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Mit einem kehligen Stöhnen wuchtete Kalle Schleppke sein massiges Gesäß aus dem Auto. Während er unbeholfen einen Arm aus der Fahrertür streckte, tastete er mit seinem dicken linken Fuß nach dem glitschigen Kopfsteinpflaster. Als er dann endlich Halt gefunden hatte und den Rest seiner 130 Kilo hinterher schieben wollte, streifte er mit seinem Hintern das Lenkrad. Die Hupe reagierte unvermittelt. Ein ohrenbetäubendes Tröten zerriss die kalte Luft, die an diesem dunklen Winterabend mit dichtem Schneeregen erfüllt war. Ein paar Straßen weiter schrie ein Betrunkener als Antwort auf das Getröte undefinierbare Sätze zurück. Kalle beeilte sich, nun möglichst schnell noch den Rest seines Körpers aus dem Auto und seinen Hintern von der Hupe zu bekommen. Als er endlich draußen war und ihm der Schneeregen ins Gesicht blies, atmete er erst einmal tief durch und stieß dann keuchend die Wagentür zu.

Was war das aber auch für eine gottverdammte Scheiße. Vor nicht einmal einer halben Stunde war er noch auf der Polizei-Weihnachtsfeier gewesen und hatte versucht, seine Kollegin Monika mit Glühwein und schlechten Witzen für ein adventliches Schäferstündchen zu begeistern. Und hätte sein Plan bei Monika keine Wirkung gezeigt, wäre da immer noch Hannah als Alternative gewesen. Irgendeine Frau musste doch mal auf seine Annäherungsversuche einsteigen. Kalle war verfluchte 25 Jahre alt, hatte aber noch nie eine feste Freundin gefunden, geschweige denn sie ins Bett bekommen. Und heute bei Monika war er sich so sicher gewesen. Ihre Augen wurden schon glasig vom Alkohol – viel hätte bestimmt nicht mehr gefehlt.

Aber dann war dieser verfluchte Anruf reingekommen. Irgendein Kerl hatte in so einem Stundenhotel auf dem Strich etwas Verdächtiges gehört. Und da hatte der Anrufer natürlich gleich auf Mord schlussfolgern müssen. Im eisigen Schneeregen schüttelte Kalle grimmig den Kopf. Als würde es in solchen Etablissements nicht genügend andere Möglichkeiten geben, warum jemand qualvoll aufstöhnte. Außerdem: Welcher Mann rief schon aus so einem Hotel freiwillig bei der Polizei durch? Und dann auch noch wegen Mordes.

Aber komischerweise wurde der Anruf von seinen Vorgesetzten ernstgenommen und damit hatte sich nur noch ein Dummer finden müssen, den man in diese Eishölle hinausschicken konnte. Da natürlich niemand seinen Hintern aus den trockenen Räumlichkeiten der Hamburger Polizeizentrale bewegen wollte, hatte man kurzerhand denjenigen losgeschickt, der den blöden Anruf angenommen hatte: Kalle. Kalle war den meisten Leuten auf dem Revier einfach nur unter dem Namen „Schwabbel“ bekannt und entsprechend niedrig angesehen. Während alle seine ehemaligen Mitbewerber schon Karriere gemacht hatten, musste er immer noch die Drecksarbeit übernehmen. Und dazu gehörten besonders solche bescheuerten Fälle wie heute Abend. Wo sich irgendein Typ totbumste, während er Monika nicht einmal die dritte Tasse Glühwein eingeflößt hatte. Zu allem Überfluss hatte jetzt auch noch sein Auto versagt und nun konnte er bei diesem Mistwetter zu Fuß weiterlatschen. Es war sowieso ein Witz. Nicht einmal Handschellen oder eine Waffe hatte er noch einstecken können. Und das auf dem Weg zu einer Mordermittlung. Es schien seine Vorgesetzten wirklich nicht sonderlich zu stören, ihn komplett unbewaffnet in das Rotlichtviertel zu schicken, um dort einen Mörder zu suchen. Bloß, weil irgendein Bekloppter im Rauschzustand durchgerufen hatte und was gehört haben wollte. Aber mit Kalle konnte man es ja machen.

