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Erster Prolog: Shânaee



„Mamaaa…!“ schrie das Mädchen verzweifelt, während alles um es herum in einem Chaos aus Rauch, Schmerz, Lärm und Blut versank.
Feuer wütete überall und tauchte alles in sein gespenstisches violettes Licht, und die alten, ehrwürdigen Mauern zerbrachen krachend in Stücke. Was sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte, verbrannte im roten oder im ewigen Feuer, dessen blaue Flammen in ihrem Hunger selbst den schneeweißen Marmor und das funkelnde Kristall der Tempel und Pavillons verzehrten. Verzweifelt irrte das Mädchen umher, während Kiirian wie Keeny, Meisterin wie Schülerin, überall grausam hingemetzelt wurden, in einer Welt, in der es jemals weder Zeit noch Kriege gegeben hatte.
„Keeny Shânaee…!“
Eine der letzten Überlebenden eilte auf das Mädchen zu: die Kiirian der Musik, deren silberne Querflöte noch am Gürtel ihres langen weißen Gewandes hing, doch dessen einstige Pracht jetzt nur noch glitzernde Fetzen waren. Das früher so beeindruckende, sonnenblonde Haar fiel feucht und schmutzig um die schmalen Schultern der Frau, das schöne herzförmige Gesicht mit der hellen Haut war von Schrammen übersäht und mit Lisinnwé, Ruß, rotem und grünen Dämonenblut verschmiert. Große, kobaltblaue Augen waren mit Tränen gefüllt, ihr Glanz erloschen.
„Ihr dürft hier nicht bleiben…“, mahnte sie eindringlich, doch der Lärm übertönte fast den hellen Klang ihrer Stimme.
„Mamaaa…! Wo ist meine Mutter?“, schluchzte das Mädchen und rieb sich über die verweinten Augen.
„Ich bringe Euch zu ihr…“
Durch die Heerscharen der geifernden Ungeheuer und missgestalteten Kreaturen bahnten sie sich den Weg, wobei die Kiirian der Musik noch mehr Wunden abbekam, als sie das kleine Mädchen mit ihrem Körper abschirmte… Die Gesuchte lag auf den Stufen des eingestürzten Residenzpalastes. Sie war zu schwer verletzt, um weiter zu kämpfen, doch sie öffnete noch einmal mit letzter Kraft die Augen.
„Mama…“
Vor ihr fielen das Mädchen und die Kiirian auf die Knie.
„WayShangLâ ist verloren…“, stöhnte die Frau. „Shânaee, meine Tochter, du bist mein einziges Kind… Du musst leben… Ohne zu sterben…“
Ein wissendes Lächeln umspielte ihre Lippen, als ein letzter Hoffnungsfunke ihren Blick für einen Moment unstet werden ließ. Ihre beiden Zuhörerinnen sahen sich verwirrt an.
„Die Dämonen… werden sich nicht lange… an ihrer Eroberung erfreuen können…“, hauchte die Sterbende dann. „Hier gibt es keine Luft, die sie atmen können… Deshalb hat es noch nie Kriege in WayShangLâ gegeben… Shânaee, meine kleine Keeny… Ich hätte dich zu gern noch zur Kiirian heranreifen gesehen… so gern…“
Der Kopf der Sprecherin fiel zu Seite, und ihr wallendes hellblondes Haar erinnerte an den tückischen Sand der Wüste des Vergessens. Es war das erste Mal, dass Keeny Shânaee jemanden sterben sah, und erst jetzt begann sie zu verstehen, was es bedeutete, jemanden niemals wiederzusehen. Tränenblind und atemlos nahm sie das goldene Schwert aus der Hand ihrer Mutter, das beinahe so groß war wie sie selbst und wollte durch die Reihen der Dämonen auf deren Anführerin zustürmen, doch die Kiirian der Musik verstellte ihr mit weit ausgebreiteten Armen den Weg, schwankend vor Erschöpfung. Bestürzt und überrascht sah Shânaee, dass diese ebenfalls weinte.
„Eure Mutter wollte, dass Ihr am Leben bleibt!“ schimpfte sie. „Wenn Ihr Euch unbedingt umbringen wollt, dann tötet mich vorher, damit ich nicht mit ansehen muss, wie Ihr von den Ungeheuern in Stücke gerissen werdet! Niemand weiß, was sie mit denjenigen machen werden, die dieses Gemetzel überleben!“
„Sie haben meine Mutter getötet, Soraîya…“, grollte das Mädchen, während seine Tränen zu glitzernden Steinen wurden, die den Boden um sie herum bereits bedeckten.
„Diamanten!“ brüllte da plötzlich ein besonders hässliches Exemplar der fremden Horde, starrte aus seinen drei roten Augen auf die beiden Amaséa, bevor er sich auf Soraîya stürzte und sie mit einem Streich seiner krallenbewehrten, dunkelgrünen Klaue beiseite fegte.
„Kiirian Soraîya…!!!“
Ein schwarzes Tor öffnete sich aus dem Nichts, aus dem eine zierliche Frau mit einem langen, blau glänzenden Zopf heraus stieg. Ihre gelbgrünen Augen mit den sichelförmigen Pupillen ließen sie ebenso unheimlich wie die ungebetenen Krieger wirken, doch ihr Lächeln war so sanft und schön wie ihre Gestalt. Als die am Boden liegende Frau nickte, hob sie das völlig fassungslose Kind schweigend hoch und verschwand mit ihm durch das Tor, durch das sie gekommen war. Auf der anderen Seite wurde Shânaee von einem großen, schwarzhaarigen Wesen mit schwarzen Flügeln liebevoll in den Arm genommen.
Das Letzte, was sie von ihrem geliebten Heimat WayShangLâ sehen konnte, war das Gesicht einer Frau mit fein gelocktem Haar, dessen Großteil unter einem aufwendig gefertigten Kopfschmuck verborgen blieb. Das höhnische Lachen und das schmerzverzerrte Aufschreien Soraîyas begleitete sie noch, als sie längst in einer anderen, dunkleren Welt verschwunden war.

