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Anruf vom Tod



Als die Tür schwer hinter ihm ins Schloss fiel, atmete Frank schnaubend aus. Endlich hatte er es geschafft. Er zog sich den schweren Rucksack von den Schultern, ließ den uralten Reisekoffer auf die modrigen Holzdielen fallen und massierte sich den verspannten Nacken. Sein Blick wanderte durch die Berghütte. Einmal im Jahr hatte er sich eine solche Auszeit verdient. Schon oft war er in seinem Urlaub in eine der Berghütten hier oben gefahren. Ein altes Ehepaar namens Schneider betrieb hier eine Art Hotel, nur statt normaler Zimmer konnte man einzelne Holzhütten für ein paar Nächte mieten – inklusive angrenzendem Bad, Zimmerservice und sogar einem kleinen Frühstücksbuffet in einem Gemeinschaftsraum knapp zwei Kilometer entfernt. Die Schneiders waren herzensgute Leute. Aber ehrlich gesagt kam Frank nur wegen der Ruhe hierher. Und die hatte er nach dem anstrengenden Aufstieg nun auch bitter nötig.

Er schaute sich um. Die Einrichtung war recht spartanisch, aber immerhin ausreichend, um ein bisschen die Seele baumeln zu lassen. Frank ging langsam zum einzigen Fenster der Hütte und warf einen Blick nach draußen. Doch der Schneesturm war so dicht, dass er außer weißem Wirbel nichts erkennen konnte. Neben dem Fenster befanden sich die Tür zum Badezimmer und eine kleine Kommode. An der rechten Wand konnte Frank einen schnuckeligen Kamin erkennen. „Genau das richtige für meine kalten Finger“, dachte er sich und warf seine schneebedeckten Handschuhe achtlos auf den Boden. Gleich würde er sich die geschundenen Glieder bei einem herrlichen Feuerchen wärmen lassen. Doch vorerst wollte er noch den Rest der Ausstattung inspizieren. Sein Blick blieb an dem großen Bett hängen, das fast die komplette Kopfseite des Raumes einnahm.

Mit einem lauten Gähnen warf er sich auf die grüne dreckige Tagesdecke und sackte unvermittelt in der weichen Matratze ein. „Schlimmer als ein labberiges Wasserbett“, dachte er kopfschüttelnd, blieb dann aber einfach erschöpft liegen und schloss kurz die Augen. Nur einmal kurz entspannen. Nur einen Moment. Keine zwei Minuten später war er weggedöst.

Das Schrillen des Telefons auf dem Nachttisch holte Frank unsanft in die Wirklichkeit zurück. Wer bitteschön sollte ihn hier oben auf der Berghütte anrufen? Hatten seine Kollegen aus der Firma immer noch nicht genug von ihm? Er hatte doch seinen Urlaub extra lang und breit angekündigt – alle wussten, dass er die paar Tage Entspannung dringend brauchte. Dann fiel ihm ein, dass es seine Kollegen unmöglich sein konnten. Schließlich kannten die doch überhaupt nicht die Nummer dieser Klitsche. Wer also hatte ihn eben gerade verdammt nochmal aus dem Schlaf gerissen? Noch etwas schlaftrunken tastete er nach dem Hörer und hielt ihn sich ans Ohr. „Ja, was ist denn, verdammt?“, blaffte er den Hörer an.

Als Antwort kam ein grausiges Knacken und Rauschen aus dem Lautsprecher, das die einzelnen Sprachfetzen übertönte. Frank hatte kein Wort verstanden. Er hatte auf dem Hinweg schon feststellen müssen, dass das Mobilfunknetz dem Schneesturm nicht standhalten konnte. Nun verweigerte scheinbar selbst das Festnetz den Dienst. „Ich habe kein Wort verstanden. Was haben sie gesagt?“, brüllte Frank zurück. Der unbekannte Anrufer wiederholte sich. Diesmal war er deutlicher zu verstehen und wurde nur noch teilweise von Störungen unterbrochen. Doch Frank wäre es lieber gewesen, wenn er die folgenden Worte niemals verstanden hätte: „Ich *knack* bin der *knister* Tod. Ich komme, um dir die *knack* Haut abzuziehen.“

Noch während Frank der Stimme lauschte, wurde er unsicher, ob er die Worte richtig verstanden hatte. Vollkommen perplex im Angesicht der Bedrohung fragte er zaghaft: „Was wollen sie abziehen? Die H-Haut abziehen?! Hallo, habe ich sie da richtig verstanden?“ Doch der Anrufer hatte schon aufgelegt. Erst da verstand Frank die Tragweite der Worte, die ihm gerade eben seinen Tod versprochen hatten.