Kalle stapfte weiter und hielt sich seine behandschuhten Pranken schützend vor das Gesicht. Der Schneeregen hatte sich zu einem nasskalten Sturm entwickelt. Was würde seine Mutter nur dazu sagen, wenn er ihr erzählen würde, was bei seiner Arbeit wirklich abging? Schließlich hatte sie ihm damals zu der Bewerbung bei der Polizei geraten. „Da ist immer viel los, Kalle. Da kannst du was erleben. Du stehst doch so auf diese Actionfilme.“, hatte sie ihm so oft gesagt. „Und außerdem hast du dann einen finanziell abgesicherten Job. Du arbeitest schließlich beim Staat und Staaten können nicht pleitegehen.“ Unter seiner Wintermütze mit Bommel musste Kalle schief grinsen. Sollte sie das doch mal ihrem griechischen Nachbarn Dimitri erzählen.

Mittlerweile hatte sich Kalle bis kurz vor seinem Zielort durchgearbeitet. In der eisigen Dunkelheit des Winters waren kaum Menschen unterwegs und so stapfte Kalle einsam und vor Kälte zitternd durch den Schneematsch. Der Straßenstrich lag nun vor ihm und sah ganz anders aus als er ihn sich immer vorgestellt hatte. Wie eine tote Allee schlängelte sich die Straße in die Entfernung und verlor sich allzu bald im Schneeregen. Hin und wieder konnte Kalle die Umrisse einer Prostituierten erkennen, die wie knochige Bäume die beinahe ausgestorbene Straße säumten. Weiter hinten ließen sich die Umrisse der Hotels ausmachen, in denen die leichten Mädchen ihre Arbeit verrichteten. Die Häuser lagen im Dunkeln, die Fenster waren verhangen und nur hin und wieder schickte vereinzelt blinkende Leuchtreklame diffuses Neonlicht durch den Schneeregen. Das Blinken reflektierte sich in den Tropfen und auf der nassen Straße. Kalle kniff die Augen zusammen, um von dem Flackern keine Kopfschmerzen zu bekommen. Von dem bisherigen Fußmarsch war ihm sowieso schon schwindelig.

Es war eine gespenstische Szenerie. Irgendwie wirkte der Strich ziemlich leer und verlassen. Kalle hatte deutlich mehr Prostituierte erwartet. Aber vielleicht mussten selbst die in der Weihnachtszeit nicht ständig arbeiten. Oder sie hatten sich aufgrund des Mistwetters bereits in die Hotels zurückgezogen. Doch was wusste er schon davon. Vielleicht sah es hier ja auch immer so aus. Kalle selbst hatte zwar schon mehrfach mit dem Gedanken gespielt, eines Abends auch hierherzufahren, um sich den Lachs buttern zu lassen. Schließlich waren alle seine normalen Annäherungsversuche zu Frauen bislang fehlgeschlagen und Kalle konnte nicht verhehlen, dass er sich vor allem nach Sex sehnte. Warum also hätte er es nicht Unmengen von Männern gleichtun und hierher kommen sollen? Aber letztlich hatte er den Gedanken immer wieder verworfen. Zu Hause vor dem Fernseher in seinen Bärchenpantoffeln war es erstens viel gemütlicher als hier draußen im Unwetter. Und zweitens wusste er einfach nicht, wie er mit der Prostituierten umgehen sollte. Was sollte man zu so jemandem sagen? Wie sollte man sich verhalten? Kalle wusste es nicht und somit war es bisher nie zu einem abendlichen Besuch in dieser Gegend gekommen. Wobei Kalle es in Anbetracht des heutigen Sauwetters auch gerne belassen hätte.

