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Im Grunde war es nur eine Sache des Stolzes. Man könnte sogar sagen, dass ausschließlich mein Ego mich das Radfahren gelehrt hat. Ohne den Drang schon im frühen Kindesalter ein wenig anzugeben, würde ich wahrscheinlich heutzutage noch mit Stützrädern zur Schule fahren. Oder alle drei Meter umkippen, bei dem Versuch das Lenkrad gerade zu halten. Schon seltsam, dass die ansonsten bei mir kaum ausgeprägte Eitelkeit so etwas bewirken konnte. Dies ist eine 13 Jahre verspätete Dankeserklärung an einen Nachbarn, mit dem ich nie ein Wort gewechselt habe. Dennoch hat er mir unwissentlich und quasi im Alleingang das Radfahren beigebracht. Aber ich sollte euch die Geschichte wohl von Anfang an erzählen, damit ihr mir auch folgen könnt. Nun denn – Helme aufsetzen, wir radeln los!

Es war ein milder Frühlingstag und seit einigen Tagen versorgten uns die Sonnenstrahlen mit angenehmen Temperaturen. Das Mittagessen lag etwas mehr als eine Stunde zurück und ich fuhr wieder einmal mit meinem kleinen Rad durch unsere Straße. Mit meinem bunten Helm und der Fahne am Gepäckträger sah ich aus, wie das totale Klischee auf zwei Rädern. Äh… zugegebenermaßen leider noch auf vier Rädern. Denn ohne meine hilfreichen Stützräder konnte ich mich dann doch noch nicht sicher im Sattel halten. Und das im Alter von ganzen sechs Jahren. Doch während heutige Kinder problemlos schon mit drei Jahren Radfahren können, hatte ich als motorisch minderbegabtes Frühchen so meine Probleme damit.

Plötzlich wurde ich überholt. Mein Freund, der an diesem Nachmittag zum Spielen vorbeigekommen war, radelte breit grinsend an mir vorbei und bremste dann scharf. Bloß um zu demonstrieren, dass er noch schneller hätte fahren können, wenn er es denn nur gewollt hätte. Rückblickend schon aufreizend provokant für einen Fünfjährigen. Aber irgendwie auch verständlich. Schließlich war er jünger und konnte trotzdem schon deutlich mehr auf dem Fahrrad als ich – peinliches Gummikrokodil als Klingel hin oder her.

Das größte Problem an der ganzen Sache war allerdings nicht seine Schnelligkeit auf dem Rad, sondern die Tatsache, dass er bereits ohne irgendwelche Fahrhilfen das Gleichgewicht halten konnte. Was er mich in unregelmäßigen Abständen dann auch immer wieder verbal wissen ließ. Das war damals wohl der erste Anreiz, um es mal wieder ohne Stützräder zu versuchen. Irgendwann musste doch auch ich normal Fahrradfahren können, wenn das sogar dieser einige Monate jüngere Knilch schon hinbekam.

Ein paar Momente später hatte meine Mutter dann auf meine Anordnung die Stützräder entfernt und ich wagte mich erneut auf die Straße. Allerdings nur sehr vorsichtig, schließlich wurde ich jetzt nicht mehr automatisch aufrecht gehalten. Entsprechend dämlich muss ich dann auch ausgesehen haben als ich aus dem Fahrrad quasi ein Laufrad gemacht und mich mit den Füßen vom Boden abgestoßen habe, um irgendwie Schwung zu bekommen. Denn um die Füße dann tatsächlich auf den Pedalen zu belassen, fehlte mir einfach der Mut.

So ging das eine ganze Weile. Ich machte mich vor den Augen unserer Mütter zum Deppen, während neben mir ein vergleichsweise geölter Blitz über den Asphalt düste und mit Gleichgewichtsproblemen scheinbar nicht zu kämpfen hatte. Mittlerweile ging der Nachmittag langsam aber sicher in den Abend über und somit konnte es nicht mehr lange dauern, bis mein Vater von der Arbeit nach Hause kam. Reichlich frustriert, weil es mal wieder nicht klappen wollte, setzte ich zu einer letzten Tour die Straße hinauf an.