Mit einem Schlag war sämtliche Müdigkeit verschwunden. Wahrscheinlich war das alles nur ein blöder Scherz. Irgendwie hatten seine Kollegen doch die Nummer von den Schneiders bekommen und wollten ihn nun selbst noch im Urlaub foppen. Bestimmt Timo, der alte Scherzkeks. Frank konnte ihn vor seinem geistigen Auge geradezu blöd grinsen sehen.
Er schwang sich aus dem Bett und schlurfte in Richtung Kamin. Haut abziehen - was für ein Blödsinn. Jetzt wurde es aber auch mal Zeit für ein Feuerchen. Er wollte gerade das Kaminholz entzünden, als er plötzlich schwere Schritte durch den Schnee vor der Hütte poltern hörte. Frank steckte die Streichhölzer wieder weg und rannte zum Fenster, um einen Blick nach draußen zu werfen. Doch der Schneesturm war immer noch am wüten und verwehrte im jegliche Sicht. Dann klopfte es laut an der Tür. Mit wackligen Schritten tapste Frank vom Fenster weg. „Wer… wer ist da?“, fragte er unsicher.

Die Antwort ertönte aus einer Reibeisenkehle: „Hier ist der Tod!“

Das war zu viel für Frank. Er musste hier raus und zwar schnellstens. Doch wo konnte er schon hin? Die Hütte hatte nur einen Ausgang und dort wartete allem Anschein nach ein Irrer, der sich aus seiner Haut einen Schlafanzug stricken wollte. Ohne weiter nachzudenken hechtete er am Bett vorbei ins Bad. Nachdem er auf den kalten Fliesen fast ausgerutscht war, drehte er mit schwitzenden Fingern den Schlüssel herum und lauschte angestrengt. Doch das Geräusch seines pochenden Herzens übertönte alle anderen Geräusche.
Zumindest bis sich die schwere Eingangstür knarrend öffnete. Der Irre musste einen Schlüssel gehabt haben. Frank wich bis in die hinterste Ecke des Badezimmers zurück und kauerte sich neben die Toilette. Seine Gesichtsfarbe glich sich den schneeweißen Kacheln an und voller Panik schickte er ein spontanes Stoßgebet gen Himmel.

„Ich komme, um abzuziehen!“ schallte es aus der Hütte. Frank machte sich immer kleiner, vergrub den Kopf in seinen Armen und machte sich auf das Schlimmste gefasst. Hoffentlich hielt die billige Badezimmertür dem Eindringling stand. Doch was, wenn der Verrückte eine Axt dabei hatte? Er würde sich einfach einen Weg freischlagen, die Badezimmertür in tausende Einzelteile zersplittern lassen und dann würde er ihn töten. Frank schluckte. Das war sein Ende. Er würde hier sterben, einsam und alleine. Inmitten eines Schneesturms von einem Irren gehäutet. Er atmete noch einmal tief durch und schloss die Augen.

Nebenan im Hauptraum der Hütte schloss der Mann die Eingangstür wieder hinter sich. Mit leisen Schritten bewegte er sich auf die Badezimmertür zu. Als er keinen Meter mehr von der Türklinke entfernt war, streckte er den Arm aus und… stellte mit geschickten Händen einen frischen Strauß Blumen in die Vase auf der Kommode. Dann ging er zum Bett, riss die grüne Tagesdecke hinunter, zog das Laken ab und spannte dann ein neues über die Matratze. Er glättete die Tagesdecke wieder und strich alles glatt. Schließlich griff er in seine Hosentasche und legte eine kleine Karte und einen Schokoladenweihnachtsmann auf das Bett. Kurz darauf war er wieder im Schneesturm verschwunden, die Tür hatte er leise hinter sich zugezogen. Das bizarre Schauspiel war vorüber.

Frank blieb noch lange regungslos auf dem Boden kauern, obgleich das letzte Geräusch schon vor Stunden verstummt war. Als Frank schließlich all seinen Mut zusammen nahm und endlich wieder aus dem Bad kam, flackerte ein kleines Feuerchen im Kamin und tauchte die Hütte in einen warmen goldenen Glanz. Die Verpackung des Schokoladenweihnachtsmanns glitzerte im Schein der Flammen. Langsam und mit zitternden Fingern griff Frank nach der Karte, die einsam und harmlos auf der grünen Decke ruhte. Neben dem grinsenden Bild eines freundlich aussehenden Mannes osteuropäischer Herkunft, standen auf der Karte lediglich ein kurzer Satz und darunter ein Name in krakeliger Handschrift:

„Frohe Weihnachten wünsche ich ihnen. Toad, Zimmerservice


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Tag der Veröffentlichung: 16.11.2012

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