Kalle musste husten, schob sich eilig einen Bonbon in den Mund und blieb dann vor einem der Hotels stehen. So, das hier musste es sein. Der ominöse Anrufer hatte ihnen diese Adresse genannt. Von außen war nichts zu erkennen, aber das musste natürlich nichts heißen. Bei dem, was dort drinnen vermutlich alles abging, würde ein Mord wohl kaum auffallen. Kalle musste grinsen. Nur, dass normale Tatorte üblicherweise mehr nach Blut als nach anderen Körperflüssigkeiten rochen. Kalle hustete noch einmal und klopfte sich angewidert eine Ladung Schneematsch vom Mantel. Mal sehen, ob er irgendwo den werten Herrn Anrufer zu fassen bekam, um ihm ein paar Fragen zu stellen. Und wehe dieser ganze Einsatz stellte sich als blöder Scherz heraus. Gerade als er seine Hand nach der Tür des Hotels austrecken wollte, hörte er auf einmal eine rauchige Frauenstimme von der Seite.

„Na, Schnucki. Wie isses so? Ist dir auch so furchtbar kalt?“ Abrupt drehte Kalle sich um und wäre auf dem vereisten Kopfsteinpflaster fast umgefallen. „Woah, immer langsam, Muskelprotz.“, rief die Stimme, die zu einer überaus spärlich bekleideten Frau gehörte. Kalle blickte sie nur mit großen Augen an. Ihre hochhackigen Stiefel gingen bis weit über ihre Knie, hörten aber rechtzeitig auf, um unter ihrem Minirock noch verlockend viel Haut zu offenbaren. Ihr Oberteil schmiegte sich eng an ihren Körper an und verschaffte ihr einen monströsen Ausschnitt. Auf ihren mehr als gewaltigen Brüsten hätte sie locker ihren gesamten Kopf ablegen können, der von einer klatschnassen Mähne blonden Haares eingerahmt wurde. Die Konturen ihres Gesichts lagen noch im Schatten, nur der Kiefer malmte unablässig auf und ab. Wahrscheinlich kaute sie auf einem Kaugummi herum, was sie aber offenbar nicht vom Rauchen abhielt. Denn gleichzeitig mit ihren massiven Brüsten wippte auch die orangeglühende Spitze einer Zigarette bei jeder Kaubewegung mit. Zudem lagen um sie herum im Schnee verstreut weitere zahllose Zigarettenstummel. Da war wohl heute Nacht schon jemand fleißig.

Kalle starrte die Frau bloß an und bewegte sich keinen Zentimeter. Noch nie hatte er so aufgepumpte Brüste gesehen. Wie zur Hölle schaffte es die Frau, dass sie nicht vornüber kippte? Kalle konnte seine Augen gar nicht mehr von den beiden Silikonhöckern nehmen, die die Prostituierte in das viel zu enge Lederoberteil gequetscht hatte. Es sah ganz so aus, als könnten ihre Weihnachtsglocken jeden Moment aus dem Geschenkpapier platzen. Wieder einmal war es ihre durchdringende Raucherstimme, die Kalle zurück in die nasskalte Realität holte. „Na, gefällt dir, was du siehst? Du Prachtexemplar von einem Mann. Du stehst auf meine prallen Hupen, was?“ flötete die Frau und drückte ihre Brüste noch mehr zusammen. Kalle stutzte. Hupen - da war doch was. Vorhin hatte er sich doch auf die Hupe gesetzt, auf dem Hinweg zu seiner Mordermittlung. Ach ja, der Mord! Der ungewohnte Anblick hatte Kalle dermaßen erregt, dass er beinahe vergessen hatte, warum er eigentlich hier war.

