Cover

Kapitel 1

»Swetlana, wach auf«, energisch schüttelte die Frau das kleine Mädchen wach, um sich gleich daraufhin zu ihrem kleineren Bruder zu wenden und ihn ebenfalls zu wecken. »Oleg, auch du musst wach werden.«
Swetlana sah die zitternden Hände ihrer Tante. »Tante Natalie? Was ist denn los?« In dem Augenblick hörte sie schon das Geschrei, das aus der Küche durch den Flur zu ihnen drang. »Lass mich durch! Ich werde die Bastarde töten!«, brüllte ein Mann.

Swetlanas Mutter wimmerte: »Es sind deine Kinder, so glaub mir doch. Deine Mutter hat dich belogen. Es sind deine Kinder, dein Fleisch und Blut.«

»Du Hure hast es mit deinem eigenen Vater getrieben! Du hast mir die Kinder deines eigenen Vaters untergeschoben«, die Zunge des Manns ging so schwerfällig, dass man ihn kaum verstand.

»Johann, hör dir doch einmal selber zu. Es ist deine Mutter, die dir den Verstand vergiftet hat. Du kennst mich doch, du weißt, ich würde niemals so etwas Widerwärtiges tun. Es ist völlig krank, das auch nur zu denken. Das sind deine Kinder. Sie sind dir wie aus dem Gesicht geschnitten.«

Ein dumpfer Schlag folgte und das Mädchen hörte, wie ihre Mutter vor Schmerzen schrie. Mit großen Augen sah Swetlana zu ihrer Tante. »Papa?«

Natalie nickte knapp und zog Oleg an, der, noch immer im Halbschlaf, alles mit sich machen ließ. »Wir müssen uns beeilen. Zieh dir schnell etwas über, Sweta.«

Swetlana kannte diese Seite ihres Vaters zu gut. Wenn er trank, war er nicht mehr er selber. Aggressiv, wütend aus tiefster Seele, hasste er alles, was sich bewegte. In allem sah er das Böse und die giftigen Worte seiner Mutter trafen auf fruchtbaren Boden. Natalie öffnete das Fenster zum Garten, das sich zum Glück auf Parterre befand, als etwas laut gegen die Tür donnerte. Jetzt war auch Oleg hellwach. Er war sehr klein, aber auch bereits mit fünf wusste er, was der Lärm zu bedeuten hatte. Angstvoll klammerte er sich an Natalie, die den Kindern keine Zeit mehr ließ, sich fertig anzukleiden. »Nehmt eure Hausschuhe und Kleider mit. Wir müssen weg.«

Swetlana hörte die Angst in der Stimme ihrer Tante. Heute war es schlimmer als sonst. Heute waren sie wirklich in höchster Gefahr. Die Emotionen des Mädchens schalteten sich ab, nun hieß es reagieren und handeln. Natalie half den Geschwistern aus dem Fenster zu klettern und stieg dann selber hinterher.

BUMM!

»Mach die scheiß Tür auf!«

BUMM!

»Mach auf, Schlampe!«

BUMM!

Lange würde die hölzerne Tür den Angriffen des Vaters nicht mehr standhalten, das Knacken des brechenden Holzes drang bis zu ihnen raus. Natalie riss Oleg auf ihren Arm und rief entsetzt: »Lauf!«

»Aber Mama …«, Sweta versagte die Stimme.

»Hab keine Angst, sie schafft es ohne uns. Jetzt lauf!«

Die Tür gab nach und wurde krachend aufgetreten. Swetlana hörte das Schreien ihres Vaters, als er ins kleine Schlafzimmer der Kinder gestürzt kam. Wie ein waidwundes Tier klammerte er sich am Fensterrahmen fest und brüllte seinen Hass in die Nacht. Swetlana schaute sich nur einmal um, da waren sie bereits um die Wegbiegung gelaufen und der geliebte und doch gefürchtete Vater verschwunden.

»Hat er uns gesehen?«, fragte Natalie nervös.

Swetlana schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht.«

»Lasst uns trotzdem weiter laufen, wir sind noch zu dicht dran.« Resolut fasste sie Sweta an der Hand und zog sie eilig mit sich.

»Langsam, Tante Natalie, ich sehe nichts.« Tränen sammelten sich in den Augen des kleinen Mädchens, aber sie wusste, es war keine Zeit zum Weinen, keine Zeit schwach zu sein. Die Nacht schluckte jegliches Licht, man konnte kaum die Hand vor Augen erkennen.

»Wir sind gleich da, Sweta.« Gehetzt schaute sich Natalie immer wieder um. »Wir verstecken uns in den Büschen unserer Nachbarn. Ihr Hof ist groß, da wird er uns nicht suchen.«

Swetlana fragte nicht, dachte nicht, fühlte nicht. Reagieren auf Anweisungen, das war alles, was jetzt zählte. Oleg klammerte sich schweigend an seine Tante und brachte kein Wort hervor. Swetlana konnte ihn in der Dunkelheit kaum erkennen, aber sie fühlte seine Furcht, schwer und dick wie Brei, genau wie ihre eigene. 

 

»Bleibt hier«, flüsterte Natalie und setzte Oleg auf den Boden. Wimmernd fasste der Junge um ihr Bein. »Gehen Sie nicht weg, Tante Natalie.«

Swetlana zog Oleg zu sich. »Hab keine Angst, kleiner Bruder. Ich bleibe bei dir und passe auf dich auf. Tante Natalie wird gleich wieder da sein.«

Natalie nickte. »Höre auf deine Schwester, ich muss nur schauen, wo wir die Nacht über schlafen können, es ist zu kalt, um hier im Busch zu bleiben.« 

Das war es wirklich, kleine weiße Atemwölkchen bildeten sich beim Sprechen und Atmen. Es war beinahe Winter, eine Nacht hier draußen würde verdammt unangenehm werden.

Swetlana nickte. »Gehen Sie, ich passe auf ihn auf.«

 

Mit klammen Fingern versuchte Sweta, sich die vorhandene Kleidung über den Schlafanzug zu ziehen. »Zieh dich an, Oleg, du dummes Kind«, schimpfte die ein Jahr ältere Schwester. »Du zitterst ja schon vor Kälte.«

Schummriges Licht erhellte den großen Hof der Nachbarn. Kleine Weglichter am Rande der Wiese, auf der sie sich befanden, machte die Dunkelheit nicht mehr ganz so furchteinflößend. Immer noch stumm versuchte der kleine Junge sich ungeschickt anzuziehen, als ein Rascheln sie beide zusammenzucken ließ. Es war nur Natalie, Erleichterung machte sich in Swetlana breit und Oleg begann erneut zu wimmern, und sich an die Tante zu klammern. Genervt drückte sie das Kind von sich weg. »Du musst dich anziehen, Oleg. Es ist zu kalt.« Umständlich half sie dem Kleinen, sich einen Pulli überzustülpen, als sich ihnen ein merkwürdiges blinkendes Licht näherte. Sweta drehte neugierig den Kopf, blaues Licht, das sich im Kreise drehte, wie seltsam.

»Oh nein, die Polizei«, sagte Natalie verzweifelt. »Zieht euch endlich richtig an, wie kann man nur so langsam sein?!«

Das Tor der Nachbarn zu ihrem Hof rollte auf und der Wagen mit dem lustig blinkenden Licht kam näher. Das war also die Polizei? Swetlana hatte nie zuvor ein Polizeiauto gesehen, bei dem sich die Lichter so seltsam verhielten. Wie ein Pulsschlag, was beunruhigend und beruhigend zu gleich war.

Das Auto rollte über den Hof und kam am Rand der Wiese zum Stehen, die Scheinwerfer genau auf dem Busch gerichtet. Sweta kniff die Augen zusammen und zog schnell ihren Rock zurecht. Mist, die Beine des Schlafanzuges lugten noch unten hervor. Bevor sie sie nach oben ziehen konnte, hörte Swetlana das Öffnen der Fahrzeugtüren und ein noch grelleres Licht durchflutete die Nacht mit kaltem Licht.

»Hier spricht die Polizei, wir wissen, dass sie sich im Busch aufhalten, kommen sie bitte langsam und mit erhobenen Händen heraus.«

Swetlanas Herz rutschte in die Hose. Die Augen gewöhnten sich langsam an die Helligkeit und sie erkannte die Umrisse zweier Männer. Angstvoll klammerte sie sich an ihre Tante. »Tante Natalie?!«

»Ganz ruhig,« Natalies Stimme bebte. »Das ist die Polizei, sie werden uns helfen.«

Oleg hatte sich längst auf der anderen Seite an die Hand seiner Tante gehängt und es wirkte, als wolle er sie nie wieder loslassen. »Wir tun jetzt, was die Männer verlangt haben und treten vor den Busch, verstanden? Heb deine andere Hand, du auch Oleg.«

»Wir kommen«, rief sie laut und gemeinsam traten sie aus dem schützenden Gebüsch hervor.

Die Polizisten richteten den Suchscheinwerfer augenblicklich tiefer, sodass Swetlana nicht mehr geblendet wurde. Erst jetzt konnte sie die Gesichter der Männer erkennen. Ein älterer Mann mit Bart und ein Jüngerer. Der jüngere Polizist richtete etwas mit ausgestreckten Armen auf das kleine Grüppchen. Mit großen Augen starrte Swetlana auf das schwarze Ding in seiner Hand. Sie kannte es aus Filmen, es war eine Schusswaffe. Der Ältere stand leicht breitbeinig da, die Hand an seiner Seite, griffbereit am Pistolengriff.

»Werden die uns erschießen?!«, fragte Sweta entsetzt. »Aber wir haben doch gar nichts Böses getan.« Die freie Hand ging noch ein Stück höher zum Himmel. 

Angstvoll schaute das Mädchen den jüngeren Polizisten an und bemerkte, wie dieser aschfahl die Kinder anstarrte, seine Gesichtszüge waren vor Schock versteinert.

»Steck endlich die Pistole weg«, fuhr der ältere Polizist seinen Kollegen an, ging vorsichtig auf die Drei zu und hob die Arme. »Seid ihr alleine?«

Natalie nickte, die Hand der Kinder so fest umschlossen, dass Sweta beinahe vor Schmerzen stöhnte. Aus dem Augenwinkel bemerkte das kleine Mädchen, wie eine Haustür aufging und warmes, gelbes Licht herausfiel. Im Türrahmen stand ein älterer Mann, der seinen Arm um die Schultern einer Frau legte, die sich an seine Seite stellte.

Die Polizisten sprachen lange mit Tante Natalie, die Geschwister wurden mit beruhigenden Worten auf den Rücksitz des Polizeiwagens gesetzt. Nach einer auffordernden Geste des älteren Polizisten gesellte sich das ältere Ehepaar zögernd zu ihnen. Stockend nahm Sweta die klamme Hand ihres Bruders in die Eigene und starrte ihre Tante durch die sich langsam beschlagende Fensterscheibe an. Sie hörte, wie Natalie verzweifelt versuchte, den Leuten ihre Situation in gebrochenem Deutsch zu erklären. Keiner unterbrach sie, zeigten nur durch ein gelegentliches Nicken, dass sie verstanden hatten. 

»Alles wird gut, kleiner Bruder. Alles wird gut«, flüsterte das Mädchen, nicht sicher, ob sie ihren Bruder, oder sich selber beruhigen wollte.

Gefühlte Stunden, vermutlich aber nur Minuten später öffnete der ältere Mann die Tür des Wagens. »Habt keine Angst, ihr beiden. Euch wird nichts geschehen, das verspreche ich. Ihr versteht mich doch, oder?«

Oleg starrte den Mann verschreckt mit seinen übergroßen Kinderaugen an, aber Swetlana nickte beherzt. Ihre Eltern kamen aus Russland, aber die Kinder sprachen mittlerweile besser deutsch, als russisch. Nun ja, Oleg sprach im Allgemeinen nicht viel. Man legte daheim viel Wert auf Ruhe, besonders wenn ihr Vater daheim war.