Dies alles ist nun 2.511 Jahre her, eigentlich Zeit genug, um vieles zu vergessen. Doch mit dieser Schlacht entschied sich mein weiterer Weg, und sie war erst der Anfang einer langen Reise, auf der Gut und Böse niemals weit auseinander lagen…



Zweiter Prolog: Kakosjinèka



Sie hätte das gesamte Gebiet übernehmen können. Ein Land bestehend aus Inseln, die gerade frisch geeint worden waren. Auf nennenswerten Widerstand wäre sie ohnehin nicht gestoßen, und die seltsame Mentalität aus Respekt und kriecherischer Unterwürfigkeit gegenüber Stärkeren, sowie die Bereitwilligkeit, Dinge zu akzeptieren, die nicht so leicht zu ändern waren, zogen sie gerade magisch in ihren Bann. Es war einfach perfekt.
Nur eines störte sie empfindlich: die totale Missachtung gegenüber einer Frau. Männliche Kämpfer, männliche Ansichten - die an Dummheit manchmal nicht zu überbieten waren, wie sich später herausstellte - männliche Ehre, sogar männliche Dichtung und Lyrik, männliche Privilegien. Es gab sogar eine männliche Sprache und Männer, die die Rolle der Frau übernehmen mussten!
„Du kannst überall deine Zelte aufbauen und leben wo du willst, meine Schöne“, hatte Er vor Ewigkeiten zu ihr gesagt, bevor sie sich Ihm angeschlossen hatte. „Du musst nur die Spielregeln beachten.“
Welche Spielregeln das waren, hatte Er nicht mehr verraten können, weil Ihn der Hunger nach der Seele einer blonden Gespielin das Leben gekostet hatte.
Doch die Aussicht auf den Hades hatte Ihn nicht geschreckt, im Gegenteil.
„Ach, weißt du, süße Thisbe, das Jenseits ist nur eine andere Welt, ein anderes Reich, das man erobern, mit einem König, den man stürzen kann.“
„Hast Du das etwa vor? Den Hades erobern?“
„Nein. Es ist eine Welt des Stillstands, hier ändert sich alles, es gibt Götter und Dämonen, die hier herumlaufen… Das macht alles viel interessanter.“
Thisbe, die Auseinandersetzungen miterlebt hatte, die Historiker später als „Perserkriege“ bezeichneten, bezweifelte, dass der Tod und das Eingehen in die Unterwelt ein lohnenswertes Unterfangen darstellten. Zum einen, weil sich der Vorgang des Sterbens nicht wieder umkehren ließ, sollte es ihr im Jenseits nicht gefallen. Zweitens, weil der Seelenstrom, in dem menschliche Seelen nach ihrem Tod gefangen waren, bis sie sich in Nichts auflösten, absolut nichts Reizvolles für sie barg.
Also hielt sie sich lieber an die Lebenden, genau wie Er.
Lebende hatten außerdem den unschätzbaren Vorteil, dass man sich ihrer vollständig entledigen konnte. Selbst Vampire, Zombies und andere Unsterbliche hatte sie im Laufe der Zeit zu kontrollieren gelernt… Rache- und Poltergeister dagegen waren eine Plage biblischen Ausmaßes, ihr Exorzismus mehr als lästig.
Die Einheimischen ihrer neuen Bleibe, die ihr neues Land als „Nippon Teikoku“ bezeichneten, faszinierten durch den Luxus von Sauberkeit, Entspannung und Kunstsinn, doch was ihre Schattenkönigin überhaupt erst zu der Frau machte, die sie später sein würde, war eine Mischung aus unheilbarem Aberglauben an Geister und Dämonen und deren kompletter Verleugnung. Diese Menschen mit dem schwarzen Haar und den schmalen Augen taten so, als gäbe es nur sie auf der Welt - dennoch trug jeder ein gutes Dutzend Talismane gegen alle möglichen und unmöglichen Geister mit sich herum, ließ sich ständig seine Holzhütte segnen und Symbole anbringen, die Unheil fernhalten sollten.
Sie, die alles vom Verborgenen aus beobachtete, lächelte bei dem Gedanken an die ausbrechende Panik, wenn diese Schutzmaßnahmen einmal versagten. Dem Übernatürlichen den Krieg zu erklären, wie es ein verrückter Wanderpriester mit geradezu grotesker Angst vor Frauen in Europa anzettelte, kam den in künstlerischer Vollendung Tee trinkenden, Fisch, Reis und Soja liebenden Japanern nie in den Sinn.
Thisbe musste selbst im Nachhinein zugeben, dass die Auswahl ihres Stammwohnsitzes nicht besser hätte sein können. Sogar schwer verletzt hatte sie sich in ihr Schloss zurückziehen können, um sich zu erholen, während loyale Untergebene dafür sorgten, dass niemand die Gunst der Stunde zu einer Rebellion nutzte. Dämonen wurden von Macht und Stärke genauso angezogen wie Menschen - und Thisbe wusste genau, dass sie sich bei beiden keine Schwäche erlauben durfte.
Und da für viele der Name einer Kreatur eine große Macht in sich barg, nannte sie sich in einer sentimentalen Stimmung „Kakosjinèka“. Der Name „Thisbe aus dem Hause des Pyrrhos, Nachfahrin des Achilleus“ geriet in Vergessenheit.