Erneut startete ich größtenteils laufend und schob mich mit den Füßen vorwärts. Auf einmal sah ich, wie mich aus dem vorausliegenden Vorgarten ein alter Herr belustigt anschaute, während er seinen Rasen mähte. Der sollte nicht auch noch zu sehen bekommen, wie blöd ich mich hier anstellte. Also nahm ich all meinen Mut zusammen, hob langsam die Beine von der Straße ab und setzte sie unsicher auf die Pedale. Ich würde garantiert jeden Moment umfallen und dann würde der Opa mich auslachen. Aber immerhin hatte ich mich bemüht und das musste er mir doch hoch anrechnen, oder? Doch nichts dergleichen passierte.

Stattdessen fuhr ich mittlerweile zögerlich strampelnd an ihm und seinem Rasenmäher vorbei und passierte wie im Flug auch die restlichen Grundstücke unserer Straße. Erst als ich am Ende angelangt war, konnte ich realisieren, was da gerade geschehen war. Ich war doch tatsächlich die komplette Strecke selber gefahren, mit den Füßen auf den Pedalen! Aufgeregt wendete ich mein Rad und raste zurück zu unserem Haus. Dabei warf ich dem alten Mann noch einen stolzen Blick zu. Da machte er aber große Augen, wie toll ich schon Radfahren konnte. Selbst heutzutage muss ich noch grinsen, wenn ich daran denke, wie eitel ich mich an diesem Tag aufgeführt habe. Aber das war halt alles eine Frage der Ehre.

Wie aufs Stichwort war mein Vater gerade vorgefahren und stieg aus seinem Wagen. Ich rannte zu ihm und rief „Papa, guck mal! Ich kann Fahrradfahren!“. Mein Vater guckte erst ziemlich verdattert, schloss mich dann aber glücklich in seine Arme. Es waren nicht mein Vater oder meine Mutter, die mir trotz redlicher Bemühungen letztlich das Fahrradfahren beigebracht haben. Es war die simple Anwesenheit des alten Mannes in Kombination mit den kindlichen Gedanken, was ein Außenstehender wohl von mir und meinen Fahrfertigkeiten denkt. Aber das hat es scheinbar gebraucht, um mir die nötige Überwindungskraft zu geben.

Seit diesem Tag bin ich in meinem Leben wohl mehrere tausende Kilometer mit dem Rad gefahren und habe bei jeder einzelnen Tour den Vorgarten passiert, an dem damals alles seinen Anfang genommen hat. Auch 13 Jahre danach ist mir dieses Ereignis als eine besondere Kindheitserinnerung fest im Gedächtnis verankert geblieben. Manchmal blicke ich sogar noch milde lächelnd zu dem Haus hinüber, in dem der alte Herr damals gewohnt hat.

Den rasanten Freund von damals habe ich nach diesem Tag übrigens nie wieder gesehen. Das lag aber wohl eher an der kurz darauf beginnenden Schulzeit als an der Tatsache, dass ich in Sachen Fahrradfertigkeiten nun zu ihm aufgeschlossen hatte. Einen wunderbaren erzählerischen Bogen kann ich mit der Geschichte trotzdem schließen. Zwölf Jahre nach dem Erlernen des Radfahrens habe ich dann meinen Kraftfahrzeug-Führerschein gemacht. Und irgendwie hatte mein damals 5jähriger Kumpel wieder seine Finger mit im Spiel. Ein ganzes dutzend Jahre, nachdem wir uns zum letzten Mal gesehen hatten. Denn mein damaliger Auto-Fahrlehrer war niemand geringeres als sein Vater. Liegt wohl in der Familie mir das Fahren beizubringen …



Impressum

Texte: Tobias Greiser
Tag der Veröffentlichung: 28.01.2013

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