»Gut ihr Zwei, dann steigt doch bitte wieder aus. Ihr werdet für ein kleines Weilchen bei den netten Leuten hier bleiben. Herr und Frau Hohenfels werden gut auf euch aufpassen, bis euch eure Tante wieder holen kommt, ja?«

Swetlanas Atem beschleunigte sich. Wollte man sie hier lassen? Alleine? Unter Fremden? Energisch schüttelte sie den Kopf. »Tante Natalie? Bleiben Sie nicht bei uns?«

Der Polizist runzelte die Stirn und schaute perplex zur jungen Frau, sagte aber nichts.

Natalie trat näher ans Auto. »Kommt raus ihr beiden, die Polizei hat keine Zeit, oder wollt ihr auch ins Gefängnis?«

Natalie sprach russisch mit den Kindern, Sweta wusste, dass sie nicht wollte, dass die Polizisten sie verstanden. Es hatte keinen Sinn widerspenstig zu sein, auffordernd stupste sie Oleg an. »Geh, ist schon gut. Ich werde bei dir bleiben.«

Umständlich rutschte ihr Bruder mit seinen Stummelbeinchen vom Sitz und kletterte zur Tür hinaus. »Sweta!«, rief er verängstigt, als er die fremden Menschen sah, und klammerte sich an seiner Schwester fest. Sweta war auch danach, sich an ihm festzuklammern, aber sie war die Große, sie musste stark sein, für sie beide.

Die fremde Frau löste sich von ihrem Mann und kam mit einem freundlichen Lächeln auf die Geschwister zu. Sie ging in die Knie, um mit den Kleinen auf Augenhöhe zu sein. »Hallo ihr zwei. Mein Name ist Marie Hohenfels«, sie zeigte auf ihren Mann. »Das ist Klaus-Peter Hohenfels und wie sind eure Namen?«

Oleg schaute betreten zu Boden und gab keinen Mucks von sich, seine schwitzige kleine Hand zuckte verdächtig in der seiner Schwester. »Shhht«, machte Sweta und strich zum Trost über seine Finger. »Ich heiße Swetlana Miller, das ist Oleg«, sagte das Mädchen leise. Die Frau ließ sich nicht beirren. »Schön euch kennenzulernen. Weißt du, dass ich einen Sohn habe, der ungefähr in deinem Alter ist?«

Swetlana wusste darauf nichts zu erwidern und lächelte gezwungen.

»Kommt, ich zeige euch unser Haus.« Sie streckte ihren Arm aus und öffnete die Handfläche. Panisch rückte Oleg noch ein Stück näher an Sweta ran und die Köpfe der Geschwister zucken zu Natalie, die gerade im Begriff war, ins Auto der Polizei zu steigen. Die verzweifelten Blicke der Kinder hielten sie auf. Sie ging zu den Kleinen und hockte sich auf Augenhöhe neben sie. »Ich muss jetzt mit der Polizei mitfahren. Wir müssen nach euren Eltern schauen. Danach hole ich euch wieder ab, versprochen. Ihr müsst hier bleiben. Die Leute sind nett.«

Sweta mahnte sich immer heftiger, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Das war etwas, das sie schon früh gelernt hatte, um nicht übermäßig Prügel einstecken zu müssen. Wenn Vater betrunken war, wollte er immer mit den Kleinen spielen oder er stellte ihnen merkwürdige Fragen, die Sweta unangenehm waren. Über Mama und Papa und wen sie lieber hätten. Wenn er mit ihnen spielte, dann wollte er sie meist kitzeln, aber er war dabei so grob, dass sie danach nicht selten blaue Flecken hatten. Die Kinder durften aber nicht zeigen das es weh tat, sie mussten lachen, viel, viel lachen. Manchmal hatte Swetlana so viel Angst vor ihrem Vater, dass sie so tat, als würden sie fangen spielen oder verstecken. Ja, verstecken war das beste Spiel, da musste sie nichts verheimlichen, außer sich selber. Auch da war Vorsicht geboten. Wenn Vater sie nicht beim Fangen spielen irgendwann erwischte, wurde er wütend und dann holte er den Gürtel raus. Das Gürtelspiel war nicht lustig, es war eine schmerzhafte Lektion. Er rief immer, er wolle sein Leder auf ihren Ärschchen tanzen lassen. Schlimmer als das Gürtelspiel, war jedoch das Kabelspiel. Er zog das aufgerollte Kabel aus dem Staubsauer heraus und verdrosch sie damit. Er hatte viele solche Spiele. Das ›Schneid dir einen dünnen Ast im Garten ab‹ - Spiel oder das ›Stell dich stundenlang in die Ecke‹ Spiel, manchmal auch kniend. Swetlana schüttelte den Kopf, sie wollte jetzt nicht an ihren Vater denken. Sie dachte auch nicht an ihre Mutter oder Großmutter, sonst würde sie die Maske nicht mehr aufrechterhalten können. Sie kannte die fremden Menschen nicht und wusste nichts über ihre Spiele. Sie hatte auch keine Lust darauf, ihre Spiele kennenzulernen. Deshalb lächelte sie, auch wenn sie innerlich weinte.

Die Kinder starrten dem davonrollenden Polizeiauto nach, in dem nun auch ihre Tante saß, und trotteten dem Ehepaar langsam hinterher. 

 

Sie schliefen in Jens Zimmer, dem Sohn des Ehepaares. Er war neugierig, aber nett und seit langem fühlte Sweta eine gewisse Ruhe einkehren, die sie lange nicht erlebt hatte. Die Angst fiel nach und nach von ihr ab. Als sie die ruhigen Atemgeräusche der beiden Jungen hörte, ließ sie es zum ersten Mal zu, das ihr die Tränen über das Gesicht liefen und lautlos vom Kissen aufgenommen wurden. 

Kapitel 2

Am nächsten Tag erwachte Sweta wie aus einem Traum. Im Haus roch es nach Essen, erst jetzt wurde ihr bewusst, wie hungrig sie war. »Oleg?«, fragte sie leise?

Ihr kleiner Bruder schlummerte noch tief und fest, Jens dagegen war nicht mehr in seinem Bett. Erschöpft durch die Ereignisse der letzten Nacht atmete sie noch einmal tief ein und aus. Nachdenklich betrachtete sie ihren blauen, einteiligen Schlafanzug, den sie ja die ganze Zeit unter ihrer Straßenkleidung getragen hatte. Heute konnte sie sich Zeit lassen und den Strampler mit den weißen Sternchen vorher ausziehen. Sorgfältig legte sie ihn zusammen und zog den Rock samt Pullover an. Dann erst weckte sie ihren Bruder. »Oleg, wir müssen aufstehen, Tante Natalie wird uns sicher bald holen.« Schlaftrunken setzte sich der kleine Junge auf und schaute verwirrt herum. Sekunden später huschte das Verstehen über seine Gesichtszüge. »Wo ist Mama?«

Sweta setzte sich auch die Matratze, die man für sie auf den Boden gelegt hatte, und umarmte ihren Bruder. Widerwillig löste er sich aus ihrem Griff, er ertrug Nähe nicht besonders gut, wenn er sie nicht selber suchte, so wie sie es oft auch nicht konnte. 

»Wollen wir runtergehen und schauen, was da so gut riecht?«

Hoffnung strahlte aus dem kleinen Gesicht. Essen. Sie hatten seit Tagen nichts Vernünftiges mehr gegessen. Es war ende des Monats und oft blieb in den letzten beiden Wochen nicht viel Essbares im Haus übrig. Nicht selten ernährten sie sich von warmem Leitungswasser und darin aufgelöstem Zucker. In den Sommermonaten gab es hin und wieder im Garten noch etwas, was sich essen ließ. Aber wenn es so kalt war wie jetzt, blieben meist nicht mal mehr die Beeren am Strauch.

»Hunger«, sagte Oleg und wurstelte sich aus dem Federbett. Flink half Sweta ihrem Bruder beim Ankleiden. Hand in Hand gingen sie aus dem Kinderzimmer die breitgeschwungene Treppe hinunter dem Geruch entgegen.
Ihre Nachbarn waren nett, langsam taute Swetlana auf. Sie ließ sich nicht zweimal auffordern beim Essen zuzugreifen und genoss die leckeren Speisen in vollen Zügen. Warme Brötchen, sie erinnerte sich nicht, ob sie jemals warme Brötchen gegessen hatte und so viele verschiedene Wurstsorten und Käse, Marmelade und Eier. Es gab gekochter Eier! Gierig griff Sweta zu, ihr war völlig egal, was die Menschen von ihr denken könnten, der Hunger ließ sie zittern. Dennoch entging ihr der bedeutungsvolle Blick nicht, den Frau Hohenfels ihrem Mann zuwarf. Sollten sie doch lästern, Hauptsache, sie nahmen ihr und ihrem Bruder nicht die leckeren Sachen weg.

Erst als nichts mehr in den Magen passte, hörte Sweta auf zu essen. Selbst der letzte Schluck Kakao hätte beinahe in der Tasse bleiben müssen.

Hunger war ein schlimmes Gefühl, es fraß einen von innen auf und bohrte sich in jeden Gedanken. Es schmerzte irgendwann so sehr im Magen, dass man bereit wäre, Rinde vom Baum zu nagen. Und dann hörte der Schmerz auf und man wurde schwächer, alles wurde anstrengender, jede Bewegung kostete Überwindung. Deshalb aß Sweta immer dann, wenn etwas zum Essen da war, sie aß und aß, bis nichts mehr in den Körper hinein ging. Sie wusste schließlich nicht, wann sie das nächste Mal etwas bekommen würde.

Frau Hohenfels trat an die Geschwister heran und streckte ihre Hand aus. Swetlana zuckte erschrocken zusammen, wollte die Frau sie schlagen, vielleicht, weil sie ihnen das ganze Essen weggegessen hatte? Mit großen Augen schaute das Mädchen zu der älteren Frau, die ihre Hand augenblicklich zurückzog. Sweta verstand nicht, warum die Frau so erschrocken aussah, hatten die Geschwister vielleicht etwas Schlimmes getan?

»Ich kann das nicht mehr, Klaus-Peter, ich muss kurz raus.«

Swetlana hörte die Frau weinen, als sie aus der Küche stürzte und ihr wurde schwer ums Herz. Sie wusste nicht, was sie der Frau getan hatte, aber es tat ihr sehr leid. Noch nie waren Menschen so nett zu ihnen beiden gewesen. Nur Opa und Oma, aber die wohnten sehr weit weg.

»Sorgt euch nicht, Kinder«, sagte Herr Hohenfels. »Es ist alles gut, es ist nicht eure Schuld.« 

 

Tante Natalie kam wie versprochen wenig später, sammelte die Kinder wieder ein und brachte sie nach Hause.

Die Tür stand sperrangelweit offen, vorwurfsvoll, wie eine Anklage für die Ereignisse der letzten Nacht. Swetlana kam es mittlerweile wie ein Traum vor, wäre da nicht der gefüllte Magen und noch immer der Geschmack der Leckereien auf den Lippen.

»Wo ist Mama?«, fragte Oleg erneut, wie eine kaputte Schalplatte.

»Kinder, ihr müsst eure Mutter einige Tage in Ruhe lassen, es geht ihr nicht sehr gut. Und Oma auch nicht.«

»Wo ist Papa?«, fragte Swetlana, auch wenn sie es eigentlich nicht wissen wollte.

