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Eine kleine Geschichte...

 

Es ist Dienstagabend. Normalerweise würde ich jetzt mein klappriges Fahrrad an den nächsten Baum lehnen und eine edle Apartmentkomplexanlage betreten, dessen Mietkosten ich mir niemals leisten könnte.
Dort würde er schon auf mich warten, im schummrigen Licht, vermutlich mit einer Flasche gekühlten Sekt und irgendwelchen Häppchen, die nicht sättigen, aber vorzüglich schmecken.
Er ist in diesem Fall Jonathan. Ein gut aussehender Mittdreißiger, dessen Grinsen anbetungswürdig ist und dem ich vor zwei Jahren verfallen bin.

Stattdessen fällt die Tür zu meiner sperrigen Einzimmerwohnung ins Schloss. Es fühlt sich wie ein Abschluss an. Ich habe endgültig den Schlussstrich gezogen. Nach zwei Jahren Affäre, die mir zunehmend den Verstand geraubt haben.

Mir kommt ein muffiger Geruch entgegen. Ich sollte dringend lüften. Meine wenigen Möbelstücke sind bedeckt von Hosen, Pullovern, Zeitschriften und ähnlichem Krempel. Die Wände sind weiß. Um sie nicht der Farblosigkeit zu überlassen, schmücken Fotos von Freunden die Raufasertapete. Das eintönige Chaos spiegelt meine Persönlichkeit wieder. Ich bin nicht elegant, durchgestylt oder modern, sondern zu uninspiriert meine Zimmer einem Wohnkonzept zu unterwerfen.

Meine obligatorische Mahlzeit, Pizza vom Discounter, ist auch heute wieder die erste Nahrung, die ich meinem Körper zuführe.

Dennoch ist dieser Tag etwas Besonderes, einer dieser Tage, dessen Datum man sich für immer merken sollte, weil er das Leben geprägt hat.
Jeden Dienstag habe ich mich mit Jonathan in seinem Apartment getroffen. Zumindest vermute ich, dass es sein Apartment ist. Sicher bin ich mir da nicht. Die geräumigen Zimmer wirkten nie besonders persönlich auf mich. Jedes Utensil schien perfekt an die restliche Inneneinrichtung angepasst zu sein, sodass kein Charakter in der Seidenbettwäsche, den Designerschränken und den edlen Teppichen erkennbar war. Er könnte sich die Location genauso gut nur angemietet haben, um sich dort mit Volltrotteln, wie mir, zu treffen. Möglicherweise besitzt er irgendwo eine Villa und lebt an den restlichen Wochentagen ein sonniges Familienleben. Wer weiß das schon.
Eigentlich ist mir gar nichts über den Mann bekannt, der mein Leben beherrscht hat. Emotional zumindest.
Aber das ist jetzt vorbei. Heute ist der erste Dienstag, an dem meine Vorsätze nicht an seinen Anrufen zerbrechen. Wir haben am Sonntag das letzte Mal miteinander telefoniert. Seine tiefe raue Stimme ließ mich innerlich erzittern, doch sie wirkte auf meinen Verstand nicht wie eine Abrissbirne. Ich blieb standhaft. Zum ersten Mal.
Letzte Woche Dienstag habe ich meinen üblichen Text abgespult: Es würde unser letztes Treffen sein, weil er meine Entscheidung respektieren muss und ich nicht weiter als sein Spielzeug fungieren möchte. Ich bemühte mich um eine feste Stimme, die Entschlossenheit ausstrahlt, während er meinen Pullover auszog und an meiner rechten Brustwarze knabberte. Sein selbstgefälliges Grinsen entging mir nicht und motivierte mich endgültig die Reißleine zu ziehen.

Ich verschwand noch in derselben Nacht aus seinem Apartment, nach dem Sex und verfasste Zuhause eine lange Email an ihn, in der ich ihm meinen Zwiespalt erklärte. Er rief mich daraufhin einige Male an, besorgt, enttäuscht, wütend und traurig. Seine tatsächliche Betroffenheit schmeichelte mir, so sehr, dass ich fast einknickte. Aber auch nur fast. Sobald es um Jonathan geht, mutiert mein Herz zu einem unbelehrbaren Optimisten, der aus jeder misslichen Lage noch Hoffnung schöpfen kann.

