Der Dampf aus dem Kaffeebecher stieg in die Luft und blieb an der Scheibe des Zuges hängen. Doch Pauls Vater bemerkte gar nicht, wie das Fenster immer mehr beschlug. Er hatte die Augen stur auf seinen Laptop gerichtet, die kalten Finger eifrig am Tippen. Paul saß ihm gegenüber am Tisch des ICEs und malte in einem Block. Als Paul den Dampf aus dem Kaffeebecher bemerkte, ließ er seine Wachsmalstifte liegen und streckte vorsichtig den Zeigefinger aus. Auf der beschlagenen Scheibe konnte man auch toll malen. Er musste nicht lange überlegen. Einen Kreis als Körper, dann noch einen als Kopf und schließlich noch zwei große Flügel – fertig war der Engel.
Paul betrachtete sein Werk. Es sah wirklich schön aus, wie der Engel dort an der Scheibe schwebte. Paul blickte am Engel vorbei in die Landschaft, die rasend schnell an ihm vorbeizog. Dort wirbelte ein dichter Schneesturm, der immer wieder dicke weiße Flocken ans Fenster pustete. Aber hier im Zug war es zum Glück deutlich wärmer als draußen. „Papa, guck mal.“, sagte Paul und tippte seinem Vater auf den Arm. „Guck mal, was ich gemalt habe.“ Sein Vater blickte nicht einmal auf. „Aha, jaja, sieht gut aus.“, sagte er kurzangebunden und nahm dann einen flüchtigen Schluck aus dem Kaffebecher.
„Du hast gar nicht hingesehen.“, bemerkte Paul traurig. Die Finger seines Vaters stoppten in ihrer Tippbewegung. „Hör mal Paul, wir haben doch schon darüber geredet. Es tut mir auch leid, dass wir Weihnachten hier in diesem Zug verbringen müssen. Aber es geht nun einmal leider nicht anders.“ Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Ich würde auch lieber zuhause Weihnachten feiern, aber leider ist das nicht möglich.“ Über den Rand seines Laptops hinweg lächelte er Paul an. „Willst du nicht ein wenig durch den Zug spazieren? Vielleicht lenkt dich das ein bisschen ab?“
Paul antwortete nicht, sondern lief einfach los. Kleine Tränen kullerten über sein Gesicht. Wie damals schon, als Papa ihm erzählt hatte, dass sie dieses Jahr an Weihnachten nicht zuhause sein würden. Er müsse irgendwo hin, für seine Arbeit oder so, und deshalb hatte Paul mitkommen müssen. Und nun saßen sie in so einem schnellen Zug, der irgendwohin fuhr, wo Paul gar nicht sein wollte. Und einen Weihnachtsbaum gab es hier auch nicht. Noch ein paar Tränen quollen ihm aus den Augen, dann wischte er sich das Gesicht mit dem Ärmel seines Pullovers ab. Er musste an letztes Weihnachten denken. An den Baum, an zuhause und an Mama.
Letztes Weihnachten war Mama noch da gewesen
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Er hatte nie wirklich verstanden, dass sie bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Er wusste bloß, dass etwas sehr Schlimmes passiert sein musste. „Sie ist jetzt im Himmel.“, hatte Papa immer gesagt, bevor er sich dann tagelange auf seine Arbeit stürzte und Paul ihn immer seltener zu sehen bekam. Er liebte seinen Vater, aber seit Mama weg war, saß Papa nur noch an seiner Arbeit. Wenn Paul aus der Grundschule kam und mit seinem Vater spielen wollte, saß der nur im Büro über Unmengen von Zetteln und raufte sich die Haare. Paul schluchzte laut und noch ein paar Tränen fielen einsam zu Boden.
Als Paul sich mit dem Ärmel die Nase abgewischt hatte, blickte er sich mit großen Augen um. Wo war er denn hier gelandet? Er hatte gar nicht darauf geachtet, wo er hingerannt war. Und nun steckte er irgendwo in diesem riesengroßen Zug und wusste nicht mehr, wo sein Sitzplatz war. Hier saßen keine Leute, wie in ihrem Abteil vorhin. Alles war so leer.
Paul machte ein paar Schritte vorwärts, konnte aber nichts entdecken. In diesem Abteil gab es keine Sitze, keine Tische und auch keine Koffer. Wo war er bloß? Und dann entdeckte er eine Tür in der Wand. Seine kleinen Finger glitten über die Klinke und bevor er überhaupt weiter darüber nachdenken konnte, hatte er die Tür auch schon aufgestoßen. Er machte ein paar vorsichtige Schritte in den Raum hinein. „Hallo?“, rief er zaghaft. „Ist da jemand? Ich habe mich verlaufen.“
Stille. Doch dann ertönte plötzlich eine tiefe Stimme, ganz nahe bei ihm. „Hallo, komm doch rein.“ Paul blickte sich aufgeregt um. Wer war da? Er konnte niemanden erkennen. Dann trat auf einmal rechts von ihm ein Mann aus dem Schatten. Er hatte einen dicken Bauch und einen großen Bart. „Bist du der Weihnachtsmann?“, fragte Paul aufgeregt. Der Mann kam näher. „Ich dachte immer, dass der Weihnachtsmann rote Klamotten hätte und nicht so einen blauen Anzug.“ Der Mann lächelte milde.