Kapitel I.




Tôkyô, Anfang April, Mitte der 90er Jahre
Es gibt nur wenige wirklich ruhige Orte in Tôkyô, doch das Badezimmer des kleinen Appartements in der Innenstadt würde einer davon sein.
Sie war zu Hause. Endlich.
In Sicherheit.
Heftig atmend lehnte sich Vénâya gegen die Wand des winzigen, halbdunklen Flurs, eine Hand auf die schmerzende Seite gepresst. Mit der anderen streifte sie sich mühsam Schuhe und Kniestrümpfe ab, bevor sie tief Luft holte. Der seit ewigen Zeiten so vertraute Geruch von Rosen besänftigte den Aufruhr in ihrem Inneren wie er es immer getan hatte - doch der plötzlich aufflammende Schmerz in ihrem Brustkorb war so heftig, dass aus der erhofften Entspannung nur ein zittriges Aufkeuchen wurde. Ihre Lungen protestierten und Vénâya musste sich an der Wand abstützen, damit sie nicht das Gleichgewicht verlor.
Für einen kurzen Moment wurde die Welt schwarz um sie herum, durchbrochen von einzelnen gleißenden Funken. Kalter Schweiß bildete sich auf Vénâyas Stirn und Nacken… und mit ihm kam die Panik.
Athene, hast du nicht immer gepredigt, das wirklich Schlimme ist das, was man nicht mit bloßem Auge erkennt, sondern was sich hinter Altvertrautem versteckt? Auf einen explodierenden Schleim-Wurmklumpen hätte ich wirklich verzichten können, sichtbar oder nicht!
Zitternd schleppte sich Vénâya durch den Flur, wobei ihre Hände schmierige Flecken an der Tapete hinterließen und mit jedem Schritt stechende Schmerzwellen direkt in ihr Rückgrat schossen. Ihre angeschlagene Seite machte jeden vernünftigen Atemzug zusätzlich zu einem qualvollen Kampf.
Im angrenzenden Waschraum klammerte sich Vénâya keuchend an das Waschbecken, schaute auf - und erschrak, als sie ihr Bild im Spiegel sah: Goldblondes Haar ergoss sich in Wellen über ihre Schultern und riesige dunkelblaue Augen starrten sie entsetzt an.
Wann um alles in der Welt war das passier?
Sie hatte sich so viel Mühe mit den glatten, schwarzbraunen Haaren und den dunkelbraunen Mandelaugen der hiesigen Frauen gegeben, damit sie normal aussah!
Was hatte den sorgsam gewebten Illusionszauber aufgehoben? Wenigstens war die Schuluniform eine echte gewesen, doch nun waren der dunkelblaue Rock und die dazugehörige blaue Matrosenbluse nur noch zwei vor Dreck starrende Fetzen Stoff. Kein Wunder, dass man sie auf dem Heimweg erst angestarrt und dann betreten zur Seite geblickt hatte. Eine Blondine in Fetzen…