Nun haben die Anrufe endlich aufgehört, seit Sonntag lässt er mich tatsächlich in Ruhe, doch mein verliebtes Herz kann sich über diese unerwartete Wendung nicht freuen.

Mein Smartphone zieht meine Aufmerksamkeit magisch an. Auch jetzt fische ich es direkt wieder aus der abgenutzten Jeans und werfe einen Blick auf das Display.
Habe ich gehofft, dass er mich wochenlang umwirbt, bis ich wieder schwach werde? Vermutlich.

Mein Handy scheint sich in einen Magneten verwandelt zu haben, der auf meine Finger dieselbe Wirkung, wie Metall hat.

Nein, diese Aussage muss ich revidieren. Jonathan ist der eigentliche Magnet. Er stößt mich von sich und zieht mich wieder in seine Arme, wie es ihm gerade passt.

Habe ich Idiot mir vorgestellt, dass er mir plötzlich seine Liebe gestehen wird und seine Geheimnisse offenbart, die ihn seit genau 23 Monaten unerreichbar für mich machen? Ja. Diese fiese Hoffnung jammert schon seit unserem Kennenlernen in mir. Vor zwei Jahren habe ich Jonathan zum ersten Mal gesehen. In einer Bäckerei unweit von meiner Wohnung. Sie liegt mitten im Schwulen- und Lesbenviertel der Stadt. Ich wollte dort unbedingt arbeiten. Die Gassen dieses Viertels haben mich schon immer begeistert. Überall hängen bunte Flaggen aus den Fenstern, die Hausfassaden sind bunt gestrichen, schwule Bars und Clubs reihen sich aneinander und die Fußgänger sind immer einen Hingucker wert. Aus vielerlei Gründen. Man kriegt wirklich krasse Outfits zu sehen, aber es würde niemandem einfallen, die Nase über einen zwei Meter Kerl in Highheels zu rümpfen. Das gefällt mir. Auch, wenn ich ziemlich unscheinbar bin, liebe ich diese Freiheit. In meiner Schulzeit bin ich überall nur angeeckt. Da tut es gut, einfach machen zu können, was man will, ohne dass sich jemand darüber echauffiert.

Ich jobbte schon seit einigen Monaten in besagter Bäckerei, als plötzlich ein hochgewachsener Mann vor mir stand. Ein unbekannter Kunde. Seine durchdringenden blauen Augen ließen mein Herz unmittelbar schneller schlagen. Der Anblick, der sich damals vor meiner Theke aufbaute, brachte mich vollkommen aus dem Konzept. Nur schwerlich vernahm ich seine Bestellung, die er mit einem selbstgerechten Grinsen tätigte, als ob er schon damals gewusst hätte, dass er mich an der Angel hatte. Ich fragte mich damals, ob er sich verlaufen hat, denn ich bin mir absolut sicher gewesen, dass er nicht schwul ist. Eigentlich bin ich niemand, der in Schubladen denkt, aber vielleicht wäre schon die Vorstellung, dass er schwul ist, zu viel für mich gewesen. Daher blieb ich eisern bei der Überzeugung, dass er nur zufällig in diese Gegend gelangt ist.

Wenn er sich verlaufen hatte, dann störte er sich nicht an den bunten Fähnchen, die in der Bäckerei hingen, denn ab diesem Tag kam er beinahe täglich. Er gefiel mir jedes Mal besser und so nahm ich sogar in Kauf während wichtiger Vorlesungen arbeiten zu müssen, weil ich ihn nicht verpassen wollte.
Der attraktive Fremde kam jeden Tag gegen elf Uhr. Ich ließ mich regelmäßig für diese Zeit einschreiben, auch wenn es die Konsequenz hatte, dass mein Minijob sich zunehmend in eine geregelte Tätigkeit entwickelte.
Insgeheim gab ich ihm den Namen Maximilian. Männlich und melodisch, genauso wie seine Stimme.
Wie oft habe ich von einem Mann dieses Kalibers geträumt?