Als Kalle bemerkte, das er den Mund offenstehen hatte und dicker Sabber zwischen seinen wulstigen Lippen hervorquoll, wischte er sich schnell mit der Hand übers Gesicht und räusperte sich lautstark. „Ähm, also ich bin nicht zum Vergnügen hier, müssen sie wissen. Ich ermittle in einem Mordfall.“ „Ach, sie sind also Polizist?“, fragte die Prostituierte und musterte Kalle mit einem skeptischen Blick. Doch Kalle glaubte plötzlich in ihren Augen etwas glitzern zu sehen. Deutlich hektischer als zuvor rückte die Frau ihm immer näher. Mit leicht verändertem Tonfall hauchte sie: „Na mein Prachtkerl, blasen?“ Kalle war von der plötzlichen Frage so überrumpelt, dass er bloß stotterte: „Blasen...? Äh ja, und wie. An beiden Füßen… Ich… ich musste nämlich herlaufen und bei meinem, nun ja, Umfang geht das ganz schön auf die Füße.“ Die Prostituierte starrte Kalle nur mit großen Augen an. Es dauerte einen Moment, bis sie seine dämliche Antwort verstanden hatte. Als Reaktion spuckte sie die Zigarette in den Schnee, blies ihr Kaugummi zu einer großen Blase auf, ließ es dann geräuschvoll platzen und fuhr sich lasziv mit der Zunge über die Lippen. „Ich dachte eher an sowas hier.“ Kalle hatte sich immer noch nicht gefangen. „Oh, da habe ich sie wohl missverstanden. Aber nein danke, ich möchte kein Kaugummi. Ich habe noch einen Zitronenmelisse-Bonbon.“ sagte er und streckte ihr zur Bestätigung die Zunge heraus, auf der ein kleiner gelber Klumpen lag.

Für einen Außenstehenden musste die Szene unfassbar dämlich aussehen. Da standen sich im dichten Schneeregen vor dem Eingang eines Stundenhotels ein 130 Kilo schwerer Brocken mit heraushängender Zunge und Bommelmütze und eine halbnackte Frau mit unsagbar großen Brüsten gegenüber. Während der Mann scheinbar komplett durch den Wind war, blickte die Frau nur mit ausdrucksloser Miene zurück. Dann aber schien sie sich zu fangen, denn sie machte ein paar Schritte auf den Mann zu und schmiegte sich an ihn.

„Der Hellste bist du nicht gerade, oder?“, fragte die Frau und fasste Kalle bei der Hand. „Wie hat es so einer wie du zur Polizei geschafft?“ Kalle wollte gerade antworten, doch da legte sie ihm einen Finger auf seine Lippen. Ein eigenartiger Geruch strömte von ihrer Hand in Kalles Nase. „Ich glaube du bist ein wenig zu sehr angespannt, mein großer Held.“, hauchte die Prostituierte Kalle ins Ohr. Um ihren Mund überhaupt an sein Gesicht zu bekommen, musste sie sich auf die Spitzen ihrer Stiefel stellen. Sie war Kalle jetzt ganz nah und ihre gewaltigen Brüste ruhten auf seinem Bauch. „Wie wäre es, wenn ich für ein bisschen Entspannung sorge?“ Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, packte sie ihn auch noch mit der anderen Hand und zog ihn durch die Tür des Hotels. Der Eingangsbereich war nur spärlich beleuchtet und schien geradezu ausgestorben. Kalle konnte niemanden erkennen, dabei hatte er zumindest einen Rezeptionisten oder so etwas in der Art erwartet. Rasch führte sie ihn weiter die schmutzigen Flure entlang. In der Luft lag ein seltsamer Geruch, den Kalle nicht identifizieren konnte. Es roch nach Schweiß, Sex und billigem Putzmittel. Aber roch es auch nach Tod? Sie waren nun an einer einfachen Holztür angelangt, die die Frau routiniert aufzog und dann schnell wieder hinter ihnen schloss. Kalle hatte sich während des ganzen Weges nicht zur Wehr gesetzt und stand nun immer noch reichlich verwirrt in einem dunklen Raum. Mit einem leisen Klicken schaltete die Frau das Licht an und verschloss dann mit einem deutlich lauteren Klacken das Türschloss hinter ihnen.

Sobald sich Kalles Augen an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, blickte er sich um. Es war das typische billige Hotelzimmer. Schlichte Wände, ranziger Teppich, ein Schrank, ein kleiner roter Nachttisch, verhangene Fenster, eine kleine Sitzecke, eine Tür zum Bad und ein Bett. Ein wahrhaft großes und durchhängendes Bett, das über und über mit Kissen und Decken belegt war, die bis auf den schmutzigen Fußboden hingen. „Willkommen in meinem Reich.“, sagte die Frau und zog eilig ihre großen Stiefel aus. „Und nenn mich Sonja, Süßer.“