Er hatte alles abgeriegelt. Der Kekkai war stabil, Amarillo hatte es mehrmals überprüft. Die Schutzsteine waren akkurat ausgerichtet, die Siegel waren zur doppelten Sicherheit in ihren Untergrund eingeschmolzen. Nichts würde kaputtgehen, wenn er es nicht wollte.
Amarillo hatte den Mann ausfindig gemacht und war nun dabei, ihn in den Bannkreis zu locken, damit die Kreatur neben ihm das grausige Werk vollenden konnte, wegen dem ihn seine Königin ins Stadtzentrum geschickt hatte.
“Sie wird dich begleiten und dir helfen”, waren ihre Worte gewesen, und ihr Wort war sein Gesetz.
Amarillo beäugte seine Begleitung zweifelnd: “Sie” hatte kein Gesicht, denn der gesamte Kopfbereich wies nur ein lippenloses Maul mit haifischartigen Zähnen auf, doch weder Augen noch Nase. Der wurmartige Körper war eine braune, wabernde Masse und sonderte einen derart stinkenden Schleim ab, dass sich selbst Amarillo - mit Dämonen bestens vertraut - der Magen nach außen stülpen wollte.
“Fressenszeit…”, lispelte die Kreatur, deren Körper nun vor Aufregung pulsierte, was noch mehr stinkenden Schleim zur Folge hatte.
Wie eine Schnecke schob sie sich zum Rand des Bannkreises und reckte den Kopf bebend in Richtung der breiten Hauptstraße, auf der selbst an diesem Sonntag noch reger Verkehr herrschte.
Das Opfer war leicht zu erkennen in seinem schwarzen Anzug und dem Aktenkoffer inmitten von bunt und leger gekleideten Menschen. Allem Anschein nach hatte es wieder Überstunden gemacht, während zahllose Familien in die Parks zur rosa Pracht der Kirschblüte strömten.
Amarillo postierte sich an der Ecke zur Straße außerhalb des Kekkais und wartete kurz. Als der Geschäftsmann mit ihm auf gleicher Höhe war, ergriff er dessen Oberarm und wirbelte den völlig Verblüfften in den Bannkreis.
“Masahiko…”
Erstaunt beobachtete Amarillo, wie sich die vormals leere Fläche am Kopf des Dämons in das Gesicht einer hübschen, nicht mehr ganz jungen Japanerin verwandelte. Die Luft flirrte und der junge General war froh, nicht in der Haut des Salariman zu stecken.
“Wa-was willst du von mir? Wobinich? Hilfe!”
Der Aktenkoffer fiel zu Boden, als er kurz zu Amarillo starrte und dann taumelnd vor dem immer näher kommenden Monster zurückwich.
“Was willst du von mir? Ha-hau ab!”
Flucht war undenkbar. Der Kekkai hielt wie eine solide Mauer. Amarillo lächelte, stolz auf sein Werk. Niemand würde stören, bis er seine Arbeit erledigt hatte.
“Willst du mich wieder verlassen?” gurrte das Monster mit echt klingender Trauer in der Stimme, nun ein ganz anderer Ton als das Lispeln von vorhin. Menschlich. Und daher um so beängstigender.
“Hel-Helfen Sie mir!” schrie der Mann und rannte im Kreis wie ein Hamster im Laufrad.
Panik verzerrte seine Züge, als er erkennen musste, dass es kein Entkommen gab. Der glitschige Wurmkörper schlang sich immer enger um ihn, während aus dem Mund des Frauenkopfes Laute kamen, wie nur Liebende sie teilen.
“Hilfe! Versch-verschwinde!”
Die schweißnassen Hände des Mannes rutschten an der Wurmhaut ab, als er verzweifelt versuchte, sich zu befreien. Amarillo schätzte seinen Kampfgeist - oder war es die pure Verzweiflung? - doch allmählich war es an der Zeit das Spiel zu beenden.
“Liebster… du hast mich betrogen. Du hast gesagt, du liebst mich…”
“Ja, ja ich… ich liebe dich. Lass… lass mich los, ja, Yuri? Wir können doch über alles reden, oder?”
“Ich bin tot, Masahiko. Und du bist nicht einmal zu meiner Beerdigung gekommen…”
“Wie hätte das denn ausgesehen, der Abteilungsleiter auf der Trauerfeier einer Sekretärin… Au-außerdem mu-musste ich arbeiten!”
“So wie du mit mir “gearbeitet” hast?!”
Amarillo erkannte schaudernd, dass der Formwandler offenbar nicht nur Gesichter nachmachen, sondern auch Gedanken lesen konnte. Er nutzte die Schwäche des Mannes, um seine “Seele zum Erklingen” zu bringen, denn Angst, Schuldgefühle und Begehren zusammen ergaben eine viel bessere Resonanz als nur Furcht allein. An Selbstvorwürfen war schließlich noch keiner gestorben - vor Angst schon. Amarillo beschloss, sich diesen Trick zu merken, obwohl man schon ein ganz schön fieser Schweinehund sein musste, um so etwas auch noch zu genießen.
Schlagartig fielen ihm dazu zwei Namen ein…
Es war dieser Moment, in dem er merkte, dass etwas ganz gewaltig schief ging: wie ein heißer Pfeil schoss etwas durch die Luft, als sich die Magie änderte. Der Kekkai erbebte. Aus den Augenwinkeln erkannte Amarillo ein Mädchen in einer dunkelblauen Schuluniform auf den Salariman zustürmen.
Er blinzelte verblüfft: War das lange, blonde Haar nicht eben noch schwarz gewesen? Vielleicht war er auch einfach nur übermüdet…
“Versuch dich mal an jemandem von deinem Kaliber!”
Das Mädchen konnte nicht älter als 15 oder 16 sein…
“Du wagssst esss, mich zu ssstören?!”
Behände sprang es auf den inzwischen spiralförmig gewundenen Körper des Formwandlers, der schrill aufkreischte. Die Hände des Mädchens verursachten Brandblasen auf seiner Haut, die einen bestialischen Gestank verbreiteten. Amarillo sprang zur Seite mit dem Rücken gegen den Wind und hielt sich angewidert die Hand vor Mund und Nase. Der Salariman wimmerte.
Aufheulend vor Schmerz schleuderte der Riesenwurm seinen wuchtigen Körper hin und her, Mann und Mädchen wirbelten durch die Luft.
“Ich bring dich um!” brüllte das Ungeheuer und schnappte nach der unwillkommenen Störung. “Ich reiß dich in Stücke!”
Der Mann krachte auf Amarillo, der mit ihm zu Boden ging. Seine Aura leuchtete bereits grün, und so war es ein Kinderspiel, dem Ängstlich-Erschöpften die Quelle dafür abzunehmen. Sein Opfer gurgelte und schrie, spuckte Blut und ruderte wie wild mit den Armen, jedoch ohne Erfolg. Von oben am Schlüsselbein vorbei bahnte sich Amarillos Arm seinen Weg in den Brustkorb des Mannes, wo er zwischen den Lungenflügeln fand, was er suchte. Als er dann seine zur Faust geballte Hand öffnete, funkelte darin ein wallnussgroßer, tiefgrüner Edelstein. Er erkannte den Grund für diesen Auftrag, als er sah, wie das gähnende Loch im Oberkörper des Salarimans augenblicklich heilte, als das Juwel aufleuchtete.
“Herzlichen Dank. Wo diese Dinger nicht überall sind…”
“IN einem Menschen… Was für ‘ne Sauerei.”
Noch bevor Amarillo reagieren konnte, spürte er einen eiskalten Luftzug, gefolgt von einem Schwall verdächtig warmer Flüssigkeit auf seine Brust. Erschrocken erkannte er sein eigenes Blut den schwarzgrauen Stoff seiner Uniform durchtränken.
Fühlte eine klaffende Wunde an seiner Kehle.
Schmerz.
Panik.
Beide Hände auf seinen Hals gepresst, wirbelte Amarillo herum.
Ein wunderschöner Junge mit auffallend großen, dunkelbraunen Augen und ebensolchem Haar wischte in aller Ruhe die Klinge eines kleinen Jagdmessers mit einem Taschentuch ab. Sein gleichmütiges Gesicht kam Amarillo vage bekannt vor. Er sackte in die Knie, hustete, spuckte Blut.
Er musste unbedingt Königin Kakosjinèka sagen, dass hier etwas nicht stimmte. Was auch immer es war - er kam nicht darauf - etwas stimmte nicht. Aber es war eine Gefahr für seine Königin und ihr Dunkles Reich.
“Ganz schön skrupellos.” Die leise Stimme der Frau riss Amarillo aus seinen Gedanken und seinen Kopf nach oben. Augen aus Gold und Aquamarin glitzerten auf ihn herunter. “Jemandem einfach so die Kehle durchzuschneiden…”
Eine so samtige Stimme hatte Amarillo noch nie gehört. Sie fuhr ihm durch Mark und Bein, zupfte an seinen Nerven. Der schöne Junge neben ihr hob den Kopf und antwortete etwas, doch Amarillo konnte ihn über das Rauschen in seinen Ohren hinweg nicht mehr verstehen. Alles wurde immer leiser, die Welt immer dunkler…
Sein Körper kippte zur Seite und schlug auf dem Boden auf, doch Amarillo merkte es kaum. Er blinzelte, um die lähmende Müdigkeit abzuschütteln, die in ihm hochkroch.
Er wollte etwas sagen. Was? Es war wichtig. Wirklich?
Das letzte, was sein verlöschender Geist noch begriff, war das Kleid der Frau: Schneeweiß und glitzernd, der Stoff, den der Wind ihm ins Gesicht wehte, so leicht und anders, dass er nicht von Menschenhand gefertigt worden sein konnte.
Diese Frau war anders als seine Königin…
Anders…
Als alles…
Die Welt versank in einem dunklen Rauschen.