»Nicht da«, war die knappe Antwort. »Aber ich vermute, er wird heute im Laufe des Tages wieder kommen. Ich fahre ihn später abholen.« 

Das Mädchen schämte sich für die Erleichterung, die es verspürte. Eine Schonfrist, das war der beste Tag ihres ganzen Lebens. 

 

»Mama? Sind Sie da?«, Swetlana klopfte leise gegen die Schlafzimmertür.

»Ja Schatz, aber ich bin krank und kann nicht rauskommen.«

Swetlana runzelte die Stirn, es war die Stimme ihrer Mutter, irgendwie zumindest, aber es hörte sich irgendwie auch nicht nach ihr an. Sie sprach nuschelnd und undeutlich, dass Sweta angestrengt hinhören musste, um die Mutter zu verstehen. »Was haben Sie denn? Sind Sie erkältet?« 

»Ja Sweta, sehr erkältet. Kannst du bitte in den Keller gehen und Kartoffeln hochholen? Es müssten noch ein paar aus Garten dort unten liegen.«

Sweta nickte, bis ihr bewusst wurde, dass die Mutter sie ja nicht sehen konnte. »Ja, Mama.«

Hurtig rannte sie die Stufen von der ersten Etage hinab, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Oleg noch in Ruhe mit den fischig riechenden Holzstückchen spielte. Die hatte ihr Vater vor einigen Tagen von einer Resteverwertung mitgebracht. Swetlana konnte es nicht ertragen, sie anzufassen, aber Oleg liebte die kleinen Holzklötzchen, selbst, wenn er sich ab und an ein Splitterchen zuzog.

Die Tür zum Keller war stets abgeschlossen, weil Großmutter Angst hatte, ein Mann mit schwarzer Hautfarbe könne sie entführen und ihr furchtbare Sachen antun. Swetlana war schleierhaft, warum ein Mann mit schwarzer Hautfarbe das tun sollte, denn Großmutter besaß kein Geld, nur ihren inbrünstigen Glauben an Gott.

Der Schlüssel ließ sich nur schwer drehen, denn er war leicht angerostet. Swetas Zungenspitze lugt angestrengt hervor, als sie alle Kraft in ihre Finger legte, die sie hatte. Quietschend schwang die Tür in die Dunkelheit des Treppenabgangs auf. Sweta fürchtete sich vor der Düsternis. Großmutter erzählte ihr und ihrem Bruder jeden Abend Geschichten von teuflischen Dämonen, die sich in den Schatten versteckten und nur darauf warteten, unschuldige Kinderseelen zu fressen. Sweta wollte nicht für alle Ewigkeiten im Fegefeuer verbrennen, immer nach etwas Wasser rufend, doch nie welches bekommend. Sie hatte Angst, keine reine Seele zu haben und jetzt schon dem Teufel zu gehören. Großmutter sagte ihr immer wieder, sie seien alle voller Sünde und wären des Himmelreiches nicht wert. Jeden Tag würde Jesus auf die Welt schauen und weinen, weil schon die Kleinen durch und durch schlecht waren und niemals die Himmelstore würden betreten dürfen. Tief atmete das Mädchen durch. Sie war mutig, mutig genug, um in den Keller zu gehen und die Kartoffeln zu holen. Sie streckte sich nach dem Lichtschalter, der sich mit einem lauten ›Klack‹ umlegen ließ, als sie ihn betätigte.

Beinahe hätte sie geschrien und wäre die Stufen hinunter gestürzt. Die weißgetünchte Wand war von rostroten Handabdrücken verschmiert, die noch jetzt um Hilfe zu flehen schienen. War dies das Blut ihrer Mutter?!
Swetlanas Atem beschleunigte sich im Takt ihres pochenden Herzens. Die mahnenden Male waren gestern früh noch nicht hier gewesen. Die Schreie ihrer Mutter drangen in ihre Erinnerung und gewalttätige Bilder spielten sich vor ihrem inneren Auge wieder. Er musste sie hart geschlagen haben, härter als je zuvor. Mama versteckte sich im Schlafzimmer, weil sie nicht wollte, dass Sweta und Oleg sie so sahen. Es wäre nicht das erste Mal. Swetas Herzschlag wollte sich nicht beruhigen, atemlos starrte sie die erhellte Treppe hinab. Schnell, einfach runter, um die Ecke, nach den Kartoffeln schauen und wieder nach oben laufen, das würde sie hinbekommen. Flink trippelte sie die Steinstufen hinab und huschte zu ihrem Ziel. In der Ecke, in der sie ihr Gartengemüse aufbewahrten, türmte sich ein kleiner Haufen Erde, der dazu diente, die Kartoffeln frisch zu halten. Sweta verzog den Mund, als ihr Tausendfüßler und Kellerasseln über die Hände krabbelten, während sie in der Erde nach Essbarem wühlte. Ängstlich legte sich ihre Stirn in Falten. Bis jetzt war die Erde leer. Tränen traten ihr in die Augen. Sie und ihr Bruder waren noch satt vom Frühstück bei den Nachbarn, aber Mama musste sehr hungrig sein. Erneut grub sie ihre Hände in den lockeren Boden und durchwühlte ihn. Schneller, wilder, panischer. Erleichtert fühlte sie etwas festes, schloss ihre Hand darum und zog es hervor. Eine Kartoffelwurzel, an der noch drei winzige Früchte trug. »Nein, nein, nein«, flüsterte Sweta entsetzt. Das konnte doch nicht alles sein. Das würde nie reichen, und wenn Vater zurückkam und kein Essen auf dem Tisch stand …

Das Mädchen schüttelte heftig den Kopf und bohrte ihre kleinen Hände erneut in den Dreck, vergebens. Erschöpft ließ sie sich zurück sinken und plumpste auf ihren Po. Ihr lauter Schluchzer überraschte sie und erschrocken hielt sie sich die Hand vor den Mund. Weinen war nicht erlaubt, Weinen war nur für Schwache. Wer weinte, bettelte um Schläge.

Aber so sehr sie auch versuchte es zu verhindern, sie schaffte es nicht, dicke Tränen rannen ihr über die Wangen und tropften auf das dünne Kleidchen. Entsetzt starrte sie auf die dunklen Flecken, die ihre erdigen Hände auf der Kleidung hinterlassen hatten. Das musste sie wieder sauber machen, bevor sie wieder Dresche dafür bekam.

Furchtsam blickte sie die Treppen hinauf und das erste Mal in ihrem Leben wollte sie lieber hier unten bleiben. Wollte keine Angst mehr haben, sich keine Gedanken mehr darüber machen, ob sie auch alles richtig machte. Sie wollte nicht mehr lächeln, obwohl ihr zum Weinen war, wollte nicht mehr auf ihren Bruder aufpassen und Ärger bekommen, wenn er etwas anstellte. Sie wollte nicht in die Hölle und für immer brennen, aber vermutlich hatten genau diese Gedanken sie auf ewig verdammt und sie verdiente die qualvolle Ewigkeit.

Erneut schluchzte sie laut auf und die Anspannung des letzten Tages überrollten sie wie ein unaufhaltsamer Zug. Traurig starrte sie auf die drei kleinen Kartoffeln in ihrer Hand. Vater würde sie dafür bestrafen, aber es half nichts, sie musste wieder nach oben gehen, denn man würde sie hier unten finden und dann wäre die Strafe noch viel schlimmer.

»Hallo? Wer bist denn du und warum weinst du so sehr?«

Swetlana entfuhr ein Schrei und sie zuckte heftig zusammen. Entsetzt fuhr ihr Kopf umher und suchte nach der Quelle der Stimme. »Wer ist da?«, fragte sie viel zu schrill. 

»Uhhhh, wenn du mir versprichst, nicht mehr so zu schreien, zeige ich mich dir. Aber du musst versprechen nicht zu brüllen, ja? Meine Ohren sind sehr empfindlich.«

Swetlanas Weinen versiegte langsam, nur ein kleiner Nachschluchzer flutschte ihr noch aus der Kehle. Sie nickte zögerlich und starrte weiter durch den verschmutzten Kellerraum. »Ich weine nicht mehr, ich bin ein großes Mädchen und die weinen nicht.«

»Papperlapapp, natürlich weinen kleine Mädchen wie du auch mal. Das gehört zum Großwerden dazu. Wusstest du, dass in Tränen ein Wachstumsmittel ist? Stell dir mal vor, du würdest nie weinen, dann würde dieses Wachstumsmittel in deinem Kopf bleiben und deine Birne würde anschwellen wie eine Melone. Das würde doch dämlich aussehen.«

Swetlana musste Widerwillen lachen und wischte sich die letzten Tränen vom Gesicht. »Dann darf man aber auch nicht zu viel weinen, sonst bekommt man ja einen Schrumpfkopf.«

Die Stimme kicherte. »Oh, da hast du natürlich auch recht. Einen Schrumpfkopf möchte ganz sicher auch niemand haben.« 

»Magst du dich denn nicht zeigen? Ich verspreche auch, dass ich artig sein werde.«

»Ja, ich weiß du versucht immer artig zu sein, damit niemand böse wird«, die Stimme klang fast einwenig traurig.

Sweta schwieg und senkte den Kopf.

»Ich sehe viel mehr als du denkst, junge Dame.« Der Fremde klang wieder fröhlich wie zuvor. »Und ich sehe, dass du ein braves kleines Mädchen bist, ja, ja, ja. Das bist du.«

Swetlanas Augen wurden groß. »Du beobachtest mich? Wo und wie?«

»Ich bin so klein, auf mich achtet keiner, wenn ich es nicht will.« 

»Also wohnst du hier bei uns?« Das Mädchen konnte ein Staunen nicht unterdrücken. »Hier unten im kalten Keller etwa?«

Die Stimme kicherte erneut. »Sei nicht albern, es ist viel zu kalt, um im Winter hier unten zu wohnen. Dann wohne ich oben bei euch. Ich wohne in den Wänden. Zumindest, wenn ich hier bin.« 

»Wenn du hier bist? Wo bist du denn sonst?«

»Na in meiner eigenen Welt du Dummchen.«

Swetlana entfuhr ein langgezogenes »Ohhhhh.«

Es raschelte in ihrer Nähe und ihr Kopf ruckte in die Richtung. »Bist du das? Zeig dich doch.«

»Willst du meine Welt einmal sehen?«

Swetlana nickte eifrig. »Oh ja, das würde ich ganz furchtbar gerne.«

»Ohne das du weißt, was in meiner Welt auf dich wartet?«

»Überall ist es besser als hier«, flüsterte das Mädchen niedergeschlagen und starrte auf die Spitzen der abgewetzten, mittlerweile viel zu engen Hausschuhe.

»Willst du denn nicht mal wissen, wie ich heiße?«

Sweta nickte und biss sich auf die Lippen, weil sie nicht von alleine auf die Frage gekommen war.

»Ich heiße -«

»Swetlana? Bist du da unten? Soll ich dir etwa die Ohren lang ziehen?! Was machst du da?! Das Licht brennt und brennt, bezahlst du den Strom etwa?«

Der keifende Ton ließ Swetlana augenblicklich hochfahren. Gehetzt starrte sie die Treppe hinauf. »Ja, Großmutter, ich bin es. Ich sollte nach Kartoffeln suchen, für Papa.«

Zitternd wischte sie die schweißnassen Hände an ihrem Kleidchen ab, völlig vergessend, dass sie schwarz vom Dreck der Erde waren. Die schmutzigen Schlieren zogen sich quer über den hellen Stoff. Sie schluckte, das würde Ärger geben. Erst da erinnerte sie sich wieder an ihren neuen Freund.