Mindestens einen Kopf größer als ich, sodass ich immer zu ihm aufsehen muss. Breite Schultern, dunkle perfekt geschnittene Haare und ein Dreitagebart brachten mich jedes Mal in Wallungen, sobald er die Bäckerei betrat, als wäre er gerade einem Modemagazin entsprungen, um sich einen Kaffee und ein Müslibrötchen zu bestellen.
Sobald die kleine Klingel im Laden ertönte und er elegant den Raum betrat, richteten sich seine blauen Augen direkt auf mich. Er wollte nur von mir bedient werden. Ich bildete mir sogar ein, seine Augen würden mich anfunkeln und absichtlich diese verdammte Gänsehaut in meinem Nacken auslösen.
Einige Male trank er seinen Kaffee sogar an dem Stehtisch unweit vom Verkaufstresen und führte Smalltalk mit mir, der mich tatsächlich dazu verleitete Luftschlösser zu errichten.

Nachdem ich mir bereits die buntesten Märchen ausgemalt habe, stellte er sich schließlich als Jonathan vor. Kein Maximilian, aber sein Name passt auch viel besser zu ihm. Ich hätte eigentlich wissen müssen, dass er nicht auf einen Modenamen hört. In meinen Tagträumen hatte Jonathan bereits eine dauerhafte Hauptrolle erlangt. Mir reichte die wenige Zeit nicht mehr, die er in der Bäckerei verbrachte. Der Wunsch ihn kennen zu lernen war schon fast als Sehnsucht einstufbar.

Doch es blieb bei Smalltalk. Jonathan fragte mich nach keinem Date, was mich nicht weiter überraschte, schließlich fanden die Szenarien, in denen wir gemeinsame Ausflüge als Paar unternahmen oder Sex hatten, nur in meinem Kopf statt.

In der Realität verriet er nicht viel über sich. Eigentlich verriet er gar nichts über sich. Wir sprachen belanglos über Banalitäten, wobei sich diese Gespräche unheimlich gut anfühlten, auch wenn ich mir keinen Reim auf Jonathans Verhalten machen konnte. Ich versuchte ihn subtil auszuquetschen und sprach ihn mehrfach auf die Regenbogenfahne an, in der Hoffnung, dass er mir verrät, ob er schwul ist, oder einfach nur den Kaffee hier mag. Er hielt sich jedoch bedeckt und das machte mich wahnsinnig!
Noch heute weiß ich über ihn nur, dass er seinen Kaffee schwarz trinkt, Mitte dreißig und im Bett eine ungeschlagene Granate ist.

Letzteres erfuhr ich an einem unerwartet kalten Tag im April.
Ich schleppte genervt zwei schwere Einkaufstüten durch den Hagel. Mein ganzer Körper schmerzte, als die dicken Eiskugeln auf meinen Körper trafen. Mein Gesicht brannte unter dieser Tortur. Die Griffe der Tüten übten einen schmerzhaften Druck auf meine Finger aus, die schon eiskalt waren. Am liebsten hätte ich die Einkäufe einfach in die nächste Ecke gefeuert.

„Kann ich dir helfen?“ Aus dem Augenwinkel nahm ich plötzlich einen großen Mann wahr, der neben mir herlief und seinen Mantelkragen aufstellte, um seinen Nacken vor der Kälte zu schützen.
Mein Verstand kombinierte innerhalb weniger Sekunden die wahrgenommene Stimme mit dem Bild, das sich aus meinem Augenwinkel ergab. Mein Lieblingskunde!

Vor Schreck blieb ich abrupt stehen und starrte ihn ungläubig an, wobei der beißende Hagel und die Schwere der Taschen plötzlich aus meinem Bewusstsein verdrängt wurden, von Jonathan, der mir sanft lächelnd die Sprache verschlug.