“Ganz schön skrupellos”, murmelte die Frau, als der Körper des blondgelockten Mannes zu Boden sank und das Licht in seinen violetten Augen langsam erlosch. “Jemandem einfach so die Kehle durchzuschneiden…”
“Jahrelange praktische Erfahrung.”
Die Frau lächelte stumm und raffte den langen Rock ihres Kleides vorsichtig, bevor sie sich hinhockte und sanft den grünen Edelstein aus den klammen Fingern des Toten löste.
“Warum hast du das gemacht?” wollte sie dann wissen.
“Es war nötig. War nicht das erste Mal, dass der Typ Vénâya Stress gemacht hat, aber diesmal hab‘ ich ihn gekriegt.”
“Weiß Vénâya, dass du hier bist?”
“Ich hoffe mal, sie ist nicht blind.”
Der Junge machte eine weit ausholende Handbewegung auf die zahllosen Werbeplakate, die auf jeder Oberfläche zu finden waren, die nicht von Leuchtreklame oder riesigen Bildschirmen in Beschlag gelegt worden waren.
“Du meinst also, sie erkennt dich hinter all diesen zuckersüß bunten Clips und Postern?”
“Wenn nicht, isses auch nicht schlimm.” Die Stimme des Jungen wurde dumpf. “Sie glaubt, ich bin tot. Zu ihrer eigenen Gemütsruhe sollte ich sie vielleicht in diesem Glauben lassen.”
“Findest du? Würde sie sich nicht viel eher freuen, dass du wieder da bist?”
“Ich bin doch “da”. Ich bin überall.”
Die Frau verzog zweifelnd das Gesicht und strich sich dann eine schwarze Locke hinter das Ohr.
“Wenn du meinst…”
“Übrigens, danke fürs Finden.”
“Immer wieder gern.” Mit einem Lächeln gab sie dem Jungen den Kristall, der sie daraufhin verblüfft anstarrte.
“Was machen wir damit?” Nachdenklich betrachtete er den Edelstein in seiner Hand und wischte ihn sauber.
“Behalte den Kristall fürs erste. Wer weiß, was passiert, wenn ich so was zu Hause anschleppe. Ich kümmere mich um die Seele von ihm hier.” Sie tippte mit der Fußspitze leicht gegen Amarillos Schulter. “Dann sollte wieder Ruhe einkehren.”
Die Frau streckte den Arm aus, und ein mannsgroßer schwarzer Riss erschien in der metallisch grauen Wand eines der angrenzenden Wolkenkratzer. Roter Rauch überzog wabernd den Boden.
“Sag’ Bescheid, wenn’s wieder Ärger gibt”, sagte sie noch und stieg elegant in die gähnende Dunkelheit der seltsamen Öffnung.
Die Körper der toten Dämonen lösten sich auf, als der Kekkai zerbrach: Die im Kampf verwüstete Straße wurde wieder glatt und grau, der rote Nebel verschwand. Auch der Riss in der Hauswand schloss sich, als wäre er nie da gewesen.
Der Junge blieb allein zurück und beobachtete das blonde Mädchen in der zerfetzten Schuluniform - die man hier Seera-Fuku nannte - seine fein geschwungenen Brauen nachdenklich gerunzelt. Sollte er es ihr wirklich sagen?