»Bist du noch da?«, flüsterte sie leise, aber nur Schweigen antwortete ihr. »Ist gut, sei ruhig leise, dann verrätst du dich nicht. Ich komme dich wieder besuchen. Bis bald.« 

»Kommst du jetzt endlich?! Oder soll ich dich an deinen Zöpfen nach oben zerren?!«

»Nein Großmutter, das müssen Sie nicht, ich komme jetzt hoch.«

Kaum hatte sie die oberste Stufe erreicht, griff ihr die alte Frau ans linke Ohr und zog das Kind daran in die Höhe. Schmerzerfüllt schrie die Kleine auf und stellte sich automatisch auf die Zehenspitzen, um die Pein zu minimieren. »Es tut mir leid, es tut mir leid! Ich werde es nie wieder tun.«

»Oh warte, wenn dein Vater nach Hause kommt. Ich werde ihm erzählen, wie unartig du warst und wie du uns auf der Nase rumgetanzt bist. Warte nur ab, Gott hat alles gesehen und mir erzählt, wie böse du wieder gewesen bist.« Sie feixte so sehr beim Sprechen, dass Sweta die Zahnlücken auffielen. Auch das Gesicht der Großmutter wirkte geschwollen und geschunden. Ein kleiner schadenfroher Funke durchflutete das Kind, hatte die alte Hexe also auch Prügel kassiert. Recht geschah es ihr. Aber schon war der Gedanke verschwunden, denn der Griff wurde härter, als sie die Kleine zur Treppe zog, die zum ersten Stock führte.

»Natascha! Natascha, liegst du schon wieder mit deinem faulen Hintern im Bett, während deine Bälger wieder nur Unsinn im Kopf haben? Natascha! Kümmer dich gefälligst um die missratene Brut!«

Mit den Worten stieß sie Sweta so feste nach vorne, dass sie hart auf den Stufen aufschlug und einen Schmerzensschluchzer nicht mehr unterdrücken konnte.

»Recht geschieht dir. Wenn ich euch verlorenen Kinderseelen nicht wirkliche jeden Abend aus der Heiligen Schrift vorlesen würde, wäret ihr schon lange in der Hölle und würdet für immer und ewig schmoren. Geh und bete, bete Kind, bete.« Die Großmutter riss ihre Arme anprangernd in die Lüfte und schlurfte kopfschüttelnd und dumpf vor sich hinmurmelnd zurück, um das Licht zu löschen und die Kellertür zu schließen.

Sweta schloss einen Moment die Augen und legte den Kopf auf den Arm, der auf einer Treppenstufe lag. Die Knie pulsierten und würden morgen grün und blau leuchten. Aber das würde auch wieder weggehen, das war nichts Neues.

Mit zusammengebissenen Zähnen robbte sie die Stufen nach oben, krampfhaft die drei kleinen Kartöffelchen festhaltend. 

Oleg war durch das Geschrei der Großmutter vom Spielen aufgeschreckt und versteckte sich hinter der Tür zur Treppe. Das tat er immer, wenn er nicht wollte, dass man ihn fand. Die Tür war aus dünnem, milchigem Plexiglas, aber dennoch fühlte er sich dahinter wohl sicher. Die ältere Schwester lugte hinter die Tür und sagte leise: »Hab keine Angst, es war meine Schuld. Oma ist nicht böse auf dich, nur auf mich.«

Olegs große Augen füllten sich mit Tränen. »Wo ist Mama?« Er schlang die dünnen Ärmchen und seine Schwester. »Mama ist im Schlafzimmer, sie ist krank. Lass sie in Ruhe.« 

»Wo ist Papa?«

Swetlana zuckte mit den Schultern.

»Wann kommt Papa wieder?«

Erneut musste Swetlana mit den Schultern zucken.

»Ich habe Hunger.«

Liebevoll strich das Mädchen dem Buben über das Haar. »Hast du das nicht immer?«

»Zuckerbrot?«

Sweta nickte. »Mehr wird vermutlich eh nicht da sein.«

Sie nahm ihn bei der Hand und ging mit ihm in die Küche.

Der Abwasch stand gehäuft in der Spüle und verstreut auf dem Tisch. Das Mädchen räumte eine Ecke frei, legte die Kartoffeln ab.

»Ich mach dir unter einer Bedingung ein Brot. Du gehst danach in den Garten und schaust, ob dort noch etwas Essbares wächst. Wenn du nichts findest, fragst du Oma nach etwas eingemachtem Gemüse, ja?«

Oleg nickte bereitwillig, die Augen gierig auf den Zuckertopf gerichtet.

Sweta öffnete den Kühlschrank. Ein paar Flaschen Bier, und Wodka lachten ihr höhnisch entgegen, sonst war er leer. Nicht mal Margarine. Ihr Mut sank wie die Temperaturen im November. Sie machte die Tür wieder zu und öffnete stattdessen den Schrank mit den trockenen Lebensmitteln.

Wie sie es sich bereits gedachte hatte. Auch hier herrschte gähnende Leere. Eine Handvoll Reis stand in einer kleinen bunten Tasse bereit und ein angebrochenes Paket Mehl prangte in einem der Fächer. Swetlana beugte sich hinunter. Erleichtert zog sie das letzte Päckchen Zucker hervor. Ebenfalls bereits angerissen, aber noch trug es genug Inhalt.

Gezwungen freudig lachte sie: »Hey, es gibt dein Lieblingsgetränk.«

Oleg formte den Mund zu einem großen O. »Kakao?«

Swetas Lächeln gefror. »Nein, Zuckerwasser.«

Die Enttäuschung, die sie auf seinem Gesicht sah, war beinahe mehr, als sie ertrug. »Es geht nicht immer nur um dich und was du willst. Du bist egoistisch und denkst nur an dich. Sei froh für das, was wir haben!«

Ihr fiel erst auf, dass das die Worte ihrer Mutter waren, als sie diese ausgesprochen hatte. Beschämt schaute sie weg. Sweta hasste es, so mit ihrem kleinen Bruder zu reden, der ja offensichtlich nichts verstand. Aber manchmal konnte sie einfach nicht anders. Aufgestaute Wut und Angst suchten sich ein Ventil. Das einzige Ventil, dass sich noch schlechter wehren konnte, als sie selber. Mit Tränen in den Augen zog sie ihren Bruder an sich heran, aber der windete sich heraus. Sweta schluckte die aufwallenden Vorwürfe herunter. »Ich mache dir jetzt das Zuckerwasser, ja?«

Oleg nickte unglücklich. »Aber mit kaltem Wasser, ja?« 

 

Sie füllte zwei Teelöffel Zucker in ein Wasserglas und füllte es mit Leitungswasser auf. Während sie gedankenverloren in der Zuckermischung rührte und ihren kleinen Bruder dabei zusehen ließ, hörte sie, wie draußen ein Auto auf den Hof gerollt kam. Sie stellte das Glas auf den Tisch und schob einen Stuhl zum Fenster.
Ungewollt fing sie an zu zittern. Tante Natalie und ihr Vater stiegen aus. Swetlana konnte seine düstere Stimmung beinahe durch das Fensterglas wahrnehmen.

Panisch riss sie den Kopf herum. »Geh runter und frage Oma nach etwas zu essen. Papa ist gerade gekommen, er ist sicher hungrig.« 

Schnell schluckte der Junge die letzten Schlucke des klebrigen Getränks runter und rutschte fröhlich vom Stuhl. »Jaaaa, Papa ist zu Hause.«

Nicht zum ersten Mal beneidete Sweta ihren Bruder um die bedingungslose Liebe, die der Junge für ihre Eltern empfand, und spürte einen Stich Eifersucht. In Swetlana tobte ein ständiger Sturm an Gefühlen. Sie wusste, dass ihre Familie anders war. Sie konnte es nicht betiteln, da sie nur wenige andere Familien kannte. Aber die Nacht im Haus ihrer Nachbarn öffnete ihre Augen und sie wusste nun sicher, dass ihre Familie nicht wie andere war.

Jens sprach seine Eltern mit ›du‹ an. Eine Ungeheuerlichkeit, respektlos und … normal? Seine Eltern waren nicht böse, als ihm das Du herausrutschte und als das öfter passierte, verstand Sweta, dass die Eltern des Nachbarjungen es ihm erlaubt hatten. Langsam dämmerte dem Mädchen auch, warum Fremde sie merkwürdig ansahen, wenn sie ihre Familienmitglieder, außer den Bruder, mit ›Sie‹ ansprach. Was nutzte es? Die anderen waren die anderen, sie war sie. Olegs Gejubel, als der Vater durch die Eingangstür kam, drang zu ihr hinauf, so auch sein dunkles Gemurmel. Schnell rückte sie den Stuhl zurück an seinen Platz, ihr Vater mochte es nicht, wenn ihm etwas im Weg stand.

Mutter war noch im Schlafzimmer, Oleg hatte vermutlich vergessen die Großmutter zu fragen und Sweta stand verloren in der Küche und knetete ihre Hände. Oh nein! Das Kleid! Geschwind rannte sie ins Badezimmer, bevor ihr Vater die Treppe hochkam, und schloss ab.

Sie griff nach dem ersten Handtuch, das sie in die Finger bekam, machte eine Ecke feucht und rieb über den Stoff. 

Nein. Nein, nein! Anstatt das die Flecken verschwanden, verliefen sie, wurden hellbraun und breiteten sich wie eine Blume aus. Verzweifelt atmete das Mädchen schneller, als jemand den Türgriff betätigte. »Moment«, rief Sweta. »Ich bin auf Toilette.« 

»Beeil dich, ich muss auch« Die Stimme des Vaters klang tief und brummig.

Mit steifen Fingern wühlte Sweta in der Schmutzwäsche. Da, ein Pulli und dort, eine Strumpfhose. Das reichte für daheim. Flink zog sie das Kleidchen aus und schlüpfte in die anderen Sachen. Das schmutzige Kleidungsstück verstecke sie unter der anderen Dreckwäsche. Mama würde auch wütend werden, aber vielleicht würde sie nicht gleich zuschlagen.

Nervös öffnete sie die Tür und schlich ins Wohnzimmer.

»Hallo Papa, wie geht es Ihnen?«

Der Vater lag auf der Couch, den Blick an die Decke geheftet. Er reagierte nicht auf ihre Worte, stand nur auf und ging stumm an ihr vorbei ins Badezimmer.

Swetlana verstand nicht wirklich, was letzte Nacht geschehen war, aber es hatte etwas mit Oleg und ihr zu tun und dem verfluchten Alkohol. Ob Mutter wusste, dass Vater wieder da war? Sie ging zur Schlafzimmertür der Eltern und wollte anklopfen, als sie das leise Weinen ihrer Mutter hörte. Der Mut verließ sie, wenn Mama weinte, dann meist wegen Papa. Also wusste sie vermutlich, dass er wieder da war. Unverrichteter Dinge ging sie zurück ins Wohnzimmer und beobachtete unschlüssig, wie Oleg mit den stinkenden Klötzchen spielte. Die Spülung rauschte, ihr Vater würde jeden Moment zurück kommen. Auf dem Tisch stand eine geöffnete Flasche Bier, nun, dann hatte sich das Abendbrot erledigt. Wenn er trank, aß er nichts. Einerseits war sie erleichtert, andererseits fing ihr Magen wieder an, seltsame Geräusche zu machen. Es dämmerte, was bedeutete, dass eine Mahlzeit für heute reichen musste.

Ohne seine Tochter eines Blickes zu würdigen, ging er an ihr vorbei zum Wohnzimmerschrank, drückte den Knopf, um den Fernseher anzuschalten und legte sich zurück aufs Sofa.

»Hilf deinem Bruder sich bettfertig zu machen. Und pack deinen Ranzen, morgen hast du wieder Schule.«

»Aber es ist noch früh«, war Sweta ein, der eiskalte Blick ihres Vaters brachte sie jäh zum Schweigen. Wortlos fasste sie Oleg an der Hand und schleifte das jammernde Kind mit sich.