„Du hast dich also verlaufen? Oh, sieh nur. Du siehst ja ganz verweint aus.“ Paul fuhr sich schnell erneut mit dem Ärmel durch das Gesicht. Der Weihnachtsmann sollte nicht wissen, dass er geweint hatte. Doch dann überkam ihn eine weitere Welle der Traurigkeit und er kuschelte sich vorsichtig an den Mann, der ihn von oben herab mit freundlichen Augen anblickte. „Es ist… meine… Mama ist nicht mehr da. Und wir haben Weihnachten sonst immer alle zusammen gefeiert. Und zwar zuhause. Mit einem glänzenden Tannenbaum mit Kugeln und Lichterkette. Und nicht in einem Zug.“ Er drückte sich noch fester an den Mann. „Ich vermisse sie so schrecklich.“
Der Mann legte ihm eine Hand auf die Schulter und fragte sanft: „Was ist mit deinem Vater?“ Paul musste erneut schluchzen. „Papa ist irgendwie anders seit Mama fort ist. Er arbeitet nur noch, den ganzen Tag. Wir können kaum mal zusammen spielen, weil er immer beschäftigt ist. Selbst heute an Weihnachten.“ Der Mann atmete geräuschvoll aus. Sein gewaltiger Bauch wogte und brachte den Bart zum Zittern. Dann sprach er mit ruhiger Stimme: „Paul, du musst verstehen, dass nicht nur du deine Mama vermisst. Dein Vater vermisst sie auch sehr. Und deshalb lenkt er sich wahrscheinlich mit so viel Arbeit ab. Weil er auch weinen muss, wenn er daran denkt, dass sie nicht mehr da ist.“ Paul starrte ihn mit großen Augen an: „Wirklich? Aber warum sagt Papa mir das denn nicht?“
„Ich weiß es nicht. Vielleicht glaubt er, dass du noch zu jung bist, um es zu verstehen. Oder er weiß einfach nicht, was er machen soll. Er kann damit nicht umgehen.“ Der Mann beugte sich zu Paul runter und senkte die Stimme zu einem Flüstern. Sein Gesicht war Paul jetzt ganz nahe und der Bart kitzelte an seinem Ohr. „Es ist ganz natürlich, dass du lieber zuhause Weihnachten feiern möchtest. Aber das einzig wichtige ist doch, dass du an Weihnachten mit den Leuten zusammen bist, die dich lieben. Und das tut dein Vater sehr.“
Paul schluckte. „Aber Mama… Mama ist nicht hier, um mit uns zu feiern.“ Der Mann griff hinter sich ins Dunkel und holte einen dampfenden Becher Heißer Schokolade hervor. Er drückte Paul den Becher in die Hand und streichelte ihm sanft über den Kopf. „Auch wenn deine Mama vielleicht nicht hier ist, so kann sie dich doch beschützen. Sie blickt jetzt von oben auf dich herab und gibt Acht. Als Weihnachtsengel.“
Und mit diesen Worten verschwand der Mann. Bevor Paul überhaupt reagieren konnte, war von ihm nichts mehr zu sehen. Bart, Bauch und blauer Mantel waren in der Dunkelheit verschwunden. Paul blickte auf den Becher in seiner Hand, dann wieder in den Raum hinein und zurück zu seinem Becher. Seine Tränen waren getrocknet. Es war Zeit Papa zu suchen.
Als Paul wieder bei seinem Vater ankam, saß der immer noch über seinen Laptop gebeugt. Der Kaffeebecher war mittlerweile leer und lag zerknüllt im halboffenen Mülleimer. Paul kletterte auf seinen Sitz und stellte die Heiße Schokolade auf den Tisch vor das Fenster. „Paul, wo bist du denn gewesen? Ich habe mir schon Sorgen gemacht.“, sagte sein Vater und guckte ihn über den Rand des Bildschirms hinweg mit großen Augen an. Paul antwortete breit grinsend: „Ich habe den Weihnachtsmann getroffen.“ Sein Vater guckte verdutzt. „Den… Weihnachtsmann?“ „Ja. Er hat mir den Kakao geschenkt.“ Paul nickte in Richtung des dampfenden Bechers. „Und er hat mir gesagt, was wirklich wichtig ist.“
„Und was hat er dir gesagt?“, fragte sein Vater, das Gesicht immer noch halb hinter dem Laptop verborgen. Doch Paul antwortete nicht. Er griff über den Tisch hinweg und klappte den Bildschirm des Laptops herunter. „Schalte das Ding bitte mal aus, Papa.“ Sein Vater war so verwundert, dass er den Computer tatsächlich herunterfuhr. Keine Minute später hatte er ihn in seiner Tasche verstaut. Paul blickte seinem Vater direkt in Augen. „Wir müssen über Mama reden. Ich weiß, dass sie dir genauso fehlt, wie mir.“ Sein Vater starrte ihn nur an. Dann nahm er die Brille ab, rieb sich die Augen und atmete einmal tief durch. „Das sollten wir wohl, Paul. Du hast recht. Es… es tut mir so leid für dich, dass sie nicht mehr da ist… Sie…“
„Doch Papa, sie ist noch da. Und sie wird auch ewig bei uns bleiben.“ Paul nickte in Richtung des Bechers Heißer Schokolade. Der Dampf aus dem Becher stieg auf und legte sich als sanfter Schleier auf die Scheibe. Langsam wurden die Umrisse den Engels sichtbar, den Paul vorhin auf das Glas gemalt hatte. „Sie ist die ganze Zeit da gewesen. Auch wenn du sie nicht sehen konntest. Mama hat über dich gewacht.“, sagte Paul, lief um den Tisch herum und kuschelte sich an seinen Vater. „Als Weihnachtsengel
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Texte: Tobias Greiser
Tag der Veröffentlichung: 07.12.2012
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