Kapitel II.

Vénâya zwang sich, darüber nachzudenken, wie sie das kleine Vermögen auftreiben sollte, dass eine neue Sommer-Uniform kostete, während sie sich mit spitzen Fingern kleine Knochensplitter, dunkelgrüne und blutig-rote Bröckchen Schleim aus den Haaren zupfte. Auch hellbraune Hautfetzen verklebten die Strähnen der blonden Pracht, von deren kunstvoll gelegter Frisur nun nichts mehr übrig war.

Wieder eine Menge Geld umsonst ausgegeben. Mist.

Ein Stück Gesicht mit einem Kranz aus Wimpern landete im Waschbecken, und sein Anblick genügte, dass Vénâyas Magen rebellierte und die kläglichen Reste des Frühstücks nach oben schickte. Schlotternd übergab sie sich, hustete und würgte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie keuchend am Beckenrand herunterrutschte.

Erst als sie sicher war, dass ihre Beine sie trugen, tappte Vénâya in das angrenzende Badezimmer und ließ Wasser ein. Dieser privateste aller Räume war von der Toilette noch einmal durch eine Schiebetür getrennt, eine Abgeschiedenheit, die man im immer vollen Tôkyô schnell zu schätzen lernte.

Das sanfte gelbliche Licht flammte auf und brannte in Vénâyas Augen, doch die mit dunklen Holzlatten verkleidete Wanne lud zum Entspannen ein. Vénâya schälte sich aus ihren Fetzen und duschte nachdem sie das Waschbecken gründlich ausgespült hatte. Den Rest würde ein ausgiebiges Bad mit einer Extraportion Rosenschaumbad erledigen. Vénâya badete gern, besonders an Tagen wie diesen, wo sie um ihr eigenes und das Leben anderer kämpfen musste.

Sie hatte beinahe automatisch gehandelt: Der Salariman, diese japanischen Geschäftsmänner in den dunklen Anzügen und schwarzen Aktenkoffern, war in eine Seitenstraße gedrängt worden, wo er als zähneklappernde Beute eines überdimensionalen Wurms enden sollte, der die Größe eines Schwertransporters hatte. Doch trotz seines hysterischen Hilfegeschreis waren die Fußgänger an ihm vorübergegangen. Teilnahmslos… als wäre das Geschehen für sie unsichtbar.

Vénâya wusste, dass Menschen generell nicht viel von dem bemerkten, was um sie herum passierte oder in “ihrer” Welt geschah - und diejenigen, die es taten, hielt man nur allzu gern für verrückt. Riesige Monster mit Frauengesichtern waren in japanischen Märchen zu Hause. Von ihnen erzählte man höchstens Kindern, damit sie brav waren.

Doch der Mann hatte zu seinem Entsetzen feststellen müssen, wie leicht sich die scheinbare Wirklichkeit auflösen konnte, um all den Schrecken hinter ihr preiszugeben. Vénâya war ihm sofort zu Hilfe geeilt und hatte kaum gemerkt, dass sich die Luft um sie herum plötzlich kurz wie zäher Kaugummi angefühlt hatte.

In dem Moment muss sich der Zauber gelöst haben.