„Gib mir eine Tasche ab“, forderte er freundlich, nahm eine Tüte aus meiner Hand und lief los. Perplex folgte ich seinem Beispiel. Wir sprachen nicht. Dicke Hagelkörner prasselten ungnädig in unsere Gesichter. Zwei Mal wies ich ihm den Weg zu meiner Wohnung an, obwohl ich gar nicht wusste, ob er mich bis dahin begleiten würde. Eine unbekannte Aufregung kroch mir die Wirbelsäule hoch, die in einer unermesslichen Vorfreude mündete, als er vor dem Tor zu meinem Wohnblock stehenblieb und mich unschuldig von der Seite ansah, als ich in meiner Jackentasche nach meinem Schlüssel suchte. Ich war überrascht und überfordert zugleich, dass er tatsächlich vor meinem Wohnhaus stand. Mein Herz klopfte laut und hektisch in meiner Brust. Ich bemühte mich flach zu atmen, um mich nicht als verliebter Idiot zu entlarven. Ich wollte genauso cool und lässig wirken, wie er. Kommentarlos folgte er mir in den Hausflur, noch immer meine Einkäufe tragend und daher mit einem guten Grund ausgestattet, in mein Privatleben einzutreten.

Mit schwitzigen Fingern schloss ich meine Wohnungstür auf und ärgerte mich insgeheim, dass ich nicht aufgeräumt hatte, obwohl ich es wochenlang auf meiner mentalen To-Do Liste gestanden hat.
Es war mir unangenehm ihn in meine langweilige Wohnung zu lassen, dessen Inneneinrichtung pure Gleichgültigkeit gegenüber Stil und Mode aufwies. Der elegant gekleidete Mann wirkte wie ein Fremdkörper in meiner schlecht tapezierten Behausung. Jonathan passte nicht zu mir. Das wurde mir schlagartig bewusst, als er sich kurz zu mir umdrehte und mir ein Lächeln schenkte. Man sah ihm an, dass er die Dreißig bereits überschritten hatte, dennoch wirkte er nicht alt, sondern erfahren. Unter seinen blauen Augen bildeten sich Lachfältchen, die ihn unheimlich sympathisch wirken ließen. Ich lächelte augenblicklich zurück, wobei ich anmerken muss, dass ich ihn wahrscheinlich ziemlich irre angrinste. Aber er störte sich nicht daran und trat wie selbstverständlich in mein Wohnzimmer ein und stellte die Einkäufe auf dem Boden ab.

„Hast du vielleicht einen Tee für mich? Mir ist arschkalt“, grinste er schließlich, während ich die kalte Luft des Hausflures aus meiner Wohnung aussperrte, indem ich die Tür schloss.
Ich konnte nicht glauben, wer sich in meiner Wohnung befand. Jonathan aus der Bäckerei. Mein heimlicher Schwarm.

Unsicher beobachtete ich ihn, während er sich amüsiert in meinem Wohnzimmer umguckte. Die kurzen dunklen Haare klebten auf seiner Stirn, die Haut war leicht gerötet und nass. Jonathan atmete schwer und bot mir einen äußerst erotischen Anblick.
Es fühlte sich komisch an mit ihm alleine zu sein. Mein Herz schlug wild und scheinbar völlig taktlos. Vor Aufregung wurde mir beinahe übel.

„Natürlich, allerdings habe ich nur Erdbeertee“, erklärte ich schließlich mit heiserer Stimme, als mir wieder einfiel, dass er mir eine Frage gestellt hatte.

„Erdbeertee klingt interessant“ Jonathan schälte sich aus seinem tropfnassen Mantel und zog schließlich auch seine Schuhe aus. Durch sein weißes Hemd, welches ebenfalls durchweicht war, zeichneten sich seine Bauchmuskeln ab. Mein Blick blieb auffällig lange an seinem Oberkörper hängen.
Dann schlenderte ich betont gelassen zu meiner Einbauküche und suchte zwei Tassen. Ich spürte seinen Blick in meinem Nacken. Er trat direkt hinter mich und sorgte für ein aufgeregtes Bauchkribbeln. Passierte das gerade wirklich? Auf meiner Fensterbank wurde ich schließlich fündig. Eine Micky Mouse Tasse und eine mit Werbeaufdruck. Nachdem ich den Wasserkocher eingeschaltet hatte, drehte ich mich wieder zu Jonathan um. Sein Anblick erschreckte mich, obwohl ich wusste, dass er direkt hinter mir stand. Meine aufgestellten Nackenhaare hatten es mir verraten. Mit langsamen Schritten kam er näher. Sein Blick hatte mich eingefangen und wollte mich nicht wieder loslassen. Die tiefe Stimme brachte mein Herz fast zum Aussetzen.

