrer Brust aus. Janinas Finger glitten sanft über die Einkerbung, die sie damals mit einem Taschenmesser in das weiche Holz der Bank geritzt hatten. Ihre Fingerkuppen umspielten jeden einzelnen Buchstaben, bis sie schließlich mit der gesamten Hand über die drei Worte strich.

Janina und Sigrid



Janina musste trotz der milden Temperaturen kurz frösteln. Ihre Mutter war gleichzeitig auch ihre beste Freundin gewesen. An zahllosen Sommertagen hatten sie auf dieser Bank gesessen und gemeinsam der Sonne zugesehen, wie sie abends im Meer versank. Sie hatten zusammen gelacht und sich ausgemalt, wie Janinas Lebensweg wohl verlaufen würde. Hätten sie damals nur geahnt, dass Sigrid nicht einmal mehr den 18. Geburtstag ihrer Tochter miterleben würde. Janina konnte die Tränen nun nicht mehr zurückhalten. Leise wimmernd kullerten ihr dicke Tropfen aus den Augen und fielen stumm zu Boden. Sie atmete noch einmal tief die salzige Luft ein und blickte über die Schulter. Weit hinter ihr lag die Stadt in der Dämmerung, wo das emsige Treiben der Jäger und Sammler langsam erstarb. Der überschnelle Puls der Welt kam langsam zur Ruhe und alle Hektik wich der Stille. Es wurde Nacht.

Plötzlich schoss ein goldener Funkenregen über den Himmel. Janina öffnete vor Staunen den Mund und blickte mit weit aufgerissenen Augen auf das beeindruckende Schauspiel am Firmament. Das musste eine Sternschnuppe sein. Zwischen den hell leuchtenden Himmelslichtern ging die Sternschnuppe als Funkenschauer weit hinten über dem Horizont nieder und versank sanft in den dunklen Wellen. Janina schloss die Augen und dachte ganz fest an ihre Mutter. Wie es ihr wohl ging, wo immer sie nun auch sein mochte? Janina hatte sich nie überlegt, ob es so etwas wie einen Himmel gab, von dem aus Sigrid nun auf sie hinabblickte.

Doch in diesem Moment war sie sich dessen sicher. Die Sternschnuppe musste ein Zeichen gewesen sein. Ein Zeichen dafür, dass es ihrer Mutter gut ging und sie stolz auf ihre Tochter war. Janina öffnete die Augen wieder und blinzelte zwischen Tränen zum Himmel hinauf. Sigrid war irgendwo dort draußen. Irgendwo zwischen all den Sternen. Doch was noch viel wichtiger war: Sigrid war auch bei Janina. Ganz dicht, tief in ihrem Herzen.

Mit leicht zitternden Beinen stand Janina auf und holte behutsam das alte Taschenmesser aus ihrer Tasche hervor. Sie beugte sich über die Bank und ritzte von Freudentränen geschüttelt ein Herz um ihren Namen und den ihrer Mutter herum in das Holz. Sie würde ihre Mutter nie vergessen. Und die Sternschnuppe hatte ihr gezeigt, dass auch Sigrid im Herzen immer noch bei ihrer Tochter war. Eine letzte Träne fiel geräuschlos zu Boden. Dann verschwand Janina in der Dunkelheit und ließ nur die Bank zurück, die immer weiter in der Dämmerung versank. Es wurde Nacht.



Impressum

Texte: Tobias Greiser
Bildmaterialien: Coverbild von muza_4370, deviantART
Tag der Veröffentlichung: 21.02.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Eltern.

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