Nur durch dieses Eingreifen war der Salariman mit dem Leben und einem gehörigen Schrecken davongekommen. Er würde das Monster mit dem Gesicht seiner verlassenen Geliebten vergessen, die ihm Feigheit vorgeworfen und mit Vorwürfen überschüttet hatte. Vénâya nicht. Er würde nächtelang Alpträume haben, daraufhin seinem Psychiater einen neuen Koi-Teich spendieren und anschließend zur Normalität zurückkehren.

Wenn Vénâya das tun würde, wäre sie sofort ein Fall für die Irrenanstalt.

Alles ordnete sich unter, um sich einzufügen. In die Gruppe, die Schule, den Verein. Den Familienclan. Die Firma. Alles zum Wohle des Landes. Keine Rücksicht auf Individualität, sondern eine Schablone konformen Denken und Handelns, die kein Abweichen duldete. Man passte sich an, damit man nicht in Schwierigkeiten kam.

Doch genau das war Vénâyas Problem: Sie hatte keine Ahnung, warum es sie ausgerechnet nach Japan verschlagen hatte, doch um in der Menschenmenge des Inselstaates nicht aufzufallen, hatte sie sich bemüht, eine zweite Identität zu erschaffen, in der sie unauffällig leben konnte: Dies war vor einigen Jahren die Geburt von Chie Kimiyô gewesen, inzwischen 16 Jahre alt und seit diesem Trimester Schülerin im zweiten Jahr der Fûjisan-Oberschule.

Bis heute hatte alles wunderbar geklappt, ohne dass es große Probleme mit Magie gegeben hatte. Bis heute hatte sie nicht versagt.

Heute muss ich mich besonders doof angestellt haben, dachte Vénâya, während sie im Badewasser zurückgelehnt ihren Körper nach Schrammen und Flecken absuchte, die später verdeckt werden mussten. Hab’ ich eigentlich noch die Bandagen vom letzten Mal? Die müssten im Medizinschrank sein…

Vénâya richtete sich auf und befühlte ihren Knöchel, der auf seinen doppelten Umfang angeschwollen war. Drehte ihn vorsichtig. Aus Erfahrung erkannte sie, dass er nur geprellt aber nicht gebrochen oder verstaucht war, der blaulila Fleck dort glich dem auf ihrem Arm. Dasselbe galt glücklicherweise auch für ihre Rippen.

Erleichtert aufseufzend lehnte Vénâya sich zurück und atmete vorsichtig tief ein und aus. Noch immer überfiel sie ein Zittern, wenn sich die noch frische Erinnerung aus ihrer Verbannung ins Unterbewusstsein nach oben drängte und Vénâya an den Schauplatz des Kampfes zurückkatapultierte, wo die Laune eines seiner Ehefrau überdrüssig gewordenen Mannes damit geendet hatte, dass seine Geliebte zu einem Ungeheuer wurde.

“Das Kreischen von dem Vieh, als es sich aufgebläht hat und explodiert ist, wird’ ich nie vergessen”, murmelte sie und spürte, wie ihr der kalte Schweiß ausbrach. Das letzte Gesicht des Formwandlers war zu Vénâyas Schrecken nicht mehr das der Frau gewesen, denn er hatte in ihren Gedanken ein neues gefunden.

Die Tränen kamen unerwartet und heftig. Vénâya tötete nicht gern, nicht einmal dann, wenn es nötig war. Sie glaubte fest daran, dass es immer noch eine andere Möglichkeit gab. Die verzerrten Gesichter der Toten erschienen in ihren Alpträumen und jenen dunklen Stunden, die das Alleinsein so schwer machten. Sie machten eine Vergangenheit lebendig, die der Tod schon lange jeder Zukunft beraubt hatte.

Das letzte Gesicht des Ungeheuers hatte einer jener Personen gehört, die nur noch eine Erinnerung waren. Eine sehr ferne, aber auch sehr geliebte Erinnerung.

Und Vénâya war allein…

˜ –— ™

Er musste etwas machen. Doch das grüne Feuer war noch nicht heiß genug.

„Der Stein schmilzt nicht…“

Irgendetwas musste es geben, was die Suche effektiver machte. Smaragd starrte in die lodernden Flammen, schwenkte den Tiegel hin und her. Vielleicht mehr Blut… für die Gier. Er musste seiner Königin etwas anbieten, im Gegenzug dafür, dass sie ihn aus ihren Diensten entließ, etwas, das sie wirklich auch haben wollte. Die verlorenen Edelsteine waren passend. Sollte sie doch damit machen was sie wollte.

Alte Magie, einst benutzt um mystische Waffen zu schmieden, wallte durch die düsteren Gewölbe, die Smaragd seine Heimstatt nannte. Magie von den Alten, von deren Namen und Taten kein Geschichtsbuch mehr kündete. Nur sie war mächtig genug, um zu helfen, die neun Splitter des magischen Edelsteins zu finden, der viele Jahrhunderte vorher zerbrochen war. Jeder seiner Splitter besaß einzigartige Fähigkeiten, und Smaragds Königin wollte sie alle.

Sie aufzuspüren ohne Zeit zu verschwenden, war das passende Abschiedsgeschenk.