„Vergiss den Tee, wir sollten Duschen gehen. Das ist eine viel effektivere Methode sich aufzuwärmen“, raunte er. Seine blauen Augen bohrten sich in meine und ließen den Boden unter meinen Füßen schwanken. Die Nervosität ließ mich innerlich zittern. In meinem Kopf spielten sich plötzlich unzählige Szenarien gleichzeitig ab, dennoch konnte ich mir keinen Reim aus dem Gesagten machen.

Wollte Jonathan sich wirklich mit mir unter die Dusche stellen, oder hatte die wochenlange zehr nach ihm mir einen Streich gespielt? Ist er tatsächlich schwul?

Bevor sich meine Gedanken wirr im Kreis drehen konnte, trat er noch näher an mich heran und ergriff meine Hand. Unsere Finger verhakten sich ineinander.

„Wo ist dein Badezimmer?“, fragte er feixend. Der Schalk in seinem Gesicht war nicht zu übersehen. Die blauen Augen glänzten vor Neugierde, doch sie konnte seine Erregung nicht verschleiern.
Mein Verstand löste sich endgültig auf, als mir Jonathan ein charmantes Lächeln schenkte. Ich verabschiedete meinen Stolz und vermied die Frage, ob sein Verhalten dreist war, stattdessen zeigte ich auf die einzige Tür meiner Wohnung.

Ist diese Tür ihm tatsächlich nicht aufgefallen oder wollte er sich eine Erlaubnis einholen, für alles, was er in den nachfolgenden Stunden mit mir anstellte?

Ich folgte ihm in mein eigenes Badezimmer. Als er die Tür schloss, positionierte er sich dicht vor mir, sodass ich nicht wieder entweichen konnte.

Meine Erregung vernebelte mir die Sinne, sodass ich nur dastand und Jonathan beobachtete.
Sein weißes Hemd war durchtränkt vom Regen, durch den Stoff konnte ich seinen definierten Oberkörper erkennen, den er nur langsam vollständig freigab. Bedächtig knöpfte er sein Hemd auf, als wollte er mich in den Wahnsinn treiben. Ich stand ihm fassungslos gegenüber und beobachte, wie sein Hemd zu Boden fiel.
Mein Kopf fühlte sich leer an, als ob dort keine rationalen Prozesse mehr ablaufen würden. Mir blieb nichts anderes übrig, als wie eine Statur herumzustehen, die urplötzlich versteinert wurde.
Ich durchlebte ein Szenario, welches so abwegig war, dass ich niemals davon geträumt hätte.
Aber wer glaubte auch daran, plötzlich seinem Schwarm gegenüberzustehen, im eigenen Badezimmer, während dieser sich genüsslich vor einem auszog?

Normalerweise hätte dieser Realität doch eine Vorgeschichte zugrunde liegen müssen, in der ich aufwendig um ihn warb?

Jonathans Lippen zierten ein diabolisches Grinsen, als er seinen Gürtel mit einem metallischen Klicken öffnete. Der Ausdruck in seinen blauen Augen war fordernd und ließ mein Herz noch schneller schlagen. Sein Blick lockte mich und trieb mich dazu, meine Muskeln in Gang zu setzen. Langsam streifte ich meine Kleidung ab.
Eine solche Gelegenheit wollte ich nicht ungenutzt lassen, also vertrieb ich alle Fragen und Sorgen, denn ich wollte das! Ich wollte Jonathan, den (fast) Unbekannten aus der Bäckerei! Hier und jetzt.
Mein Badezimmer war erfüllt von einer elektrischen Spannung, die meine Sinne schärfte und mich alle Gerüche und Geräusche deutlich wahrnehmen ließ.

