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Das Kreischen ihrer Freundinnen verstummte schlagartig. Ein kurzes Sirren, ein lautes Krachen und dann konnte sie nur noch gedämpfte Geräusche hören. Katja drehte sich leicht wacklig auf den Beinen herum. Sie wollte gerade ihren Arm heben, doch da war alles schon vorbei. Der Tunnel verschluckte Katjas Freundinnen, die in undurchdringlicher Dunkelheit verschwanden. Sie blieb alleine zurück. Der Arm sank ganz langsam wieder nach unten. Sie hatte doch nur winken wollen.

Erst da wurde Katjas von Alkohol benebeltem Kopf klar, was gerade passiert war: Sie war nur aus der Bahn ausgestiegen. Sie hatte mit ihren Freundinnen in der Großstadt Party gemacht und war dann an ihrer Haltestelle ausgestiegen. Das gleiche Spiel wie jede Woche. Eigentlich seltsam. Katja torkelte leicht und musste schief grinsen. Komisch, in ihrem Kopf hatte sich die Abfahrt des Zuges eben gerade irgendwie grauenerregend angehört. Katja schüttelte sich. Alleine schon das Schließen der Türen. Wie malmende Reißzähne. Was war bloß los mit ihr? Heute hatte sie scheinbar wirklich viel zu tief ins Glas geschaut.

Katja blickte noch ein paar Sekunden teilnahmslos auf die Gleise. Dann drehte sie sich um und machte langsam ein paar Schritte vorwärts. Sie war wohl wirklich ziemlich benommen. Irgendwie konnte sie ihre Beine nicht richtig kontrollieren. Dabei war sie so etwas doch eigentlich gewohnt. Sie und ihre Freundinnen gingen jedes Wochenende auf die Piste. Alkohol gehörte zu ihrem Leben, seit sie 14 Jahre alt war. Und in den vergangenen sechs Jahren war literweise Erfahrung dazugekommen. Doch heute war irgendwie alles anders. Der ihr so vertraute Bahnhof des verschlafenen Dorfes Kulfberg lag verlassen vor ihr. Kein Mensch war mit ihr zusammen ausgestiegen und nun fühlte sie sich ein wenig verloren, inmitten dieser Mischung aus Obdachlosenpisse und Graffiti.

Katja fröstelte. Der eisige Wind der Winternacht war selbst hier unten zu spüren. Sie zog an ihrem kurzen Kleid, um ein bisschen mehr ihres Beines mit Stoff zu bedecken. Doch das Kleid bewegte sich keinen Zentimeter. Kein Wunder, vor ein paar Stunden hatte sie es extra noch mit Klebestreifen fixiert, damit es in den Clubs bloß nicht verrutschte. Katja schlang die Arme um ihren Oberkörper, rückte ihre kleine blaue Lederjacke zurecht und beschleunigte langsam ihre Schritte. Höchste Zeit, aus diesem versifften Bahnhof herauszukommen und nach Hause zu gehen. Dann würde sie einfach nur noch ins Bett fallen und den kompletten Sonntag zuhause verbringen. „Morgen habe ich bestimmt einen Mordskater“, dachte Katja noch, dann erreichte sie das Ende der Treppe zum Bahnhofsausgang.

Sie blickte sich um. Kulfberg hatte nur einen winzigen Bahnhof und um zwei Uhr nachts trieben sich hier für gewöhnlich kaum noch Leute herum. Hin und wieder war sie auf dem Rückweg von einer Partynacht schon einmal auf ein paar Obdachlose getroffen, die ihr hinterhergerufen hatten. Einer wollte ihr sogar mal richtig an die Wäsche. Glücklicherweise war sie nicht vollkommen wehrlos. Die Dose Pfefferspray in ihrer Handtasche war zu ihrem nächtlichen Beschützer geworden. Bisher hatte Katja davon zwar nur einmal Gebrauch machen müssen, doch auch jetzt fuhren ihre Finger leicht zitternd in ihre Handtasche und waren erleichtert, die vertraute Spraydose an ihrer gewohnten Stelle zu ertasten.

Als sie endlich ins Freie trat, kroch ein Kälteschauer über ihren Nacken. Die frische Luft hier oben tat gut. Sie fühlte sich gleich ein bisschen weniger benommen. Es waren zwar nur anderthalb Kilometer bis zur Wohnung ihrer Eltern, aber angesichts der Minusgerade beschleunigte sie noch einmal ihr Tempo. Es war wirklich eine Pest hier draußen auf so einem Dorf leben zu müssen. Die einzige Straße, die vom Bahnhof zu ihr nach Hause führte, war nicht einmal eine richtige Straße. Der verdammte Feldweg war voller Schneematsch und Katzenpisse und besaß keine einzige Straßenlaterne. Katja kramte ihr Smartphone aus der Handtasche und schaltete die integrierte Taschenlampe an. Musste sie sich also selber wieder einen Weg suchen. Katjas Finger zitterten in der Kälte. Sie beschleunigte abermals ihr Tempo. Ihre Gedanken wanderten zurück zu den Ereignissen der vergangenen Nacht, wenngleich ihr Kopf vom Alkohol immer noch ziemlich benebelt war.