Kalle fing an zu schwitzen. „Also, weißt du… eigentlich habe ich gar keine Zeit für das hier. Ich muss den Anrufer finden. Oder noch besser, die Leiche. Falls es hier denn wirklich einen Mord gab. Hast du vielleicht etwas gesehen?“ Ihre Antwort kam prompt: „Gesehen? Ach, was soll ich denn gesehen haben? Ich habe doch nur Augen für dich.“ Und dann löste sie geschickt den Verschluss ihres Oberteils und ließ ihre gewaltigen Brüste frei. Für einen Moment schien die Welt stillzustehen. Kalle stand da, wie vom Blitz getroffen. Er starrte sie an und bewegte sich nicht mehr. Dann, ganz plötzlich, schien neues Leben durch ihn zu fahren. Er riss sich die Bommelmütze vom Kopf und schmiss seinen Mantel in die Ecke. Kurz darauf polterten auch seine Schuhe über den Boden und hinterließen eine Schneelache auf dem Teppich. Nur noch in Unterwäsche drehte er sich zu dem Bett und rief Sonja zu: „Dann wollen wir mal loslegen, was? Willst du mal einen richtigen Bauchplatscher sehen? Mal gucken, was die Federn hier so aushalten!“

Kalle nahm Anlauf und wollte gerade losspringen als Sonja plötzlich schrie: „NEIN! Nicht auf das Bett! Das… das ist kaputt! Das eine Bein ist schon angeknackst und wenn du dich da mit deinem vollen Gewicht raufschmeißt, bricht das Teil komplett zusammen.“ Kalle stoppte in seiner Bewegung. Seine Miene verfinsterte sich. Sonja fuhr hastig fort: „Geh lieber auf das Sofa. Da ist es auch schön kuschelig.“ Mit diesen Worten ging sie zum Schrank an der gegenüberliegenden Seite des Zimmers und öffnete ihn einen Spalt breit. „Worauf stehst du denn so?“, fragte sie hastig. Die Antwort von Kalle kam wie aus der Pistole geschossen: „Domina. Mit Peitsche und Handschellen!“ Sonja war von der raschen Antwort so überrascht, dass ihr fast die Schranktür auf die Finger gefallen wäre. „Oh, auf einmal bist du aufgewacht, was? Das klang da draußen aber noch ganz anders.“ Sie kramte eine Weile im Schrank und ging dann zum Sofa hinüber, wo Kalle sich schon ausgestreckt hatte und breit grinsend auf sie wartete. „Handschellen also.“, sagte sie verführerisch und holte mit einem leisen Klackern kleine Handschellen mit rosa Flausch hinter ihrem Rücken hervor. „Scheint wohl ein Polizistenfetisch zu sein, was?“

Sonja hatte die Handschellen mittlerweile geöffnet und näherte sich Kalles Armen. Plötzlich sprang Kalle aus dem Sofa, entriss ihr die Handschellen und drückte sie an die Wand. Mit einer geübten Handbewegung ließ er die eisernen Bügel an ihrem Handgelenk zuschnappen und griff nach seinem Handy. „Nein, das ist kein Fetisch, liebe Sonja. Sondern mein Job. Sie sind wegen Mordes festgenommen.“

Einige Sekunden verstrichen, nachdem Kalle in der Zentrale angerufen und anschließend aufgelegt hatte. Keiner der beiden bewegte sich. Sonjas Gesicht wurde starr und sie blickte Kalle mit schreckgeweiteten Augen an. „Aber… wie…?“, war alles, was sie herausbrachte. Sämtliche Selbstsicherheit und Erfahrung war von ihr abgefallen. Wie sie so halbnackt herumstand, sah sie schrecklich verletzlich aus. Kalle holte seinen Mantel und legte ihn ihr über die Schultern. Dann sammelte er seine restlichen Klamotten wieder ein und zog sich an. Sonjas Frage blieb unbeantwortet in der Luft hängen. Sie wiederholte sich: „Wie haben Sie das herausgefunden?“ Seltsam, sie leugnete es nicht einmal. Als würde es ihr nichts ausmachen, dass sie gerade verhaftet worden war. Kalle ging wieder zu ihr und setzte sich neben Sonja auf das Sofa.