 

Kapitel 3

»Psst, schläfst du schon?«

Swetlana, die die ganze Zeit in die Dunkelheit starrte, hüpfte das Herz. Erst vor Schreck, dann vor Freude. Ihr geheimnisvoller Freund war zu ihr gekommen. »Nein, ich kann nicht schlafen. Morgen ist wieder Schule und ich habe Angst vor den Kindern.«

»Du hast Angst vor anderen Kindern? Warum?«

»Sie sind anders als ich.«

»Wie, anders?«

»Na anders eben, sie sind laut und dumm und furchtbar gemein.«

Ein Schnaufen drang durch die Düsternis. »Ich kann gemeine Kinder nicht leiden. Was tun die denn?« 

Swetlana wurde traurig. »Sie lachen mich aus, sie sagen, ich sehe komisch aus und ich rede komisch. Keiner will etwas mit mir zu tun haben. Ich fürchte mich vor den Großen auf dem Pausenhof, die schubsen mich. Wenn ich falle, lachen sie noch lauter und zeigen mit dem Finger auf mich.«

»Ich sag es doch, keine Manieren, diese Brut heutzutage.«
Sweta kicherte hinter vorgehaltener Hand. »Das war aber auch nicht nett von dir.« 

»Was denn?«

»Sie so zu nennen.«

»Wie? Brut?«

»Ja«

»Pfff, das war nett. Ich wollte ein viel schlimmeres Wort sagen, aber da du eine junge Dame bist, habe ich das nette Wort gewählt.« 

Jetzt kicherte das Mädchen noch lauter. »Ich bin keine Dame, ich bin doch nur ein Mädchen. Ich werde nächstes Jahr sieben Jahre alt.« 

»Was? Schon sieben? Verzeihung, ich wusste nicht, dass ich mit einer Oma rede.« 

Sweta lachte laut auf, legte aber schnell erschrocken die Hand fest auf den Mund. Oleg im Bettchen neben ihr schnaufte kurz in seinen Träumen, schlief aber tief und fest weiter.

»Du darfst mich doch nicht so zum Lachen bringen, wenn mein Bruder wach wird …« 

»Stimmt, ich wollte dir auch nur etwas Mut zusprechen für morgen. Ich werde dich ganz heimlich begleiten. Wenn du ein Huschen aus dem Augenwinkel siehst, oder ein Rascheln in den Sträuchern, wenn plötzlich ein gemeines Kind auf die Nase fällt, das war dann ich.« 

Swetlana empfand etwas Merkwürdiges in sich, es fühlte sich an wie Kloß im Hals, aber nicht wegen Angst. Es rührte sie, wie sehr dieses fremde Wesen auf sie achtgab.

»Danke … ähm … ich weiß ja noch immer nicht, wie du heißt.« 

»Wie unhöflich von mir.« 

Sweta hätte schwören können, ihn lächeln zu hören.

»Mein Name ist Micahyell.«

»Michael?«

»Nein, nein. Mi-ka-jel wird mein Name ausgesprochen.«

»Mijakel?«

Micahyell seufzte genervt. »Mica, das kriegst du doch sicher hin, oder? Nenne mich Mica.«

»Hallo Mica«, das Mädchen fühlte die Röte in die Wangen steigen und freute sich über die Dunkelheit, die ihre Scham verbarg.

»Gute Nacht, liebe Swetlana und morgen werde ich den ganzen Tag ganz heimlich bei dir sein.«
Das Mädchen fühlte seine Wangen glühen und nickte eifrig. »Ist gut, ich freue mich schon darauf. Schlaf gut, Mica.« 

 

»Angsthase, Pfeffernase, morgen kommt der Osterhase!«
Die Kinder hielten sich an den Händen und tanzen johlend um Sweta herum, die sich schluchzend die Hände vors Gesicht hielt.

»Was ist denn hier los?« Die herrische Stimme der Klassenlehrerin unterbrach den derben Gesang. Kreischend stoben die Kinder auseinander und ließen ein kleines Häufchen Elend zurück. Die Kinder hatten sich über die großen bunten Schleifen in ihrem Haar lustig gemacht und ihr so lange daran gezogen, bis sie aufgingen und nun schlaf und zerknittert zur Seite herunter hingen.

Frau Jablonski hockte sich auf Augenhöhe neben sie und strich dem Mädchen tröstend über das Haar. »Manchmal sind sie einfach nur gemein. Nimm es ihnen nicht übel, sie sehen das Fremde in dir und fürchten sich davor. Aber mit der Zeit werden auch sie dich in ihr Herz lassen.« 

Swetlana schluchzte und nickte zum Zeichen, das sie verstanden hatte. Aber sie glaubte nicht daran. Sie bezweifelte, dass überhaupt jemand sie gerne mochte. Sie musste ein Monster sein, ein Dämon, verflucht dazu, irgendwann im Fegefeuer zu braten. Warum sonst sollte ihre Babuschka ihr jeden Abend erzählen, wie schlecht sie war, voller Sünde und Fehler. Die Kinder schienen das auch zu spüren, genau wie ihre Großmutter. Das war auch der Grund, warum niemand sie liebte. Sie war böse.

»Es tut mir leid, wenn ich böse war, ich wollte nicht böse sein.« Rotz tropfte ihr aus der Nase, den sie mit einem Ärmel wegwischte. Schnell griff die Lehrerin in ihre Rocktasche und reichte dem Kind ein Stofftaschentuch.

»Hier, das darfst du behalten. Und nun geh zu den Toiletten und wäscht dir das Gesicht.«

Mit hängendem Kopf schlurfte Sweta über den Schulhof zu den Sanitäranlagen und öffnete den Wasserhahn.
Ein Kichern lies sie aufhorchen. Aber außer einem der gemeinen Mädchen, die in einer der Kabinen war, konnte sie niemanden sehen.

»Ich hab dich nicht vergessen.« 

Erschrocken drehte sie sich um, aber niemand befand sich hinter ihr. Die Stimme hatte sie sich doch nicht eingebildet?! »Mica?«, fragte sie leise in den Raum.

»Was? Redest du etwa mit mir?«, klang es aus der Toilettenkabine. Anja, die boshafteste der Mädchen aus ihrer Klasse raschelte hinter der Tür, man hörte, wie sie sich die Kleidung zurechtrückte. Die Spülung rauschte und die Türklinke würde heruntergedrückt.

Aber die Tür öffnete sich nicht. »Hallo? Wer ist denn da? Das ist nicht lustig. Mach die Tür wieder auf.«
Sweta runzelte die Stirn, schwieg aber.

Tack, tack, tack, rappelte Anja an der Klinke und wurde wütend. »Hallo?! Ich sagte, du sollst verdammt noch mal die Tür aufmachen, ich werde ganz sauer. Das sage ich meinen Eltern und Frau Jablonski und dann wirst du ärger kriegen.«

Swetlana schaute sich irritiert um. Niemand außer ihr hielt sich im Sanitärbereich auf, keiner hatte vor ihr die Räumlichkeiten verlassen. Klemmte die Tür vielleicht?

Wieder das Kichern.

»Ich habe dich gehört! Du bist einer von den Jungs! Mach auf oder ich schreie!« 

Swetas Augen wurden groß, das war der Moment zu verschwinden. Vorsichtig lugte sie auf den Schulhof, aber es musste bereits geklingelt haben denn die letzten Kinder machten sich bereits auf den Weg in ihre Klassen. Eilig schlüpfte auch sie hinaus und mischte sich unter die Mitschüler. Das Kreischen Anjas ging im Lärm der Anderen unter. Das erste Mal in Swetas Leben verspürte sie ein merkwürdiges Gefühl, eine Empfindung, die sie sonst immer bei anderen auslöste. Schadenfreude. Mit zufriedenem Lächeln lief sie in ihre Klasse und setze sich auf ihren Platz.

»Wo ist denn Anja?«, fragte die Lehrerin, als sie ihre Kinder zählte.

Alle schwiegen und schauten sich ratlos um, ob einer von den anderen etwas wusste. Wenn Sweta eines durch ihren Vater gelernt hatte, dann wie man schauspielerte. Sie setzte einen genau so ahnungslosen Gesichtsausdruck wie die anderen auf und schaute sich um. Innerlich lächelte sie, breit und zufrieden, während sie an die keifende und zeternde Anja dachte. »Danke, Mica.«

»Kinder, holt die Leseschule raus und übt das große B. Ich bin gleich wieder zurück.« Mit den Worten verschwand die beunruhigte Frau Jablonski aus der Klasse.

Keine zehn Minuten später ging die Tür wieder auf und die Klassenlehrerin kam mit der aufgelösten und heulenden Anja wieder rein. Ihr Gesicht drückte Ratlosigkeit aus. »Beruhige dich doch wieder, Liebes, die Toilettentür hat nur geklemmt, man kann sie nicht von außen abschließen.« 

»Nein Frau Jablonski, ich habe genau gehört, wie mich jemand ausgelacht hat, da war noch jemand anderes mit mir in der Toilette. Ich glaube, es war ein Junge, aber ich bin nicht sicher.«

Nachdenklich zog die ältere Frau die Augenbrauen zusammen und schaute Swetlana an. Der Puls des Mädchens erhöhte sich und sie schaute verlegen aus dem Fenster. »Setz dich hin, Anja, ich kläre das nach der Schule.« 

 

Die Glocke, die den Unterricht beendete, schrillte laut und unangenehm durch das Schulgebäude, aber für die Kinder war es das schönste Geräusch, besonders für Sweta. Erfreut packte sie ihre Sachen zusammen und rückte den Stuhl an ihren Tisch zurück.

»Swetlana, kannst du bitte noch einen Moment warten? Ich möchte dich was fragen.« Die Lehrerin kam langsam auf sie zu und versperrte ihr somit als Einzige den Weg nach draußen.

Sweta schaute Frau Jablonski mit großen Augen an, das schlechte Gewissen stand ihr deutlich im Gesicht geschrieben.

»Du weißt doch etwas über das, was Anja passiert ist, nicht wahr?«
Sweta starrte auf den Boden und schwieg. Sie konnte keinen Erwachsenen anlügen, dass stand gegen ihre Erziehung.

»Swetlana, bitte. Sag mir, was du weißt.«

Dem Mädchen traten Tränen in die Augen und sie schluchzte: »Ich habe gar nichts gemacht, es ist nicht meine Schuld, dass sie Tür nicht aufging. Ich hab solche Angst vor ihr. Wenn ich gesagt hätte, dass ich auch im Raum bin, hätte sie mir weh getan, sie hätte mir wieder an den Zöpfen gezogen und meine Haare ausgerissen. Deswegen bin ich weggerannt.«

»Ok«, sagte die Lehrerin sanft und legte ihr beruhigend eine Hand auf den Arm. »Aber warum hast du dann eben nichts gesagt, als ich fragte, ob jemand weiß, wo sie ist? Anja hatte furchtbare Angst, so ganz alleine auf der Toilette.«

»Jetzt weiß sie, wie ich mich jeden Tag fühle.«

Frau Jablonski schwieg und schaute nachdenklich aus dem Fenster. »Du kannst gehen, aber Sweta, das darf nicht noch mal passieren. Das versprichst du mir, nicht wahr?«

Swetlana nickte betreten, schaute aber nicht hoch und trippelte niedergeschlagen aus der Klasse. 

 

Niemand war da, der sie abholte, ihr Vater und ihre Tante mussten arbeiten und ihre Mutter war wohl noch zu krank, um aufzustehen. Gedankenversunken schlenderte sie den steilen Weg in Richtung Wald, den sich täglich auf ihrem Schulweg durchqueren musste. Der schwere Schulranzen zerrte an ihren Schultern und immer wieder schulterte sie ihn neu, um das Gewicht besser zu verteilen.