Was war das aber auch für eine Nacht gewesen. Erst hatten sie bei Sonja mit Prosecco und Bier vorgeglüht und dann das richtig gute Zeug aus dem Schrank geholt. Keine Stunde später, waren sie dann auf der Piste und ließen sich von einem Club in den nächsten treiben, immer angezogen von lauten Beats und süßen Jungs. Katja musste lächeln. Heute hätte sie diesem einen Jungen mit der coolen Surferfrisur fast… Ein Knacken hinter ihr ließ sie zusammenzucken. Sie wirbelte herum. Doch da war niemand zu sehen. „Hallo?“, fragte sie leicht lallend in die Dunkelheit. Doch als Antwort kam nur Stille. Sie drehte sich wieder um und ging weiter. Es war nicht einmal mehr ein Kilometer bis zu ihrer Wohnung. Das würde sie ja wohl noch schaffen.

Es knackte erneut. Diesmal deutlich lauter. Katjas Herz begann wild zu hämmern. Erneut schrie sie hinter sich: „Hey! Lass mich in Ruhe!“ Ihre Augen suchten die Dunkelheit des Feldweges angestrengt ab. Nach einer Silhouette, einer Bewegung… irgendetwas. Doch sie konnte nichts erkennen. War dort tatsächlich niemand in der Dunkelheit? War sie einfach nur zu betrunken von den ganzen Kurzen, die sie sich auf der Bahnfahrt in die Großstadt noch reingezogen hatten? In diesem Moment hörte Katja seinen Atem an ihrem Ohr.

Katjas Herz setzte einen Moment lang aus. Dann begann sie zu rennen. Bloß weg hier, weg von diesem… Wesen. Die kalte Luft peitschte auf ihrer Haut, während sie immer schneller den rutschigen Feldweg entlang hetzte. Sie musste aufpassen im Schneematsch nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ihre Schuhe drückten furchtbar aufgrund der hohen Absätze und die große Handtasche schlug ihr im Sekundentakt gegen den Oberkörper. Katja hielt kurz den Atem an, um zu lauschen. Hatte sie ihren Verfolger abgeschüttelt? Doch sein Schnaufen war nicht verstummt. Ganz im Gegenteil: Es kam näher.

Katja riss sich die Schuhe von den Füßen und schleuderte sie achtlos hinter sich. Vielleicht konnte sie ihn treffen, ihn verletzten? Sie rannte so schnell sie nur konnte, immer weiter und weiter. In der Ferne tauchten bereits die Lichter ihrer Straße auf. „Was willst du?“, brüllte sie. „Mein Geld? Du kannst es haben. Aber lass mich in Ruhe!“ Sie riss sich ihre Handtasche über den Kopf und ließ sie auf den matschigen Weg fallen. „Hier, nimm mein Geld, verdammt! Und dann hau ab!“ Tränen rannen ihr über das eiskalte Gesicht. Katja lief noch ein paar Meter und verlangsamte dann ihr Tempo. Hatte ihr Verfolger jetzt endlich aufgegeben? Nun, wo sie ihm alles, was sie besaß, vor die Füße geworfen hatte?

Katja versuchte angestrengt zu lauschen, hörte aber nur das unerbittliche Hämmern ihres Herzens, das ein Stakkato des Grauens in ihrer Brust spielte. Ihr Kopf hallte furchtbar und plötzlich drehte sich der Feldweg vor ihren Augen. Sie konnte sich nicht mehr bewegen. Der verfluchte Alkohol würde sie ohnmächtig machen. „Nein!“, dachte sie nur noch. „Nicht jetzt. Nicht mit diesem Irren in der Nähe!“ Ihre Beine wurden schwer und sie sackte zusammen. Keuchend lag sie mitten im Matsch des Feldweges und starrte mit schreckgeweiteten Augen auf den Umriss des Mannes, der sich ihr immer noch mit schnellen Schritten näherte.

Katja kniete in einem Haufen aus Schneematsch und Straßendreck. Ihre Augenlider fielen vor Erschöpfung immer wieder kurz zu. Noch zehn Meter, dann musste er bei ihr sein. Noch fünf. Und dann stand er vor ihr und beugte sich über sie. Sein Gesicht war wild, ein dunkler Bart verhüllte seine untere Gesichtshälfte. Doch die Augen hatte sie schon einmal gesehen. Es war einer dieser Penner vom Bahnhof, die sie vor einigen Monaten angemacht hatten. Katja hatte ihm damals fast eine komplette Dose Pfefferspray ins Gesicht gesprüht, bis er endlich lockergelassen hatte. Der Mann war nun so nah, dass sie den Verwesungsgestank riechen konnte, der von ihm ausging. Sein eines Auge blickte gierig auf sie hinab, das andere war eine verkrustete leblose Höhle. Sie hatte damals scheinbar saubere Arbeit geleistet.