„Hören sie, Sonja. Ich mag vielleicht dick sein. Und ziemlich tollpatschig. Aber ich bin nicht dämlich. Ich muss schon zugeben, dass sie mich mit ihrem Auftreten da draußen ziemlich beeindruckt haben. Aber ich bin professionell genug, um nicht auf ihre Reize hereinzufallen.“ Sonja musste schlucken. „Dieses unbeholfene Auftreten vorhin… War das alles nur gespielt?“ Kalle musste lächeln, dann sagte er mit ruhiger Stimme: „Größtenteils schon. Ich wusste nicht, was mich hier erwarten würde. Ich habe eigentlich nach dem Anrufer gesucht, nach einer Leiche oder irgendetwas. Ich hätte wahrscheinlich gar nicht mit ihnen gesprochen, aber das haben sie ja nun einmal erledigt. Und da Polizisten hier nicht gerne gesehen sind, war ihre Anmache eine gute Gelegenheit, um unbemerkt ins Hotel hineinzukommen. Kann ja niemand ahnen, dass hier heute Abend scheinbar kaum jemand unterwegs ist. Oder, dass ich bei ihnen ausgerechnet sofort an den Mörder gerate. Verraten haben sie sich aber erst, als sie sich hier im Zimmer ausgezogen haben.“ Er sah sie streng an. Ihr Gesicht war gesenkt und ihr Blick ausdruckslos. Kalle sprach weiter: „Jemanden mit den Brüsten ersticken, wer macht denn sowas?“

Sonja blickte auf und Tränen quollen aus ihren Augen. Kalle sah flüchtig auf seine Uhr. Bald mussten seine Kollegen hier eintreffen. Er würde sich mit seiner Ausführung beeilen müssen. „Sonja, sie haben einen Gesichtsabdruck zwischen ihren Brüsten. Das habe ich sofort gesehen als sie sich eben ausgezogen haben. Und sogar Beißspuren, wie von einem Kampf. Als hätte jemand unter schwerer Atemnot versucht, sich irgendwie freizukämpfen. Das hätte immer noch alles zu irgendeiner abgefahrenen Sexpraktik gehören können, aber ab diesem Moment haben meine Alarmglocken geschrillt. Brüste als Tatwaffe zu benutzen, klingt zwar extrem abwegig, ist in ihrem Fall in Anbetracht der ungewöhnlichen Größe und des Gewichts aber nicht ausgeschlossen.“ Kalle verschärfte den Ton seiner Stimme. „Diese Art der Tötung ist zudem so viel einfacher als sich erst eine Waffe oder Gift besorgen zu müssen. Und mit einem Messer hätten sie den Typen, der unter dem Bett liegt, wohl kaum alleine abstechen können.“

Sonja zuckte zusammen. Ihr Wimmern hallte durch das Zimmer, während der eisige Schneeregen von draußen gegen die Fenster prasselte. „Jawohl, ich habe die Leiche gefunden. War nicht sonderlich schwer. Nachdem ich die Wunden an ihrem Oberkörper gesehen hatte, musste ich nur noch das Opfer finden. Und in der kurzen Zeit hätten sie den Typen wohl kaum fachgerecht entsorgen können. Also habe ich gewartet, bis sie sich vorhin zum Schrank umgedreht haben und dann unter das Bett gesehen. Und was soll ich sagen, Sonja? Volltreffer!“

Sonjas Schluchzen wurde stärker, die Tränen quollen nur so aus ihren Augen und tropften auf den schmutzigen Teppich. Kalle fuhr fort: „Deshalb wollte ich mich auch so auf das Bett schmeißen, Sonja. Ich konnte ja schlecht einfach nachsehen, ob sie darunter eine Leiche versteckt haben. Ihre ängstliche Reaktion war mir Antwort genug und als ich dann die Gelegenheit nutzte und kurz darauf nachgesehen habe, war mir klar, dass ich irgendwoher Handschellen bekommen musste. Und glücklicherweise standen sie gerade am Schrank und haben mit ihrer Frage nach Sexspielzeug geradezu ihr Ticket in den Knast unterschrieben.“ Durch die verhangenen Fenster konnte man schwach das Leuchten von Blaulicht erkennen. Jetzt konnte es sich nur noch um Sekunden handeln, bis seine Kollegen hier waren und den Fall übernehmen würden. Kalle wandte sich noch einmal Sonja zu, die seit ihrer Verhaftung kein Wort mehr gesagt hatte. Schweigend weinte sie auf den Teppich. Kalle packte sie am Kinn und guckte ihr tief in die Augen.