Sie hatte die Kinder nicht gehört. Erschrocken viel sie auf den Hintern, als ihr jemand mit aller Gewalt die Tasche vom Rücken riss. Keuchend starrte sie in den grauen Herbstmittagshimmel und wusste noch immer nicht, wie ihr gerade geschah.

»Du hast was damit zutun, gib es zu, du Ziege.« Anja stand breitbeinig hinter ihr und betrachtete sie hochmütig von oben herab.

»Was?«, stotterte Sweta erschrocken.

»Tu nicht so!« Wütend trat Anja gegen ihren Schulranzen, der die Heftigkeit zwar teilweise abfing, aber die Wucht war dennoch im Rücken zu spüren. Schmerzerfüllt stöhnte Sweta auf. »Lass das! Warum bist du nur so gemein zu mir? Was habe ich die getan?«

»Was du getan hast? Was du getan hast?! Du bist da, du bist hässlich, du kannst nicht mal richtig reden. Du sprichst so komisch, dass ich dich nicht mal richtig verstehn kann. Niemand kann das. Kein Mensch mag dich. Du bist doof. Und keiner kann dich leiden. Und als Frau Jablonski dich zurückgehalten hat, wusste ich, es ist wegen mir. Du hast mich eingesperrt, gib es zu!« Erneut trat sie heftig gegen den Ranzen und Sweta fing an zu weinen.

»Lass das! Bitte! Lass mich doch einfach in Ruhe!«

Zwei andere Mädchen aus ihrer Klasse, Nele und Kristina, standen Anja beiseite und lachten Sweta höhnisch aus. 

»Swetlana, die dumme Hanna. Swetlana, die dumme Hanna«, begannen sie den Sprechgesang und traten ebenfalls abwechselnd gegen die Schultasche. Sweta gab auf, sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte bitter. Anstatt aufzuhören, animierte das die drei Kinder, sie wurden lauter und ihre Tritte heftiger.

Niemand kam ihr zur Hilfe, kein Einziger stand ihr zur Seite.

Erst als eines der Mädchen erschrocken aufkreischte und Bremsen fürchterlich quietschten, hörte der Sprechgesang auf. Das Geräusch, ein dumpfer Aufprall, lies Swetlana aufschauen. Nele und Kristina starrten mit offenem Mund auf die Straße, die entsetzten Gesichter zu Grimassen verzogen.

Ein älterer Mann stieg aschfahl aus seinem Auto. »Sie war plötzlich auf der Straße. Ich konnte nicht mehr bremsen.«

Erst da begriff Swetlana, was geschehen war. Der Mann hatte Anja angefahren. Ihr Körper lag völlig verdreht auf der Fahrbahn, der leere Blick ins Nichts gerichtet.

Sweta schrie, sie schrie so laut, dass es ihr selber in den Ohren weh tat, aber sie konnte einfach nicht aufhören. Die anderen Mädchen stimmten mit ein, sie schrien und schluchzten und weinten, eine lauter als die andere.

Sweta wollte nicht sehen, wie tote Augen über sie hinwegstarrten. Verängstigt rappelte sie sich auf und fing an zu laufen. Hinter hier hörte sie den Mann rufen. »Hey, du kannst doch nicht einfach weglaufen, wir müssen auf die Polizei warten.«

Nein, Sweta hatte genug von der Polizei, sie hatte genug von dem Bild der toten Anja, die völlig verrenkt auf dem Asphalt lag. Sie rannte, als wäre der Teufel persönlich hinter ihr her und wer weiß, vielleicht war er das auch. Mica, ging es ihr immer wieder durch den Kopf. Mica, warst du das? Doch von ihrem heimlichen Freund war weit und breit nichts zu sehen und zu hören. Drei Kilometer, davon zwei durch den dunklen Wald, nie war sie diese Strecke schneller gelaufen. Atemlos schloss sie die Wohnungstür hinter sich, rannte in ihr Zimmer und warf sich weinend aufs Bett. Was für ein fürchterlicher Tag. Egal was sie tat, sie sah ständig die leeren Augen Anjas in ihrem Geiste. Wie hatte das nur passieren können? Ja, Anja war gemein und fies, aber sie hatte ihr nicht den Tod gewünscht … oder doch? Eine ganz leise Stimme in ihr flüsterte ihr zu, dass ihre Klassenkameradin nur bekommen hatte, was sie verdiente. Sweta schüttelte den Kopf, nein, das war ein zu grausamer Gedanke.

Swetlanas Mutter schien sich noch immer im Schlafzimmer zu verschanzen, sonst hätte sie sicher lange nach ihr gesehen. Heute war es Swetlana nur recht, dass sich ihre Mutter nicht um sie scherte. Sie wollte alleine sein und ihre Gedanken sortieren.

»Bist du traurig?«, flüsterte es aus dem Schatten. »Sie hat mich so wütend gemacht, da habe ich sie geschubst. Ich habe das Gefährt nicht gesehen.«

»Das Gefährt? Ach du meinst das Auto. Mica. Ich glaube, sie ist tot!«

Micas Stimme klang trotzig. »Mir egal, sie war ein furchtbares Kind. Wie kannst du wegen ihr nur so weinen? Sie war kein nettes Mädchen.«

»Ich weiß nicht warum ich weine, ich habe Angst, ich fürchte mich davor, dass sie mir die Schuld geben.«

»Blödsinn, alle werden sagen, es war ein Unfall. Niemand kann dir die Schuld daran geben. Und wenn doch, sagst du einfach die Wahrheit. Du sagst, ich war es.«

»Zeig dich doch endlich, Mica.« Swetlana wischte sich über die feuchten Augen und die tropfende Nase.

»Willst du mich wirklich sehen?« Beinahe schüchtern klang der Junge in den Schatten.

Sweta beruhigte sich langsam und nickte bejahend. »Ja, sehr gerne. Du bist mein einziger Freund, der einzige Mensch, der mich mag.«

»Also gut, aber ich bin kein Me-«

Die Kinderzimmer Tür wurde aufgerissen und Swetlanas Mutter schaute sie mit gerunzelter Stirn an. »Mit wem redest du?«

»Mit niemandem, Mama«, beeilte sich Sweta zu sagen. »Ich habe geweint.«

»Was hast du getan?« die Mutter klang fürchterlich erschöpft und erst jetzt sah Sweta die Blessuren in ihrem Gesicht. Ihr Vater hatte sich heftig an ihr ausgelassen. Swetlana schluckte.

»Ich habe gar nichts getan.«

»Und warum steht dann die Polizei vor der Tür und will mit dir reden?«

Der entsetzte Gesichtsausdruck Swetlanas war der Mutter Antwort genug.

»Geh nach oben, sie warten im Wohnzimmer auf dich.«

Mit kleinen trippelnden Schritten setzte sich das Mädchen in Bewegung, in der Hoffnung, das unvermeidliche herauszuzögern.

»Geh schneller!« Ihre Mutter stieß sie unsanft vorwärts. 

 

Es waren nicht die gleichen Polizisten wie vor zwei Tagen, diesmal waren es eine junge Frau und ein älterer Mann, aber der hier hatte keinen Bart.

Die junge Polizistin beugte sich zu ihr herunter und stellte sich und ihren Kollegen vor. Stumm nahm Sweta die ihr angebotene Hand an und schüttelte sie.

»Magst du uns erzählen, was auf dem Heimweg passiert ist?«

Es half nichts zu schweigen, also erzählte sie stockend, was geschehen war. Die Polizistin schaute kurz zu ihrem Kollegen hoch und setzte nach. »Aber weißt du? Die anderen Mädchen, die dabei waren, erzählen es etwas anders. Sie sagen, du wärest ihnen nachgelaufen und hättest Anja geneckt. Daraufhin hättet ihr euch angeschrien und du hast sie auf die Straße geschubst.

Swetlana riss die Augen auf. Ich saß auf dem Boden, weil Anja mich am Ranzen nach hinten gezogen hat, ich hätte niemanden schubsen können, selbst wenn ich gewollt hätte.« Tränen der Wut rollten über ihr Gesicht, unwirsch wischte sie diese weg. Sie wollte nicht weinen, nicht schon wieder. Selbst jetzt schaffte Anja es, sie schlecht aussehen zu lassen. »Ich habe doch nichts gemacht, die Drei sind auf mich losgegangen, sie haben meinen Ranzen getreten, immer und immer wieder.«

»Darf ich denn deine Schultasche mal sehen?«

Sweta nickte, rannte hinunter und brachte ihn zu der Polizistin. Die Tasche war völlig verdreckt, verschiedene Schuhabdrücke bedeckten beinahe den ganzen Ranzen. »Ich lüge nicht, ich verspreche, dass ich die Wahrheit sage, ich will doch nicht in die Hölle kommen. Ich sage die Wahrheit.« Noch immer versuchte sie sich zu verteidigen, aus Angst, man würde ihr nicht glauben.

Die Polizistin legte überrascht die Stirn in Falten. »In die Hölle? Natürlich kommst du nicht in die Hölle.«

Der ältere Mann machte sich unterdessen weitere Notizen. Er meldete sich zum ersten Mal zu Wort. »Ich denke, wir sind hier fertig. Ich hab alles, was ich wollte.«

Die Polizistin nickte und erhob sich wieder. »Wenn dir noch etwas einfallen sollte, sag es deinen Eltern, sie werden uns anrufen und es uns weiter sagen, alles klar?«

Sweta nickte. Dieser ganze Tag war ein Abtraum.

»Ist sie …«, sie schluckte. »Ist Anja tot?«

Die Polizistin schaute mit ernstem Gesichtsausdruck zu dem kleinen Mädchen herunter. »Nein, aber sie wurde sehr schwer verletzt. Sie liegt jetzt im Krankenhaus.«

Erleichtert schloss Sweta die Augen. 

 

Sweta wollte am nächsten Tag nicht zur Schule, sie wollte am liebsten nie mehr zur Schule, aber sie musste, wie jeden Schultag. Kaum auf dem Schulhof angelangt, lagen die Blicke aller Kinder auf ihr. Nicht nur, dass Mica seit der Unterbrechung durch die Mutter nicht mehr aufgetaucht war, nun wurde sie von allen angestarrt, als würde sie aus dem Weltall kommen.

Hinter vorgehaltener Hand flüsterten sie, doch sobald sie sich umdrehte, schauten alle weg und taten, als würden sie etwas anderes tun. Es war ein Spießrutenlauf, die Hölle auf Erden. Alle hassten sie, dabei war Anja doch die Gemeine gewesen.

Wenn sie genau hinhörte, verstand sie das Flüstern der Kinder.

»Vorsicht, sie kann zaubern.«

»Pass auf, sonst tötet sie dich.«

»Komm ihr nicht zu nahe, sie ist eine Hexe.«

Swetlana versteckte sich hinter dem großen Baum auf dem Schulhof. Jedes Mal, wenn ihr einer zu nahe kam, rutschte sie ein Stück um den Baum herum.

Es klingelte. Nervös lief sie hinter den anderen her und setzte sich geduckt auf ihren Platz. Die Blicke brannten sich in sie hinein. Wie einen Dolchstich spürte sie es, wenn sie jemand anstarrte. Sie sah nicht hoch, währen der ganzen Stunden nicht. Sie saß da und wartete auf das erlösende Klingeln. Selbst die Lehrerin benahm sich merkwürdig ihr gegenüber und ignorierte sie in jeder Stunde. Swetlana war das nur recht.