„Hallo Süße.“, hauchte der Mann. „Erinnerst du dich an mich? Wir hatten schon einmal das Vergnügen miteinander. Du, ich… und dein Pfefferspray.“ Bei diesen Worten drückte er seine leblose Gesichtshälfte an sie heran und Katja zuckte angewidert zurück. Würde er sie jetzt töten? Oder vergewaltigen? Sie schluckte schwer und krabbelte ein paar Zentimeter zurück, bis sie mit dem Rücken an den Zaun am Wegesrand stieß. Katjas Kopf pochte immer noch wie verrückt und das Hämmern ihres Herzens machte es noch schlimmer.

Dann fiel es ihr ein. Was hatte er gesagt? Das Pfefferspray! Sie hatte sich schon einmal damit retten können und würde es jetzt wieder tun. Verzweifelt tastete sie den Boden ab. Wo war ihre Handtasche? Sie hatte sie doch eben noch gehabt. Beim Wegrennen war ihr das blöde Teil doch ständig in den Weg gekommen. Und dann hatte sie… Katjas Gesicht wurde aschfahl als ihr einfiel, was sie mit ihrer Handtasche gemacht hatte.

„Suchst du die hier, Zuckerpuppe?“, hauchte ihr der Mann ins Gesicht und sein Mundgeruch verschlug ihr fast den Atem. Der Mann hielt ihre Tasche in die Luft, ließ sie dort baumeln und fingerte dann das Pfefferspray heraus. „Auge um Auge“, murmelte der Mann in einem fast heiteren Singsang. „Den Spruch kennst du doch sicherlich, oder?“ Katja begann unkontrolliert zu zittern, in einer Mischung aus Schüttelfrost und blanker Todesangst. Der Mann kratzte sich mit der Hand am Bart und fuhr fort: „Aber ich bin ein guter Mensch, weißt du? Ich will gar nicht dein Auge. Das bringt mir meines nämlich AUCH NICHT WIEDER ZURÜCK

!“ Die letzten Worte bellte er Katja förmlich entgegen und dicke Speicheltropfen prasselten auf ihr Gesicht.

Katja brach zusammen. Das war es jetzt. Ihre einzige Chance auf Rettung hatte sie diesem Irren einfach vor die Füße geworfen. Wie hatte sie nur so dumm sein können. Katjas Knie knickten weg und sie klatschte geräuschvoll in die Matschpfütze unter ihr. Mit tonloser Stimme brachte sie eine letzte Frage über die Lippen: „Was willst du von mir?“

Der Mann grinste und entblößte dabei eine Reihe verfaulter Zähne. „Das gleiche wie damals, Zuckerpuppe. Dein Herz.“ Katja verstand nicht ganz. „Mein… Herz? Willst du mich vergewaltigen, oder was?“, fragte sie noch schwach, ganz benommen vom Alkohol und einer schier unendlichen Müdigkeit. „Nein, Zuckerpuppe“, sagte der Mann und schüttelte sanft den Kopf. Von seiner blinden Augenhöhle löste sich ein Stück Kruste. „Verstehst du denn nicht? Ich sagte, ich will dein Herz

.“ Und dann fuhren seine schmutzigen Finger in die Tiefen seines Mantels und holten etwas daraus hervor. Katja blinzelte noch einmal schwach. Im Mondlicht erkannte sie das Aufblitzen einer Klinge.

Und dann fiel Katja plötzlich ihr Smartphone wieder ein. Sie hatte es die ganze Zeit in der Hand gehalten, die Taschenlampe daran leuchtete immer noch. Sie hätte Hilfe holen können, sie konnte vielleicht immer noch jemanden erreichen. Ihre eiskalten Finger krümmten sich um die Schnellwahltaste. „Ruf jemanden an, irgendwen. Komm schon!“ Der Mann kam immer näher, das Messer lag beinahe liebevoll in seinen dreckigen Fingern. „Nun mach schon! Wähl eine scheiß Nummer!“, schrie Katja ihr Telefon an. In diesem Moment übermannte sie der Alkohol vollends und raubte ihr das Bewusstsein.

Während sie in Ohnmacht fiel, öffnete sie noch einmal kurz die Augen. Das Grinsen des Mannes hatte sich zu einer wahnsinnigen Fratze verzogen und seine spröden Lippen hauchten ihr aus den Tiefen seines Bartes die letzten Worte entgegen, die sie jemals hören sollte: „Goodbye, Zuckerpuppe.“



Impressum

Bildmaterialien: Coverfoto von Dan Kunkel
Lektorat: Tobias Greiser
Tag der Veröffentlichung: 04.12.2012

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