„Ich weiß nicht, wen sie da ermordet haben. Aber ich würde mal ganz stark auf ihren Zuhälter tippen. Er kam, um seine Kohle zu holen. Dann haben sie ihn ins Bett gelockt und ermordet. War sicherlich nicht schwer einen solchen Kerl mit ihren Reizen zu locken und ihn dann beim Sex mit ihren beiden monströsen Aushängeschildern zu ersticken, was? Hier auf vertrautem Terrain. Mit nichts als ihrem Körper als Tatwaffe. Ein letzter Job, um der Branche zu entfliehen. Wahrscheinlich wollten sie nicht mehr der ständigen Gefahr ausgesetzt sein. Von ihm angeschrien zu werden oder Prügel einzustecken, wenn sie nicht genug angeschafft haben? Die Verletzungen an ihrem Rücken sehen schlimm aus, Sonja. Er muss sie oft geschlagen haben. Kein Wunder, dass sie sich zu diesem Schritt entschieden haben.“

Draußen auf dem Flur hörte er nun eilige Schritte. „Nur eine Sache erschließt sich mir nicht. Warum Sonja, haben sie mich mit auf das Zimmer genommen? Gerade, nachdem ich ihnen erzählt hatte, dass ich bei der Polizei bin und in einem vermeintlichen Mordfall ermittle? Und dann haben sie mir die Tatwaffe auch noch auf dem Silbertablett präsentiert. Da musste ich doch hinter ihr Geheimnis kommen. Warum also haben sie sich verraten?“

In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und eine Wagenladung Uniformierter stürmte in den Raum. Kalle erhob sich vom Sofa und ließ seine Kollegen zu Sonja, die ihr sofort richtige Handschellen anlegten und sie dann abführten. In der anderen Ecke des Zimmers begannen zwei Polizisten die Decken vom Bett zu ziehen und knieten sich auf den Boden, um die Leiche hervorzuholen. Während Sonja abgeführt wurde, drehte sie sich noch einmal zu Kalle herum. Hinter all den Tränen und dem Make-up meinte er seltsamerweise ein kleines Lächeln erkennen zu können. Zum allerersten Mal seit der Festnahme öffnete sie den Mund.

„Warum? Weil ich keine Mörderin bin. Nachdem er endlich tot war, wollte ich einfach nur fliehen. Fort von hier und nie mehr zurück. Aber ich konnte nicht. Ich hatte gerade einen Menschen getötet. Also bin ich raus in dieses Mistwetter. Ich habe mich an meinen üblichen Platz gestellt, mitten in die Neondämmerung. Eine Kippe nach der anderen habe ich geraucht und nachgedacht, bis ich einen Entschluss gefasst hatte. Ich will meine Freiheit, aber ich kann nicht ungesühnt mit einem Mord leben. Doch nach alledem, nach der Verhandlung und nach dem Gefängnis, wartet ein neues Leben auf mich. Ohne Angst und in Freiheit. Und das war alles wert, was heute Abend passiert ist.“

Und in diesem Moment erkannte Kalle die Stimme wieder, die vorhin mitten während der Weihnachtsfeier am Telefon den Hinweis auf einen Mord durchgeben hatte. Es war kein Mann gewesen, der ihn zu dieser Adresse geschickt hatte. Es war eine tiefe Frauenstimme gewesen. Getrübt von Alkohol und Traurigkeit. Und jeder Menge Zigaretten.

Impressum

Texte: Tobias Greiser
Bildmaterialien: Coverfoto von RobbieTV
Tag der Veröffentlichung: 29.12.2012

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