Keiner ärgerte sie mehr, dafür fürchteten sich die Kinder viel zu sehr vor ihr. Nele und Kristina erzählten abenteuerliche Geschichten, jeden Morgen eine andere und jedes Mal wurde Swetlana etwas blutrünstiger dargestellt.

Mica war seit jenem Tag verschwunden. Sweta verschloss sich immer mehr, niemand drang noch zu ihr durch. Zu groß war ihre Furcht, das andere sie erneut verletzten.

 

Kapitel 4

 

Die Jahre vergingen. Anja war nicht mehr zur Schule gekommen. Wie Swetlana später erfuhr, war sie querschnittsgelähmt. Sie empfand nichts deswegen. Keine Wut, Trauer, Freude. Zu lange hatte man sie für etwas leiden lassen, das nicht ihre Schuld war. Niemand hatte sich in der Grundschule dazu durchringen können, sich mit ihr anzufreunden. Doch die Grundschulzeit war nun vorbei. Die Hauptschule wartete auf sie.

»Willkommen Frischlinge des Jahrgangs 1986 auf unserer Schule.«

Swetlana schluckte. Eine andere Schule, in einem anderen Ort. Und trotzdem kein Neuanfang. Zu viele Kinder aus ihrer Grundschulklasse hatten mit ihr gewechselt. Es würde wieder Gerüchte geben, die sie dazu zwangen, sich zurückzuziehen.

Auch daheim hatte sich viel verändert. Nachdem ihr Vater durch Trunkenheit beinahe eine alte Frau überfahren hatte, wurde er vor die Wahl gestellt, sechs Monate Entzug oder ein Jahr Gefängnis. Er wählte den Entzug. Seit drei Monaten war er nun weg. Das Leben war friedlicher geworden und endlich gab es genug zu essen. Wegen ihr konnte er bleiben, wo der Pfeffer wuchs und nie mehr zurück kommen. Sweta schalt sich im Innern, ganz so empfand sie ja nicht. Sie vermisste den Vater, der er sein konnte, der, der nicht betrunken war. Der, der ihnen abends aus Donald Duck Büchern vorlas und die lustigen Geräusche dabei machte. Der, der mit ihnen Hausaufgaben machte und mit ihnen spielte. Aber dieser Vater war ein seltener Vater.

Seit einigen Wochen brauchten Oleg und Swetlana ihre Eltern nicht mehr mit dem formellen ›Sie‹ anzusprechen. Das war merkwürdig. Zehn Jahre Gewohnheit abzulegen und ein Tabu zu brechen, das war viel verlangt. Sweta schämt sich, ihre Mutter mit ›Du‹ anzusprechen, bei ihrem Vater vermied sie eine Anrede sogar völlig. Ihre Tante und Großmutter sprach sie weiterhin mit der respektvollen Anrede an. Eher hätte sie sich die Zunge abgebissen, als das ›Du‹ zu verwenden.

Das ›Du‹ machte es allerdings leichter für sie in der Schule. Zumindest in dieser Richtung war sie nicht mehr anders als die anderen. Ein Stück Normalität, ein seltenes Geschenk.

Verunsichert sah Swetlana sich um. Sie gehörte zu den Jüngsten und Kleinsten. Die Jugendlichen der höheren Klassen wirkten so einschüchternd auf sie, so erwachsen und völlig außer ihrer Reichweite. Aber ein Gutes hatte es, man ignorierte sie auch hier. Sie war niemand und keine einzige Person interessierte sich für sie. Nur wenige wussten von ihrer Vergangenheit. Und selbst die, die es wussten, schienen das Ereignis langsam zu vergessen. 

 

»Hey«, flüsterte das Mädchen mit den kinnlangen Haaren und der Dauerwelle neben ihr. »Ich bin Martina. Wie heißt du?«

Swetas Mund wurde trocken. Jemand sprach sie an, einfach so, ohne Argwohn? »Ich, äh, mein Name ist Swetlana.«

»Was für ein Ding?!« Martina kicherte. »So einen Namen habe ich ja noch nie gehört. Woher kommst du?«
Konsterniert schaute Sweta wieder vor sich hin. »Aus dem Nachbarort.«

Martina stupste Sweta freundlich in die Seite. »Sei nicht so. Ich habe nur Spaß gemacht. Deine Aussprache klingt komisch. Bist du in Deutschland geboren worden?«

Sweta nickte. »Ja, bin ich. Aber meine Eltern kommen aus Russland.«

»Ah. Das erklärt natürlich alles. Willst du meine Freundin sein?«

Swetlana stand der Mund offen. Das hatte sie noch nie jemand gefragt. »Ähm, ich … ich weiß nicht. Denke schon.«

»Klasse, ab heute bist du meine beste Freundin und ich bin deine, ja?«

Sweta lächelte, ja, das wollte sie sehr gerne, eine Freundin wäre wunderbar. 

 

In den folgenden Jahren war Martina stets an ihrer Seite. Sie unternahmen viel zusammen und vertrauten sich alle Geheimnisse an. Auch auf dieser Schule wurde sie immer wieder mal geärgert und gehänselt, aber es war zum Aushalten, denn Martina beschützte sie.

Langsam glaubte sie daran, dass Mica nur ein imaginärer Freund war und nach und nach verschwand er aus ihrer Erinnerung.

 

»Hey du hässliche Kuh. Du benutzt meine Seite des Gehweges.« Der Junge aus der neunten Klasse versperrte ihr den Weg und hinderte Sweta am Weitergehen. Den Blick strack nach unten gerichtet, wollte sie sich einfach den dem Jungen vorbei drängen und zur Bushaltestelle gehen. Schmerzlich vermisste sie Martina, die seit ein paar Tagen krank war. »Nur nicht provozieren«, dachte Sweta, »reagiere einfach nicht und gehe weiter.« Sie hatte die Rechnung ohne den Raufbold gemacht. Der großgeratene Bursche vergriff sich in ihren Zöpfen und riss sie mit aller Gewalt zurück. Schmerzerfüllt schrie sie auf und fasste sich automatisch ans Haar. Er schlug ihr mit der anderen Hand so hart auf die Finger, dass Sweta erschrocken zurückzuckte. »Warum tust du das? Lass mich doch einfach in Ruhe!«, schrie Sweta und schaute sich hilfesuchend um. Betreten sahen die anderen Kinder weg und gingen schnell weiter oder scharrten sich schadenfroh um sie herum, um zu beobachten, was weiter passierte. Selbst die spärlichen Erwachsenen sahen beschämt weg. Es war wie immer, niemand stand für sie ein und fühlte sich verantwortlich. Tränen der Wut und Angst traten ihr in die Augen. »Bloß jetzt nicht heulen«, betete sie wie ein Mantra. Wenn sie Schwäche zeigte, war es vorbei. Der ältere Junge, er mochte zwei oder drei Jahre zu alt für die neunte Klasse sein, hatte nicht vor sie vom Haken zu lassen, das sah sie in seinem Blick. Swetlana schluckte. Drei Jahre war sie den Hetzern entkommen, heute würde sie für die ruhige Zeit büßen müssen. Der Kerl stank aus dem Mund und grinste sie mit milchkaffeebraunen Zähnen an, die vermutlich nie einen Zahnarzt gesehen hatten.
»Ich hätte dich ja in Ruhe gelassen, wenn du mir durch deine Hässlichkeit nicht die Straße versperren würdest. Dafür musst du nun zahlen, gib mir alles Geld, das du hast, dann lasse ich mich vielleicht beruhigen.«

Sweta schluckte, sie besaß keinen Pfennig, woher auch.

Sie wusste nicht, was sie plötzlich überkam, wütend trat sie dem Taugenichts gegen das Schienbein, der mehr überrascht als vor Wut einen Schrei ausstieß. »Du kleine miese Göre!« Sein Blick wurde härter und er beugte sich vor, dass nur sie ihn hören konnte. »Lauf …« Es war ihm ernst, daran ließ er keinen Zweifel.

Erschrocken ließ Swetlana den Ranzen zu Boden fallen und rannte los. Erboste Passanten machten ihr ärgerlich Platz und riefen wüste Beschimpfungen hinterher. Sweta blieb keine Zeit, um zu reagieren, denn der Junge setzte ihr bereits nach. Sie schaute nicht mehr nach hinten, raffte den Rock, der sie zu behindern drohte und lief so schnell sie konnte. Sie hörte ihn hinter sich, hörte, wie er lachte und ihr stetig näher kam. Der Sportplatz kam in ihr Blickfeld, vielleicht schaffte sie es, sich dort in den Büschen zu verstecken.

Die vermeintliche Rettung vor Augen, bückte sie sich und wollte gerade zwischen dem Geäst hindurchschlüpfen, als sie ein harter Tritt in das Gesäß das Gleichgewicht verlieren ließ. Prustend landete sie mit dem Gesicht im Dreck. Grobe Hände packen sie an den Knöcheln und zogen sie über die feuchte Erde zurück auf den schmalen Pfad, den außerhalb der Schulzeit nie einer betrat.

»Hab ich dich, du Kröte.«

Sweta hatte nie einen gemeineren Gesichtsausdruck bei einem Menschen gesehen. Was er auch vorhatte, es würde übel werden. Sie wusste nicht, wann sie zu weinen angefangen hatte, aber es war ihr jetzt auch egal, er hatte sie und er war um ein Vielfaches stärker.

»Lass mich doch bitte gehen, ich habe dir doch gar nichts getan.«

Sein Blick sich veränderte sich, er betrachtete sie nunmehr auf eine Art, die ihr Übelkeit bereitete. Gierig, hungrig wie ein wildes Tier. »Sieh an, das hässliche Ding wird ja langsam zu einer Frau. Heult wie eine Kleine, hat aber Möpse wie eine Große.«

Entsetzt starrte sie an sich herunter. Beim Herausziehen waren Rock und Shirt verrutscht und entblößten mehr, als Swetlana lieb war. Sie trug keinen BH, es war nie Geld dafür übrig und ihre Mutter war der Meinung, dass es mit dreizehn ohnehin zu früh für so ein Erwachsenenkleidungsstück war. Unbeholfen zerrte sie an ihrem T-Shirt und versuchte verzweifelt es über ihre Blöße zu ziehen. Doch da war der grobe Klotz bereits über ihr und griff ihre Handgelenkte. »Na, na, na. Nicht so schnell, ich war noch nicht fertig mit glotzen.« 

Er griff ihr brutal an die linke Brust und drückte sie so fest zusammen, das Sweta schrie. Schnell legte er ihr seine Hand auf den Mund, das Gewicht seines massiven Körpers verhinderte, dass sie sich unter ihm wandte. Seine Finger rochen so sauer nach Nikotin, dass sie einen Würgereflex in ihr hervorriefen. 

»Schrei noch einmal und ich drehe dir die Gurgel um. Hier ist niemand, und keiner wird dir helfen, du dumme Planschkuh.« Er nahm die Hand kurz von ihrem Mund, öffnete seine Hose und zog sie ein Stück hinab. Sweta wimmerte, flehte ihn an sie laufen zu lassen. »Bitte tu das nicht, bitte, bitte lass mich gehen. Ich werde es auch niemandem erzählen. Ich schwöre es.«

Klack. Mit einem schnappenden Geräusch öffnete er ein Klappmesser und hielt es ihr an die Kehle. »Schrei und du bist tot. Verhältst du dich ruhig, wird alles gleich vorbei sein.« Er strich mit der Klinge an ihrem Bein entlang, bis er an ihrem Höschen angekommen war. Mit einer kurzen Bewegung schnitt er den Stoff an der einen Seite durch und riss den kleinen Stofffetzen dann ganz vom Körper herunter.