Die dichten Dämpfe bissen in seine Lunge und brannten in seinen Augen, als Smaragd die träge Flüssigkeit auf das vorgefertigte Porzellanoval goss. Sie erstarrte sofort wieder. Smaragd schnitt sich in den Unterarm, um sein Blut auf die Fläche tropfen zu lassen, woraufhin diese spiegelglatt wurde. Pulver, das es nie wieder geben würde, weil es ein wertvolles Überbleibsel aus der Schlacht in einer verlorenen Welt war, vermischt mit seinem halb-menschlichen Blut sollte der Schöpfung den letzten Schliff verpassen.

Am ganzen Körper vor Erschöpfung zitternd hielt er schließlich einen Spiegel mit schwarzer Fläche in den Händen. Schmerzhaft pochten Smaragds Schläfen, seine Hände konnten das Machwerk kaum halten und sein eigener Herzschlag hämmerte in seinen Ohren… Doch bevor er schlafen und sich von der anstrengenden Prozedur erholen konnte, musste er wissen, ob es gelungen war. Er musste.

Den Schwarzen Spiegel sorgsam in ein Samttuch gehüllt, tappte er lautlos in sein Wohnzimmer. Misstrauisch blickte er sich um.

Niemand erwartete ihn. Gut. Dennoch legte er rasch einen Zauber auf die Tür, der ihn notfalls warnen würde, wenn doch jemand kam.

Atemlos schlug er dann die schützenden Tuchbahnen beiseite und starrte seinem eigenen Spiegelbild in die Augen.

„Zeig‘ mir, was ich sehen will…“, flüsterte er rau.

Es funktionierte viel zu gut.

˜ –— ™

“Willst du es wirklich so sehr?” flüsterte es plötzlich. Die Stimme wehte durch den Raum, wie der Wind durch ein offenes Fenster.

Das Licht schien dunkler zu werden, mit einem Stich ins Rote. Vénâya blickte sich erschrocken um, entdeckte aber nichts. Nur in einer Nische nahe der Badewanne schien sich aller Schatten des Zimmers zu sammeln.

“Sag’ es mir”, lockte das Flüstern, das fester wurde, greifbarer wie der Schatten, der sich zischend ausdehnte und größer wurde. “Was ist dein größter Wunsch, nach dem du dich so verzehrst, dass ich es spüre?”

Mit angehaltenem Atem beobachtete Vénâya, wie sich aus der Dunkelheit des Schattens allmählich eine Gestalt formte. Sie konnte den Blick nicht abwenden.

“Ich kann dir alles geben, was du dir wünschst…”

Fasziniert starrte Vénâya den Eindringling an. Die schwarzgraue Gestalt hatte rasch eine menschliche Form angenommen, von riesigen Drachenflügeln einmal abgesehen.

“So ein schönes Mädchen sollte nicht allein sein und sich nachts in den Schlaf weinen… So liebreizend…”

“Sie sind alle tot!” schrie eine Stimme in Vénâyas Gedanken, die sie erschrocken als ihre eigene erkannte. “Sie sind alle tot! Nichts kann sie zurückbringen!” rief sie, die Stimme schrill.

Sie wollte aufspringen und davonlaufen, doch sie konnte sich nicht bewegen. Vénâya starrte auf ihre Knie, sah sie zittern. Mühsam hob sie ihre ebenfalls zitternden Hände und hielt sich die Ohren zu. Die Augen fest geschlossen, hoffte sie, dass der Spuk bald vorüber war.

Da war nichts. Nur Einbildung.

Sie war allein, die Wohnung war leer.

Schatten können nicht lebendig werden. Schatten ist nur ein Mangel an Licht, hat der Physiklehrer gesagt.

“Aber du wünschst dir Gesellschaft. Du… verzehrst… dich nach… iiiihmmmm…” Das Flüstern war nun zu einer Stimme und diese Stimme zu einem Schnurren geworden, das mühelos den Weg in ihr Ohr fand. “Dieser Junge, der dich versteht.”

“Jaaa…”

“Dann sag’ es doch.” Gestalt und Schnurren kamen immer näher, beugte sich vor. “Sag’: Ich wünsche mir…”

“Halt die Klappe!” schluchzte Vénâya und presste sich die Hände so fest auf die Ohren, dass es wehtat. “Geh’ weg…”

Irgendetwas setzte sich auf den Wannenrand. Panik lähmte Vénâyas Gedanken.

“Verrate mir deinen innigsten Wunsch. Es wird mir eine Freude und ein Vergnügen sein, ihn dir zu erfüllen, für eine nur winzige Gegenleistung…”

Als Vénâya den heißen Atem in ihrem Nacken spürte fuhr sie reflexartig herum und schlug danach - und traf auf dichtes, glattes Fell.

Völlig außer sich floh sie ins Wohnzimmer.

Impressum

Texte: Das Buchcover habe ich mir von CLAMP geliehen, gezeichnet also von Mokona Apapa.
Tag der Veröffentlichung: 24.03.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Meiner Muse gewidmet und allen, die auch ewig brauchen, bis etwas so gut wird, wie sie es haben wollen. Ganz besonders aber sei an jene gedacht, denen Lantâris schon gefallen hat. Hier ist ein Auszug aus dem Roman dazu.

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