Am liebsten wäre ich über ihn hergefallen, jedoch wollte ich keine Schwäche zeigen, also stieg ich kommentarlos in meine Duschkabine und betätigte den Wasserstrahl. Nur wenige Sekunden später kam er zu mir und presste mich gegen die geflieste Wand, hinter mir. So dicht, dass ich seine Konturen deutlich auf meiner Haut spüren konnte. Es fühlte sich unheimlich gut an, zumal sein Oberkörper hart und durchtrainiert war. Um das Gleichgewicht zu behalten, und nicht aufgrund meiner weichen Knie einzuknicken, schlang ich meine Arme um Jonathans Hals.
Das schrille Klingeln meiner Eieruhr erlöst mich von Erinnerungen, die ich endgültig aus meinem Kopf verbannen sollte. Meine Pizza ist fertig und Jonathan Geschichte!

Selbstgerechten Arschlöchern sollte es verboten werden, so viel Charme zu besitzen.
Ich öffne den Ofen, als ich feststelle, dass sich bereits dunkler Qualm gebildet hat. Die Pizza ist gerade noch essbar, vermutlich nicht nach der Empfehlung eines Arztes, aber das ist mir herzlich egal.
Die angesengte Pizza lässt sich nur schwerlich auf meinen Teller manövrieren. Zusammen mit einer Flasche Bier und der Fernbedienung lasse ich mich auf mein Sofa fallen. Meine Erektion ignoriere ich, um mich nicht wieder in einem Strudel aus Erinnerungen an Jonathan zu verlieren. Ich möchte einfach nur meine Ruhe vor diesem Mann haben.
Doch mein inneres Teufelchen flüstert mir zu, dass ich ein verdammter Lügner bin. Ich möchte alles aus seinem Leben erfahren, ihn zu seiner Kindheit befragen und alle Informationen über ihn aufsaugen wie ein Schwamm. Aber gewiss möchte ich nicht meine Ruhe vor ihm haben! Nicht vor Jonathan, der mich emotional schon in die Knie zwingt, wenn er mir zulächelt, was übrigens sehr charmant aussieht. So charmant, dass es niemand mit ihm aufnehmen konnte.

In meiner Traumvorstellung ist er natürlich ein Single, aus einem reichen Elternhaus, sodass die Offenbarung seiner Homosexualität ein Existenzrisiko darstellen könnte. Insgeheim sehnt er sich natürlich nach mir. Sind diese Spekulationen naiv? Absolut. Verdammt, ich weiß nicht mal seinen Nachnamen!
Ich wische den Gedanken weg und knicke meine Pizza in der Mitte, da ich keinen wirklichen Appetit verspüre. Lustlos stopfe ich sie in meinen Mund.

Warum habe ich damals diesen dämlichen Job in der Bäckerei angenommen?
Eigentlich habe ich geplant, in einem Spätkauf zu arbeiten, aufgrund der praktischen Arbeitszeiten. Dort wäre ich Jonathan sicherlich nicht begegnet. Zumindest bezweifle ich, dass er in Spätkaufs sein Unwesen treibt, wo er doch einen exquisiten Geschmack hegt. Was hat er überhaupt im Schwulen und Lesbenviertel gesucht? Unverbindlichen Spaß? Warum hat er sich ausgerechnet mich ausgepickt? Ich werde vermutlich nie eine Antwort darauf finden. Jetzt ist es zu spät. Ich habe diese Affäre beendet. Stolz kriecht in mir hoch und breitet sich wärmend in meiner Brust aus. Ich habe es geschafft und es wird sicherlich nicht lange dauern, bis ich bereit für etwas Echtes bin. Dafür werde ich sorgen, denn ich lasse ihn nicht zurück in mein Leben.

 

ENDE.

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Bildmaterialien: Lizenzfrei CCO
Tag der Veröffentlichung: 24.06.2017

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