»Ich wette, dein Döschen ist ganz saftig und noch unbenutzt.«

Sweta schlug die Hände vors Gesicht und weinte bittere Tränen. »Warum hilft mir denn niemand. Mica, bitte hilf mir.«

Der Raufbold lachte keckernd. »Oh Mica, oh süßer Mica. Wer ist das? Dein Freund? Ein hässliches Weib wie du hat einen Freund?! Das glaubst du ja wohl selber nicht. Sei doch froh, ich tue dir einen Gefallen, es wird dich eh nie ein anderer anfassen wollen.«

Das Geräusch eines dumpfen Schlages ließ Sweta zusammenzucken. Der Junge über ihr stöhnte benommen und fiel wie ein Sack neben ihr zu Boden. Zögernd nahm Swetlana die Hände herunter, um zu schauen, was passiert war.

»Es ist alles gut, Lana. Habe keine Angst, dieser miese Sack wird dir nichts mehr tun.«

Schluchzend schaute das Mädchen nach oben, aber durch die grelle Sonne konnte sie zunächst nicht viel erkennen. Sie schaute zur Seite und da lag der Junge, dessen Namen sie nicht einmal kannte, und hielt sich wimmernd den blutenden Hinterkopf.

Der fremde Junge kniete sich neben Sweta und reichte ihr die Hand. »Komm, ich helfe dir beim Aufstehen.«
Beschämt nestelte Sweta an ihrer Kleidung, um wenigstens ein geringes Maß an Würde zurück zu erlangen, erst dann ergriff sie die Hand des fremden Jungen.

»Ich will hier weg«, schluchzte sie und ließ sich von ihm hochziehen.

»Kannst du gehen?«

Sweta nickte knapp und ihre Scham ließ sie noch immer auf den Boden starren. »Meine Schultasche, ich habe sie unten an der Straße zurückgelassen. Meine Eltern bringen mich um, wenn ich ohne zurückkomme.«

»Sieh mich mal an, Lana. Geht es dir wirklich gut?« 

Sweta schaute zum ersten Mal in das Gesicht ihres Retters. Noch immer standen ihr die Tränen in den Augen, aber sie konnte ihn dennoch gut erkennen. Er war um einiges größer als sie, und sein dunkelbraunes Haar war in seinem Nacken zu einem Zopf gebunden. Die einfachgeschnittene Hose schien aus schwarzem Leinen zu sein, genau so wie das ebenso simpel gehaltene Hemd in dunklem Beige. Seine Augen waren braun, nein doch nicht, sie waren grün mit braunen Sprenkeln. Sein Gesicht drückte so viel Freundlichkeit aus, dass Swetlana wieder zu weinen anfangen wollte, aber sie schluckte es herunter. »Kenne ich dich?« Das Gesicht kam ihr nicht bekannt vor, aber die Stimme …

Ein warmes Lächeln huschte über das Gesicht des Jungen. »Ich hatte gehofft, du würdest mich erkennen.«
Sweta zog die Augenbrauen nach oben. »Mica?«

Der Junge ließ sie los, ging einen Schritt zurück und verbeugte sich. »Stets zu diensten, meine Dame.«

Für einen kurzen Augenblick vergaß Sweta das schreckliche Ereignis, dem sie eben zum Opfer gefallen war, und starrte den Fremden ungläubig an. »Mica?!«

Mica lachte und strich Swetlana eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich während des Kampfes mit dem gemeinen Jungen gelöst hatte. Ihr Herz pochte bis zum Hals, aber anders als eben. Jetzt schlug es nicht mehr aus Angst, jetzt schlug es vor Aufregung ganz laut. »Wie kann das sein?« Sie schüttelte verwirrt den Kopf. »Lass uns bitte erst so weit wie möglich weg von hier. Sonst werde ich mich doch noch übergeben müssen.«

Schweigend ging sie neben dem Jungen, der einmal Teile ihrer Kindheit war und von dem sie dachte, er wäre bloß Einbildung gewesen. An der Bushaltestelle lag ihre Schultasche noch an derselben Stelle. Erleichtert atmete sie aus, niemand hatte sich an ihren Büchern vergriffen.

»Der letzte Bus ist gerade weg, ich werde heimlaufen müssen. Die Telefonzelle ist kaputt, ich kann nicht mal bescheid sagen«, sie seufzte. »Das gibt wieder Ärger.«

Micas Gesichtsausdruck verhärtete sich. »Dein Vater … trinkt er noch?«

Sweta schüttelte den Kopf. »Nein, aber er hat noch immer ein aufbrausendes Temperament. Auch wenn er uns nicht mehr schlägt, er brüllt dafür um so lauter.«

Mica nickte verstehend. »Keine Angst, ich werde dich begleiten.«

Swetlana schaute ihn nachdenklich an. »Du hast mich schon wieder gerettet.«

Mica zuckte verlegen mit den Schultern und grinste schief. »Ich konnte doch nicht zulassen, dass er dir etwas so Unsägliches antut.«

»Unsäglich? Du hast eine komische Ausdrucksweise.« Sweta starrte ihn noch immer heimlich von der Seite an und fragte. »Wo warst du?« Sie erschrak selber über die Traurigkeit in ihrer Stimme. Ihr war nicht bewusst, wie sehr sie ihn vermisst hatte. Mica starrte auf das offene Feld, an dem sie vorbeiliefen. »Das ist nicht so einfach zu erklären. Ich habe auch einen Vater, der sehr bestimmend sein kann. Als ich dich damals vor den Mädchen rettete, bekam er mit, das ich in den Schleiern war. Er verbot mir, dich jemals wieder zu sehen und drohte mir damit Embrona zu töten.« 

»Embrona?«

»Embrona war mein Pferd und meine engste Vertraute.«

Sweta dachte, dass ›Vertraute‹ noch so ein merkwürdiger Begriff war, fragte aber nicht näher nach.

»War dein Pferd?«

Mica nickte und schaute um Beherrschung ringend auf den Boden.

»Das tut mir leid.« Swetlana griff automatisch nach seiner Hand, um ihm Trost zu spenden. Dankbar umfasste er die ihre und drückte sanft zu.

»Ich habe so viele Fragen, Mica. Sag mir, wo kommst du her? Und wie konntest du verschwinden? Wo warst du in all den Jahren und warum habe ich dich früher nie sehen können? Was meinst du mit Schleier und warum wurdest du deswegen bestraft?«

Mica grinste wieder auf seine charmante, freche Art. »Ich lebe in einer anderen Dimension als du. Unsere Welten sind durch magische Schleier verbunden, die dazu dienen, nie ganz den Kontakt zu euch zu verlieren. Denn früher, vor vielen tausend Jahren, waren wir eins. Es ist verboten in den Schleiern zu wandeln, zu leicht kann man sich darin verlieren. Mein Vater reagierte nur aus Angst so hart. Ich bin sein einziger Sohn.«

»Wow. Eine andere Dimension? Ist das dein Ernst? Und wie heißt eure Welt?«

»Atlantis.«

Swetlana blieb geschockt stehen und starrte Mica mit offenem Mund an. »Alles klar, du machst dich über mich lustig. Ha ha, sehr komisch.« 

Mica verneinte. »Es ist mein voller Ernst. Und ja, ich kenne eure Legenden von meiner Heimat.«

Sweta runzelte die Stirn. »Wie soll ich dir glauben? Du siehst nicht anders aus als wir. Ganz und gar nicht wie ein Wasserwesen.«

Mica lachte auf. »Ich bin auch kein Wasserwesen, Atlantis ist nie im Meer versunken, meinst du nicht auch, dank all eurer Technik wäre es mittlerweile aufgefallen?«

Mica hatte recht, es war das Jahr 1989. Die Technik war nie weiter entwickelt und es schienen jeden Tag neue bahnbrechende Erfindungen gemacht zu werden.

»Um es dir besser zu erklären. Atlantis war nie ein Kontinent eurer Erde. Atlantis was vor langer, langer Zeit ein eigenständiger Planet. Die Auslöschung drohte uns, als ein Meteor die Flugbahn unserer Welt kreuzte. Im letzten Moment schafften unserer Wissenschaftler und Magier Hand in Hand zu arbeiten und teleportierten einen einzigen Kontinent unseres Planeten auf die Erde. Es war so viel Wasser bei euch, wir nahmen niemandem Platz weg mit unserem Kontinent, außerdem brachten wir auch unsere eigenen Ressourcen mit.«

»Unglaublich, dann bist ein Alien?«

»Unschön formuliert, aber ja, so kann man das sehen.« 

»Aber wenn ihr nur einen Kontinent retten konntet …« 

Mica nickte betrübt. »Wir waren mehr als fünf Milliarden Atlanter. Geschafft haben es am Ende nur fünf Millionen.«

»Mein Gott, das tut mir leid.«

»Ja, mir auch. Aber das ist bereits viele tausend Jahre her. Ich kenne es auch nur noch aus Geschichtsbüchern. Wir waren hoch entwickelt. Viel weiter als die Menschheit es damals war. Sie beteten uns als Götter an und einigen von uns stieg das wohl zu Kopf. Die Maja wollten sich nicht länger von uns beherrschen lassen und begehrten auf. Die Wut unseres damaligen Herrschers löschte die gesamte Zivilisation aus. Das war der Moment, als unser König von seinem eigenen Volk gestürzt wurde. Wir waren in Frieden gekommen, nicht, um euch zu unterjochen. Doch es liegt in unserem Blut die Schwachen zu beherrschen. Um euch zu schützen beschlossen die Wissenschaftler und Magier erneut zusammenzuarbeiten. Atlantis wurde verschleiert und in einer anderen Dimension versteckt.«

»In deiner Welt gibt es Magie?« Swetas Augen wurden groß und rund.

»Du bist echt etwas besonderes«, Mica lachte. »Ich erzähle dir von außerirdischen, von anderen Welten und wie gefährlich mein Volk ist und du denkst an Magie. Deswegen habe ich mich in dich verliebt. Schon als kleiner Junge wusste ich, du bist etwas Besonderes.«

Sweta blieb abrupt stehen und starrte Mica mit offenem Mund an. »Was hast du gesagt?«

»Was meinst du? Das mit den Außerirdischen oder das mit der Magie?«

»Nein, das andere …«

Mica schmunzelte. »Dass ich mich in die verliebt habe? Was ist daran so außergewöhnlich? Du bist ein tolles Mädchen, voller Stärke und Stolz. Dein Leben war so hart aber du hast dich nie beugen lassen. Immer hast du dein süßes kleines Köpfchen aufrecht getragen und bist stets dieselbe geblieben. Das bewundere ich außerordentlich an dir. Du könntest Atlantianerin sein, in deinem Herzen bist du es bereits.«

Swetlana biss sich verlegen vor Freude auf die Unterlippe und schaute verlegen auf ihre Schuhspitzen.

»Danke.«

»Danke? Wofür, meine Liebste?«

»Dafür, dass du in mein Leben getreten bist, dass du für mich da warst, als ich dich am meisten brauchte. Dass du mit ein paar Worten mein Herz zum Glühen bringst und … das du keine Einbildung bist.«

Mica zog Sweta zu sich heran und nahm sie in den Arm. Eine Umarmung, die alles aussagte, Liebe, Freundschaft, Trost, Mitgefühl. Sweta schloss die Augen und genoss diesen Moment. Nach der schrecklichen Tat, die der fremde Junge beinahe an ihr begangen hätte, war dies Balsam für ihre geschundene Seele. Micas Geruch war eigentümlich und berauschte ihre Sinne. Er war mit nichts zu vergleichen, was sie kannte, flößte ihr aber Vertrauen ein und das Bedürfnis, ihn nie wieder loszulassen. Jetzt wusste sie, er roch nach Heimat.

Impressum

Texte: Aniya Winters
Bildmaterialien: Agnes Albrecht
Tag der Veröffentlichung: 24.05.2016

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /